tb07kern01a 25.01.2007 14:23 Uhr Seite 52 Fassadenvisionen – form follows climate Arch. DI ETH/SIA Reto P. Miloni; Lichtplanung & Architektur Kontextuell optimierte Architektur statt serieller Post-Moderne Neue Impulse für Bautechnik und Architektur entstehen jeweils aus der Auseinandersetzung mit Bestehendem: Vor 100 Jahren entwickelte sich in den ungesunden, rasch gewachsenen Industriestädten ein utopisches Lebensgefühl, welches nach „Licht, Luft und Öffnung“ verlangte [1]. Die Reaktion auf den Historismus brachte die Utopie des „Neuen Bauens“ und die „Bauhaus-Bewegung“ hervor. Sie überwand die entwürdigende Backstein-Einöde der Städte – Entmaterialisierung der Gebäudehülle hieß der Leitspruch der heroischen Moderne, welche das neue Lebensgefühl einer aufkommenden „Glaskultur“ verkörperte: „Happiness without glass - what an absurdity, bricks pass away, glass colours stay. The joy of colours is only in glass-culture. Larger than a diamond is the glass house’s double wall. Glass brings a new age. Bricks are depressing“ [2]. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden die Strukturen, Material- und Energieflüsse von Bauwerke ähnlich organisiert wie in Organismen. Die entsprechend energieintensiven und technologisch komplexen Prozesse und urbanen Systeme wurden dabei bildhaft inszeniert. Abb. 1: Im Metabolismus werden die Energieflüsse und Strukturen zur Metapher Heute stehen wir vor einer neuen Herausforderung: „Grüne Architektur“ soll Technologien des solaren Jahrtausends nutzen, um Wohnhäuser und versiegelte Büroglaskästen von der Last atomar-fossiler Energieversorgung zu befreien. Dank Formgebung, hochwertiger Gebäudehülle, Integration solarer Komponenten und minimierter, aber schlau geregelter Gebäudesystemtechnik will man möglichst ohne externe Energie auskommen: Passiv heizen, kühlen, lüften und belichten und dabei noch die Umwelt schonen, heißt die neue Lösung. Dabei wird die Analyse und Bilanzierung von Energie- und Stoffströmen zum Werkzeug, um qualitativ und quantitativ die Wechselwirkungen urbaner Systeme mit ihrer Umwelt und dem globalen Hinterland zu verstehen. 52 www.ibo.at tb07kern01a 25.01.2007 14:23 Uhr Seite 53 „Unsere Generation ist mit dem nötigen Wissen und den technischen Möglichkeiten ausgestattet, um regenerative Energien noch effektiver zu nutzen und so insgesamt die Umwelt um ein Vielfaches von den Belastungen zu befreien, die jahrelange Missachtung der Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung mit sich gebracht haben“ [3]. Climatic Design statt „ortloser“ Moderne Von den transparenten und mechanisierten Ikonen der Moderne eine Evolutionsstufe höher zu steigen heißt, sich auf die Prinzipien des „climatic designs“ zu besinnen. Dieses revolutioniert den Gebäudesektor, vereint modernste bauphysikalische Erkenntnisse mit höchster Energieeffizienz und Raumqualität. Dabei sinken die Energiekosten, während Komfort und Werterhalt steigen. Suchte die klassische Moderne noch nach universell gültiger Form im architektonischen Gestaltungsprozess, gewinnt heute die Vorstellung Oberhand, dass Bauten nicht wie Industriegüter nach fixen Designmerkmalen und schon gar nicht standortunabhängig und ohne differenzierte Zweckbestimmung gestaltbar sind. Dass energetische, kulturelle und ökologische Standortbedingungen dabei nicht übersehen werden dürfen und Gebäude sensorisch und energetisch gegenüber ihrer Umwelt nicht mehr taub und damit „ortlos“ sein müssen, liegt auf der Hand. „Deduktiv nach geometrischen Idealen geformte Baukörper bilden letztlich in sich geschlossene Systeme, zu deren Erhalt ständig Energie zugeführt werden muss. Die völlig offene, transparente Hülle ist in Wirklichkeit ein kostspieliger Panzer gegen alle Klimaeinflüsse zwischen Kapstadt und Tokio“ [4]. Kontextuelle Bezüge sind daher beim Entwurf in frühesten Phasen zu berücksichtigen. Das „project de lumière" eines Gebäudes bietet hier eine ausgezeichnete Möglichkeit für eigentliches „climatic design": Gebäudeorientierung, Kompaktheit, Fensteranordnung aber auch Sonnenschutz, genauso wie Masse, interne Wärmegewinne durch Personen und Geräte sowie gebäudetechnische Ausrüstung prägen Komfort, Energiebilanz und Lichtstimmungen hinter Fassaden. Abb. 2: Planungshilfsmittel zur Bilanzierung von Komfort und Energie K NGRESS Gute Aussichten – Tageslicht in Gebäuden 53 tb07kern01a 25.01.2007 14:24 Uhr Seite 54 Energiesparen beginnt im solar optimierten Städtebau und der Bebauungstypologie Abb. 3: Solar optimierter Städtebau vor 2000 Jahren Die städtebauliche Planung beeinflusst das energetische Verhalten von Gebäuden. So setzt z.B. gelungene Standortoptimierung den baulich-technischen Aufwand herab. Städtebauliches Handeln müsste energetische Konzepte noch viel mehr berücksichtigen als früher: in der Antike wurden ganze griechische Städte nach der Sonne ausgerichtet (z.B. in Priene, Olinth, Delphi). So kann durch gekonnte Ausnutzung der Umfeldbedingungen bei gegebenem Stadtklima, Wind, Strahlungsangebot, Bepflanzung, Wasserflächen etc. je nach Parzellierung, Formgebung, Südausrichtung und Gebäudekoppelung der Energiebedarf für Heizung, Kühlung und Beleuchtung unabhängig von der Konstruktion reduziert werden. Doch welcher Kreisplaner interessiert sich heute noch für Parzellenform und Himmelsrichtung, in deren Korsett er Straßen und Grundstücke zwängt? Welche Gemeinde überlegt à fonds, ob und wie lange die Sonne und der Wind über Bergflanken und Täler streichen? Kaiser Hadrian achtete im alten Rom auf den Weg der Sonne genannt „Heliocaminus": Fensterflächen im Südwesten in seiner Villa heizten in den Nachmittagsstunden – wenn er badete – sein Tepidarium auf. Auch heute sind Besonnungsverhältnisse und Bebauungstypologie zu nutzen: kompakte Gebäude müssten sich bei Kälte wie die Pinguine in der Arktis aneinander kuscheln, vom Wind abwenden und die Summe der Abkühlungsflächen im Verband minimieren. Und zudem die Sonne nutzen, wenn sie im Winter scheint bzw. im Sommer ausweichen. Laut einer Studie des Deutschen Passivhausinstitutes kann verdichtetes Bauen den Heizwärmebedarf eines Mehrfamlienhauses gegenüber einem von Süden weg gedrehten, frei stehenden Einzelhaus um 300 % herabsetzen. Demgegenüber benötigen schlecht genordete Baukörper mehr Dämmung für gleichen thermischen Komfort. Funktional betrachtet müssten sich Gebäude im Winter wie die Eisbären in die Sonne drehen können und im Sommer wie Elefanten Kühlung verschaffen. Kompakte Gebäudeform und Optimierung von Tageslicht und Energieverbrauch Abb. 4: Formfindung und «Solarisierung» der Hülle im Widerstreit der Anforderungen 54 Wir halten uns – gemessen an unser Lebenszeit – immer länger im Inneren von Gebäuden auf. Nur logisch darum, dass wachsenden Komfortansprüchen und Energiepreisen Projektoptimierungen Not tun. Planer, Nutzer und Bauherren sollten z.B. die Orientierung von Fenstern und ihre Folgen für Heizenergie- und Beleuchtungsstromverbrauch sehr sorgfältig durchleuchten. www.ibo.at tb07kern01a 25.01.2007 14:24 Uhr Seite 55 Kompaktheit wurde bereits in der ersten Hälfte des 20. Jhdt. von russischen Konstruktivisten und später von Richard Buckminster Fuller beim Gebäudeentwurf zur Ressourcenschonung angestrebt: Kugel oder Ellipsoid haben dabei das optimalste Verhältnis von Oberfläche zu Volumen. Atrien oder Kammstrukturen erzielen ebenfalls kompakte A/V-Relationen. Abb. 5: Heizwärmebedarf, Orientierungsabhängigkeit und Kompaktheit im Passivhaus Wer mittels Tageslichtsimulationen und Modellanalysen sein Öffnungsdispositiv optimiert, kann nicht nur die photometrischen und den Komfort bestimmenden Parameter quantitativ vorhersagen (Beleuchtungsstärken, Leuchtdichten, Tageslichtautonomie, Temperaturen), sondern auch qualitativ in Funktion der Tages, oder Jahreszeit, des Himmelszustandes (bedeckter oder klarer Himmel) oder bestimmter Mischlichtsituationen (mit Kunst- und Tageslicht/Beschattung). Man hält es kaum für möglich, dass allein durch ideale Kompaktheit bzw. Ausrichtung nach Süden der Energieverbrauch bei gleicher Dämmstärke bei Passivhaus-Mehrfamilienhäusern gegenüber Passivhaus-Reihen- bzw. Passiv-Einzelhäusern um bis zu 300 % reduziert werden kann! Architekten im Clinch – wie viel Transparenz und Kunstlicht sind nötig? Noch dämmen Fenster mit U-Werten um 0,8 W/m2K gegenüber opaken, hoch gedämmten Wänden z.B. eines Passivhauses etwa 5–8 mal schlechter. Auch sind Glashüllen gegenüber opaken Wänden komplexer und kostspieliger. Architekten und Bauherren geraten da in den Clinch: Wer Kosten und thermischen Komfort optimiert, tut dies oft zu Lasten des Tageslichtkomforts. Sollen Bauten nicht zu fensterlosen Energiesparkisten verkommen, ist Tageslichtplanung unumgänglich. Zentrale Fragestellungen lauten etwa: • Wo braucht ein Haus Tageslichtöffnungen? • Wie nutzt man den „Genius loci" durch Orientierung und Lage im Terrain optimal? • Welche Verschattung verhindert Überhitzung im Sommer und Wärmegewinn im Winter? • Wie bewerkstelligt man wärmebrückenfreien Einbau von Verschattungseinrichtungen? • Welche Glastypen, Flügeleinteilungen und Fensterversprossungen sind zu wählen? • Wie sehen synergetisch wirksame Lösungen aus? Was bringen Automatiksteuerungen? • Welche Simulationstools werden idealerweise eingesetzt? In der Schweiz fliesst vom gesamten Elektrizitätsverbrauch von 57,3 Mrd. kWh jede siebte Kilowattstunde in die Beleuchtung – ganze 2 Kernkraftwerke produzieren allein fürs Kunstlicht. Nicht nur aus energetischen und ökologischen Gründen sondern auch aus Gründen der Nutzenden und der Raumqualität verlangen Profi-Bauherrschaften entsprechenden Aufschluss. [5] K NGRESS Gute Aussichten – Tageslicht in Gebäuden Abb. 6: Tageslichtsimulation eines Ateliers mit Zenit- und Seitenlicht 55 tb07kern01a 25.01.2007 14:24 Uhr Seite 56 Mit Passivhäusern zu mehr Energieeffizienz und Energieautarkie Abb. 7: Passivhaus-Siedlung am Schlierberg in Freiburg im Breisgau Die von Bund und Kantonen geförderte Minergie-Bauweise (43 kWh/m2a Heizenergieverbrauch) und der unerschütterliche Glaube an die Unversiegbarkeit nuklear-fossiler Energiequellen haben den Blick auf den Passivhausboom und das Potenzial für bessere Gebäudekonzepte versperrt. Das hat sich geändert: In der Schweiz ist die „2.000 Watt-Gesellschaft“ – für den Zeitraum bis 2050 – ein mittlerweile nicht nur in Wissenschaftskreisen sondern auch in der Politik akzeptiertes Szenario, das eine Reduktion der installierten Dauerleistung auf ein Drittel des heutigen Wertes (6.000 Watt/Kopf/Jahr) verlangt. Mit der Vision „2.000 Watt-Gesellschaft“ sollen bei Raumwärme in Gebäuden, in der Mobilität sowie in den Prozessen der Industrie drastische Spareffekt erzielt werden. MINERGIE- oder Niedrigenergiehäuser sind dabei schlicht zu wenig gut: nur Passivhäuser (in der Schweiz MINERGIE-P) sind in diesem Sinne zukunftstauglich. In der Gesellschaft wird sich zur Sparidylle von Niedrigstenergiehaus und Hybridauto in Bälde die Idee für aktive Solargewinne gesellen: Klimawandel, wachsender Energiebedarf, endende Ressourcen an fossilen Energieträgern und die Crux atomar-fossiler Energiewandlung rücken eine solar basierte Energieversorgung in den Brennpunkt der Gebäudeoptimierung. Seit man Photovoltaik-Elemente nicht mehr bloß unter dem Gesichtspunkt der Stromerzeugung, sondern auch als multifunktionale Bauteile für Witterungs- und Sonnenschutz in der Gebäudehülle erkennt, stellt die an Passivhäusern integrierte Photovoltaik eine ideale Möglichkeit zur Energiegewinnung vor Ort mit hohen Flächenerträgen und Synergiepotenzialen dar. Der Schweizer Fassadenverband schätzt das Potenzial jährlich für PV-Applikationen zur Verfügung stehender Fassadenflächen (ohne Dächer) auf rund 80.000 m2 oder 8 MWp – das Vierfache dessen, was aktuell pro Jahr an PV-Anlagen auf Stadiondächern, Bahnanlagen, Kirchtürmen oder Lärmschutzwänden installiert wird! Diese 40 Megawatt Solarsysteme für die nächsten 5 Jahre finden sich zu einem Viertel in südost- bis südwestorientierten Brüstungen von neuen oder zu sanierenden Gebäuden und zu einem Drittel in opaken Vorhangfassaden [6]. Die Installation von PV-Modulen in Büro-, Verwaltungs- und öffentlichen Bauten wird den PVMarkt in den kommenden Jahren stark befruchten: drei Viertel des PV-Potenzials gehen in diesen Sektor. Weil mittlerweile 19 Länder weltweit nun kostendeckende Energieeinspeisevergütungen (EEG) kennen, dürfte während der Geltungsdauer des EEG in den kommenden 20 Jahren der PV-Boom auch die Gebäudehüllen Österreichs nicht verschonen. Fassadenvision – das Haus als komfortabel bewohnbares Kraftwerk Die Kombination von Passivhaus mit kontrollierter Wohnungslüftung, integrierter Kleinstwärme-pumpe, Solarkollektor und PV-Anlage erfüllt schon heute mehr als die Ziele der 2.000 Watt-Gesellschaft. Es zeichnet den Weg zum Null-Energie- und Nullemissionshaus vor! Ein 4-Personen-Haus benötigt etwa 5.000 kWh Strom, welche mit einer 6kWp-PV-Anlage über’s Jahr in der eigenen Gebäudehülle produziert werden können. Mit entsprechendem „climatic design“, mit Detailausbildung und integrierten „Shadovoltaic"Elementen wird der thermische und visuelle Komfort in Passivhäusern erreicht, die Architektur mit Energie produzierenden Solarkomponenten bereichert und so eine zeitgemässe Corporate Identity erreicht. Die Auseinandersetzung mit entsprechenden Fragestellungen, Planungswerkzeugen und technologischen Möglichkeiten schränkt den Freiraum von Architekten nicht ein, sondern führt gestalterisch-konstruktive Ausdrucksmöglichkeiten im solaren Zeitalter herbei. Die Integration „smarter" Sonnenschutz- und PV-Elemente in Gebäudehüllen ersetzt andere Bauteile, leistet einen Beitrag zur dezentralen und regenerativen Stromversorgung und macht die Solarisierung unserer Gesellschaft an Gebäudehüllen ablesbar. Der erzeugte Strom fällt synchron zu Spitzenauslastungszeiten im Netz an. 56 www.ibo.at tb07kern01a 25.01.2007 14:24 Uhr Seite 57 Im Passivhaus Schmoelzer in Pratteln betrug der Netto-Endenergieverbrauch an Elektrizität für Beleuchtung, Kochen, EDV 19,7 kWh/m2a. Gemäss Passivhausberechnung wurde mit einem Energiekennwert Heizwärme und Warmwasser von 14,2 kWh/m2a und zusätzlichem Hilfsstrom für Kochen, Beleuchtung Waschen, Trocknen, Gefrieren, EDV von 23,0 kWh/m2a gerechnet. Er liegt dank PV fast 50 % unter dem Planwert von 37,2 kWh/m2a. Abb. 8: Schiebeladen Passivhaus Pratteln mit Sonnenschutz und PVGenerator Literatur [1] „Befreites Wohnen“; Siegfried Giedion; 1929 [2] Aus einem Brief von Paul Scherbart, Freund und Weggefährte des frühen Utopisten Bruno Taut; 1913 [3] „Passivhäuser planen und bauen – Grundlagen, Bauphysik, Konstruktionsdetails, Wirtschaftlichkeit“; Carsten Grobe; Callwey Verlag; München 2002 [4] Thomas Herzog, Architektur und Technologie; Prestel Verlag, München, Seite 19 [5] DIN 5034 empfiehlt für Wohnräume 1 % Tageslichtquotient, für hohe bzw. sehr hohe Ansprüche 5 bzw. 10 %. In Harmonisierung mit der neuen CEN-Norm prEN 15193 (Energy Performance of buildings – energy requirements for lighting) führt z.B. das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich seit dem Jahr 2000 systematisch Beleuchtungsplanungen an Neu- und Altbauten durch [6] Marktchancen und Technologieperspektiven gebäudeintegrierter PV-Systeme; R. Miloni; Solartagung; Staffelstein 2006 K NGRESS Gute Aussichten – Tageslicht in Gebäuden 57