25 - Praktische Verhaltensmedizin

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Tumoren und andere lebensbedrohliche
Erkrankungen
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A. Dinger-Broda
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25.1
Psychosoziale Belastungen
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und
Folgen
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Menschen, die an Krebs erkranken, leiden häufig
15
an psychischen Begleit- und Folgeerkrankungen;
16
Untersuchungen gehen von bis zu 50% der Betrof17
fenen aus. Es besteht eine hohe Komorbidität ins18
besondere von depressiven Symptomen und
19
Angststörungen. Psychische Reaktionen können in
20
jedem Krankheitsstadium auftreten:
21
bei Diagnosemitteilung,
22
im Verlauf der somatischen Behandlung,
23
nach Abschluss der medizinischen Behandlung,
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im Rahmen der Tumornachsorge,
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beim Auftreten von Rezidiven,
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während des Sterbeprozesses.
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Chronische Krankheit ist kein uniformes Phäno29
men. Die Belastungen, die mit ihr zusammenhän30
gen, sind nicht nur von der Art der Erkrankung
31
abhängig, sondern auch vom individuellen Krank32
heitsverlauf und von den medizinischen Behand33
lungsmaßnahmen. Dennoch gibt es eine Reihe von
34
Gemeinsamkeiten, die das Leiden an einer chroni35
schen Krankheit charakterisieren (Beutel 1988):
36
Irreversibilität des Zustands: darunter auch
37
Wissen um mögliche Rückschläge.
38
Unklare Zukunftsperspektive: Nichtvorher39
sehbarkeit des Krankheitsverlaufs.
40
Lebensbedrohung: Konfrontation mit dem ei41
genen Tod.
42
Nachlassen der Leistungsfähigkeit: Reduktion
43
der körperlichen und psychischen Belastbar44
keit, rasche Ermüdbarkeit.
45
Verlust vertrauter Rollen und Lebensumstän46
de: z.B. Neuverteilung familiärer Aufgaben, Un47
terbrechung oder Aufgabe der Berufstätigkeit.
48
Anpassung an das medizinische Setting: Ori49
entierung an Erfordernissen der Klinikroutine.
50
51
52
Infolge der Anforderungen einer chronischen Erkrankung kommt es zu Auswirkungen im gesamten Lebensumfeld, zu psychischen und sozialen
Folgen:
Psychische Reaktionen: Ängste, Depressionen,
emotionale Labilität, Reizbarkeit, Selbstunsicherheit, Verlust an Selbstwertgefühl.
Familie und Partnerschaft: höhere Belastung
gesunder Familienmitglieder, unter Umständen
psychische und psychosomatische Erkrankungen bei Partnern und Kindern (u.a. Unruhezustände, Schlafstörungen, Depressionen, Ängste),
Kommunikationsstörungen, Nachlassen sexueller Aktivitäten, sexuelle Störungen.
Berufstätigkeit: z.B. berufliche Herabstufung,
geringere Aufstiegschancen, Aufgabe der Berufstätigkeit, Berentung, finanzielle Einbußen,
Statusverlust, negative Reaktionen von Arbeitgebern und ArbeitskollegInnen.
Freizeitaktivitäten und Sozialkontakte: Reduktion von Freizeitaktivitäten, sozialer Rückzug, Unsicherheit im sozialen Kontakt.
Persönlichkeit des chronisch Kranken: vermehrte Gesundheitssorgen, Beschäftigung mit
dem eigenen Körper, hohe Anpassungsbereitschaft, zunehmende Passivität.
Fallbeispiel
Fallbeispiel, Teil 1
Frau K., 52 Jahre, ist an Brustkrebs erkrankt. Der Tumor wurde frühzeitig entdeckt, nach operativer Entfernung des Knotens wurde die Patientin chemo- und
strahlentherapeutisch behandelt, die Prognose ist
günstig. Die Patientin schien die Erkrankung zunächst
gut zu bewältigen. Nach Abschluss der chemotherapeutischen Behandlung traten jedoch massive Angstund Unruhezustände auf. Die Patientin wachte regelmäßig nachts schweißgebadet auf und grübelte über
Fragen nach wie „Warum hat es mich getroffen?“,
„Werde ich sterben müssen?“. Sie konnte nicht mehr
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
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25 Tumoren und andere lebensbedrohliche Erkrankungen
einschlafen, fühlte sich am nächsten Tag erschöpft,
1
wurde zunehmend antriebs- und interesselos. Sie zog
2
sich von allen Sozialkontakten zurück, verließ ihr Zu3
hause nur noch in Begleitung ihres Ehemannes oder der
4
beiden erwachsenen Kinder. Ihre Familie kümmerte
5
sich fürsorglich um sie, war sehr besorgt um ihren Ge6
sundheitszustand. An ihren Arbeitsplatz in einer Schuh7
fabrik kehrte sie nach ihrer Erkrankung nicht mehr zu8
rück, stellte schließlich den Antrag auf Berentung.
9
Frau K. fühlte sich somatisch gut betreut, war durch ih10
ren Hausarzt und die weiteren ambulanten und statio11
nären Behandler angemessen aufgeklärt und wusste um
12
den günstigen Krankheits- und Behandlungsverlauf. Da
13
sich ihre psychische Situation jedoch eher verschlechter14
te als stabilisierte, erfolgte schließlich die Vorstellung bei
15
einem Facharzt für Psychiatrie. Dieser verordnete eine
16
antidepressive Medikation, empfahl aber auch die Auf17
nahme einer fachpsychotherapeutischen Behandlung.
18
Frau K. war anfänglich zögerlich, entschloss sich aber
19
dann doch dazu, zumal sie durch die medikamentöse
20
Behandlung nur wenig Erleichterung verspürte.
21
22
23
24
25.2 Diagnostik
25
26
Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf
27
die Erfassung der psychosozialen Situation, die
28
ausführliche somatische Diagnostik bleibt hiervon
29
unberührt. Ziel der diagnostischen Maßnahmen ist
30
zum einen die Kenntnis über die spezifischen psy31
chischen Belastungen der Erkrankten, deren Be32
wältigungsressourcen und die sozialen Folgen der
33
Erkrankung, zum anderen sollte die Diagnostik
34
Entscheidungsgrundlage für die Indikationsstel35
lung zu psychotherapeutischen Hilfen sein.
36
37
38Praktisches Vorgehen
39
40Grundlage ist das Patientengespräch. Folgende
41Fragen sollten dabei zur Sprache kommen:
42 „Wie fühlen Sie sich? Sind Sie niedergeschlagen,
43 bedrückt, unruhig, ängstlich?“
44 „Welche Sorgen beschäftigen Sie im Augen45 blick?“
46 „Wie wirkt sich die Erkrankung auf Ihren Alltag
47 und die Beziehungen zu anderen Menschen aus,
48 welche Veränderungen sind in Ihrem Leben ein49 getreten?“
50 „Wer unterstützt Sie, mit wem können Sie am
51 besten sprechen?“
52
„Was haben Sie bislang unternommen, um mit
der Erkrankung und ihren Folgen zurechtzukommen?“
„Was könnte Ihnen im Augenblick weiter helfen?“
Zur Identifikation psychischer Störungen, insbesondere behandlungsbedürftiger Ängste und Depressionen, kommt den Screening-Verfahren eine
große Bedeutung zu. Der Einsatz kurzer Selbstbeurteilungsfragebögen zur Erfassung der psychischen Befindlichkeit könnte dazu verhelfen,
psychische Störungen bei körperlich Kranken
frühzeitig zu erkennen und einer Fachbehandlung
zuzuführen (z.B. Hospital Anxiety and Depression
Scale – deutsche Version (HADS-D); Hermann et
al. 1995).
25.3
Interventionen
25.3.1 Behandlungsgrundsätze
Ziel der psychosozialen Unterstützung ist es, die
Belastungen und Folgen einer lebensbedrohlichen
Erkrankung zu bewältigen. Sie soll dazu verhelfen
(Schüßler 1993):
mit Schmerzen und körperlichen Einschränkungen zurechtzukommen,
mit der somatischen Behandlung und ihren Nebenwirkungen zurechtzukommen (z.B. Übelkeit, Erbrechen),
gute und kooperative Beziehungen zu den Behandlern aufzubauen,
ein emotionales Gleichgewicht zu erhalten
oder zu fördern,
ein befriedigendes Selbstbild aufzubauen und
Selbstkompetenz zu erhalten,
Beziehungen zur Familie und zu Freunden aufrechtzuerhalten,
sich auf eine unsichere Zukunft vorzubereiten.
Wichtig ist es, dabei ressourcenorientiert vorzugehen. Da eine chronische körperliche Erkrankung
mit zahlreichen Einschränkungen einhergeht, sollte die psychosoziale Betreuung gerade dazu beitragen, dass sich Patientinnen und Patienten auf noch
vorhandene Möglichkeiten und eigene Stärken besinnen und daran anknüpfend notwendige Verhaltensänderungen vornehmen können. Gelegentlich
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
25.3 Interventionen
bietet ein so gravierendes Lebensereignis wie eine
1
chronische Erkrankung auch die Chance zu einer
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Neuorientierung, und lange anstehende Verände3
rungswünsche und Problemlösungen können in
4
Angriff genommen werden.
5
Grundlage jeder psychosozialen Hilfestellung
6
ist eine tragfähige und vertrauensvolle Bezie7
hung zwischen Behandler und Patient. Dazu gehö8
ren:
9
Verständnis für die jeweilige Situation, Akzep10
tanz der Sorgen und Ängste des Betroffenen,
11
Vermittlung von Hoffnung, aber auch Akzep12
tanz von Hoffnungslosigkeit,
13
keine unrealistischen Heilsversprechen,
14
Bereitschaft, auch über tabuisierte Themen wie
15
Sterben und Tod zu sprechen,
16
gemeinsames Aushalten von Gefühlen von
17
Traurigkeit, aber auch von Aggression,
18
Begleitung des Krankheits-, aber auch des Be19
wältigungsprozesses,
20
Hervorheben und Verstärken von Bewälti21
gungskompetenz.
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25.3.2
Psychosomatische
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Grundversorgung
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Grundsätzlich bedarf jeder Mensch mit einer
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lebensbedrohlichen Erkrankung einer psychoso29
matischen Grundversorgung. Hierzu gehören Auf30
klärung, Beratung, Unterstützung bei der Krank31
heitsbewältigung und eine Berücksichtigung der
32
gesamten Lebenssituation des Betroffenen (z.B.
33
Hilfestellung bei Rentenfragen, Gespräche mit Fa34
milienmitgliedern, um deren Belastungen abschät35
zen zu können). Neben der hausärztlichen und
36
fachärztlichen Betreuung, die unverzichtbar ist,
37
können Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und
38
soziale Dienste bedeutsame Anlaufstellen sein.
39
Wichtig sind die Koordination und Vernetzung
40
der entsprechenden Stellen, die schnelle Verfüg41
barkeit und die Flexibilität der Angebote. Zu einer
42
guten psychosomatischen Grundversorgung ge43
hört daher zunächst die Kenntnis der behandeln44
den Ärzte über entsprechende Angebote in der Re45
gion. Umgekehrt ist es Aufgabe der psychosozialen
46
Dienste, ihre Angebote bei den niedergelassenen
47
Ärzten und den Kliniken bekannt zu machen und
48
sich auch um Öffentlichkeitsarbeit zu bemühen.
49
Eine weitere wichtige Aufgabe der psychosoma50
tischen Grundversorgung ist die Indikationsstel51
lung für eine fachpsychotherapeutische Behand52
235
lung. Die Indikation ist gegeben, wenn Patienten in
einer Belastungssituation psychisch überfordert
erscheinen und adaptive Strategien zur Bewältigung nicht zur Verfügung stehen. In der Regel sind
dann behandlungsbedürftige psychische Störungen die Folge, die über einen längeren Zeitraum
bestehen und nicht durch supportive Gespräche
alleine zu bewältigen sind.
Als den Krankheitsverlauf und die Befindlichkeit
günstig beeinflussendes Patientenverhalten erweist sich aktiv-zupackendes, problemorientiertes,
auf Zuwendung bedachtes und phasenweise ablenkendes und dissimulierendes Verhalten. Als weniger günstig gelten passives Verhalten, sozialer
Rückzug, Resignation, Schuldzuschreibung und rigides Verhalten.
Diagnose- und Prognosemitteilung
Aufklärungsgespräche sind besonders für Patienten, aber auch für Ärzte belastend. Über der Streitfrage, ob und in welchem Umfang Betroffene über
ihre Erkrankung und die Prognose aufgeklärt werden, wird vergessen, dass es wesentlich auf das
Vorgehen bei der Informationsvermittlung und die
Gesprächsführung ankommt (siehe Kap. 4). Kein
Mensch ist in der Lage, alle wichtigen Informationen zu nur einem Zeitpunkt aufzunehmen und
zu verstehen, vielmehr ist die Verarbeitung einer
chronischen Erkrankung ein Prozess, der Zeit benötigt und bei dem sich immer neue Fragen stellen
können. Es sollte daher auf ärztlicher Seite die Bereitschaft und die Möglichkeit zu wiederholten
Gesprächen bestehen. Es ist besonders wichtig, im
Gespräch Vorwissen und Informationsbedürfnis
zu klären, des Weiteren bei der Wissensvermittlung auf Emotionen zu achten und diese auch zulassen zu können. Abschließend sollte immer auf
weitere Gesprächs- und Unterstützungsmöglichkeiten hingewiesen werden (Köhle 2002).
Oft sind Leugnungs- und Verdrängungsprozesse
bei den Patienten schwer zu akzeptieren (z.B.
Wunschträume und Zukunftspläne in einer aussichtslosen Situation). Es handelt sich hierbei jedoch um wichtige Schutzmechanismen, die nicht
genommen werden sollten, es sei denn, sie stellen
wirklich eine Gefährdung des Menschen dar. Respekt für den Menschen und Akzeptanz seiner individuellen Reaktionen sind wichtige Grundhal-
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25 Tumoren und andere lebensbedrohliche Erkrankungen
tungen, die Aufklärungsgespräche zu hilfreichen
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und unterstützenden Maßnahmen in der Krank2
heitsverarbeitung werden lassen (Husebø u. Kla3
schik 2003).
4
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6
Sterbebegleitung
7
8
Eine besondere Situation bedeutet die Begleitung
9
eines Menschen, dessen Zustand sich so ver10
schlechtert hat, dass der Tod unmittelbar bevor11
steht. Es ist wichtig, den PatientInnen dann zur
12
Verfügung zu stehen, wenn sie es wünschen. Die
13
Betreuenden sollten dem sterbenden Menschen
14
verbal wie nonverbal das Gefühl vermitteln, nicht
15
alleine gelassen zu werden. Sterbende Menschen
16
sind häufig bis kurz vor ihrem Tod ansprechbar,
17
sodass Gespräche möglich sind. Die Fähigkeit zur
18
Sterbebegleitung sollte durch spezielle Fortbil19
dungen (Gesprächsfertigkeiten, eigene Entlas20
tungsmöglichkeiten) grundsätzlich jeder Berufs21
gruppe vermittelt werden, die mit Tod und
22
Sterben konfrontiert ist, also vor allem Pflegeper23
sonal und ÄrztInnen.
24
25
26
25.3.3 Fachpsychotherapie
27
28
Fachpsychotherapeutische Behandlung kann je
29
nach Krankheitszustand, Lebenssituation und Be30
handlungszielen sehr unterschiedlich und vielfäl31
tig sein (Strauß 2002). Aufgabenstellung ist neben
32
der generell zu fordernden emotionalen Stützung
33
die Stärkung von Selbsthilfefähigkeiten, um Belas34
tungen situationsadäquat meistern zu können.
35
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37
Einzeltherapie
38
39
Bei der einzeltherapeutischen Betreuung kann es
40
sich um Beratungsgespräche, Kriseninterventio41
nen oder Kurzzeit-/Langzeittherapien handeln.
42
Auch Sterbebegleitung (siehe oben) kann Teil der
43
fachpsychotherapeutischen Einzelbetreuung sein.
44
Anlässe für psychotherapeutische Einzelthera45
pie sind in der Regel Schwierigkeiten mit der
46
Krankheitsbewältigung, beispielsweise eine feh47
lende Auseinandersetzung mit der Erkrankung bis
48
hin zur Verleugnung oder aber eine zu intensive
49
Beschäftigung begleitet von Grübeln, innerer
50
Unruhe, depressiven Verstimmungen, Ängsten,
51
Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten
52
und anderen psychosomatischen Begleitsymptomen. Hinzu kommen Probleme, die nur sekundär
im Zusammenhang stehen, z.B. Kommunikationsschwierigkeiten in der Partnerschaft, die evtl. im
Verlauf der Erkrankung ein gravierendes Ausmaß
angenommen haben.
Zielsetzungen. Häufige Zielsetzungen sind
die Veränderung depressiver Gedankengänge,
die Entwicklung von Zukunftsperspektiven,
die Erstellung eines Aktivitätenplans,
die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit,
die Erhöhung der Fähigkeit, zu entspannen und
sich abzulenken,
der adäquate Umgang mit Ängsten,
der Abbau von inneren Spannungen,
die Stärkung selbstsicheren Verhaltens und
die Entwicklung eines positiveren Selbstbildes.
Techniken. Je nach Zielsetzung kommen unterschiedliche Techniken zum Einsatz. Unterstützende Gespräche und Verständnis für die Situation
des chronischen Krankseins sind dabei Voraussetzung. Darüber hinaus können Verhaltensübungen,
Rollenspiele, kognitive Umstrukturierungen, Entspannungsübungen und Fantasiereisen hilfreiche
therapeutische Strategien sein, die den Betroffenen das Gefühl vermitteln, etwas an der individuellen Situation verändern zu können. So kann
beispielsweise eine Stärkung selbstsicheren Verhaltens mittelbar auch zu einem aktiveren und
hoffnungsvolleren Umgang mit der Erkrankung
führen.
Verhaltensmedizinische Maßnahmen
In der Verhaltensmedizin wurden spezielle Trainingsprogramme entwickelt, die zumeist in Gruppen durchgeführt werden. Diese sind an spezifischen Symptomen bzw. Problemstellungen
orientiert und werden oft interdisziplinär durchgeführt. Vermittelt werden z.B. Strategien zur Reduktion von Erbrechen und Übelkeit, Techniken
zur Schmerzbewältigung, Stressmanagement.
Der Vermittlung von Entspannungstechniken
kommt eine besondere Bedeutung zu, da diese sich
als hoch effektiv bei der Bewältigung von Befindensstörungen wie z.B. antizipatorischer Übelkeit
bei chemotherapeutischer Behandlung erwiesen
haben. Ergänzt werden Verfahren wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson durch Vor-
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25.4 Empirische Absicherung
stellungsübungen und Fantasiereisen. Günstige
1
Wirkungen werden dabei nicht nur durch die Ver2
ringerung der muskulären Anspannung erzielt,
3
wesentlich sind auch die Erhöhung der subjekti4
ven Kontrollierbarkeit und das Nachlassen von Ge5
fühlen von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein.
6
7
8
Supportive Gruppengespräche
9
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Vorwiegend an Rehabilitationskliniken werden
11
Gesprächsgruppen angeboten, in denen Betroffene
12
die Möglichkeit haben, über ihre Erfahrungen, Be13
lastungen und Gefühle zu sprechen und im Aus14
tausch mit MitpatientInnen Verständnis, Zuwen15
dung und Unterstützung zu erfahren. Häufige
16
Themen sind die Bewältigung von Ängsten, (z.B.
17
vor der nächsten Nachsorgeuntersuchung), der
18
Umgang mit anderen Menschen (z.B. die Scheu
19
über die Erkrankung zu sprechen), der Umgang
20
mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen, berufli21
che Probleme (z.B. Fragen einer möglichen Beren22
tung), die Entwicklung neuer Lebensperspektiven
23
und immer wieder die Frage, warum die eigene
24
Person von dieser Erkrankung betroffen wurde,
25
und damit verbunden die Unsicherheit, welche
26
Veränderungen im Erleben und Verhalten einge27
leitet werden müssen (z.B. „Bin ich krank gewor28
den, weil ich immer nur für andere da war?“, „Wie
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reagieren die anderen, wenn ich mich jetzt mehr
30
durchsetze?“).
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33
Fallbeispiel
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Fallbeispiel, Teil 2
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Zu Beginn der Behandlung äußerte Frau K. Zweifel am
37
Nutzen einer psychotherapeutischen Behandlung. Sie
38
fürchtete, durch Gespräche über ihre Erkrankung nur
39
noch „tiefer zu fallen“. Dies hatte sie beim Besuch einer
40
Selbsthilfegruppe so erlebt und wollte daher auch kei41
nesfalls mehr diese Gruppe aufsuchen. Nachdem ihr
42
versichert worden war, dass sie nur über ihre Probleme
43
und Sorgen sprechen müsse, wenn sie dies wolle, und
44
es in der Psychotherapie vielmehr darum gehe, ihre Fä45
higkeiten wieder zu stärken, den Alltag zu bewältigen,
46
war sie erleichtert und konnte offener über ihre Ängste
47
und grübelnden Gedanken berichten. Sie erlebte, dass
48
das Aussprechen ihrer Gefühle und Gedanken entlas49
tend war und sie sich dadurch besser distanzieren
50
konnte. Als Behandlungsziele wurden mit ihr schließ51
lich vereinbart: die Bewältigung der Zukunftsängste,
52
237
aktivere Alltagsgestaltung, die Wiederaufnahme sozialer Kontakte. Neben supportiven Gesprächen kamen
als verhaltenstherapeutische Methoden zum Einsatz:
Erlernen eines Entspannungstrainings, kognitive Techniken (z.B. Gedankenstopp, Überprüfen des Realitätsgehalts von ängstigenden Gedanken), Tagespläne zur
Alltagsstrukturierung, Problemlösestrategien, Rollenspiele (zur Stärkung der Selbstsicherheit in Sozialkontakten).
Frau K. wurde über einen Zeitraum von 18 Monaten
psychotherapeutisch behandelt, es wurden insgesamt
30 Sitzungen (mit zunehmend größerem Abstand zwischen den Terminen) durchgeführt. Die Patientin stabilisierte sich psychisch, sie konnte ihre Tumorerkrankung realistischer einschätzen. Ängste, Depressionen
und psychosomatische Symptome waren wesentlich
gebessert, die Patientin fühlte sich aktiver, lebensfroher und selbstbewusster. Die Patientin war sich auch
sicher, dass sie mögliche Rückschläge werde besser bewältigen können, da sie entlastende Faktoren wie soziale Unterstützung, Ausdruck von Emotionen und Suche nach Informationen als für sich wichtig erkannt
hatte.
25.4
Empirische Absicherung
Kontrollierte Interventionsstudien konnten die
Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen
belegen. Bereits angemessene Aufklärung und andere edukative Maßnahmen können das Befinden
der Erkrankten verbessern, indem sie die Kontrollierbarkeit der Situation erhöhen. Entspannungstraining, kognitiv-behaviorale Maßnahmen und
supportive Gruppentherapie beeinflussen die
Krankheitsbewältigung und die Lebensqualität positiv. Weitere Auswirkungen psychologischer Interventionen z.B. auf die Veränderung immunologischer Parameter oder auf die Überlebensdauer
von Tumorerkrankten konnten in einzelnen Studien belegt werden (Stockhorst 2003).
Zusammenfassung
Chronische körperliche Erkrankungen haben in hohem Ausmaß psychische Störungen zur Folge, vor
allem Ängste und Depressionen.
Alle chronisch körperlich Kranken benötigen psychosoziale Hilfestellungen, in unterschiedlicher Intensität und Häufigkeit.
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
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25 Tumoren und andere lebensbedrohliche Erkrankungen
1 Die spezifische Kenntnis der psychosozialen Situa2 tion der betroffenen Menschen ist die Vorausset3 zung weiterer Hilfestellungen.
4 Ziele sind die Bewältigung der Belastungen und Fol5 gen einer chronischen körperlichen Erkrankung
6 und damit die Verbesserung der Lebensqualität.
7 Grundlage jeder psychosozialen Hilfestellung ist
8 eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung zwi9 schen BehandlerIn und PatientIn.
10Die Wirksamkeit von edukativen Maßnahmen, Ent11spannungsmethoden, verhaltenstherapeutischen
12Techniken und supportiver Gruppentherapie ist
13empirisch nachgewiesen.
14Psychosoziale Angebote müssen flexibel und
15schnell verfügbar und mit den somatischen Maß16nahmen koordiniert sein.
Literatur
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Hermann Ch, Buss U, Snaith RP. Hospital Anxiety and
Depression Scale – Deutsche Version (HADS-D). Göttingen: Hogrefe, 1995
Husebø S, Klaschik E. Palliativmedizin. 3. Aufl. Berlin,
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Köhle K. Ärztliche Gesprächsführung und Mitteilung
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Stockhorst U. Krebserkrankungen. In: Ehlert U (Hrsg):
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