Grundlagentexte Soziologie Bevölkerungssoziologie Eine Einführung in demographische Prozesse und bevölkerungssoziologische Ansätze Bearbeitet von Francois Höpflinger überarbeitet 2012. Taschenbuch. 264 S. Paperback ISBN 978 3 7799 2604 7 Format (B x L): 15 x 23 cm Gewicht: 424 g Weitere Fachgebiete > Ethnologie, Volkskunde, Soziologie > Soziologie > Demographie, Demoskopie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, ISBN 978-3-7799-2604-7 © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 Kapitel 1 Von der Bevölkerungsstatistik zur Bevölkerungssoziologie 1.1 Hauptfragestellungen Wie andere Teilgebiete der Soziologie weist auch die Bevölkerungssoziologie eine Vielfalt unterschiedlicher Fragestellungen auf. Dies trägt zur Dynamik wie aber auch zur Unübersichtlichkeit dieser Fachrichtung bei. Es bestehen jedoch einige allgemeine Grundfragen, die schon seit jeher die Diskussionen innerhalb der Bevölkerungssoziologie bestimmt haben. Dazu gehören namentlich folgende Fragen: a) Welche wechselseitigen Zusammenhänge bestehen zwischen Bevölkerungsentwicklungen und gesellschaftlichen Wandlungen? Inwiefern sind Modernisierungsprozesse einer Gesellschaft systematisch mit demographischen Verläufen – wie sinkende Geburtenhäufigkeit und steigende Lebenserwartung – verknüpft? b) Welche individuellen und gesellschaftlichen Faktoren bestimmen Familiengründung und die Geburtenhäufigkeit junger Frauen und Männer? Weshalb haben wirtschaftlich entwickelte Gesellschaften zumeist eine geringe Geburtenhäufigkeit? Und welche gesellschaftlichen Konsequenzen sind längerfristig bei tiefem Geburtenniveau zu erwarten? c) Welche gesellschaftlichen Wandlungen führen zu räumlichen Bevölkerungsverschiebungen (Migration) zwischen Regionen bzw. Nationen? Und von welchen sozialen Folgeerscheinungen sind starke Emigrationsoder Immigrationsprozesse begleitet? d) Welche Faktoren bestimmen eine Erhöhung der Lebenserwartung, und was sind die gesellschaftlichen Auswirkungen einer hohen Lebenserwartung? Aus welchen Gründen entstehen soziale Ungleichheiten der Lebenserwartung, und wieso weisen Frauen im Durchschnitt eine höhere Lebenserwartung auf als Männer? Im Zentrum des Interesses der Bevölkerungssoziologie stehen einerseits die Auswirkungen gesellschaftlicher Wandlungen auf demographische Größen (Geburtenniveau, Überlebensordnung, Migration) und andererseits die Rückwirkungen demographischer Entwicklungen auf Gesellschaften, Insti- 11 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 tutionen und Individuen. Wir haben es dabei immer mit wechselseitigen Beziehungen zu tun, die sich einfachen, linearen Kausalanalysen entziehen (vgl. Bhrolcháin, Dyson 2007; Moffitt 2005). Aufgrund der komplexen Wechselwirkungen zwischen demographischen und gesellschaftlichen Entwicklungen besteht zu vielen bevölkerungssoziologischen Fragestellungen kein paradigmatischer Konsens, sondern wir sehen uns mit einer Vielfalt einander widersprechender Thesen und Theorien konfrontiert. Bevölkerungsstatistische Trends werden unterschiedlich interpretiert, und die Ursachen und Wirkungen demographischer Veränderungen – wie etwa der demographischen Alterung – werden kontrovers diskutiert. 1.2 Komponenten der Bevölkerungsentwicklung Die Bevölkerungsentwicklung einer gegebenen Region wird prinzipiell von drei demographischen Komponenten bestimmt: a) Geburten (Fertilität): Die Zahl von neu geborenen Kindern wird zum einen bestimmt durch die Zahl von Frauen im gebärfähigen Alter (Menarche bis Menopause). Selbst bei unverändertem generativem Verhalten kann sich ein Geburtenanstieg ergeben, wenn viele Frauen ins gebärfähige Alter nachrücken. Da für die menschliche Reproduktion die Zahl gebärfähiger Frauen entscheidend ist, beziehen sich alle Fertilitätsindikatoren auf die weibliche Bevölkerung. Versuche, die Geburtenhäufigkeit von Männern zu erfassen, sind selten und haben sich nicht durchgesetzt (vgl. Brouard 1977). Zum anderen wird die Geburtenzahl durch das generative Verhalten junger Menschen bestimmt. Das generative Verhalten wird seinerseits durch eine Reihe von Faktoren – wie Heirats- und Familiengründungsverhalten, Kinderwunsch und Geburtenkontrolle – beeinflusst. Entsprechend ist das Geburtenniveau einer Gesellschaft eng mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen verknüpft. In Kapitel 3.4 werden verschiedene Erklärungsansätze zur Fertilitätsentwicklung vertieft diskutiert. b) Sterbefälle (Mortalität): Die Zahl von Sterbefällen ist zum einen mit der Altersverteilung einer Bevölkerung verknüpft. Eine Gemeinde oder eine Stadt, die viele alte Menschen aufweist, muss zwangsläufig mit vielen Sterbefällen rechnen. Zum anderen wird die Zahl von Sterbefällen durch die Lebenserwartung der Bevölkerung bestimmt. Die Lebenserwartung von Frauen und Männer ihrerseits ist von einer Reihe sozialer, wirtschaftlicher und epidemiologischer Einflussfaktoren abhängig. Zwar müssen alle Menschen einmal sterben, aber die Lebenserwartung unterliegt markanten sozialen Ungleichheiten, etwa nach Geschlecht oder sozialer Schichtzugehörig- 12 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 keit. Die Entwicklung der Lebenserwartung und soziale Determinanten unterschiedlicher Überlebensordnungen werden in Kapitel 5 näher vorgestellt. In der klassischen Bevölkerungsstatistik werden Geburten und Sterbefälle zur sogenannt ‚natürlichen Bevölkerungsbewegung‘ gezählt. Aus soziologischer Sicht – und angesichts der enormen Bedeutung sozialer Faktoren für Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeitsverläufe – greift der Begriff ‚natürlich‘ zu kurz. Zudem genügen einzig auf globaler Ebene die Geburten- und Sterbezahlen formal zur Erklärung der Bevölkerungsentwicklung. Werden national oder regional begrenzte Gebiete analysiert, kommt eine dritte Komponente hinzu: c) Wanderungsbewegungen (Migration): Abwanderung reduziert und Zuwanderung erhöht die Bevölkerung eines gegebenen Gebietes. Speziell für kleinere geographische Einheiten (Regionen, Kommunen, Quartiere) kann die Bevölkerungsentwicklung primär von Migrationsbewegungen bestimmt sein. Auf nationaler Ebene – mit Ausnahme von Kleinstaaten – wird die Bevölkerungsentwicklung zwar primär durch Geburtenzahlen und Sterbefälle bestimmt, aber dies schließt bedeutsame demographische Konsequenzen von Migrationsprozessen nicht aus. Dabei beeinflussen Emigrationsoder Immigrationsprozesse nicht allein die Bevölkerungszahl, sondern auch die soziale und ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung einer Nation oder Region. Je nach Typus von Migrationsbewegungen ergeben sich andere soziale Determinanten und andere gesellschaftliche Folgen, da verschiedene Migrationsformen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen betreffen. In Kapitel 4 werden verschiedene Formen von Migrationsbewegungen und ihre Auswirkungen genauer analysiert. Der Einfluss der angeführten drei demographischen Komponenten (Geburten, Sterbefälle, Migration) auf Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsstruktur variiert je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Eine stagnierende Bevölkerungszahl kann sowohl das Ergebnis hoher Geburtenhäufigkeit gekoppelt mit geringer Lebenserwartung als auch das Resultat hoher Lebenserwartung bei geringer Geburtenhäufigkeit sein. Starkes Bevölkerungswachstum kann sich aufgrund hoher Geburtenzahlen, aber auch aufgrund massiver Zuwanderung ergeben, usw. Aus soziologischer Sicht von Bedeutung ist die Tatsache, dass die jeweiligen demographischen Entwicklungen eng mit den vorherrschenden Sozial- und Wirtschaftsstrukturen verhängt sind. Veränderungen der drei demographischen Komponenten – und ihr relatives Gewicht für die Bevölkerungsentwicklung – lassen sich zwar rein bevölkerungsstatistisch beschreiben, jedoch nie ohne Rückgriff auf soziologische Theorien verstehen. 13 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 1.3 Bevölkerungsfragen und Soziologie Die Bevölkerungswissenschaft ist prinzipiell ein interdisziplinäres oder sogar transdisziplinäres Forschungsgebiet. Demographische Entwicklungen lassen sich nur durch den gleichwertigen Einbezug von Statistik, Ökonomie, Soziologie und Sozialgeschichte erfassen und verstehen. Soziologische Versuche, die gesellschaftlichen Wirkungen und sozialen Einbettungen demographischer Prozesse zu erforschen, kommen nicht ohne Berücksichtigung der Arbeiten anderer Fachrichtungen aus. Eine zu enge Definition und Einschränkung der Bevölkerungssoziologie ist zu vermeiden. Ein wichtiges Merkmal der modernen Bevölkerungssoziologie – im weitesten Sinne als gesellschaftstheoretische Analyse und Diskussion bevölkerungsstatistisch feststellbarer Wandlungen zu verstehen – ist ihre disziplinübergreifende Perspektive. Trotz der unbestreitbaren Bedeutung anderer Fachrichtungen (Bevölkerungsstatistik, Ökonomie, Sozialgeschichte usw.) kann mit einigem Recht behauptet werden, dass im Rahmen der Bevölkerungswissenschaft der soziologischen Betrachtungsweise eine zentrale Bedeutung zukommt. Gerhard Mackenroth, einer der Klassiker der deutschen Bevölkerungslehre, stellte die Soziologie sogar explizit ins Zentrum: „Das letzte Wort hat in der Bevölkerungslehre immer die Soziologie, und die Soziologie kann wiederum nicht betrieben werden ohne Einbeziehung der historischen Dimension.“ (Mackenroth 1953: 111) Gerhard Mackenroth brachte damit zum Ausdruck, dass rein bevölkerungsstatistische Analysen strukturblind sind. Da Bevölkerungsstatistiken von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abstrahieren, sind sie für eine Erklärung demographischer Veränderungen wenig geeignet. Modelle, welche Bevölkerungsentwicklungen nur mit Hilfe demographischer Variablen zu erklären versuchen, sind immer wieder gescheitert.1 Gerhard Mackenroth war aber auch der Ansicht, dass Bevölkerungssoziologie ohne historische Betrachtung nicht betrieben werden kann, da Bevölkerungsverhältnisse ihren Ursprung in der Vergangenheit haben bzw. demographische Prozesse sich erst allmählich und mit beträchtlicher Zeitverzögerung auf Sozialstruktur, Wirtschaft und Politik auswirken. Auch der deutsche Sozialdemograph Josef Schmid (1984) vertrat die Ansicht, dass die Beschäftigung mit Bevölkerungsgeschichte ein notwendiger Bestandteil der Bevölkerungssoziologie sei: „Es geht ihr aber dabei nicht um ‚Historie‘, sondern vielmehr um bevölkerungsbezogene Erforschung vergangener Epochen, die für unsere Gegenwart besonders konstitutiv sind und die zum Gegenwartsverständnis wesentlich beitragen.“ (Schmid 1984: 18 f.) Viele soziologische Theorien – und darunter auch die meisten moderni1 14 Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft bzw. Bevölkerungssoziologie vgl. Henßler, Schmid 2007; Mackensen, Reulecke, Ehmer 2009. Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 sierungs- und differenzierungstheoretischen Ansätze – haben lange Zeit darauf verzichtet, die physikalischen Größen von Bevölkerung, Raum und Zeit systematisch in ihren Bezugsrahmen aufzunehmen. Genauere Überlegungen lassen jedoch erkennen, dass soziodemographische Prozesse und die damit zusammenhängenden sozialen Dimensionen – wie etwa Lebensverläufe und Generationenabfolge – zu den zentralen und fruchtbarsten theoretischen Kategorien der Soziologie gezählt werden können. An wenig anderen Gegenstandsbereichen können Verknüpfungen zwischen der Mikroebene individuellen Verhaltens, der Mesoebene sozialer Institutionen und der Makroebene des gesamtgesellschaftlichen Strukturwandels so anschaulich gemacht werden wie bei den Verknüpfungen von sozio-ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, familialem Handeln und der Geburtenentwicklung. Auch Veränderungen der Lebenserwartung sind sowohl mit Wandlungen individuellen Gesundheitsverhaltens als auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen von Sozial- und Gesundheitssystemen verbunden. „Ohne die fundamentalen Einsichten in die Populationsdynamik und die demographische Entwicklung, nicht als Globaltrends, sondern als hochdifferenzierte Prozesse, kann die Soziologie also weder den gesellschaftlichen Wandel angemessen erfassen, noch einen Beitrag zu einer rationalen Fundierung der Gesellschaftspolitik leisten.“ (Mayer 1989: 259). Gegenwärtig gehören in Europa namentlich Prozesse der demographischen Alterung – aufgrund langfristig tiefer Geburtenhäufigkeit und erhöhter Lebenserwartung älterer Menschen – zu den gesellschaftspolitisch heißen Themen (vgl. Kap. 6). Verstärkte Überlappungen: In den letzten drei Jahrzehnten ergaben sich verstärkte Überlappungen zwischen bevölkerungsstatistischen und soziologischen Forschungsansätzen, und zwar primär aus zwei Gründen: Erstens erhielten die Sozialwissenschaften vermehrt Zugang zu anonymisierten Grunddaten der Statistik. Die Verbreitung von MikrozensusDaten oder umfangreicher Paneluntersuchungen hat den traditionellen Unterschied zwischen sozialer Umfrageforschung und Bevölkerungsstatistik aufgeweicht. Große Datensätze erlauben es, demographische und soziale Fragestellungen empirisch zu verknüpfen. Umgekehrt flossen die klassischen Methoden der statistischen Demographie vermehrt in soziologische Analysen ein. So werden heute in manchen soziologischen Forschungsarbeiten etwa Kohortenunterschiede (= Verhaltensunterschiede zwischen Menschen aus unterschiedlichen Geburtsjahrgängen) empirisch analysiert. Auch ereignisanalytische Studien und die Benützung stochastischer Modelle für diskrete Ereignisse in kontinuierlicher Zeit erfuhren in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Aufschwung, wodurch vermehrt soziologische Variablen in demographische Analysen (zum Beispiel von Geburtenentwicklung oder Überlebensordnung) einbezogen werden. 15 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 Zweitens ergaben sich in konzeptueller und theoretischer Hinsicht einige Konvergenzen. Das wichtigste Beispiel ist die Entwicklung der Lebensverlaufsforschung, die traditionelle soziologische Forschungsfragen (wie soziale Ungleichheiten) mit soziodemographischen Fragen (wie Familiengründung oder Migrationsprozesse) verbindet. Damit werden klassische demographische Konzepte (Geburtsjahrgang (Kohorte), Alter, generatives Verhalten, Sterblichkeit usw.) systematischer mit sozialwissenschaftlichen Konzepten (Lebenslauf, Familienzyklus, kritische Übergänge und Statuspassagen) verknüpft (Behrens, Voges 1996; Sackmann 2007). Eine Verknüpfung von demographischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen ist seit längerem auch im Bereich der historischen Familienforschung zu beobachten, wodurch Beziehungen zwischen Geburtenentwicklung, Lebenserwartung und Familien- und Generationenstrukturen in verschiedenen Zeitepochen differenziert erfasst werden konnten (Sieder 1987; Chvojka 2003). Auf gesellschaftstheoretischer Ebene haben Fragen zum Zusammenhang von Sozialstruktur und Reproduktion (Geburtenentwicklung, Generationenfolge) ebenfalls eine theoretische Weiterentwicklung erfahren. Gegenwärtig genießen namentlich Analysen über Zusammenhänge zwischen demographischer Alterung und sozialpolitischen Rahmenbedingungen eine besondere Aufmerksamkeit. Insgesamt gelang und gelingt es der Bevölkerungssoziologie – dank Verknüpfung von statistischen Massendaten und individuellen Datensätzen einerseits und dank Verbindung von demographischen und soziologischen Konzepten andererseits – besser, Wechselwirkungen zwischen individuellem Verhalten, gesellschaftlichem Wandel und demographischen Prozessen zu bestimmen. Damit kann die Gefahr demographischer Fehlschlüsse (demographic fallacies) vermieden werden. Demographische Fehlschlüsse entstehen, wenn die differenzierten und komplexen Wechselwirkungen zwischen demographischen Entwicklungen und sozialem Verhalten von Individuen oder Gruppen ausgeblendet werden. Ein klassisches Beispiel ist die Gleichsetzung von demographischer Alterung mit gesellschaftlicher Überalterung (Lengwiler 2008). Auch Vorstellungen eines sich anbahnenden Kriegs der Generationen aufgrund einer steigenden Alterslast basieren auf demographischen Fehlschlüssen (Bräuninger, Lange, Lüscher 1998). Ein weiteres Beispiel eines demographischen Fehlschlusses ist die hie und da geäußerte Idee, Bevölkerungs- und Geburtenrückgang seien eindeutige Anzeichen eines gesellschaftlichen Niedergangs. Demographische Fehlschlüsse liegen aber auch vor, wenn aus der Zahl von Geburten direkt und linear der spätere Bedarf nach Studienplätzen abgeleitet wird; wenn aus der zunehmenden Zahl von alten Menschen ohne Berücksichtigung intervenierender sozialer Variablen direkt auf einen zukünftigen Pflegenotstand geschlossen wird, oder wenn eine Zuwanderung ausländischer Menschen mit Überfremdung gleichgesetzt wird, u. a. m. 16 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 Kapitel 2 Demographischer und gesellschaftlicher Wandel 2.1 Demographischer Wandel – zwischen Optimismus und Pessimismus Es gab schon früh Versuche, Zusammenhänge zwischen demographischen und gesellschaftlichen Verhältnissen auszuarbeiten und allgemeingültige Bevölkerungsgesetze zu formulieren (vgl. Birg 1989; Cromm 1988). Im 18. Jahrhundert wurde etwa versucht, aus der Regelmäßigkeit demographischer Entwicklungen die göttliche Ordnung der Welt zu belegen (Süssmilch 1765). Ein Bevölkerungsgesetz, das bis heute nachwirkt, ist dasjenige von Thomas Robert Malthus (1766–1834). In einer zuerst 1798 publizierten anonymen Streitschrift und 1803 wissenschaftlich modifizierten Arbeit ‚Essay on the Principle of Population‘ stellte Malthus den gesellschaftsoptimistischen Standpunkten der damaligen englischen Sozialisten sein pessimistisches Vermehrungsgesetz entgegen. Nach seiner Ansicht tendiert die Bevölkerung rascher anzuwachsen als die für ihr Überleben notwendigen Nahrungsmittel: Die Bevölkerung wächst, wenn keine Hemmnisse auftreten, in geometrischer Reihe an. Die Unterhaltsmittel nehmen nur in arithmetischer Reihe zu (Malthus 1977 (1798): 17). Drei, für alle Völker und alle Zeiten als gültig betrachtete Grundsätze bilden das Kernstück seiner Bevölkerungstheorie: a) Das Wachstum der Bevölkerung ist begrenzt durch die Unterhaltsmittel. b) Die Bevölkerung vermehrt sich beständig, wenn die Subsistenzmittel wachsen, es sei denn, sie wird durch mächtige Hemmnisse daran gehindert, und: c) Die allzu starke Tendenz der Bevölkerungsvermehrung über die Unterhaltsmittel hinaus wird durch Hemmnisse reguliert, die sich in Enthaltsamkeit, Laster und Elend gliedern. In anderen Worten: Die Tendenz der Menschen, sich schneller zu vermehren als ihre Nahrungsmittelgrundlage, führt zu Laster und Elend; ein Elend, das in heutigen Worten ausgedrückt nur durch eine gezielte Bevölkerungseinschränkung vermieden werden kann. Das Bevölkerungsgesetz von 17 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 Malthus war schon zu seinen Lebzeiten umstritten. Das von ihm postulierte Missverhältnis zwischen Bevölkerungswachstum und Nahrungsspielraum hat öffentliche Diskussionen jedoch immer wieder und bis heute geprägt, obwohl in den letzten zwei Jahrhunderten die Nahrungsbasis weltweit rascher angestiegen ist als die Bevölkerung. Auch der historisch einmalige Anstieg der Weltbevölkerung in den letzten 50 Jahren konnte durch eine erhöhte Nahrungsmittelproduktion mehr als kompensiert werden (Lam 2011). Hunger war und ist bis heute primär kein Bevölkerungsproblem, sondern ein soziales Verteilungsproblem. Seit Malthus wogt der Streit zwischen Bevölkerungspessimisten und Bevölkerungsoptimisten hin und her. Bevölkerungspessimisten gehen davon aus, dass ein starkes Bevölkerungswachstum zur Verarmung, zu sozialer Desintegration oder zu einem ökologischen Zusammenbruch beiträgt. Bevölkerungsoptimisten gehen umgekehrt davon aus, dass ein Bevölkerungswachstum wirtschaftliches Wachstum und technologische Innovationen stimuliert. Die Auseinandersetzungen zwischen mehr optimistischen und mehr pessimistischen Annahmen bestimmen nicht nur die Diskussionen zur Weltbevölkerungsentwicklung, sondern sie durchziehen alle bevölkerungssoziologischen Themenbereiche (Immigration, Geburtenrückgang, demographische Alterung). Thomas Etzemüller (2007) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Bevölkerungsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder durch einen apokalyptischen Charakter bestimmt waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und vor allem in den 1920er und 1930er Jahren – traten die Thesen von Malthus in den Hintergrund, als klar wurde, dass das rasche Bevölkerungswachstums Europas im 19. Jahrhundert keine Explosion gewesen war, sondern eine Wachstumswelle, die zu verebben begann. In dieser Zeitperiode bildeten erstmals ein tiefes Geburtenniveau und eine steigende demographische Alterung die Grundlagen pessimistischer bevölkerungspolitischer Vorstellungen, beispielsweise in der Schweiz, wo damals ein rascher Bevölkerungsrückgang – bis 2000 auf nur noch 2.8 Mio. Menschen – befürchtet wurde (Studer-Auer 1941: 9).2 In den Nachkriegsjahrzenten erhielten angesichts der raschen Zunahme der Bevölkerung in Asien und Afrikas neo-malthusianische Vorstellungen einen erneuten Auftrieb. Allerdings wurde das Bevölkerungsgesetz von Malthus in dieser Zeit weniger als eherne Regel, sondern als zu lösendes Gegenwarts- und Zukunftsproblem thematisiert (um etwa Programme zur Familienplanung durchzusetzen). In den letzten Jahrzehnten standen vermehrt ökologische Überlegungen (steigende Umweltbelastung, Klimawandel und reduzierte Bio-Diversität) im Vordergrund pessimistischer Zukunftsdiskurse. In europäischen Ländern sind angesichts langjährig tiefer 2 18 Die tatsächliche Wohnbevölkerung der Schweiz lag 2000 bei nahezu 7.2 Mio. Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 Geburtenraten umgekehrt pessimistische Szenarien zu den Auswirkungen eines Bevölkerungsrückgangs ein Thema (Coulmas, Lützeler 2011). Aus soziologischer Sicht ist vor allem die Feststellung bedeutsam, dass bevölkerungstheoretische Modelle und Analysen in starkem Masse von den jeweilig vorherrschenden sozial- und gesellschaftspolitischen Diskursen beeinflusst werden. Die gesellschaftlichen Entwicklungen berühren nicht nur den Zusammenhang von demographischem und sozialem Wandel, sondern auch Wahrnehmung und Interpretation demographischer Prozesse. Diese Verknüpfung von wissenschaftlicher Analyse, sozialpolitischen Ideen und Zukunftsperspektiven ist auch bei den nachfolgend angesprochenen Theorien zum demographischen Übergang feststellbar (Szreter 1993). 2.2 Bevölkerungsentwicklung und gesellschaftlicher Wandel – Grundprinzipien Bei bevölkerungssoziologischen Diskussionen stehen die gesellschaftlichen Ursachen und Konsequenzen quantitativer Veränderungen der Bevölkerung im Zentrum. Im Grunde geht es um den Versuch, quantitative Phänomene bevölkerungsstatistischer Art mit qualitativen Veränderungen der Gesellschaft zu verknüpfen. Dabei besteht – wenn nicht kritisch vorgegangen wird – die Gefahr einseitiger Kausalzuordnungen. Drei grundlegende Sachverhalte sind zu berücksichtigen: a) Die Folgen quantitativer demographischer Veränderungen (wie zahlenmäßige Zunahme der Zahl von Personen oder ein erhöhter Anteil von älteren Menschen) sind von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Gesellschaftliche Machtverteilung und der Umgang einer Gesellschaft mit sozialem Wandel sind ebenso bedeutsame intervenierende Faktoren wie Modernität und Wohlstandsniveau einer Gesellschaft. Vielfach sind nur konditionale Aussagen möglich, etwa in der Richtung, dass sich eine Bevölkerungsverschiebung nur dann auf die Lebenslage von Individuen auswirkt, wenn spezielle soziale, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen vorhanden sind. b) Es handelt sich immer um Wechselbeziehungen, was einfache Kausalzuordnungen erschwert (vgl. Abbildung 1). Aus diesem Grund sind die feststellbaren Folgen demographischer Prozesse je nach dem gewählten Zeithorizont unterschiedlich. Bei wechselseitigen Einflussprozessen variieren kurz- und langfristige Folgen häufig. So kann beispielsweise starke Zuwanderung billiger Arbeitskräfte das Lohnniveau kurzfristig senken, aber langfristig dank erhöhter wirtschaftlicher und soziokultureller Dynamik zu einem höheren Lohnniveau beitragen. c) Es existiert in keinem Bereich ein paradigmatischer Konsens. Je nach 19 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 theoretischen Ausgangspunkten wird ein rasches Bevölkerungswachstum als positiver Einfluss auf Wirtschaftswachstum oder umgekehrt als Ursache von Verarmungsprozessen wahrgenommen. Erschwert wird eine sachliche Diskussion durch eine Tradition kulturpessimistischer Interpretationen, wodurch sowohl ein rasches Bevölkerungswachstum als auch eine schrumpfende oder alternde Bevölkerung von vornherein negativ bewertet werden (Oel 2007). Gleichzeitig lässt sich allerdings nicht verneinen, dass demographische Trends vielfach alle Lebens- und Politikbereiche berühren, und zwar langfristig nicht selten in tiefgreifender Weise. Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung und gesellschaftlicher Wandel Bevölkerungsentwicklung Quantität -Bevölkerungswachstum -Bevölkerungsrückgang Bevölkerungsstruktur Qualität -Altersverteilung -Ethnische Struktur -Geschlechterverhält. Soziale und wirtschaftliche Strukturen z.B. Machtverteilung, Wohlstandsniveau, Modernität, Innovationsfähigkeit, Konfliktniveau usw. Familiales und individuelles Verhalten z.B. Fertilitätsverhalten, Migrationsverhalten, soziales und politisches Verhalten bei Wandel usw. 2.3 Die Entwicklung der Weltbevölkerung Historische Angaben zur Bevölkerungsentwicklung der Welt oder einzelner Regionen sind wenig verlässlich. Historische Quellen tendieren teilweise dazu, die Bevölkerung von Städten oder die Verluste bei Schlachten zu übertreiben. Zuverlässige Volkszählungen im heutigen Sinne existieren für die meisten Länder höchstens für die letzten 100 oder 150 Jahre, wenn 20 Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, © 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7 überhaupt. Selbst heute ist man bei verschiedenen afrikanischen und asiatischen Ländern bezüglich Bevölkerungsentwicklung weiterhin auf Schätzwerte angewiesen. Die in Tabelle 1 angeführten Angaben zur Weltbevölkerung sind – zumindest für die Zeit vor 1950 – höchstens grobe Schätzungen, die einerseits auf einer kritischen Analyse verfügbarer historischer Quellen und andererseits auf demographischen Modellberechnungen basieren (vgl. Livi-Bacci 2007). Tabelle 1: Entwicklung der Weltbevölkerung Geschätzte Weltbevölkerung in Millionen Menschen Jahr Vor Christus 8000 5–10 3000 28–30 2000 47–50 1000 1 AD 50–87 170–250 Nach Christus 500 190–260 1000 250–310 1200 370–400 1400 375–410 1500 450–500 1650 470–545 1700 610–680 1750 790–800 1800 813–1 125 1850 1 170–1 241 1900 1 650–1 762 1950 2 532 (Schätzung UN) 1980 4 453 (Schätzung UN) 2010 7 001 (Schätzung UN) 2030 8 517 (Szenario UN) 2050 9 300–9 700 (Szenario UN) Quellen: Biraben 2004, Krengel 1994, United Nations 2011. Zahlen vor 1950 basieren einerseits auf Modellrechnungen und andererseits auf Schätzungen gemäß verfügbaren historischen Quellen. Die Zahl an modernen Menschen (homo sapiens) – nach dem Aussterben der Neandertaler vor gut 25 000 Jahren die einzig überlebende Art der Gat21