Film als Krisenmedium - Publikationen der Deutschen Gesellschaft

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Film als Krisenmedium
Die Verarbeitung sozialer Krisenerfahrungen im Medium fiktionaler Narrative
Jörn Ahrens
Beitrag zum Plenum 4 »Krise (in) der Öffentlichkeit« – organisiert von Kornelia Hahn und
Andreas Langenohl
Soziale Krisen sind öffentliche Krisen. Sie entstehen, werden identifiziert, kommuniziert, ausge-
tragen und repräsentiert auf dem Umschlagplatz gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Schon weil
Gesellschaft ein Raum ist, der auf die Kommunikation und Interaktion zwischen Akteuren ange-
wiesen ist und da insbesondere Konfliktlagen überhaupt nur zwischen einer Pluralität an Kon-
fliktparteien auftreten und sich über deren engere Grenzen hinaus in Gesellschaft hinein ver-
mitteln, zielt der Konflikt in jedem Fall gesellschaftlich auf eine öffentliche Realisierung und Umsetzung. In Frage steht also nicht so sehr, ob Konflikte, und aus diesen emergierende Krisensi-
tuationen, überhaupt öffentlich zu verorten sind. Sie sind immer öffentlich definiert, benötigen
ihre Akteure, Bühnen und ein Publikum, da Konflikte niemals nur zwischen den unmittelbar
beteiligten Konfliktparteien ausgetragen werden, sondern immer auch für ein gesellschaftliches
Auditorium, an das Botschaften gerichtet, dem Inhalte, Positionen, Überzeugungen vermittelt
werden sollen.
So gesehen geht es im agonal und dichotomisch geführten Konflikt nicht nur um die Frage,
wer am Ende, ganz schmittianisch, obsiegt, sondern vor allem darum, welche gesellschaftliche
Epistemologie sich durchsetzt. Konflikte sind immer auch Kämpfe um soziale Dispositive der
Wahrheit; sie etablieren Erzählungen dessen, was als Referenzhorizont gesellschaftlicher Realität anerkannt werden kann. Insofern ist jede Konfliktlage notwendig verbunden mit einem Mo-
ment der Narration und entfaltet auch selbst ein Narrativ über die mit ihr verbundenen sozialen
Prozesslagen, das vielfältigen Zwecken dienen kann – der Rechtfertigung, der historischen Verortung, der Pathosproduktion. Entsprechend weist der als Gesellschaftstheoretiker nicht genug
zu würdigende Albrecht Koschorke darauf hin, es obliege »dem Erzählen in Spannungslagen […]
die Aufgabe, imaginäre Gemeinschaften zu formen, die sich als kollektive Akteure verstehen
und deren Mitglieder sich wechselseitig so viel symbolischen Kredit geben, dass sie zu koordiniertem Handeln über Partikularinteressen hinaus imstande sind« (2013: 238).
Vor diesem Hintergrund wird plastischer, dass soziale Konfliktlagen nicht nur die Ausdehnung
und Durchsetzung von Interessefeldern und Hegemoniesphären betreffen, sondern dass sie
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nachhaltig in die Alltagsrealität und in die Ordnungsroutinen von Gesellschaft eingreifen. So
sehr nun aber Konfliktlagen notwendig zur Normalität von Gesellschaft gehören, und deren
Dynamik, Pluralität und Unabgeschlossenheit geschuldet sind, so sehr können sie doch auch,
sofern sie in zugespitzter Form geführt werden, deren Selbstverständnis erschüttern und zur
Krisenerfahrung werden. Hier kommt immer auch die Auseinandersetzung um die Perspektivie-
rung gesellschaftlich geteilter Realitätshorizonte ins Spiel. So hat sich spätestens seit den Anschlägen der Al Quaida vom 09. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center und
auf das Pentagon an diese Konstellation auch in den Sozialwissenschaften ein expliziter Diskurs
um die Genese und Bedeutung sozialer Traumata angeschlossen, die über Konfliktlagen generiert und über soziale Narrationen transportiert werden. Speziell Jeffrey Alexander hat wieder-
holt darauf hingewiesen, ein gesellschaftliches Trauma verfüge über keine intrinsische Kausalität, sondern sei lediglich eine sozial vermittelte Zuschreibung (2003: 91). Als solche beziehe sich
die Kategorie des Traumas immer sowohl auf Prozesse der Imagination als auch der Repräsentation (Alexander 2003: 92), und diese realisiere sich insbesondere mittels fiktionaler Narrative.
Damit aber stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von sozialem Konflikt respektive Krise und
Öffentlichkeit neu. Denn sofern es für derlei Prozesse und Phänomene bedeutsam ist, in kulturelle Repräsentationen übersetzt zu werden, überschreiten sie die Markierungen und die Identitä-
ten der beteiligten Parteien und setzen sich fort auf einem ganz anderen, weit abstrakter gehaltenen Terrain öffentlicher Repräsentationen und Symbolisierungen. Diese zirkulieren in der Öffent-
lichkeit insbesondere in Form der Erzählung als Fiktion, kommuniziert über die diversen, dafür
bereit stehenden massenmedialen Formen als den symbolischen Formen der Gegenwart. Deren
prominenteste ist, erstaunlich genug in der digitalen Netzwerkgesellschaft, noch stets der Film.
Solche Erzählungen bearbeiten gesellschaftlich relevante Thematiken im Modus der Fiktion
und verleihen diesen innerhalb der sozialen Öffentlichkeit Plastizität und eine Signatur. Politische, historische, kulturelle Zusammenhänge überführen sie in eine narrative Konstellation. Ein
Charakteristikum der Erzählungen ist, dass sie nicht privilegiert kommuniziert werden, sondern
explizit mittels den auf massenhafte Rezeption abzielenden Medien der Moderne. Vor diesem
Hintergrund kommt ihnen für die Verhandlung und symbolische Durchsetzung gesellschaftli-
cher Wahrheitsdispositive eine bedeutende Rolle zu. Solche Dispositive bezeichnet Koschorke
etwas nüchterner als wirklichkeitsmächtige »Sozialfiktionen«, nämlich »all jene konstruierten
sozialen Einheiten und Akteure, über die Gesellschaften sich in ihrer jeweiligen Gegenwart Form
zu geben versuchen« (2013: 229). Mittels solcher Narrative erfolgt zunächst eine Rationalisierung exemplarischer Krisenerfahrungen im Medium fiktionalisierter Konfliktlagen. Antagonisti-
sche, irritierende, als existentiell erfahrene Konflikte lassen sich so mit einem Horizont der
Sinngebung versehen, der fraktalisiert erscheinenden »Sinnprovinzen« nicht lediglich Kohärenz,
sondern überhaupt einen Ort innerhalb des Rahmens sozialer Wirklichkeit gibt (Berger, Luckmann 1991: 105). Rationalisierung heißt also genau dies: Gerade indem die gesellschaftlich er-
fahrene Krisensituation verschoben wird in das Medium der Fiktionalisierung und des Imaginären, wird sie auch der gesellschaftlichen Erfahrung und kollektiven Bearbeitung zugänglich.
Als mediale Repräsentation spielt das performativ aktivierte soziale Imaginäre in mimetischer
Weise die Erfahrung sozialer Krisenkonstellationen durch. Darüber aber fiktionalisiert es diese
auch selbst. Dass gesellschaftlich hergestellt wird, was als wahr gilt und sich als Wahres konsolidiert, weil Wahrheit stets eine Frage der gesellschaftlichen Epistemologie der Macht ist, braucht
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nicht mehr eigens hervorgehoben zu werden. Wohl aber der Umstand, dass jener Prozess einer
gesellschaftlichen Produktion von Wahrheit und Wirklichkeit über die Erfindung und Distribution von Erzählungen verläuft. Im Zuge einer medial vermittelten Fiktionalisierung sozialer Konflikte und Krisenerfahrungen geht es daher erstens wesentlich um die narrative und ästhetische
Bearbeitung gesellschaftlich relevanter Themen durch Medienartefakte, über welche die ver-
handelten Thematiken in einen genuin öffentlichen Diskurs eingespeist werden. Zweitens werden die betreffenden Themen verallgemeinert, sodass sie als ästhetisierte kulturelle Erzählung
exemplarischen Charakter erhalten, also als typische Repräsentation der jeweiligen Konfliktsitu-
ation gelten können. Denn drittens erlangen fiktive Erzählungen eine stark aufgeladene soziale
Repräsentationsfunktion, weil sich innerhalb der Form der Fiktionalisierung etwas aufhebt, das
über die je spezifische Krisenerfahrung hinausgeht. Obwohl scheinbar eine typische Repräsen-
tation der dargestellten Konstellation, löst sich die Fiktionalisierung zugleich vom exemplarischen Fall ab und schließt diesen an eine Varietät möglicher Konstellationen an – sei es über
den Mythos, das Genre oder die Routinen der Wiederholung.
Mediale Konfliktdiskurse
Die Erzählung stellt demzufolge nicht nur ein Medium sozialer Kommunikation dar, insbesonde-
re von Meta-Kommunikationen. Vielmehr basiert Gesellschaft offenkundig notwendig auf dem
Prinzip der Erzählung. Vergesellschaftung ist ein Verfahren der Narration und spart Imaginäres
dabei nicht aus. Es gibt keine Gesellschaft ohne Erzählungen und es gibt keine Gesellschaft, die
nicht zugleich erzählte Gesellschaft wäre. »Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist
das Erzählen im Spiel«, so Koschorke (2013: 19), der auch unmissverständlich klarmacht, dass
die Welt durch den in sie intervenierenden Akt des Bezeichnens als einem »kreativen Aneignungsprozess« überhaupt erst entsteht (2013: 22).
Damit ist im Übrigen auch die Frage berührt, ob es sich im Falle von Gesellschaft nun eher
um eine dynamische, in fortlaufender Veränderung oder gar in Transformation begriffene For-
mation handelt, oder um ein Substrat an Institutionen und Routinen, dem an der Sicherung
eines auf Kontinuität angelegten Normalzustandes gelegen ist. Der Konflikt, der diesbezüglich
immer wieder aufflammt, bleibt aber völlig unverständlich, denn natürlich ist beides der Fall.
Entscheidend aber ist, dass diese Gleichzeitigkeit von Dynamik und Kontinuität sowohl mitei-
nander verzahnt als auch gegenläufig ist. Denn natürlich handelt es sich bei jener für gesellschaftliche Normalität einstehenden Kontinuität, der Verlässlichkeit und Vertrautheit gesell-
schaftlicher Rahmenbedingungen, immer um eine Illusion von Kontinuität, die einerseits eingelassen ist in soziale Machtverhältnisse und Wahrheitsepisteme und die andererseits grundsätz-
lich unter der Bedingung fortlaufender Dynamik und Veränderung in allen gesellschaftlichen
Feldern aufrecht erhalten wird. Gerade die Erfahrung gesellschaftlicher Normalität, in die Indi-
viduen täglich neu ihr lebensweltliches Vertrauen investieren können, verdankt sich der erfolgreichen Etablierung und Zirkulation von Erzählungen über diese Normalität, ihre Kontinuität
und Legitimität. Wenngleich daher Vertrauen in die Stabilität und Zukünftigkeit gesellschaftli-
cher Ordnung eine unbedingte Voraussetzung für die Funktionalität von Gesellschaft überhaupt
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ist, bildet sich doch gerade ein solches Vertrauen nur unter der Bedingung einer Erzählung von
Normalität, deren fiktionale und imaginäre Anteile in jedem Fall enorm sind. Normalität wird so
gerade im Medium der Erzählung gewährleistet, das zugleich die Flexibilität und die Kompetenz
besitzt, deren Rahmungen zu verändern, ohne dass diese Veränderung auch gesellschaftlich als
solche durchschlägt, da die Narration gesellschaftlicher Normalität selbst ja unberührt bleibt.
Soziale Krisenlagen und daran geheftete Traumata entstehen, wenn es zum Kollaps dieser
soziale Normalität rahmenden, Dynamik gewährleistenden Narration kommt. In der Krise kann
die Erzählung den Normalitätsrahmen nicht mehr halten; sie verliert ihre Legitimation und wird
dysfunktional. Auch deshalb werden gesellschaftliche Krisenerfahrungen über kulturelle Erzählungen bearbeitet, um jene, auch von Alexander hervorgehobene, narrative Rahmung lebensweltlicher Normalität wieder zu ermöglichen (2003: 92). Die Art und Weise, wie soziale Krisenla-
gen in medial vermittelte fiktionale Narrationen übersetzt werden, lässt sich ganz allgemein in
vier Kategorien einteilen. Mit Blick auf die Kulturtechniken der Fiktionalisierung und der Erzählung bietet sich zunächst der Zugriff über eine rein imaginativ gehaltene, kreative Bearbeitung
gesellschaftlicher Abstraktionsverhältnisse an. Mittels scheinbar höchst konkreter Plotkonstella-
tionen lassen sich soziale wie kulturelle Metakategorien und -konstellationen durchspielen und
reflektieren. Die unverstellt fiktionale Erzählung stellt eine Schnittmenge her, um reale gesellschaftliche Probleme zu bearbeiten und diesen eine Repräsentation zu verleihen. Gerade das
eindeutig Imaginäre kann sich so mit einem dezidierten sozialen Wahrheitsgehalt aufladen.
Produktionen dieser Art bewegen sich häufig im Bereich des sogenannten Mainstreams.
Eine zweite Variante bietet die Intervention in gesellschaftliche Konfliktlagen mit Hilfe von fik-
tionalen Narrativen. Traditionell greifen kulturelle Erzählungen aktiv in aktuelle Konfliktdiskurse
ein, indem sie Handlungs- und Personenkonstellationen beschreiben oder durchspielen, die
zwar fiktiv angelegt, aber einer gesellschaftlich vorfindbaren und identifizierbaren Situation
entlehnt sind. Solche Narrationen und Ästhetisierungen sind zu verstehen als Kommentare
oder Analysen distinkter gesellschaftlicher Problemlagen, oft angelegt als Parabeln, wobei es
keine Rolle spielt, ob diese Erzählungen sich camouflieren, indem sie in andere Zeiten oder Re-
gionen verlegt werden. Was zählt ist hier die engere Plot- und Charakterkonstellation, die letztlich einer dichten Beschreibung mit medialen Mitteln ähnelt. Drittens bietet die fiktive Erzählung
als Gedankenexperiment die Option auf die Übersetzung solcher Krisenlagen, die akut die Ge-
genwart betreffen, in eine zwar imaginierte Zukunft, die aber in höchstem Maße realistisch entworfen wird. Solche Erzählungen sind Planspiele, die soziale Abläufe in prognostischer Weise im
Rahmen erwartbarer Möglichkeitshorizonte zu skizzieren suchen.
Für das hier diskutierte Thema interessant, setzt schließlich, viertens, der Zugriff einer reali-
tätsmimetischen Fiktionalisierung an. Diese Variante der kulturellen Erzählung wirkt einerseits
historisierend, in der Bereitstellung von Repräsentationen historischer Ereignisse, die vermittels
ihrer medialen Repräsentation sozial Wirklichkeitsmächtigkeit erlangen. Damit wirken Erzählun-
gen dieses Formats andererseits realitätsgenerierend, indem sie der sozialen Realität ein Antlitz,
eine Begründung und eine Genese verleihen. Die Besonderheit dieses Zugriffs besteht darin,
dass hier an einer Konkretisierung des Bildes von sozialer Realität gearbeitet wird und dies
abermals über den Entwurf zwar fiktionaler Narrationen erfolgt, die in unmittelbarer Nähe zur
Beanspruchung von gesellschaftlicher Authentizität operieren. Diesmal allerdings in historisierender, die Gegenwart legitimierender Absicht und nicht als Prognose einer zukunftsgerichteten
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Entwicklung, wie beim Gedankenexperiment. Insbesondere unterwirft diese Variante solche
krisenhaften Ereignisse der Vergangenheit einer Masterlesart für die Gegenwart, die entweder
uneindeutig oder unscharf verbleiben oder aber für die Öffentlichkeit nicht hinreichend dokumentiert sind. Es bleibt freilich beim Anspruch, denn ob die Erzählung selbst authentisch ist,
dies jemals sein kann oder es auch nur sein will, ist mit Blick auf ihre mögliche Wirkung in die
Gesellschaft hinein völlig unerheblich, da es in erster Linie um die Etablierung einer Masterlesart für die Gegenwart geht: »In Gestalt von Narrativen kann sich ursprünglich frei Erfundenes im
kollektiven Bewusstsein sedimentieren und zu einer harten sozialen Tatsache werden« (Ko-
schorke 2013: 24). »Realitätsmimetisch« heißt hier daher, eine erzählerische und ästhetische
Angleichung an die Realität zu vollziehen. Diese Mimesis an eine historische Realität, deren Bil-
der der Gesellschaft fehlen, und damit auch ein legitimes Wissen über deren Hergang, soll ein
Substitut jener realen, nicht mehr einholbaren Ereignisse ermöglichen. Die Repräsentation tritt
dann vollends und vollständig an Stelle einer ohnehin nicht möglichen Authentizität.
Zero Dark Thirty
Die soziale Kraft der realitätsmimetischen Variante fiktionaler Narrative soll im Folgenden an
einem Beispiel untersucht werden. Dabei handelt es sich um den 2012 produzierten Spielfilm
Zero Dark Thirty der US-amerikanischen Regisseurin Kathryn Bigelow. Die 1951 geborene Bige-
low ist eine der wenigen Regisseurinnen, die sich erfolgreich im Action-Genre profiliert haben.
Bekannt wurde sie 1990 mit Blue Steel, einer kontrovers aufgenommenen Geschichte über einen
Serienmörder, sowie 1995 mit der Science Fiction Dystopie Strange Days. 2008 produzierte sie
mit The Hurt Locker erstmalig ein im Irak angesiedeltes Kriegsdrama, in dem es um eine Einheit
des US-Kampfmittelräumdienstes geht. Der Film brachte ihr große Aufmerksamkeit in der Fach-
kritik sowie eine Reihe von Auszeichnungen ein, unter anderem 2010 den Oscar für die Beste
Regie. Die hier schon praktizierte, erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Mark
Boal setzte Bigelow 2012 mit Zero Dark Thirty fort, der 2013 in der Kategorie Bester Film eine
Oscar-Nominierung erhielt.
Zero Dark Thirty stellt insofern einen interessanten kinematographischen Fall dar, als Bigelow
und Boal an ihrem Projekt eines Films über die Jagd auf Osama Bin Laden, als dem Verantwortlichen hinter den Terroranschlägen am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New
York und das Pentagon in Washington, schon arbeiteten, als dieser im Mai 2011 tatsächlich von
einer Sondereinheit des US-Militärs in seinem pakistanischen Versteck aufgespürt und erschos-
sen wurde. Daraufhin schrieben sie das Drehbuch in Angleichung an den Ereignishergang um;
am Ende steht ein Film, der nicht nur die zehn Jahre währende Jagd auf Osama Bin Laden darstellt, sondern der zuletzt gewissermaßen in Echtzeit die Kommandoaktion seiner Erschießung
nachzeichnet. Dieses Kommando nimmt einen jener besonderen Orte im Rahmen gesellschaftlicher Narrationen und Diskurse ein. Während das Ereignis einerseits als spektakulär und zentral wahrgenommen wird und politisch für die Reputation des amtierenden Präsidenten Barack
Obama zum Ende von dessen wenig glanzvoller erster Amtszeit nicht unbedeutend war, fehlen
in der Öffentlichkeit davon jegliche Bilder. Das zentrale Ereignis geht einher mit einer seltsamen
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Abwesenheit der Vergegenwärtigung. Zugleich jedoch gibt es diese Bilder bekanntlich, denn
bekannter als die Bilder des Ereignisses selbst, sind die Bilder Zeugen, die rasch zu Bild-Ikonen
der Gegenwart wurden – Obama und sein Stab, wie sie im Weißen Haus zu Washington der
Live-Übertragung der Exekution beiwohnen. Just diese Bilder, zusammen mit der Gesamtnarration über die zehn Jahre währende Aufspürung Bin Ladens, liefert Bigelows Film nun nach. Mit
seiner Narration von der Verfolgung, Ortung und Liquidierung Osama Bin Ladens füllt dieser
Film eine bedeutende Lücke hinsichtlich der allgemeinen Erfahrung einer zentralen gesellschaftlichen Traumatisierung der Gegenwart.
Dies erreicht Zero Dark Thirty über sein Verfahren einer rekonstruktiven Narration. Das heißt,
dass diesem Film eine klassische Story völlig fehlt und er sich fast ausschließlich auf die Nach-
zeichnung von Ereignissen konzentriert, die sich tatsächlich zugetragen haben. Ob diese Ereig-
nisse genau so passiert sind, ist dabei zweitrangig, sofern sie nur plausibel genug erscheinen.
Stattdessen geriert sich die Produktion mehr als Chronik der Ereignisse, denn als Plot (dazu
White 1990). Der Film selbst gibt sich dabei als nüchterner Beobachter, der jegliche Nähe zu
seinen Figuren meidet. In der Tat wird auf eine Figurenzeichnung mit Backstories, Motivationen,
Emotionen fast vollständig verzichtet. Stattdessen werden alle handelnden Charaktere als Typen präsentiert, die in keiner Weise für sich selbst, sondern nurmehr für institutionelle Handlungsweisen stehen. Dies trifft insbesondere auch auf die Hauptfigur in Zero Dark Thirty zu, die
CIA Agentin Maya, über deren Persönlichkeit nichts bekannt ist, mit der Ausnahme, dass sie seit
ihrem Eintritt in die CIA an nichts anderem gearbeitet hat, als an der Verfolgung Bin Ladens und
dass sie als hart und durchsetzungsfähig gilt (»Langley says she’s a killer.«). In der Figur der Ma-
ya erhält der Krieg gegen den Terror ein Gesicht, und ein ausgesprochen attraktives dazu, nicht
etwas das Abziehbild eines klischierten maskulinen Folterknechts. Zugleich aber bleibt die Per-
son Maya selbst so blass, dass es möglich ist, alle nur möglichen Anknüpfungspunkte in ihr gespiegelt zu sehen. Im Sinne einer historischen Rekonstruktion ist Maya so gesehen die perfekte
Identifikationsfolie. Wichtig für diese Figur ist der Anfang des Films – letztlich übernimmt der
Charakter der Maya nicht nur für das Publikum, sondern auch mit diesem zusammen, die Funktion der Zeugenschaft für die im Film zwar nur medial repräsentierten, aber dennoch als real
erfahrenen, als symbolische Form aufgeladenen Ereignisse.
Bigelows Produktion setzt ein mit einer schwarzen Leinwand, über die Stimmen gelegt sind,
Aufnahmen aus dem attackierten World Trade Center und aus einem der entführten Flugzeuge.
Es gibt keinen Hinweis darauf, was geschehen ist, aus welchem Kontext diese Stimmen heraus
kommen, dennoch dürfte jedem sofort klar sein, dass es sich hier um die Tragödie von 9/11
handelt, um Stimmen von Menschen, die dem Terroranschlag zum Opfer fielen. Indem diese
Stimmen, die Aufzeichnungen von Telefonaten darstellen, vor dem monochrom schwarzen
Grund der Filmleinwand zu hören sind, erfahren sie eine Transzendierung, werden zur kosmischen Erfahrung, als seien diese Stimmen für immer aufgehoben in einer medialen Präsenz des
digitalen Äthers und zugleich wird der Verlust derjenigen Menschen plastisch, die diese Stimmen einmal besaßen. Diese sehr kurze Sequenz der Stimmführung verdeutlicht nachdrücklich
die ganze über 9/11 realisierte Traumatisierung der US-amerikanischen Gesellschaft. Von dort
aus schneidet der Film nahtlos über in eine andere Dunkelheit, die sich als Blechbaracke in Af-
ghanistan oder Pakistan entpuppt, in der der CIA Gefangene foltert, um auf die Spur hochrangiger Al Quaida Mitglieder zu kommen. Im Raum hängt, an Seilen aufgespannt, die um seine
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Handgelenke gebunden sind, ein Mann, dem man ansieht, dass er die Folter schon länger erdulden muss – verquollenes Gesicht, schmutziger, verschwitzter Körper, zerrissene Kleidung.
Licht flutet ins Bild, als die Tür der Baracke aufgerissen wird, maskierte Männer hereinstürmen,
sowie ein Mann mit kurzem Bart im T-Shirt; hinter ihm erscheint eine ebenfalls maskierte, grazi-
le Gestalt. Bei letzterer handelt es sich um die eben am Schauplatz eingetroffene CIA Agentin
Maya. Schon bald nimmt sie ihre Maskierung ab, dringt darauf, die Befragung fortzusetzen, wo
ihr Kollege eigentlich pausieren möchte. Dann steht sie im Raumhintergrund, sieht dem Kollegen beim Foltern zu, versteift dabei ihren Körper, presst ihre Arme an sich, ihr Blick kommuni-
ziert noch deutlicher den Schock, den sie bei ihrer Initialisierungserfahrung als Foltersubjekt
erleidet. Während einer Folterpause, in der sie mit dem Gefangenen allein ist, wird allerdings
deutlich, dass Maya nichtsdestotrotz keinerlei Zweifel an der Legitimität dessen hegt, was in der
Baracke geschieht. Als nämlich der Gefangene die Gunst des Augenblicks nutzen möchte, um an
die Moral der sichtlich berührten Agentin zu appellieren, gibt diese kühl zurück, er müsse nur
die Wahrheit sagen, dann gehe es ihm besser. Genau dies qualifiziert die Figur der Maya als
paradigmatische Zeugin: dass sie, obwohl sie genau sieht und sichtlich fühlt, wie schrecklich die
Folter ist, in keinem Moment an deren Notwendigkeit zweifelt. Alles, was dazu beiträgt, Bin Laden zur Strecke zu bringen, ist daher auch legitim. Hinter dem größeren Ziel, das Rache für die
der amerikanischen Nation beigefügte Schmach verspricht, verschwinden etwaige humanitäre
Skrupel völlig.
Schließlich steht der Akt der Folter im Film ja nicht isoliert. Vielmehr wird gezeigt, wie erst die
Folter Spuren ans Licht bringt, die Schritt für Schritt Bin Ladens Versteck einkreisen. Monate der
Folter in jener Blechbaracke werden investiert für die Nennung eines Namens, der Maya und
ihre Kollegen weiter führt. Durch die Jahre hält sie allein an dieser Suche fest, während nahezu
alle anderen Agenten, mit denen sie zusammentrifft, davon ablassen, andere, einfacher zu ortende Ziele wählen, Karrieresprünge der Feldarbeit vorziehen. Das bildet den Wechsel tagespolitischer Prioritäten ab, in denen die Person Bin Laden kaum eine Rolle mehr spielt, ja sogar, wie
ein Lagegespräch zeigt, als Gegner gar nicht mehr ernst genommen wird. Während »Bin Laden«
daher zu einer bloßen Chiffre für den »Krieg gegen der Terror« wird, steht einzig und allein Ma-
ya kompromisslos zur einmal eingeschlagenen Mission, diesen Mann zu finden und zu töten. So
wird sie selbst zur Chiffre für den Willen der amerikanischen Gesellschaft, diesen Akt der Rache
zu vollziehen. Und nur über eine Figur wie sie lässt sich dann auch die Chronik der Ereignisse so
verdichten und darstellen, dass sie ineinandergreifen, als handele es sich tatsächlich um eine
sich nahtlos ineinander fügende Ereigniskette und nicht um ein hochgradig inszeniertes Narra-
tiv, das mit den Mitteln der Fiktion Realität mimetisch generiert. Dass Bigelows Film dabei auch
eine Debatte über die Legitimität der Folter und ihrer Darstellung angestoßen hat, spricht nur
für die mimetische Qualität. Diese bedeutet nicht, eine Version gesellschaftlicher Realität bereit
zu stellen, die konsensual auf Zustimmung träfe. Realität ist in keinem Fall konsensartig verfasst, sondern immer perspektivisch organisiert und durch Modi des Konflikts gekennzeichnet.
Während für die einen nun Zero Dark Thirty eine Apologetik der Folterpraxis amerikanischer
Geheimdienste darstellt, sehen die anderen darin lediglich einen dokumentaristischen Zugriff
auf das Thema, der es bei aller Ambivalenz den Zuschauern überlässt, sich zu positionieren.
Letztere Haltung nimmt Bigelow selbst in einem offenen Brief an die Los Angeles Times ein:
»Torture was, however, as we all know, employed in the early years oft he hunt. That doesn’t
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mean it was the key to finding Bin Laden. It means it is a part of the story we couldn’t ignore«
(Bigelow 2013). Unter Bezug auf die erstgenannte Haltung hingegen wendet sich Slavoy Zizek
gegen die Behauptung der Neutralität: »One doesn’t need to be a moralist […] to think that tor-
turing a human being is in itself something so profoundly shattering that to depict it neutrally
[…] is already a kind of endorsement« (Zizek 2013). Und natürlich ist die Repräsentation der
Folter, eingelassen in spezifische narrative Konstellation und transportiert als spezifische Ästhe-
tisierung, unter keinen Umständen als neutral zu begreifen. Eine neutrale, nicht befangene kul-
turelle Repräsentation kann es so gesehen nicht geben. Und so liegt die Kraft der realitätsmimetischen Repräsentation just darin, dass sie beides kann: sich als Dokumentation einer verschüt-
teten oder ferngehaltenen Episode zu inszenieren und sich noch im Gestus der Dokumentation
normativ zu positionieren. Mehr noch: Die normative Positionierung in Zero Dark Thirty gegen-
über der Folter gelingt überhaupt nur, weil der Film zugleich dokumentarisch auftritt und zeigt,
dass der Krieg gegen den Terror als dem Inhumanen schlechthin nur dann erfolgreich geführt
werden kann, wenn er selbst auf ein Übermaß an Humanität verzichtet. In dieser Perspektive ist
die Affirmation der Folter ganz offensichtlich ein wesentlicher Bestandteil der ersten zwei Drittel
des Films. Auch dass der Skandal um die Demütigungen und Folter von Gefangenen im Bagd-
ader Gefängnis Abu Ghraib nur am Rande und noch dazu verschlüsselt erwähnt werden, spricht
hierfür. Bigelow zeigt ja nicht nur, woran sich die Debatte über ihren Film maßgeblich entzündete, das water boarding, sondern auch, wie Gefangene an Hundehalsbändern herumgeschleift
werden. Das aber verweist eindeutig auf den Folterskandal von Abu Ghraib, nämlich an die Bil-
der der Militärpolizistin Lynndie England, die diese mit einem an ein Hundehalsband angeleinten Gefangenen zeigen. Irgendwann später im Film heißt es dann einmal, Maya solle aufpassen,
was ihre Ermittlungsmethoden angehe, damit sie nicht die letzte sei, die mit einem Hundehalsband in der Hand erwischt werde.
Mit seinen 150 Minuten reiner Spielzeit lässt sich Bigelows Film in drei größere Abschnitte
untergliedern, die teils auch als Kapitel mit Überschriften identifiziert sind. In seinen ersten 100
Minuten, also schon allein in klassischer Spielfilmlänge, widmet sich der Film der langen und
lange vergeblichen Suche nach Bin Laden. Etwa 20 Minuten Laufzeit sind dem administrativen
Entscheidungsprozess der CIA in deren Hauptquartier in Langley, Virginia, gewidmet. Dieser
Prozess verläuft quälend langsam und wird dominiert nicht von einem Gespür für militärische
Handlungschancen, das Maya einfordert, sondern von politischen Skrupeln und Bedenken, gegen die sich die im Feld erprobte Maya durchsetzen muss. Die eigene Bürokratie erweist sich
hier als der zweite Feind, zumindest als die zweite Frontlinie, gegen die der Krieg gegen Terror,
sofern er erfolgreich sein will, angehen muss. Die letzten 24 Minuten der Handlung zeichnen
dann nahezu in Echtzeit die nächtliche Kommandoaktion nach, in der über sehr leichte Helikopter Bin Ladens Versteck in Pakistan angeflogen, durchsucht und dieser schließlich exekutiert
wird; es folgen circa sechs Minuten Abspann. Dieses letzte Kapitel erfährt eine interessante
Rahmung durch Darstellungen Mayas. Zu Kapitelbeginn hängt sie mit den robusten, vitalen
Kämpfern der Sondereinheit in einem afghanischen Stützpunkt ab. Man sieht ihr an, wie die
zehn Jahre Erfahrung im Nahen Osten und im Krieg gegen den Terror diese zu Filmbeginn so
verletzlich wirkende Frau selbstbewusst, hart und professionell gemacht haben. Ganz eindeutig
genießt sie den Aufenthalt in der Wüste, unter den hartgesottenen Männern. Faktisch geht sie
selbst in Bin Ladens pakistanisches Versteck und tötet ihn; die virilen Soldaten fungieren nur als
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ihr Medium. Und sie sagt zu ihnen auch, dass sie Bin Laden für sie töten, nicht etwa für den
Präsidenten, sondern für sie selbst in ihrer Eigenschaft als Repräsentantin des amerikanischen
Volkes, das nun endlich seine Rache für 9/11 erhält. Am Ende aber, als sie nach erfolgreicher
Mission abgezogen wird, sitzt sie ganz allein im Frachtraum einer großen Militärmaschine; und
nun fließen, den Kopf an die Bordwand gelehnt, hinter sich ein Muster aus Frachtgurten, deren
Farbenspiel unmissverständlich die amerikanische Flagge heraufbeschwört, der noch immer
jungen Frau die Tränen übers Gesicht. Das ist dann die Traumaerlösung für alle, in der Erleichterung und spätes Eingeständnis existentieller Anspannung verschmelzen.
Im ganzen letzten Kapitel jedoch wird Osama Bin Ladens Gesicht nicht gezeigt, bleibt die
Ikone des islamischen Terrorismus unangesichtig. Entweder wird das Gesicht, sofern es in we-
nigen Einstellungen doch einmal ins Bild gelangt, so flüchtig gestreift, dass man es doch nicht
sieht. Oder es wird aus indirekten Einstellungen gefilmt, die jede personale Identifikation un-
möglich machen. Einzig eine klare Einstellung auf Bin Ladens Blut am Boden, nachdem die Lei-
che abtransportiert worden ist, verweist auf das Individuum und zeigt doch nur höchst allgemein: Ein Mensch ist tot. Im afghanischen Stützpunkt sodann identifiziert Maya die Leiche wäh-
rend des Telefonats eines Offiziers mit dem Präsidenten. Kein Wort fällt, ein Kopfnicken nur: Er
ist es. Im Narrativ erfolgt die Identifikation also für den Präsidenten; im Rahmen der realitäts-
mimetischen Konstruktion aber erfolgt sie explizit für das Publikum, das am Ende seiner Zeugenschaft der Mission zur Exekution Osama Bin Ladens – der Aktion in der jüngsten Militärge-
schichte der USA, die wohl gleichermaßen spektakulär ikonisch wie spektakulär bilderlos ist –
endlich ein kulturelles Wissen vom Tod des Enemy No. 1 an die Hand bekommt.
Literatur
Alexander, J.C. 2003: Social Life: A Cultural Sociology. Oxford et al: Oxford Univ. Press.
Bigelow, K. 2013: Kathryn Bigelow addresses ›Zero Dark Thirty‹ torture criticism. Los Angeles Times
15.01.2013,
http://articles.latimes.com/2013/jan/15/entertainment/la-et-mn-0116-bigelow-zero-dark-
thirty-20130116 (letzter Aufruf 14. August 2014).
Berger, P. L., Luckmann, Th. 1991: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der
Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Koschorke, A. 2013: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am
Main: S. Fischer.
White H. 1990: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main:
S. Fischer.
Zizek, S. 2013: Zero Dark Thirty: Hollywood’s gift to American power. The Guardian 25. Januar 2013,
http://www.theguardian.com/commentisfree/2013/jan/25/zero-dark-thirty-normalises-tortureunjustifiable (letzter Aufruf 14. August 2014).
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