Reform des Sexualstrafrechts

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AUSGABE 7/2016
recht + politik
11. JULI 2016
u n a b h ä ng ig e s Fo r um f ür g ut e R e c ht s p o li t ik
Thema in dieser Ausgabe
Am 7. Juli 2016 hat der Bundestag das Gesetz zur Reform des Sexualstrafrechts beschlossen, mit
der das „Nein-heißt-Nein“-Prinzip im Strafgesetzbuch verankert wurde. Die Änderungen wurden
in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit, die Gunst der Stunde nutzend, durch die zuständigen Ausschüsse gepeitscht. Erst am Vortag hatte der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
(6. Ausschuss) seine Beschlussempfehlung abgegeben, mit der der ursprüngliche Regierungsentwurf
fast vollständig zur Makulatur wurde. Am selben Tag gaben auch alle anderen beteiligten Ausschüsse ihre Empfehlungen ab. Eine Beteiligung der Länder und der Rechtsanwendungspraxis hat
– abgesehen von der Anhörung einiger, dem „Nein-heißt-Nein“ wohlwollend gesinnter Sachverständiger im 6. Ausschuss am 1. Juni – nicht mehr stattgefunden. Dass ein Gesetzentwurf somit praktisch vollständig von einem Ausschuss erarbeitet wird und in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren den ursprünglich eingebrachten Entwurf ersetzt, ist eine Seltenheit, wenn nicht ein Novum.
REFORM DES SEXUALSTRAFRECHTS
Ein Publizist sollte sich
nicht dafür rechtfertigen,
über ein bestimmtes Thema zu schreiben, denn das
könnte die Redlichkeit seines Anliegens in Frage stellen. Mit diesem Grundsatz
möchte ich hier brechen.
Ich äußere mich (erneut,
vgl. recht + politik, Ausgabe
4/2016) zur Reform des
Sexualstrafrechts, weil meine Frau, mit der ich seit
mehr als einem Jahrzehnt
glücklich verheiratet bin,
mich darum gebeten, ja,
mich nachgerade dazu gedrängt hat. Vielleicht, das
ist meine Hoffnung, kann
ich so dem falschen Verdacht entgehen, ich könnte
es mit der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen
nicht ausreichend ernst
nehmen.
Als Strafrichter, aber auch
als Bürger, erfüllt mich die
gegenwärtige politische
Bereitschaft zur Schaffung
immer neuer und immer
„schärferer“ Straftatbestände mit großer Sorge. Als
Strafrichter, weil ich mir
bewusst bin, dass jedes
Strafverfahren und jede
strafrechtliche Verurteilung
für die Betroffenen einen
massiven Eingriff in ihre
Freiheits- und Persönlichkeitsrechte bedeutet. Mit
hoheitlichem Anspruch
solche Verletzungen mit all
ihren weit reichenden Konsequenzen zuzufügen, fällt
häufig schwer. Oft wünscht
man sich als Strafrichter, es
gäbe bessere, harmonischere, humanere Lösungen,
doch dem Schuldausgleich,
der Gerechtigkeit und dem
Opferschutz muss selbstverständlich Genüge getan
werden. Als Bürger fühle
ich mich betroffen, weil das
„scharfe Schwert“ des
Strafrechts unsere Freiheiten nicht nur schützt, sondern sie auch beschneidet,
weil es prozessuale Vorkehrungen erforderlich
macht, um es wirksam zum
Einsatz zu bringen, Eingriffe
in private Bereiche, Datenspeicherungen, Vermögensbeschlagnahmen, Freiheitsentzug – wohlgemerkt alles
unter dem Vorzeichen der
Unschuldsvermutung. Wer
einmal in die Mühlen der
Strafjustiz gerät, wird daraus schwerlich unbeschädigt hervorkommen, auch
wenn er unschuldig ist.
Die nun mit überwältigender Einstimmigkeit und
stehendem Applaus im
Deutschen Bundestag beschlossene Reform des
Sexualstrafrechts schreibt
ein weiteres Kapitel in dem
Buch über die Erziehung
der Gesellschaft durch
Strafen. In diesem Kapitel
geht es nicht in erster Linie
um eine Stärkung des
Rechts von Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung.
Dass dieses zu achten und
schützenswert ist, steht
außer Frage. Das eigentliche Leitmotiv der Reform
ist nicht das des Schützens,
sondern des Strafens.
Überspannte Strafdrohungen
Bereits in dem zugrunde
liegenden Gesetzentwurf
der Regierung hatte irritiert, dass die in § 179 Abs.
Die „Nein-heißt-Nein“Kampagne wurde mit einer bemerkenswerten politischen Dynamik innerhalb kürzester Zeit
durchgesetzt.
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RECHT + POLITIK
REFORM DES SEXUALSTRAFRECHTS
„Anders als bislang ist die
Vergewaltigung nicht mehr
davon abhängig, dass der
Täter das Opfer durch Gewalt, durch Drohung mit
Gewalt oder durch das Ausnutzen einer schutzlosen
Lage nötigt. Eine Vergewaltigung liegt vielmehr auch
dann vor, wenn der Täter
ohne eine Nötigung die Voraussetzungen der Absätze
1 oder 2 erfüllt (Beispiel:
Das Opfer lehnt die sexuelle
Handlung ausdrücklich ab.
Der Täter übt gleichwohl
den Beischlaf an dem Opfer
aus). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen,
dass ein sexueller Übergriff,
der mit einem Beischlaf oder
einer ähnlichen sexuellen
Handlung verbunden ist,
vom Opfer als eine Form
sexualisierter Gewalt empfunden wird und zwar unabhängig davon, ob „Gewalt“
im strafrechtlichen Sinne
ausgeübt wurde.“
Beschlussempfehlung
des 6. Ausschusses, BTDrucks 18/9097, S. 29.
1 Nr. 2 StGB-E vorgesehene
Tatvariante der überraschenden Begehung der Tat,
die auf die Pönalisierung von
Fällen des „Begrapschens“
zielte, mit einem Regelstrafrahmen von sechs Monaten
bis zehn Jahren Freiheitsstrafe versehen war. Das entspricht dem Strafrahmen der
gefährlichen Körperverletzung. In der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Recht und Verbraucherschutz wurde die obere
Strafrahmengrenze immerhin auf fünf Jahre reduziert.
Aber auch ein Strafrahmen
von sechs Monaten bis fünf
Jahren Freiheitsstrafe erscheint mit Blick auf die in
der Regel gegebene Flüchtigkeit solcher Tathandlungen
unangemessen hoch. Hätte
man hier nicht einen Regelstrafrahmen an der unteren
Grenze in Kombination mit
einem Qualifikationstatbestand für schwere Fälle vorsehen sollen? Auch in mehreren Stellungnahmen von
Sachverständigen in der Anhörung des 6. Ausschusses
wurde ein Strafrahmen von
sechs Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe im
Grundtatbestand als zu hoch
angesehen (vgl. Stellungnahme des Deutscher Juristinnenbund e. V., S. 6; Stellungnahme der Sachverständigen
Clemm, S. 10; vgl. ferner
Sachverständige Rabe, Ausschussprotokoll, S. 18 zum
ursprünglichen Strafrahmen).
Entscheidend für die Schwere der Strafdrohung des §
177 StGB-E in der jetzt angenommenen Fassung ist die
Anknüpfung des Grundtatbestands an den Willen des
Opfers. Während im bishe-
rigen Recht die Anwendung
absoluter oder willensbeugender Gewalt seitens des
Täters erforderlich war oder die Ausnutzung einer
hilflosen Lage des Opfers,
reicht es für die Verwirklichung des Grundtatbestands
nunmehr aus, dass der Täter
sexuelle Handlungen „gegen
den erkennbaren Willen“
des Opfers vornimmt. Die
Begründung der Beschlussempfehlung führt dazu aus,
der strafrechtliche Schutz
des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung dürfe
„nicht davon abhängen, ob das
Opfer es selbst, gegebenenfalls
unter hohen Risiken und ohne
konkrete Erfolgsaussichten,
gegen den Täter verteidigt
oder dies zumindest versucht.
Setzt sich der Täter über den
erkennbaren Willen des Opfers hinweg, verletzt er bereits
hierdurch und unabhängig von
der Motivlage oder etwaigen
Verteidigungshandlungen des
Opfers dessen Recht auf sexuelle Selbstbestimmung“ (BTDrucks. 18/9097, S. 22).
Diese sog. „Nein-heißtNein“-Lösung klingt zunächst plausibel, birgt aber
erhebliche Komplikationen
und Risiken, die im Ergebnis
zu einer massiven – und
auch gewollten – Anhebung
der Strafdrohung führen.
Denn die bisherige Anbindung des Tatbestands an die
Ausübung von Gewalt oder
den Einsatz von Nötigungsmitteln gewährleistet, dass
dem Handeln des Täters ein
erhöhter Unrechtsgehalt
innewohnt, der eine hohe
Strafdrohung rechtfertigt
und diese auch absehbar
macht. Es ist ohne weiteres
eingängig, dass die Anwen-
dung von Gewalt oder
Nötigungsmitteln bei der
Ausübung sexueller Praktiken mit anderen Personen
völlig fehl am Platz ist. Wer
sich über dieses soziale
Gebot hinwegsetzt, gibt zu
erkennen, dass er seine
sexuellen Interessen rücksichtslos durchzusetzen
gewillt ist. Er wendet kriminelle Energie auf. Dieser
Bezug fällt mit der bloßen
Anknüpfung an einen erkennbaren Willen des Opfers weg. Denn gemeinsame Sexualität ist stets auch
Kommunikation und als
solche anfällig für alle Erklärungs- und Verstehensfehler, die sie notwendig begleiten: Missverständnisse,
Unaufmerksamkeiten, Widersprüche, Deutungen,
Missinterpretationen von
Rahmenbedingungen, und
so weiter. Mit anderen
Worten: Gewalt anzuwenden oder Nötigungsmittel
einzusetzen, passiert einem
nicht ohne weiteres, wenn
man einige Grundregeln
gesellschaftlichen Zusammenlebens beherzigt. Den
Willen eines anderen nicht
zu berücksichtigen oder
schlicht zu übersehen, ist
hingegen jeder Interaktion
zu einem gewissen Grad
inhärent.
Warum der bloße Wille
des Opfers zum Dreh- und
Angelpunkt massiver Strafdrohungen gemacht wird,
erschließt sich auch strafrechtsdogmatisch nicht
ohne weiteres. Das Strafrecht schützt in der Regel
nicht bloße Bekundungen
des Willens, sondern verteidigt Freiräume für seine
Entfaltung. Das heißt aber
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REFORM DES SEXUALSTRAFRECHTS
auch, dass das Mittel des
Strafrechts erst dann zum
Einsatz gelangt, wenn dem
Einzelnen die Verteidigung
seiner Freiheit selbst nicht
mehr möglich oder zumutbar ist. Auch ein Diebstahl
setzt nicht lediglich die Mitteilung der Eigentümerstellung voraus, sondern Gewahrsam, der gebrochen
werden kann.
Der Paradigmenwechsel,
den die Sexualstrafrechtsreform unternimmt, ist radikal,
seine Konsequenzen sind
gravierend:
Kommt es zwischen zwei
Personen zunächst zu einverständlichen sexuellen
Handlungen und überlegt es
sich eine der beiden – aus
welchen Gründen auch immer – dann anders und tut
dies kund, macht sich der
andere ab diesem Zeitpunkt
– wenn er also nicht unverzüglich seine Handlungen
unterbricht, was nicht jedem
in dieser Situation gleich
leicht fallen dürfte – eines
Sexualdelikts strafbar, zumal
bereits der bloße Versuch,
gegen den Willen des Opfers fortzufahren, strafbar ist
(§ 177 Abs. 3 StGB). Wird
zu diesem Zeitpunkt der
Geschlechtsverkehr bereits
vollzogen, handelt es sich
nach dem reformierten §
177 Abs. 6 Nr. 1 StGB um
eine Vergewaltigung, die mit
Freiheitsstrafe von zwei bis
fünfzehn Jahren (!) bedroht
ist. Führt der Täter noch
dazu z. B. ein Messer mit
sich, sieht er sich einer
Strafdrohung nicht unter
drei Jahren, also außerhalb
des bewährungsfähigen Bereichs, ausgesetzt (§ 177
Abs. 7 StGB). Aus dem Be-
reich des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln ist der tatgerichtlichen Praxis bekannt, wie
wenig ein entsprechendes
Gefahrbewusstsein der Täter betreffend das Mitsichführen von Waffen oder
gefährlichen Gegenständen
die hohe Strafdrohung reflektiert. Diese hohen Strafdrohungen schießen vor
dem Hintergrund, dass gewaltbezogene Handlungen
im Grundtatbestand nicht
mehr erforderlich sind, weit
über das zum Schutz der
sexuellen Selbstbestimmung
Erforderliche hinaus.
Möglichst schwere Strafen
zu fordern, ist wohlfeil,
wenn man sie selbst nicht
verhängen muss. Die Leichtigkeit und auch Lebensferne, mit der die Begründung
des 6. Ausschusses von
schuld- und tatangemessenen Strafen spricht, ist erschreckend. Zu dem Fall des
Mit-sich-Führens einer Waffe oder eines gefährlichen
Gegenstands führt die Begründung aus: „Vor dem aufgezeigten Hintergrund ist die
Verhängung einer Freiheitsstrafe von nicht unter drei Jahren
tat- und schuldangemessen. In
minder schweren Fällen beträgt die Freiheitsstrafe ein
Jahr bis zehn Jahre. Auf diese
Weise können auch solche
Handlungen einer schuldangemessenen Bestrafung zugeführt werden, bei denen das
Unrecht der Tat nicht so
schwerwiegend ist (Beispiel:
Der Täter streichelt das Opfer
gegen seinen erkennbaren
Willen im Intimbereich, einen
Schraubendreher, den er wegen seiner beruflichen Arbeit in
seiner Jackentasche bei sich
trägt, will er aber nicht als
gefährliches Werkzeug einsetzen)“ (BT-Drs. 18/9097, S.
29). Es ist mir unbegreiflich,
warum derlei Aussagen keinerlei Widerspruch hervorrufen. In Zukunft ist wohl
beraten, dass keine Werkzeuge mit sich führt, wer mit
der Möglichkeit eines sexuellen Abenteuers rechnet.
Hinzu kommt, dass die Motive des Opfers, einen entgegenstehenden Willen zu
äußern, noch nicht einmal
„redlich“ sein müssen. Ob
es vielleicht keine Freude
mehr an dem Geschlechtsakt empfindet oder in zeitlicher Bedrängnis ist, ob es
sein vorheriges Einverständnis aus moralischen Gründen bedauert oder ob es
dem Täter oder der Täterin
eine Lektion erteilen, es
bloßstellen, sogar erniedrigen will, all dies ist für die
Begründung der Strafbarkeit
ganz und gar gleichgültig.
Entscheidend ist allein der
Wille des Opfers. Es ist unschwer zu sehen, dass die
bisherigen Merkmale der
Anwendung von Gewalt und
des Einsatzes von Nötigungsmitteln in solchen Fällen ein gewisses Korrektiv
darstellen. Mit dem aus Art.
36 der Istanbul-Konvention
resultierenden Änderungsbedarf, der den Ausschlag
für den Regierungsentwurf
gab, wären auch moderatere
Strafrahmen vereinbar gewesen.
Strafbarkeit „sozialadäquaten“ Verhaltens
Ein weiteres Argument, das
bislang gegen eine „Neinheißt-Nein“-Lösung vorgebracht wurde, sich aber
nicht durchsetzen konnte,
„Nicht übersehen werden
darf in diesem Zusammenhang aber auch die mögliche
gesellschaftliche Tragweite
einer Ausweitung des strafrechtlichen Schutzes vor
unerwünschten sexuellen
Handlungen, da diese die
Gefahr in sich birgt, dass es
zu Missdeutungen und
Missverständnissen und
Unsicherheiten bei der Anbahnung neuer Beziehungen
und Sexualpartnerschaften
kommt, die ein Klima schaffen, in dem rechtstreue Bürger, insbesondere Jugendliche
und junge Erwachsene, aus
Angst vor missverständlichen
Verhaltensweisen und vor
drohender Strafbarkeit zunehmend eine Scheu vor
unbefangenem sexuellen
Verhalten und körperlichen
Annäherungen entwickeln.“
Schriftliche Stellungnahme des Sachverständigen Ohlenschlager, S. 5.
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betrifft die damit einhergehende Pönalisierung im weitesten Sinne sozialadäquaten
Verhaltens. Auf welche Weise das reformierte Sexualstrafrecht künftig in das Leben der Bürgerinnen und
Bürger eingreift, lässt sich an
einigen Beispielen anschaulich illustrieren: Wer gelegentlich seine Partnerin,
wenn diese schläft, liebevoll
küsst oder streichelt, sollte
sich künftig fragen, ob er
nicht in die Gefahr gerät,
sich strafbar gemäß § 177
Abs. 2 Nr. 1 StGB-E zu machen. Denn dass diese schlafend „nicht in der Lage ist,
einen entgegenstehenden
Willen zu bilden oder zu
äußern“, dürfte unstreitig
sein, und ein „Missbrauchen“, wie noch in §
179 Abs. 1 Nr. 2 StGB a. F.
vorausgesetzt, ist künftig
nicht mehr erforderlich. In
Bedrängnis geraten könnten
möglicher Weise auch die
Voyeure, deren Treiben
bislang allenfalls unter dem
Tatbestand der Beleidigung
strafbar war, wenn besondere Umstände vorlagen, die
den Schluss zuließen, dass
der Täter das Opfer in seiner Ehre herabsetzen möchte. Denn wer der Aufforderung, seine unzüchtigen Blicke abzuwenden, nicht folgt,
dürfte damit das Recht des
Opfers, nicht Objekt der
sexuellen Begierde anderer
sein zu müssen, verletzen.
Was eine „sexuelle Handlung“ im Sinne des § 177
Abs. 1 StGB darstellt, definiert das Gesetz nicht, und
anders als der neue § 184i
StGB sieht § 177 Abs. 1
StGB eine Beschränkung auf
körperliche Berührungen
nicht vor. Strafbar macht
sich nach der neuen Rechtslage übrigens auch die Ehefrau, die versucht, ihren
heimkehrenden Mann trotz
dessen ausdrücklicher Erklärung, jetzt keinen Sex haben
zu wollen, sexuell zu stimulieren – selbst wenn sie damit Erfolg haben sollte und
es noch zu einverständlichen
der Bereich bislang gesellschaftlich vielleicht nicht
vorbildlichen aber noch
tolerierten Verhaltens in
Zukunft strafrechtlich stark
reglementiert ist.
Natürlich lässt sich dem
geringen oder nicht gegebenen Unrechtsgehalt in
ethischen Unwerturteils“
geht, sondern auch um die –
im Grundsatz öffentliche –
Ausbreitung von Intima. Bei
allem Verständnis für einen
möglichst umfassenden
Schutz der sexuellen Selbstbestimmung wird diese, die
Beschuldigten betreffende
Seite der Thematik zu wenig
Kriminalitätsentwicklung bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Quelle: Polizeiliche
Kriminalstatistik, Berichtsjahr 2013, S. 131):
Bei einer starken Zunahme der Regelungsdichte und Verschärfung der Sanktionen ist die Kriminalitätsentwicklung seit Jahren leicht rückläufig. Im Gegensatz dazu steht das Kriminalitätsempfinden und die
rechtspolitische Bedeutung des Deliktsbereichs. Insgesamt machen die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bislang weniger als 1 Prozent der Gesamtkriminalität aus.
se x u e l l e n Ha n dl u n g en
kommt (Beispiel nach Eisele,
Schriftliche Stellungnahme, S.
14). Teilnehmerinnen wie
Teilnehmer an Junggesellinnen- und Junggesellenabschieden sollten künftig auf
der Hut sein, wenn aus ihrer
Gruppe heraus Passantinnen
und Passanten Küsse abgenötigt werden, da dies für
jedes Mitglied eine Strafbarkeit nach dem neu geschaffenen § 184j StGB begründen
könnte. Die Beispiele mögen
zugegeben etwas zugespitzt
sein. Sie zeigen aber, dass
solchen Fällen im Wege
der Rechtsanwendung,
etwa über die Annahme
minder schwerer Fälle, in
einem gewissen Maß Rechnung tragen. Im Bereich
des Jugendstrafverfahrens
stehen ohnehin besonders
flexible Reaktionsmechanismen zur Verfügung. Die
eigentliche Dramatik der
Fälle liegt aber in der
Durchführung der Strafverfahren als solchen, zumal es
dabei nicht nur um die
Verhängung eines „sozial-
gewürdigt. Wer einmal Zeuge gewesen ist oder gar
daran mitgewirkt hat, wie
unbeholfenen jungen Menschen, die kaum in der Lage
sind, die Tragweite ihres
Handelns zu begreifen, von
schwarzberobten Hoheitsträgern schwerste strafrechtliche Vorhalte gemacht
wurden weiß, dass es Traumata in diesem heiklen Deliktsbereich nicht nur auf
Opferseite gibt. Es macht
vor diesem Hintergrund
durchaus Sinn, dass bislang
nicht jeder Grenzüber-
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REFORM DES SEXUALSTRAFRECHTS
schreitung mit dem scharfen
Schwert des Strafrechts
begegnet wurde, sondern
nur solchen, die einen erhöhten Unrechtsgehalt verkörpern.
einem Opfer einer Sexualstraftat keine Anerkennung
und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist es für einen
Tatrichter nur, einen Unschuldigen zu verurteilen.
Beweisschwierigkeiten
Vermutlich wird die Zahl
der Verurteilungen wegen
Sexualstraftaten wegen dieser Beweisnot in Zukunft
gar nicht signifikant steigen,
wohl aber die Anzahl der
Strafverfahren, in denen sich
Verdächtige entsprechenden
Vorwürfen stellen müssen
und die Anzahl der Freisprüche wegen mangelnden Tatnachweises sowie von Verfahrenseinstellungen. Auch
die Zahl der von den Familiengerichten an die Strafgerichte verwiesenen Fälle
wird voraussichtlich zunehmen, denn das Bekenntnis,
man habe in einer bereits
zerrütteten Ehe sexuelle
Handlungen über sich ergehen lassen, ohne sie noch zu
wollen, wird in Zukunft den
Anfangsverdacht einer Straftat begründen. Immerhin –
das ist den durch den 6.
Ausschuss vorgenommenen
Änderungen zugute zu halten – wurde das in § 179
Abs. 1 Nr. 3 StGB-E in der
Fassung des Regierungsentwurfs noch vorgesehene
rein subjektive Tatbestandsmerkmal des „Befürchtens“
empfindlicher Übel seitens
des Opfers wieder aufgegeben und durch das objektive
Merkmal des (tatsächlichen)
„Drohens“ eines empfindlichen Übels ersetzt (§ 177
Abs. 2 Nr. 4 StGB).
Hinzu kommt, dass die Erweiterung der Strafdrohung
in unglücklicher Weise gepaart ist mit einer Absenkung „harter“, im Wege der
Beweisaufnahme möglichst
sicher verifizierbarer Anknüpfungspunkte der Strafbarkeit. Während der Einsatz von Gewalt und Nötigungsmitteln häufig Spuren
hinterlassen, trifft dies auf
eine bloße Willensäußerung
meist nicht zu. Die Folge
sind schwierige Aussageg e g e n - A u s s a g e Konstellationen, denen,
wenn es allein um die Frage
geht, ob einmal „Nein“ gesagt wurde, auch mit Glaubwürdigkeitsgutachten nicht
beizukommen ist. Es ist auffällig und fast erschütternd,
dass diesem wichtigen aus
der Rechtsanwendungspraxis vorgetragenem Argument seitens derer, die
selbst nicht die Schwernisse
tatrichterlicher Beweiswürdigung bewältigen müssen,
so wenig Beachtung geschenkt wird. Die Folge
solcher Beweisnot ist nämlich nicht selten ein einverständlicher Verzicht auf die
Wahrheitserforschung im
Sinne für alle Seiten einigermaßen erträglicher verfahrensbeendender Absprachen. So kann und sollte der
justizielle Schutz der sexuellen Selbstbestimmung nicht
aussehen. Eine echte Alternative dazu gibt es häufig
nicht. Denn schlimmer, als
Auf einer soziologischen
Ebene kann man die Frage
stellen, ob und wie die mit
solchen Strafdrohungen einhergehenden Einschränkun-
gen von Freiräumen eigentlich mit unserem gesellschaftlichen Bild von Sexualität vereinbar sind. Wir leben
in einer Zeit, in der junge
Menschen immer früher
sexuelle Reife erlangen
(oder dies jedenfalls anstreben) und immer experimentierfreudiger werden. Dass
es im Verlauf jeder Reifung
zu Fehltritten und Grenzüberschreitungen kommt,
bevor die geltenden sozialen
und rechtlichen Normen
verinnerlicht werden, ist
unvermeidbar. Die Reform
des Sexualstrafrechts sollte
für jede und jeden, die junge
Menschen verantwortungsvoll auf diesem Weg begleiten, Anlass sein, den
Wunsch nach sexuellen Erfahrungen äußerst kritisch zu
hinterfragen und unmissverständlich auf die ihnen innewohnenden strafrechtlichen
Gefahren hinzuweisen.
„Nein-heißt-Nein“ erfordert
viel Erziehungsarbeit und
wird den unbefangenen Umgang der Geschlechter miteinander verändern, da Unbeholfenheit nun nicht mehr
tolerierbar ist. Auch das
Ausblenden, Nichterkennen,
die Unempfänglichkeit für
die Signale und Motivation
des Sexualpartners werden
in Zukunft darüber entscheiden, wer kriminell ist. Als
mehrfacher Vater macht mir
das Sorgen.
Markus Löffelmann
„Beweisfragen sollen an
dieser Stelle nicht überbetont werden, aber dennoch
kurz in den Blick genommen werden. Der Ausgangspunkt ist banal: Je
weiter die tatbestandliche
Fassung, desto stärker
wird die Anzahl der
eingeleiteten Ermittlungsverfahren steigen, wenn nur
der Sexualkontakt erwiesen ist. Eine Konzeption,
die nur an das fehlende Einverständnis oder einen entgegenstehenden Willen anknüpft, erschwert den
Strafverfolgungsbehörden
die Arbeit, da der Kreis
der objektiven Indizien
für ein tatbestandliches
Verhalten auf den Opferwillen verkürzt wird;
andere Merkmale existieren ja nicht. Obgleich die
Anzahl der eingeleiteten
Ermittlungsverfahren steigen wird, wird die Anzahl der Verurteilungen
damit nicht einhergehen.
Wenn der Handelnde ein
Einverständnis bzw. ein
Nichtvorliegen eines Widerspruchs behauptet oder
angibt, zumindest subjektiv
davon ausgegangen zu sein
(dann kein Vorsatz), muss
diese Einlassung widerlegt
werden. Häufig wird hier
Aussage gegen Aussage
stehen, so dass letztlich
nach dem Grundsatz in
dubio pro reo zu verfahren ist, so dass das Verfahren mit einer Einstellung
oder einem Freispruch enden
wird.“
Schriftliche Stellungnahme des Sachverständigen Eisele, S. 8.
una b hä ng ig e s F o r um f ür g ut e R e c hts p o li tik
V.i.S.d.R.:
Dr. Markus Löffelmann
Neuburger Str. 64
85049 Ingolstadt
[email protected]
Zur Person des Verfassers dieses Beitrags:
Dr. Markus Löffelmann ist Richter am Landgericht München I. Zuvor
arbeitete er unter anderem als Staatsanwalt, Referent im Bundesministerium der Justiz und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht.
Beteiligen Sie sich an der rechtspolitischen Diskussion zum Thema Schutz der sexuellen Selbstbestimmung auf unserer Internetplattform www.recht-politik.de oder schicken Sie uns Ihre
Meinung per E-Mail an [email protected].
WEITERFÜHRENDE INFOR MATIONEN ZUM THEMA

Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 25.4.2016, BTDrucks. 18/8210, http://www.bundestag.de/blob/422118/f9dbbfe45850d67f93101e817ac913ca/gesetzentwurf-data.pdf

Stellungnahmen der Sachverständigen zur Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) am
1.6.2016, http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse18/a06/anhoerungen/stellungnahmen/424638

Wortprotokoll der Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) am 1.6.2016, http://
www.bundestag.de/blob/434028/46778dbfeb02d4f3c2a1bbe8f9bb1820/wortprotokoll-data.pdf

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 6.7.2016, BTDrucks. 18/9097, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/090/1809097.pdf

2. Beratung im Deutschen Bundestag, BT-PlPr 18/183 , S. 17998D - 18025B, http://dipbt.bundestag.de/dip21/
btp/18/18183.pdf#P.17998

Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11.
Mai 2011, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=0900001680462535
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