Fortbildung Ein 15-jähriges Mädchen mit e ­ rsten zerebralen Anfällen, depressiver Verstimmung und ausgeprägter ­Vergesslichkeit 1 2 3 1 1 1 Regina Hofmann , Stefan Gattenlöhner , Klaus-Peter Wandinger , Bernd A. Neubauer , Andreas Hahn | Zentrum für Kinder2 heilkunde und Jugendmedizin, Abt. Neuropädiatrie, Sozialpädiatrie und Epileptologie, Gießen; Institut für Pathologie, Gießen; 3 Euroimmun Labordiagnostika AG, Lübeck Anamnese und Befund Ein 15-jähriges Mädchen wird notfallmäßig nach einem ersten generalisierten tonisch-klonischen Anfall vorgestellt. Bei Aufnahme ist der neuropädiatrische Untersuchungsbefund unauffällig. Die Patientin ist wach und orientiert zu Zeit, Ort und Person, wirkt aber auffällig verstimmt und depressiv. Die Anamnese hinsichtlich relevanter Vorerkrankungen, Traumata, Medikamenteneinnahme oder Alkoholkonsum ist negativ. Allerdings berichten die Eltern, dass sie in den letzten 2 bis 3 Wochen eine zunehmende Vergesslichkeit und depressive Verstimmung bei ihrer Tochter bemerkt haben. Das Routine- labor inklusive CRP sowie Blutgasanalyse, Laktat- und Ammoniakbestimmung ist unauffällig. Ein MRT des Kopfes und ein initiales EEG zeigen ebenfalls unauffällige Befunde. Im lumbalen Liquor finden sich aber eine milde lymphozytäre Pleozytose mit 12 Zellen/µl und positive oligoklonale Banden bei ansonsten unauffälligem Befund. Bei möglicher infektiöser ZNSErkrankung wird polypragmatisch eine Therapie mit Aciclovir, Clarithromycin und Ceftriaxon begonnen, die im Verlauf nach Erhalt unauffälliger mikrobiologischer und virologischer Befunde wieder beendet wird. Im Langzeit-EEG werden mehrere komplex-fokale Anfälle mit In- Kinderärztliche Praxis 84, 225 – 228 (2013) Nr. 4 www.kipra-online.de nehalten und verminderter Responsivität mit einer Dauer zwischen 40 und 120 Sekunden registriert. Die Patientin wird mit Levetiracetam behandelt, was nach intravenöser Aufsättigung zu promptem Sistieren der Anfälle und Normalisierung des EEGs führt. In der ersten Woche nach Aufnahme nimmt die Merkfähigkeitsstörung der Patientin aber derart zu, dass sie nicht mehr in der Lage ist, ihr Zimmer auf Station zu finden. Wie lautet Ihre Verdachtsdiagnose? 225 Fortbildung Autoimmunenzephalitis Eine Autoimmunenzephalitis ist eine zumeist bei Erwachsenen auftretende, chronische, nichtinfektiös bedingte, lymphozytär-mikroglial dominierte Entzündung des Gehirns [4]. Es können paraneoplastische und nichtparaneoplastische Fälle unterschieden werden. In beiden Gruppen kann wiederum eine Differenzierung in autoantikörperpositive und -negative Patienten erfolgen. Die Antikörper können gegen intrazelluläre Antigene oder gegen Zellmembranantigene gerichtet sein. Während bei Vorliegen von Antikörpern gegen intrazelluläre Strukturen meist eine paraneoplastische Form vorliegt, bleibt die Tumorsuche bei Nachweis von Oberflächenantigenantikörpern öfter negativ [5]. Auch die Prognose ist dann günstiger. Das EEG zeigt nicht selten eine unspezifische Verlangsamung. Im MRT können unspezifische Signalanhebungen in den T2- und FLAIR-Aufnahmen meist ohne Kontrastmittelaufnahme zu finden sein [4], doch können solche Veränderungen wie bei unserer Patientin auch fehlen. Die Diagnose kann als gesichert gelten, wenn anti- bzw. onkoneuronale Autoantikörper nachgewiesen werden können. An eine Autoimmunenzephalits muss immer dann gedacht werden, wenn die Erstmanifestation einer Epilepsie mit einer deutlichen Merkfähigkeitsstörung und einer Wesensänderung einhergeht. Daher erfolgte unter der Annahme einer autoimmunologisch bedingten Enzephalitis bei unserer Patientin eine 3-tägige hoch dosierte intravenöse Methylprednisolon-Gabe (750 mg/Tag) mit anschließender PrednisolonDauertherapie (1 mg/kg Körpergewicht und Tag). 10 Tage nach Aufnahme konnte die Verdachtsdiagnose durch Nachweis von Antikörpern gegen den NMDA-Rezeptor im Serum bestätigt werden. N-Methyl-D-Aspartat-RezeptorAntikörper (Anti-NMDA)-RezeptorEnzephalitis Bei der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis handelt es sich um eine 2007 zuerst beschriebene Krankheitsentität, die vorwiegend junge Frauen und Mädchen be- 226 Tab. 1: Synopsis Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis Definition Nichtinfektiöse Enzephalitis mit Nachweis von Antikörpern gegen den NMDA-Rezeptor Symptome Prodromalstadium mit unspezifischen, grippeähnlichen Beschwerden, Persönlichkeitsveränderung, Affektstörung und insbesondere Neugedächtnisstörung, epileptische Anfälle, evtl. auch Dyskinesien, autonome Symptome wie Schluck-, Atem-, und Herzrhythmusstörungen Diagnostik Typische Klinik, Nachweis von Antikörpern gegen den NMDA-Rezeptor, im MRT Signalanhebungen in den FLAIR-/T2-gewichteten Bildern zumeist ohne Kontrastmittelaufnahme, im EEG langsame, rhythmische DeltaTheta-Aktivität), Nachweis eines ovariellen Teratoms bei Kindern in ca. 10 – 30 % der Fälle Therapie Immunsupressive Eskalationstherapie, ggf. Tumorbehandlung trifft [1]. Die Erkrankung beginnt oft mit einem grippe-ähnlichen Vorstadium, gefolgt von psychiatrischen und neurologischen Symptomen (Tab. 1). Anfangs bestehen zudem oft eine Persönlichkeitsveränderung, eine affektive Störung und ein Wechsel zwischen Katatonie-ähnlichen Zuständen und Agitation [2]. Im Verlauf kommen neurologische Symptome wie kognitive Einschränkungen, epileptische Anfälle oder Staten sowie Dyskinesien hinzu [2]. Bei einem Teil der Patienten kann eine autonome Instabilität zu Herzrhythmusstörungen oder Hypoventilation führen, die eine intensivmedizinische Behandlung erfordern können [2]. Bei mehr als der Hälfte der Erkrankten ist die Ursache für die Enzephalitis ein pa- raneoplastisches Geschehen im Rahmen einer Tumorerkrankung [5]. Ganz überwiegend handelt es sich dabei um ovarielle Tumoren [4]. Immunpathogenetisch wird angenommen, dass eine Immunreaktion gegen neuronale Bestandteile eines Tumors sich auch gegen Neurone des zentralen Nervensystems richtet [6]. NMDA-Rezeptoren an der Zelloberfläche von Neuronen sind für eine ungestörte Signalüberleitung im zentralen Nervensystem wichtig. Der passagere Verlust von ­NMDA-Rezeptoren durch die gebildeten Antikörper führt zur Inaktivierung von hemmenden GABAergen Neuronen, die eine diffuse Hirnfunktionsstörung insbesondere im Hippocampus nach sich zieht [2]. Abb. 1: MRT des Abdomens mit Nachweis einer zystischen, glatt begrenzten Raumforderung ausgehend vom rechten Ovar (Pfeil). Kinderärztliche Praxis 84, 225 – 228 (2013) Nr. 4 www.kipra-online.de Fortbildung Abb. 2 A: Makroskopisches Präparat des ca. 8 x 5 x 4,5 cm großen abgekapselten Tumors. Abb. 2 B: Mikroskopisches Präparat eines reifen Teratoms mit den hierfür typischen Haut­anteilen in Form von Epidermis, Haarfollikeln und Talgdrüsen sowie subkutanem Fettgewebe. Kinderärztliche Praxis 84, 225 – 228 (2013) Nr. 4 www.kipra-online.de 227 Fortbildung Wesentliches für die Praxis . . . ◾◾ Durch Autoantikörper gegen ZNS-Strukturen verursachte Enzephalitiden müssen als eine mögliche Ursache von Epilepsien bedacht werden. ◾◾ Psychische Veränderungen und insbesondere eine Merkfähigkeitsstörung in Zusammenhang mit der Neumanifestation von epileptischen Anfällen müssen an eine Autoimmunenzephalitis denken lassen. ◾◾ Der Nachweis von antineuronalen Antikörpern sichert die Diagnose einer Autoimmunenzephalitis und ist aus Serum möglich. ◾◾ Eine möglichst frühzeitige Diagnose und Therapie verbessert signifikant die Prognose betroffener Patienten. Zur weiteren Abklärung führten wir bei unserer Patientin ein MRT des Abdomens durch, das tatsächlich den Verdacht auf ein Teratom des rechten Ovars ergab (Abb. 1). Der Tumor konnte komplett entfernt und die Verdachtsdiagnose eines reifen Teratoms histopathologisch bestätig werden (Abb. 2 A und 2 B). Prognostisch günstig scheint sowohl bei paraneoplastisch wie auch autoimmunologisch bedingten Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitiden die möglichst rasche Einleitung einer immunsupressiven oder -modulierenden Therapie sowie ggf. die komplette operative Entfernung des Tumors zu sein. Unter Methylprednisolontherapie und Tumorexstirpation besserten sich die kognitiven Fähigkeiten bei der hier vorgestell- 228 ten Patientin deutlich. So waren die initial in der testpsychologischen Diagnostik dramatisch unterdurchschnittlichen Leistungen in den Bereichen Konzentration, Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie Lernund Merkfähigkeit bereits nach 4 Wochen nahezu wieder vollständig normalisiert. Auch die Stimmungslage der Patientin besserte sich deutlich. 5 Wochen nach Aufnahme konnte das Mädchen in gutem Allgemeinzustand entlassen werden. and analysis of the effects of antibodies. Lancet Neurol 7: 1091 – 1098 4. Florance NR, Davis RL, Lam C, Szperka C, Zhou et al. (2009) Anti-N-methyl-D-aspartate receptor (NMDAR) encephalitis in children and adolescents. Ann Neurol 66: 11 – 18 5. Lancaster E, Martinez-Hernandez E, Dalmau J (2011) Encephalitis and antibodies to synaptic and neuronal cell surface proteins. Neurology 77: 179 – 189 6. Pedrosa DJ, Geyer C, Klosterkötter J, Fink GR, Burghaus L (2012) Anti-NMDA Receptor Encephalitis: A Neurological and Psychiatric Emergency. Fortschr Neurol Psychiatr 80: 29 – 35 Korrespondenzadresse Dr. med. Regina Hofmann Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Abt. Neuropädiatrie, Sozialpädiatrie und ­Epileptologie Feulgenstraße 12 35385 Gießen E-Mail: [email protected] Tel.: 06 41/98 54 34 81 Fax: 06 41/98 54 34 89 Literatur 1. Dalmau J, Tüzün E, Wu HY, Masjuan J, Rossi JE et al. (2007) Paraneoplastic anti-N-methyl-D-aspartate receptor encephalitis associated with ovarian teratoma. Ann Neurol 61: 25 – 36 2. Dalmau J, Martinez-Hernandez E, Rosenfeld MR, BaliceGordon R (2011) Clinical experience and laboratory investigations in patients with anti-NMDAR encephalitis. Lancet Neurol 10: 63 – 74 3. Dalmau J, Gleichman AJ, Hughes EG, Rossi JE, Peng X et al. (2008) Anti-NMDA-receptor encephalitis: case series Kinderärztliche Praxis 84, 225 – 228 (2013) Nr. 4 www.kipra-online.de