Die Anziehung der Quarkteilchen

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# 2012/29 Seite 16
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Einführung in Higgs-Boson
Die Anziehung der Quarkteilchen
Von florian freistetter
Anfang Juli ist ein neues Elementarteilchen, das Higgs-Boson, entdeckt worden.
Was macht dieses Teilchen so besonders?
Physikerinnen und Physiker beschreiben die Welt, in der wir leben, mit dem sogenannten
Standardmodell der Teilchenphysik. Die ganz normale Materie, aus der wir Menschen und
die Welt um uns herum bestehen, ist aus Atomen zusammengesetzt. Die Kerne der Atome
bestehen aus Protonen und Neutronen, auf verschiedenen Bahnen unkreisen den
Atomkern die Elektronen. Unserem heutigen Wissensstand nach sind Elek­tronen
Elementarteilchen und können nicht in kleinere Bestandteile zerlegt werden. Protonen
und Neutronen dagegen sind aus den noch kleineren Quarks aufgebaut. Von denen gibt
es sechs verschiedene Sorten. Um Protonen und Neutronen zu bilden, braucht es Quarks
mit den lustigen Namen Up und Down Daneben gibt es noch vier weitere Quarks: Sie
heißen Charme, Strange, Top und Bottom und sind alle viel schwerer als die Alltagsquarks
Up und Down. Dann gibt es noch die ebenfalls sehr schweren Myonen und Tauonen, quasi
die großen Brüder des Elektrons. Leichtgewichte dagegen sind die Neutrinos. Das sind
Elementarteilchen, die fast keine Masse haben und so gut wie gar nicht mit dem Rest der
Materie in Wechselwirkung treten. Auch von ihnen gibt es drei verschiedene Sorten.
Wir haben also sechs verschiedene Arten von Quarks, drei verschiedene Arten von
Elektronen und drei verschiedene Arten von Neutrinos. Das sind die Elementarteilchen,
aus denen all die Materie besteht, die wir um uns herum sehen können. Aber wir haben
die Kräfte vergessen! Irgendwie müssen die Teilchen ja miteinander in Kontakt treten. Es
braucht eine Kraft, die die Quarks im Inneren eines Protons oder Neutrons zusammenhält.
Wenn radioaktive Atomkerne zerfallen, dann muss dafür eine Kraft verantwortlich sein.
Wenn zwei Magnete einander anziehen, dann braucht es auch dafür eine Kraft. Die Kraft,
die zwischen zwei Teilchen wirkt, wird durch ein weiteres Teilchen vermittelt. Das kann
man sich so vorstellen wie zwei Menschen, die ständig einen Ball zwischen sich hin und
her werfen müssen. Dieser Ball überträgt die Kraft und bindet die beiden Menschen
aneinander. Es kann nicht einer plötzlich davonlaufen, denn er muss ja immer den Ball
fangen. Auch in der Natur gibt es verschiedene Teilchen, die die verschiedenen Kräfte
vermitteln. Diese Vermittlerteilchen nennt man Bosonen, und das Standardmodell sagt
die Existenz von fünf verschiedenen Typen vorher. Vier davon wurden bereits entdeckt.
Es gibt allerdings ein Boson, dass Forscherinnen und Forscher bisher nicht entdecken
konnten. Seine Existenz wurde 1964 unter anderem vom englischen Physiker Peter Higgs
vorhergesagt. Dieses nach ihm benannte »Higgs-Boson« spielt im Standardmodell der
Teilchenphysik im wahrsten Sinne des Wortes eine gewichtige Rolle, denn es soll den
Elementarteilchen ihre Masse verleihen. Higgs vermutete, dass es ein bestimmtes Feld
gebe, vergleichbar mit einem elektrischen oder einem Magnetfeld, das das ganze
Universum durchzieht, später »Higgs-Feld« genannt. Die verschiedenen
Elementarteilchen müssen sich alle durch dieses Feld bewegen und werden dabei mehr
oder weniger stark durch die Higgs-Teilchen aufgehalten. Ein Photon beispielsweise kann
das Feld ungehindert durchqueren, es wird von den Higgs-Bosonen überhaupt nicht
beeinflusst. Ein Down-Quark oder ein Elektron dagegen schon. Für diese Teilchen ist die
Bewegung durch das Higgs-Feld vergleichbar mit dem Marsch durch einen knietiefen
Sumpf, in dem man nur langsam vorankommt und ständig stecken bleibt. Die Stärke der
Interaktion mit dem Higgs-Feld erscheint uns als die Masse des Teilchens, je mehr es
beeinflusst wird, desto massereicher kommt es uns vor. Der Higgs-Mechanismus selbst ist
zwar äußerst elegant, aber solange das Higgs-Teilchen nicht durch Beobachtungen
nachgewiesen werden kann, steht das ganze Standardmodell auf der Kippe.
Es ist also kein Wunder, dass die Physikerinnen und Physiker dieses Teilchen unbedingt
finden wollten. Nun scheinen sie es tatsächlich geschafft zu haben. Am 4. Juli gaben die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des europäischen Kernforschungszentrums
Cern die Entdeckung des lange gesuchten Higgs-Bosons bekannt. Kein anderes Teilchen
hat die Gemüter der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so stark beschäftigt. Aber
warum hat das so lange gedauert? Es liegt an der Art und Weise, wie in der
Teilchenphysik Entdeckungen gemacht werden. Nur wenige Elementarteilchen sind stabil.
Ein Elektron zum Beispiel bleibt immer ein Elektron. Auch Up- und Down-Quarks sind
stabil. Je schwerer ein Teilchen aber ist, desto instabiler ist es. Mehr Masse bedeutet auch
mehr Energie – seit Einstein wissen wir ja, dass Energie und Masse äquivalent sind –, und
ein massereiches Teilchen zerfällt schnell in mehrere Teilchen, die weniger Masse haben.
Auch die können wieder zerfallen, bis am Ende nur die bekannten und stabilen Teilchen
übrigbleiben. Dieser Prozess läuft schnell ab und dauert oft nur Sekundenbruchteile.
Wenn man solche Teilchen isolieren und erforschen order überhaupt entdecken will, muss
man sie in Teilchenbeschleunigern wie dem »Large Hadron Collider« (LHC) am Cern
erzeugen. In ihm werden Protonen mit ungeheuren Geschwindigkeiten zur Kollision
gebracht. Wenn sie zusammenstoßen, wird jede Menge Energie frei, und aus dieser
Energie können die verschiedensten Elementarteilchen entstehen. Je größer der
Beschleuniger ist, desto stärkere Kollisionen kann er erzeugen. Und je schwerer ein
Teilchen ist, desto mehr Energie muss bei der Kollision frei werden, damit es erzeugt
werden kann. Diese Teilchen sind dann aber so gut wie nie stabil. Sie verwandeln sich
sofort wieder in andere, stabilere Teilchen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
können nur diese Endprodukte der Kollision messen, wissen aber nicht, was sie erzeugt
hat.
Um herauszufinden, ob es sich wirklich um das gesuchte Higgs-Teilchen handelt, müssen
sehr viele Kollisionen herbeigeführt werden. Bei jedem Experiment werden im LHC ein
paar Billiarden Protonen aufeinandergeschleudert, im Laufe der Zeit wurden Tausende
dieser Experimente durchgeführt. Dabei muss jedes Mal genau gemessen werden, welche
Endprodukte entstehen. Dieses Ergebnis wird mit den theoretischen Vorhersagen
verglichen. Wenn die Beobachtungsdaten von den Vorhersagen abweichen, gibt es dafür
zwei mögliche Gründe: Entweder hat man wirklich ein neues Teilchen entdeckt. Dieses
Teilchen erzeugt andere Zerfallsprodukte, als man erwartet hatte, und deswegen weichen
die Beobachtungsdaten von der Vorhersage ab. Oder es war einfach nur Zufall. Da man
nicht exakt vorhersagen kann, welche Teilchen bei jeder einzelnen Kolli­sion erzeugt
werden, kann es sich auch nur um statistische Schwankungen handeln. Deswegen dauert
die Entdeckung eines Elementarteilchens so lange.
Bereits im vergangenen Jahr hatten die Forscherinnen und Forscher am LHC erste
Abweichungen gefunden. Bei einer Schwankung wäre nach weiteren Kollisionen der Effekt
wieder verschwunden. Doch die Abweichung wurde immer größer, es handelte sich also
nicht bloß um Zufall. Das neu entdeckte Teilchen hat genau die Masse, die das
vorhergesagte Higgs-Boson haben sollte. Und es verhält sich auf den ersten Blick so, wie
sich das Higgs-Boson verhalten sollte. Aber man muss noch mehr Daten sammeln, um
sicher sein zu können, um was es sich wirklich handelt. Ob diese Entdeckung irgendwann
einmal Auswirkungen auf unser Alltagsleben haben wird, werden wir wahrscheinlich erst
in den kommenden Jahrzehnten erfahren.
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wünschen sich sogar, dass es nicht das
Higgs-Teilchen ist, das entdeckt wurde. Das mag zunächst paradox klingen. Die
Entdeckung des Higgs-Teilchens wäre eine Bestätigung des Standardmodells, das letzte
fehlende Teilchen wäre gefunden und man könnte eines der erfolgreichsten Kapitel der
Wissenschaftsgeschichte zu einem krönenden Abschluss bringen. Wirklich aufregend wäre
jedoch, etwas komplett Neues zu entdecken, etwas, mit dem vorher niemand gerechnet
hat. Dann müssten die Physikerinnen und Physiker ein neues Modell entwickeln und wir
würden ­etwas fundamental Neues über unser Universum lernen.
Aber das passiert wahrscheinlich trotzdem. Denn der LHC wurde nicht nur gebaut, um das
Higgs-Teilchen zu entdecken. Man hat natürlich gewusst, dass das Higgs-Boson ziemlich
schwer ist, und darauf geachtet, dass der LHC groß genug ist, um es zu finden. Aber der
Beschleuniger hat noch mehr Potential, bis jetzt ist er nur mit halber Energie gelaufen.
Nach einer Wartungspause werden neue Experimente stattfinden. Was die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler finden werden, lässt sich heute nicht
vorhersagen. Aber eines ist jetzt schon klar: Die Forschung am LHC wird am Ende dazu
führen, dass wir unser Universum besser verstehen als zuvor. Und das ist immer gut.
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