Fassadenvisionen – form follows climate

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Fassadenvisionen – form follows climate
Arch. DI ETH/SIA Reto P. Miloni; Lichtplanung & Architektur
Kontextuell optimierte Architektur statt serieller Post-Moderne
Neue Impulse für Bautechnik und Architektur entstehen jeweils aus der Auseinandersetzung
mit Bestehendem: Vor 100 Jahren entwickelte sich in den ungesunden, rasch gewachsenen
Industriestädten ein utopisches Lebensgefühl, welches nach „Licht, Luft und Öffnung“ verlangte [1]. Die Reaktion auf den Historismus brachte die Utopie des „Neuen Bauens“ und die
„Bauhaus-Bewegung“ hervor. Sie überwand die entwürdigende Backstein-Einöde der Städte
– Entmaterialisierung der Gebäudehülle hieß der Leitspruch der heroischen Moderne, welche
das neue Lebensgefühl einer aufkommenden „Glaskultur“ verkörperte: „Happiness without
glass - what an absurdity, bricks pass away, glass colours stay. The joy of colours is only in
glass-culture. Larger than a diamond is the glass house’s double wall. Glass brings a new age.
Bricks are depressing“ [2].
In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden die Strukturen, Material- und Energieflüsse von Bauwerke ähnlich organisiert wie in Organismen. Die entsprechend energieintensiven und technologisch komplexen Prozesse und urbanen Systeme wurden dabei bildhaft
inszeniert.
Abb. 1: Im Metabolismus werden
die Energieflüsse und Strukturen
zur Metapher
Heute stehen wir vor einer neuen Herausforderung: „Grüne Architektur“ soll Technologien
des solaren Jahrtausends nutzen, um Wohnhäuser und versiegelte Büroglaskästen von der Last
atomar-fossiler Energieversorgung zu befreien.
Dank Formgebung, hochwertiger Gebäudehülle, Integration solarer Komponenten und minimierter, aber schlau geregelter Gebäudesystemtechnik will man möglichst ohne externe Energie auskommen: Passiv heizen, kühlen, lüften und belichten und dabei noch die Umwelt schonen, heißt die neue Lösung. Dabei wird die Analyse und Bilanzierung von Energie- und Stoffströmen zum Werkzeug, um qualitativ und quantitativ die Wechselwirkungen urbaner Systeme mit ihrer Umwelt und dem globalen Hinterland zu verstehen.
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„Unsere Generation ist mit dem nötigen Wissen und den technischen Möglichkeiten ausgestattet, um regenerative Energien noch effektiver zu nutzen und so insgesamt die Umwelt um
ein Vielfaches von den Belastungen zu befreien, die jahrelange Missachtung der Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung mit sich gebracht haben“ [3].
Climatic Design statt „ortloser“ Moderne
Von den transparenten und mechanisierten Ikonen der Moderne eine Evolutionsstufe höher
zu steigen heißt, sich auf die Prinzipien des „climatic designs“ zu besinnen. Dieses revolutioniert den Gebäudesektor, vereint modernste bauphysikalische Erkenntnisse mit höchster Energieeffizienz und Raumqualität. Dabei sinken die Energiekosten, während Komfort und Werterhalt steigen.
Suchte die klassische Moderne noch nach universell gültiger Form im architektonischen Gestaltungsprozess, gewinnt heute die Vorstellung Oberhand, dass Bauten nicht wie Industriegüter
nach fixen Designmerkmalen und schon gar nicht standortunabhängig und ohne differenzierte Zweckbestimmung gestaltbar sind. Dass energetische, kulturelle und ökologische Standortbedingungen dabei nicht übersehen werden dürfen und Gebäude sensorisch und energetisch
gegenüber ihrer Umwelt nicht mehr taub und damit „ortlos“ sein müssen, liegt auf der Hand.
„Deduktiv nach geometrischen Idealen geformte Baukörper bilden letztlich in sich geschlossene Systeme, zu deren Erhalt ständig Energie zugeführt werden muss. Die völlig offene, transparente Hülle ist in Wirklichkeit ein kostspieliger Panzer gegen alle Klimaeinflüsse zwischen
Kapstadt und Tokio“ [4].
Kontextuelle Bezüge sind daher beim Entwurf in frühesten Phasen zu berücksichtigen. Das
„project de lumière" eines Gebäudes bietet hier eine ausgezeichnete Möglichkeit für eigentliches „climatic design": Gebäudeorientierung, Kompaktheit, Fensteranordnung aber auch Sonnenschutz, genauso wie Masse, interne Wärmegewinne durch Personen und Geräte sowie
gebäudetechnische Ausrüstung prägen Komfort, Energiebilanz und Lichtstimmungen hinter
Fassaden.
Abb. 2: Planungshilfsmittel zur
Bilanzierung von Komfort und
Energie
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Energiesparen beginnt im solar optimierten Städtebau und der
Bebauungstypologie
Abb. 3: Solar optimierter Städtebau vor 2000 Jahren
Die städtebauliche Planung beeinflusst das energetische Verhalten von Gebäuden. So setzt z.B.
gelungene Standortoptimierung den baulich-technischen Aufwand herab. Städtebauliches Handeln müsste energetische Konzepte noch viel mehr berücksichtigen als früher: in der Antike
wurden ganze griechische Städte nach der Sonne ausgerichtet (z.B. in Priene, Olinth, Delphi).
So kann durch gekonnte Ausnutzung der Umfeldbedingungen bei gegebenem Stadtklima,
Wind, Strahlungsangebot, Bepflanzung, Wasserflächen etc. je nach Parzellierung, Formgebung,
Südausrichtung und Gebäudekoppelung der Energiebedarf für Heizung, Kühlung und Beleuchtung unabhängig von der Konstruktion reduziert werden.
Doch welcher Kreisplaner interessiert sich
heute noch für Parzellenform und Himmelsrichtung, in deren Korsett er Straßen und
Grundstücke zwängt? Welche Gemeinde
überlegt à fonds, ob und wie lange die Sonne und der Wind über Bergflanken und Täler
streichen?
Kaiser Hadrian achtete im alten Rom auf den
Weg der Sonne genannt „Heliocaminus":
Fensterflächen im Südwesten in seiner Villa
heizten in den Nachmittagsstunden – wenn
er badete – sein Tepidarium auf.
Auch heute sind Besonnungsverhältnisse
und Bebauungstypologie zu nutzen: kompakte Gebäude müssten sich bei Kälte wie die Pinguine in der Arktis aneinander kuscheln, vom Wind abwenden und die Summe der Abkühlungsflächen im Verband minimieren. Und zudem die Sonne nutzen, wenn sie im Winter
scheint bzw. im Sommer ausweichen. Laut einer Studie des Deutschen Passivhausinstitutes
kann verdichtetes Bauen den Heizwärmebedarf eines Mehrfamlienhauses gegenüber einem
von Süden weg gedrehten, frei stehenden Einzelhaus um 300 % herabsetzen. Demgegenüber benötigen schlecht genordete Baukörper mehr Dämmung für gleichen thermischen Komfort. Funktional betrachtet müssten sich Gebäude im Winter wie die Eisbären in die Sonne
drehen können und im Sommer wie Elefanten Kühlung verschaffen.
Kompakte Gebäudeform und Optimierung von Tageslicht und Energieverbrauch
Abb. 4: Formfindung und «Solarisierung» der Hülle im Widerstreit
der Anforderungen
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Wir halten uns – gemessen an unser Lebenszeit – immer länger im Inneren von Gebäuden
auf. Nur logisch darum, dass wachsenden Komfortansprüchen und Energiepreisen Projektoptimierungen Not tun. Planer, Nutzer und Bauherren sollten z.B. die Orientierung von Fenstern
und ihre Folgen für Heizenergie- und Beleuchtungsstromverbrauch sehr sorgfältig durchleuchten.
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Kompaktheit wurde bereits in der ersten Hälfte des 20. Jhdt. von russischen Konstruktivisten
und später von Richard Buckminster Fuller beim Gebäudeentwurf zur Ressourcenschonung
angestrebt: Kugel oder Ellipsoid haben dabei das optimalste Verhältnis von Oberfläche zu Volumen. Atrien oder Kammstrukturen erzielen ebenfalls kompakte A/V-Relationen.
Abb. 5: Heizwärmebedarf, Orientierungsabhängigkeit und Kompaktheit im Passivhaus
Wer mittels Tageslichtsimulationen und
Modellanalysen sein Öffnungsdispositiv
optimiert, kann nicht nur die photometrischen und den Komfort bestimmenden
Parameter quantitativ vorhersagen
(Beleuchtungsstärken, Leuchtdichten,
Tageslichtautonomie, Temperaturen), sondern auch qualitativ in Funktion der Tages, oder Jahreszeit, des Himmelszustandes
(bedeckter oder klarer Himmel) oder
bestimmter Mischlichtsituationen (mit
Kunst- und Tageslicht/Beschattung).
Man hält es kaum für möglich, dass allein
durch ideale Kompaktheit bzw. Ausrichtung nach Süden der Energieverbrauch bei
gleicher Dämmstärke bei Passivhaus-Mehrfamilienhäusern gegenüber Passivhaus-Reihen- bzw. Passiv-Einzelhäusern um bis zu
300 % reduziert werden kann!
Architekten im Clinch – wie viel Transparenz und Kunstlicht sind
nötig?
Noch dämmen Fenster mit U-Werten um 0,8 W/m2K gegenüber opaken, hoch gedämmten
Wänden z.B. eines Passivhauses etwa 5–8 mal schlechter. Auch sind Glashüllen gegenüber
opaken Wänden komplexer und kostspieliger. Architekten und Bauherren geraten da in den
Clinch: Wer Kosten und thermischen Komfort optimiert, tut dies oft zu Lasten des Tageslichtkomforts. Sollen Bauten nicht zu fensterlosen Energiesparkisten verkommen, ist Tageslichtplanung unumgänglich. Zentrale Fragestellungen lauten etwa:
• Wo braucht ein Haus Tageslichtöffnungen?
• Wie nutzt man den „Genius loci" durch Orientierung und Lage im Terrain optimal?
• Welche Verschattung verhindert Überhitzung
im Sommer und Wärmegewinn im Winter?
• Wie bewerkstelligt man wärmebrückenfreien
Einbau von Verschattungseinrichtungen?
• Welche Glastypen, Flügeleinteilungen und
Fensterversprossungen sind zu wählen?
• Wie sehen synergetisch wirksame Lösungen
aus? Was bringen Automatiksteuerungen?
• Welche Simulationstools werden idealerweise eingesetzt?
In der Schweiz fliesst vom gesamten Elektrizitätsverbrauch von 57,3 Mrd. kWh jede siebte Kilowattstunde
in die Beleuchtung – ganze 2 Kernkraftwerke produzieren allein fürs Kunstlicht. Nicht nur aus energetischen und ökologischen Gründen sondern auch
aus Gründen der Nutzenden und der Raumqualität
verlangen Profi-Bauherrschaften entsprechenden Aufschluss. [5]
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Gute Aussichten – Tageslicht in Gebäuden
Abb. 6: Tageslichtsimulation eines
Ateliers mit Zenit- und Seitenlicht
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Mit Passivhäusern zu mehr Energieeffizienz und Energieautarkie
Abb. 7: Passivhaus-Siedlung am
Schlierberg in Freiburg im Breisgau
Die von Bund und Kantonen geförderte Minergie-Bauweise (43 kWh/m2a Heizenergieverbrauch)
und der unerschütterliche Glaube an die Unversiegbarkeit nuklear-fossiler Energiequellen haben
den Blick auf den Passivhausboom und das Potenzial für bessere Gebäudekonzepte versperrt.
Das hat sich geändert: In der Schweiz ist die „2.000 Watt-Gesellschaft“ – für den Zeitraum bis
2050 – ein mittlerweile nicht nur in Wissenschaftskreisen sondern auch in der Politik akzeptiertes Szenario, das eine Reduktion der installierten Dauerleistung auf ein Drittel des heutigen
Wertes (6.000 Watt/Kopf/Jahr) verlangt. Mit der Vision „2.000 Watt-Gesellschaft“ sollen bei
Raumwärme in Gebäuden, in der Mobilität sowie in den Prozessen der Industrie drastische Spareffekt erzielt werden. MINERGIE- oder Niedrigenergiehäuser sind dabei schlicht zu wenig gut:
nur Passivhäuser (in der Schweiz MINERGIE-P) sind in diesem Sinne zukunftstauglich.
In der Gesellschaft wird sich zur Sparidylle von Niedrigstenergiehaus und Hybridauto in Bälde
die Idee für aktive Solargewinne gesellen: Klimawandel, wachsender Energiebedarf, endende
Ressourcen an fossilen Energieträgern und die Crux atomar-fossiler Energiewandlung rücken
eine solar basierte Energieversorgung in den Brennpunkt der
Gebäudeoptimierung. Seit man Photovoltaik-Elemente nicht
mehr bloß unter dem Gesichtspunkt der Stromerzeugung, sondern auch als multifunktionale Bauteile für Witterungs- und
Sonnenschutz in der Gebäudehülle erkennt, stellt die an Passivhäusern integrierte Photovoltaik eine ideale Möglichkeit zur
Energiegewinnung vor Ort mit hohen Flächenerträgen und Synergiepotenzialen dar.
Der Schweizer Fassadenverband schätzt das Potenzial jährlich
für PV-Applikationen zur Verfügung stehender Fassadenflächen
(ohne Dächer) auf rund 80.000 m2 oder 8 MWp – das Vierfache dessen, was aktuell pro Jahr an PV-Anlagen auf Stadiondächern, Bahnanlagen, Kirchtürmen oder Lärmschutzwänden
installiert wird! Diese 40 Megawatt Solarsysteme für die nächsten 5 Jahre finden sich zu einem Viertel in südost- bis südwestorientierten Brüstungen von
neuen oder zu sanierenden Gebäuden und zu einem Drittel in opaken Vorhangfassaden [6].
Die Installation von PV-Modulen in Büro-, Verwaltungs- und öffentlichen Bauten wird den PVMarkt in den kommenden Jahren stark befruchten: drei Viertel des PV-Potenzials gehen in
diesen Sektor. Weil mittlerweile 19 Länder weltweit nun kostendeckende Energieeinspeisevergütungen (EEG) kennen, dürfte während der Geltungsdauer des EEG in den kommenden 20
Jahren der PV-Boom auch die Gebäudehüllen Österreichs nicht verschonen.
Fassadenvision – das Haus als komfortabel bewohnbares Kraftwerk
Die Kombination von Passivhaus mit kontrollierter Wohnungslüftung, integrierter Kleinstwärme-pumpe, Solarkollektor und PV-Anlage erfüllt schon heute mehr als die Ziele der 2.000
Watt-Gesellschaft. Es zeichnet den Weg zum Null-Energie- und Nullemissionshaus vor! Ein
4-Personen-Haus benötigt etwa 5.000 kWh Strom, welche mit einer 6kWp-PV-Anlage über’s
Jahr in der eigenen Gebäudehülle produziert werden können.
Mit entsprechendem „climatic design“, mit Detailausbildung und integrierten „Shadovoltaic"Elementen wird der thermische und visuelle Komfort in Passivhäusern erreicht, die Architektur
mit Energie produzierenden Solarkomponenten bereichert und so eine zeitgemässe Corporate
Identity erreicht. Die Auseinandersetzung mit entsprechenden Fragestellungen, Planungswerkzeugen und technologischen Möglichkeiten schränkt den Freiraum von Architekten nicht ein,
sondern führt gestalterisch-konstruktive Ausdrucksmöglichkeiten im solaren Zeitalter herbei.
Die Integration „smarter" Sonnenschutz- und PV-Elemente in Gebäudehüllen ersetzt andere
Bauteile, leistet einen Beitrag zur dezentralen und regenerativen Stromversorgung und macht
die Solarisierung unserer Gesellschaft an Gebäudehüllen ablesbar. Der erzeugte Strom fällt
synchron zu Spitzenauslastungszeiten im Netz an.
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Im Passivhaus Schmoelzer in Pratteln betrug
der Netto-Endenergieverbrauch an Elektrizität
für Beleuchtung, Kochen, EDV 19,7 kWh/m2a.
Gemäss Passivhausberechnung wurde mit
einem Energiekennwert Heizwärme und Warmwasser von 14,2 kWh/m2a und zusätzlichem
Hilfsstrom für Kochen, Beleuchtung Waschen,
Trocknen, Gefrieren, EDV von 23,0 kWh/m2a
gerechnet. Er liegt dank PV fast 50 % unter
dem Planwert von 37,2 kWh/m2a.
Abb. 8: Schiebeladen Passivhaus
Pratteln mit Sonnenschutz und PVGenerator
Literatur
[1] „Befreites Wohnen“; Siegfried Giedion; 1929
[2] Aus einem Brief von Paul Scherbart, Freund und Weggefährte des frühen Utopisten Bruno Taut; 1913
[3] „Passivhäuser planen und bauen – Grundlagen, Bauphysik, Konstruktionsdetails, Wirtschaftlichkeit“; Carsten Grobe; Callwey Verlag; München 2002
[4] Thomas Herzog, Architektur und Technologie; Prestel Verlag, München, Seite 19
[5] DIN 5034 empfiehlt für Wohnräume 1 % Tageslichtquotient, für hohe bzw. sehr hohe
Ansprüche 5 bzw. 10 %. In Harmonisierung mit der neuen CEN-Norm prEN 15193 (Energy
Performance of buildings – energy requirements for lighting) führt z.B. das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich seit dem Jahr 2000 systematisch Beleuchtungsplanungen an Neu- und
Altbauten durch
[6] Marktchancen und Technologieperspektiven gebäudeintegrierter PV-Systeme; R. Miloni;
Solartagung; Staffelstein 2006
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