56 2 Apparative Diagnostik der Hirnstammläsionen 2.2.2 B-Bild-Sonographie des Hirnstamms Die transkranielle B-Bild-Sonographie des Hirnstamms ist bei bestimmten neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen sinnvoll, da sie – besser als die konventionelle MRT – spezifische Veränderungen der Substantia nigra und der Mittelhirnraphe nachweisen kann. Wegweisend war die Entdeckung charakteristischer Befunde bei der Parkinson-Krankheit und bei der Depression (Becker et al. 1995a, 1995b); seither wurden diese Befunde repliziert und klinische Anwendungen definiert. Prinzip und Technik Es kommt ein optimiertes Ultraschallsystem mit einem »PhasedArray«-Sektorschallkopf (1,6–2,5 MHz) zur Anwendung. Prinzipiell kann die gleiche Sonde wie bei der Farbduplexsonographie verwendet werden; verschiedene Hersteller haben jedoch für die B-Bild-Sonographie spezielle Schallköpfe mit höherer Auflösung entwickelt. In der Regel werden als Geräteparameter eine Bildtiefe von 14–16 cm und ein dynamischer Bereich mit 45–50 dB gewählt. Die Untersuchung erfolgt unter Verwendung des temporalen Knochenfensters in axialer Schnittführung, wobei der Schallkopf präaurikulär parallel zur Orbito-Meatal-Ebene platziert wird. Trotz Optimierung der Bildparameter (unter anderem Bildhelligkeit, time gain compensation) ist bei 5–10 % der Patienten die Hirnstammbeurteilung aufgrund eines insuffizienten Schallfensters nicht oder nur eingeschränkt möglich. Bei der Untersuchung muss berücksichtigt werden, dass die axiale Bildauflösung besser ist als die laterale. Tissue harmonic imaging (THI-Modus) kann die Auflösung verbessern, ist allerdings noch stärker vom der Güte des Schallfensters abhängig und bislang nicht ausreichend in Studien evaluiert. Im axialen Schnittbild stellt sich das Mesencephalon als schmetterlingsförmige hypoechogene Struktur dar, die von den Abb. 2.2-3 Sonogramm des Gehirns. a) Axiale Schnittführung auf Höhe des Mittelhirns. Der kontralaterale Schädelknochen ist am unteren Bildrand als helle Struktur gut erkennbar. Im Zentrum des Bildes stellt sich das Mesencephalon als schmetterlingsförmige, hypoechogene Struktur dar, die von den stark echogenen basalen Zisternen umgeben ist. Innerhalb des Mittelhirnquerschnitts sind mit angehobener Echo- stark echogenen basalen Zisternen umgeben ist (Abb. 2.2-3). In dieser Ebene wird die Echogenität der meist fleckförmig oder als zartes Band erkennbaren ipsilateralen Substantia nigra, des ipsilateralen Nucleus ruber und der medianen Hirnstammraphe beurteilt. Als Hyperechogenität wird eine abnorm erhöhte Intensität bzw. Fläche des Schallechos im Vergleich zum Normalbefund bezeichnet. Die Graduierung der Echogenität kann semiquantitativ nach dem visuellen Eindruck oder – insbesondere bei der Substantia nigra – quantitativ durch planimetrische Messung echogener Areale erfolgen (Abb. 2.2-4). Da planimetrische Messungen geräte- und schallkopfabhängig sind, müssen Referenzwerte für jedes Ultraschallsystem gesondert an größeren Normalkollektiven ermittelt werden. Eine deutliche Substantia-nigra-Hyperechogenität liegt bei Messwerten oberhalb der 90%-Perzentile der Normalpopulation vor, eine moderate Substantia-nigra-Hyperechogenität bei Messwerten oberhalb der 75%-Perzentile (Berg et al. 2001a). Bei Verwendung des Ultraschallsystems Siemens Sonoline Elegra werden Substantia-nigra-Flächen kleiner als 0,20 cm2 als normal klassifiziert, Flächen zwischen 0,20 und 0,25 cm2 als moderat und ab 0,25 cm2 als deutlich hyperechogen. Die Echogenität der medianen Raphe wird semiquantitativ bewertet (Becker et al. 1995b). Im Normalfall kommt die Raphe als durchgängige linienförmige Struktur zur Darstellung (Abb. 2.2-5). Die Echogenität gilt als mäßig reduziert, wenn die Raphe noch erkennbar, aber schwach echogen bzw. unterbrochen ist, und als deutlich reduziert, wenn die Raphe – trotz guter Darstellbarkeit des Nucleus ruber – nicht vom umgebenden Mittelhirnparenchym abgrenzbar ist. Klinischer Einsatz Frühdiagnostik der idiopathischen Parkinson-Krankheit Circa 95 % der Patienten mit idiopathischer Parkinson-Krankheit weisen eine Hyperechogenität der Substantia nigra auf, die bei 73–79 % deutlich und bei ca. 20 % moderat ausgeprägt genität die Substantia nigra beidseits (ipsilateral: Pfeil 1), der Nucleus ruber beidseits (ipsilateral: Pfeil 2), die mediane Hirnstammraphe (Pfeil 3) sowie der Aquädukt (Pfeil 4) erkennbar. b) Schematische Darstellung von (a); 1 = ipsilaterale Substantia nigra, 2 = ipsilateraler Nucleus ruber, 3 = Hirnstammraphe, 4 = Aquädukt. 2.2 Ultraschalldiagnostik 57 Abb. 2.2-4 Substantia nigra im axialen Sonogramm des Mittelhirns. a) Normalbefund: Die Substantia nigra stellt sich als zart echogene bandförmige bzw. fleckförmige Struktur dar (Pfeile). Gut erkennbar ist auch das Grenzecho des Nucleus ruber beidseits (Pfeilspitzen). b) Abnormer Befund: Die Substantia nigra ist beidseits deutlich hyperecho- gen (Pfeile). Die Beurteilung und planimetrische Messung des Flächeninhalts erfolgt stets ipsilateral. Hier ist die ipsilaterale Substantia nigra für die Messung mit dem Cursor umfahren worden. Der Nucleus ruber ist beidseits abgrenzbar (Pfeilspitzen). c) Schemazeichnung zu (b): SN = Substantia nigra, NR = Nucleus ruber, R = Raphe. Abb. 2.2-5 Hirnstammraphe im axialen Sonogramm des Mittelhirns. a) Abnormer Befund: trotz guter Visualisierung des Nucleus ruber beidseits (Pfeile) ist die Hirnstammraphe (Pfeilspitze) nicht erkennbar; es liegt eine deutlich reduzierte Raphe-Echogenität vor. b) Normalbefund: Die Mittelhirnraphe (Pfeilspitze) ist als deutlich echogene, linienförmi- ge, durchgängige Struktur darstellbar (Pfeil: Nucleus ruber). c) Schemazeichnung zu (b): NR = Nucleus ruber, R = Raphe. Der Bildeinsatz rechts oben zeigt zur leichteren Orientierung ein korrespondierendes MRT-Bild. ist (Berg et al. 2001b; Walter et al. 2006a). Für die klinischen Subtypen (akinetisch-rigider Typ, Äquivalenz-Typ, Tremordominanz-Typ) konnten keine signifikanten Unterschiede der Substantia-nigra-Echogenität gefunden werden. Die größere Substantia-nigra-Echogenität zeigt sich überwiegend kontralateral zur klinisch stärker betroffenen Seite. Sie bleibt im Krankheitsverlauf stabil; eine deutlichere Ausprägung korreliert mit früherem Beginn und langsamerer Progression der Parkinson-Krankheit (Schweitzer et al. 2006). Ursache der Substantia-nigra-Hyperechogenität ist wahrscheinlich eine (genetisch bedingte?) vermehrte Ablagerung von Eisen in abnormen Proteinbindungen. Für eine genetische Ursache spricht die erhöhte Frequenz dieses Befunds bei Angehörigen von ParkinsonPatienten. Eine deutliche Substantia-nigra-Hyperechogenität liegt auch bei etwa 10 % der erwachsenen Normalpopulation vor, mit ähnlicher Häufigkeit in allen Altersdekaden bis zum 80. Lebensjahr (Berg et al. 1999b). Dieser Befund korreliert bei ca. 30-Jährigen in PET-Studien mit einer pathologisch reduzierten 18F-DopaAufnahme in Nucleus caudatus und Putamen, mit dem gehäuften Auftreten eines Parkinsonismus nach Gabe hochpotenter Neuroleptika und, bei über 60-Jährigen ohne extrapyramidalmotorische Vorerkrankung, mit einer motorischen Verlangsamung im Vergleich zu Personen mit normaler Echogenität der Substantia-nigra (Berg et al. 2001a). Diese Befunde legen nahe, dass die Substantia-nigra-Hyperechogenität eine Minderfunktion des nigrostriatalen dopaminergen Systems bereits Jahre bis Jahrzehnte vor der möglichen Manifestation einer ParkinsonKrankheit reflektiert. In prospektiven Studien wird derzeit der 58 2 Apparative Diagnostik der Hirnstammläsionen Tab. 2.2-3 Typische sonographische Befunde der Substantia nigra (SN), des Nucleus lentiformis und des 3. Ventrikels bei Normalpersonen über 60 Jahren sowie Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsbildern. Syndrom SN hyperechogen, wenigstens einseitig Normalsituation SN hyperechogen, beidseitig Nucleus lentiformis hyperechogen 3. Ventrikel dilatiert (> 10 mm) + (+) + (+) +++ + + (+) Multisystematrophie (+) – +++ – progressive supranukleäre Blickparese + – +++ +++ kortikobasale Degeneration +++ +++ +++ – Lewy-Körperchen-Demenz +++ +++ + (+) idiopathische ParkinsonKrankheit Häufigkeiten der abnormen Befunde in den bisherigen Studien: – = bisher bei keinem Fall gefunden; (+) = sehr selten; + = wenig auftretend; ++ = häufig; +++ = fast immer nachweisbar Wert der Hirnstammsonographie für die Vorhersage einer späteren Parkinson-Krankheit untersucht. Differenzialdiagnostik der Parkinson-Syndrome Die Hirnstammsonographie unterstützt die Diskriminierung von idiopathischer Parkinson-Krankheit und atypischen Parkinson-Syndromen (Walter et al. 2003, 2004a). Eine normale Substantia-nigra-Echogenität grenzt die Multisystematrophie von der Parkinson-Krankheit mit über 90%iger Spezifität ab. Eine beidseits deutliche Hyperechogenität grenzt die kortikobasale Degeneration von der progressiven supranukleären Blickparese ab. Die Diagnosesicherheit wird durch die Sonographie weiterer Strukturen (Nucleus lentiformis, 3. Ventrikel) erhöht. Tabelle 2.2-3 zeigt die charakteristischen Befundkonstellationen. Diagnostik affektiver Störungen Eine reduzierte Echogenität der Mittelhirnraphe fand sich gehäuft bei unipolarer Depression und bei mit einer Parkinson-Krankheit assoziierten Depression (Becker et al. 1995b; Berg et al. 1999a). Die reduzierte Raphe-Echogenität korrelierte mit einer Signalalteration im MRT in der Region des Nucleus raphes posterior und wurde als Ausdruck einer Störung des zentralen serotonergen Systems diskutiert. Depressive Patienten mit reduzierter Raphe-Echogenität sprachen in einer Pilotstudie besser auf eine Therapie mit selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern an als Patienten mit normaler RapheEchogenität (Walter et al. 2006b). Ob die Sonographie der Hirnstammraphe ein geeignetes Instrument zur Therapieentscheidung bei depressiven Störungen ist, wird derzeit in Studien untersucht. 2.3 Elektrophysiologische Diagnostik 2.3.1 Blinkreflex Jürgen Marx Der Blinkreflex hat sich seit seiner ersten elektromyographischen Registrierung durch Kugelberg im Jahr 1952 zu dem am weitesten verbreiteten elektrophysiologischen Test der Hirnstammfunktion entwickelt (Hopf 1994). Er ermöglicht eine quantitative Beurteilung der verschiedenen Abschnitte des Lidschlussreflexes. Nach unilateraler Stimulation der sensiblen trigeminalen Afferenzen sind im Oberflächen-EMG des M. orbicularis oculi in der Regel zwei aufeinander folgende Reflexantworten abzuleiten: eine frühe Komponente (R1), die üblicherweise nur ipsilateral zu beobachten ist und eine späte Komponente, die ipsi- (R2) und kontralateral (R2c) zum Reizort abgeleitet werden kann (Abb. 2.3-1). Während die R1-Komponente kein klinisches Korrelat besitzt, entspricht die R2-Komponente dem sichtbaren Augenschluss durch Kontraktion des M. orbicularis oculi. Zusätzlich kann bei stärkerer Stimulation in Größenordnungen der 5- bis 6-fachen sensiblen Schwelle inkonstant auch eine dritte Reflexantwort ipsi- und kontralateral registriert werden (Rossi et al. 1989), die jedoch aufgrund ihrer deutlich schlechteren Reproduzierbarkeit keinen Eingang in die klinische Routinediagnostik gefunden hat. Anatomische und physiologische Grundlagen Die periphere Afferenz des Blinkreflexes stellen sensible nozizeptive Anteile des N. supraorbitalis des ersten Trigeminusastes dar. Die gemeinsame Efferenz aller Antwortkomponenten ist der N. facialis. Nach verschiedenen topographischen MappingUntersuchungen erstreckt sich der zentrale Verlauf für die frühe R1-Komponente nach Eintritt der trigeminalen Afferenzen vom