Bevölkerungssoziologie - ReadingSample - Beck-Shop

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Grundlagentexte Soziologie
Bevölkerungssoziologie
Eine Einführung in demographische Prozesse und bevölkerungssoziologische Ansätze
Bearbeitet von
Francois Höpflinger
überarbeitet 2012. Taschenbuch. 264 S. Paperback
ISBN 978 3 7799 2604 7
Format (B x L): 15 x 23 cm
Gewicht: 424 g
Weitere Fachgebiete > Ethnologie, Volkskunde, Soziologie > Soziologie >
Demographie, Demoskopie
Zu Inhaltsverzeichnis
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Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, ISBN 978-3-7799-2604-7
© 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7
Leseprobe aus: Höpflinger, Bevölkerungssoziologie,
© 2012 Beltz Juventa, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2604-7
Kapitel 1
Von der Bevölkerungsstatistik
zur Bevölkerungssoziologie
1.1 Hauptfragestellungen
Wie andere Teilgebiete der Soziologie weist auch die Bevölkerungssoziologie eine Vielfalt unterschiedlicher Fragestellungen auf. Dies trägt zur Dynamik wie aber auch zur Unübersichtlichkeit dieser Fachrichtung bei. Es
bestehen jedoch einige allgemeine Grundfragen, die schon seit jeher die
Diskussionen innerhalb der Bevölkerungssoziologie bestimmt haben. Dazu
gehören namentlich folgende Fragen:
a) Welche wechselseitigen Zusammenhänge bestehen zwischen Bevölkerungsentwicklungen und gesellschaftlichen Wandlungen? Inwiefern sind
Modernisierungsprozesse einer Gesellschaft systematisch mit demographischen Verläufen – wie sinkende Geburtenhäufigkeit und steigende
Lebenserwartung – verknüpft?
b) Welche individuellen und gesellschaftlichen Faktoren bestimmen Familiengründung und die Geburtenhäufigkeit junger Frauen und Männer?
Weshalb haben wirtschaftlich entwickelte Gesellschaften zumeist eine
geringe Geburtenhäufigkeit? Und welche gesellschaftlichen Konsequenzen sind längerfristig bei tiefem Geburtenniveau zu erwarten?
c) Welche gesellschaftlichen Wandlungen führen zu räumlichen Bevölkerungsverschiebungen (Migration) zwischen Regionen bzw. Nationen?
Und von welchen sozialen Folgeerscheinungen sind starke Emigrationsoder Immigrationsprozesse begleitet?
d) Welche Faktoren bestimmen eine Erhöhung der Lebenserwartung, und
was sind die gesellschaftlichen Auswirkungen einer hohen Lebenserwartung? Aus welchen Gründen entstehen soziale Ungleichheiten der Lebenserwartung, und wieso weisen Frauen im Durchschnitt eine höhere
Lebenserwartung auf als Männer?
Im Zentrum des Interesses der Bevölkerungssoziologie stehen einerseits die
Auswirkungen gesellschaftlicher Wandlungen auf demographische Größen
(Geburtenniveau, Überlebensordnung, Migration) und andererseits die
Rückwirkungen demographischer Entwicklungen auf Gesellschaften, Insti-
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tutionen und Individuen. Wir haben es dabei immer mit wechselseitigen Beziehungen zu tun, die sich einfachen, linearen Kausalanalysen entziehen
(vgl. Bhrolcháin, Dyson 2007; Moffitt 2005). Aufgrund der komplexen
Wechselwirkungen zwischen demographischen und gesellschaftlichen Entwicklungen besteht zu vielen bevölkerungssoziologischen Fragestellungen
kein paradigmatischer Konsens, sondern wir sehen uns mit einer Vielfalt
einander widersprechender Thesen und Theorien konfrontiert. Bevölkerungsstatistische Trends werden unterschiedlich interpretiert, und die Ursachen und Wirkungen demographischer Veränderungen – wie etwa der demographischen Alterung – werden kontrovers diskutiert.
1.2 Komponenten der Bevölkerungsentwicklung
Die Bevölkerungsentwicklung einer gegebenen Region wird prinzipiell von
drei demographischen Komponenten bestimmt:
a) Geburten (Fertilität): Die Zahl von neu geborenen Kindern wird zum
einen bestimmt durch die Zahl von Frauen im gebärfähigen Alter (Menarche bis Menopause). Selbst bei unverändertem generativem Verhalten kann
sich ein Geburtenanstieg ergeben, wenn viele Frauen ins gebärfähige Alter
nachrücken. Da für die menschliche Reproduktion die Zahl gebärfähiger
Frauen entscheidend ist, beziehen sich alle Fertilitätsindikatoren auf die
weibliche Bevölkerung. Versuche, die Geburtenhäufigkeit von Männern zu
erfassen, sind selten und haben sich nicht durchgesetzt (vgl. Brouard 1977).
Zum anderen wird die Geburtenzahl durch das generative Verhalten junger
Menschen bestimmt. Das generative Verhalten wird seinerseits durch eine
Reihe von Faktoren – wie Heirats- und Familiengründungsverhalten, Kinderwunsch und Geburtenkontrolle – beeinflusst. Entsprechend ist das Geburtenniveau einer Gesellschaft eng mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Rahmenbedingungen verknüpft. In Kapitel 3.4 werden verschiedene Erklärungsansätze zur Fertilitätsentwicklung vertieft diskutiert.
b) Sterbefälle (Mortalität): Die Zahl von Sterbefällen ist zum einen mit der
Altersverteilung einer Bevölkerung verknüpft. Eine Gemeinde oder eine
Stadt, die viele alte Menschen aufweist, muss zwangsläufig mit vielen Sterbefällen rechnen. Zum anderen wird die Zahl von Sterbefällen durch die
Lebenserwartung der Bevölkerung bestimmt. Die Lebenserwartung von
Frauen und Männer ihrerseits ist von einer Reihe sozialer, wirtschaftlicher
und epidemiologischer Einflussfaktoren abhängig. Zwar müssen alle Menschen einmal sterben, aber die Lebenserwartung unterliegt markanten sozialen Ungleichheiten, etwa nach Geschlecht oder sozialer Schichtzugehörig-
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keit. Die Entwicklung der Lebenserwartung und soziale Determinanten unterschiedlicher Überlebensordnungen werden in Kapitel 5 näher vorgestellt.
In der klassischen Bevölkerungsstatistik werden Geburten und Sterbefälle zur sogenannt ‚natürlichen Bevölkerungsbewegung‘ gezählt. Aus soziologischer Sicht – und angesichts der enormen Bedeutung sozialer Faktoren für Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeitsverläufe – greift der Begriff
‚natürlich‘ zu kurz. Zudem genügen einzig auf globaler Ebene die Geburten- und Sterbezahlen formal zur Erklärung der Bevölkerungsentwicklung.
Werden national oder regional begrenzte Gebiete analysiert, kommt eine
dritte Komponente hinzu:
c) Wanderungsbewegungen (Migration): Abwanderung reduziert und Zuwanderung erhöht die Bevölkerung eines gegebenen Gebietes. Speziell für
kleinere geographische Einheiten (Regionen, Kommunen, Quartiere) kann
die Bevölkerungsentwicklung primär von Migrationsbewegungen bestimmt
sein. Auf nationaler Ebene – mit Ausnahme von Kleinstaaten – wird die
Bevölkerungsentwicklung zwar primär durch Geburtenzahlen und Sterbefälle bestimmt, aber dies schließt bedeutsame demographische Konsequenzen von Migrationsprozessen nicht aus. Dabei beeinflussen Emigrationsoder Immigrationsprozesse nicht allein die Bevölkerungszahl, sondern auch
die soziale und ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung einer Nation
oder Region. Je nach Typus von Migrationsbewegungen ergeben sich andere soziale Determinanten und andere gesellschaftliche Folgen, da verschiedene Migrationsformen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen betreffen. In
Kapitel 4 werden verschiedene Formen von Migrationsbewegungen und
ihre Auswirkungen genauer analysiert.
Der Einfluss der angeführten drei demographischen Komponenten (Geburten, Sterbefälle, Migration) auf Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsstruktur variiert je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Eine stagnierende Bevölkerungszahl kann sowohl das Ergebnis hoher Geburtenhäufigkeit gekoppelt mit geringer Lebenserwartung als auch das Resultat hoher Lebenserwartung bei geringer Geburtenhäufigkeit sein. Starkes
Bevölkerungswachstum kann sich aufgrund hoher Geburtenzahlen, aber
auch aufgrund massiver Zuwanderung ergeben, usw. Aus soziologischer
Sicht von Bedeutung ist die Tatsache, dass die jeweiligen demographischen
Entwicklungen eng mit den vorherrschenden Sozial- und Wirtschaftsstrukturen verhängt sind. Veränderungen der drei demographischen Komponenten – und ihr relatives Gewicht für die Bevölkerungsentwicklung – lassen sich zwar rein bevölkerungsstatistisch beschreiben, jedoch nie ohne
Rückgriff auf soziologische Theorien verstehen.
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1.3 Bevölkerungsfragen und Soziologie
Die Bevölkerungswissenschaft ist prinzipiell ein interdisziplinäres oder sogar transdisziplinäres Forschungsgebiet. Demographische Entwicklungen
lassen sich nur durch den gleichwertigen Einbezug von Statistik, Ökonomie, Soziologie und Sozialgeschichte erfassen und verstehen. Soziologische
Versuche, die gesellschaftlichen Wirkungen und sozialen Einbettungen demographischer Prozesse zu erforschen, kommen nicht ohne Berücksichtigung der Arbeiten anderer Fachrichtungen aus. Eine zu enge Definition und
Einschränkung der Bevölkerungssoziologie ist zu vermeiden. Ein wichtiges
Merkmal der modernen Bevölkerungssoziologie – im weitesten Sinne als
gesellschaftstheoretische Analyse und Diskussion bevölkerungsstatistisch
feststellbarer Wandlungen zu verstehen – ist ihre disziplinübergreifende
Perspektive.
Trotz der unbestreitbaren Bedeutung anderer Fachrichtungen (Bevölkerungsstatistik, Ökonomie, Sozialgeschichte usw.) kann mit einigem Recht
behauptet werden, dass im Rahmen der Bevölkerungswissenschaft der
soziologischen Betrachtungsweise eine zentrale Bedeutung zukommt. Gerhard Mackenroth, einer der Klassiker der deutschen Bevölkerungslehre,
stellte die Soziologie sogar explizit ins Zentrum: „Das letzte Wort hat in
der Bevölkerungslehre immer die Soziologie, und die Soziologie kann wiederum nicht betrieben werden ohne Einbeziehung der historischen Dimension.“ (Mackenroth 1953: 111) Gerhard Mackenroth brachte damit zum
Ausdruck, dass rein bevölkerungsstatistische Analysen strukturblind sind.
Da Bevölkerungsstatistiken von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abstrahieren, sind sie für eine Erklärung demographischer Veränderungen wenig geeignet. Modelle, welche Bevölkerungsentwicklungen nur mit
Hilfe demographischer Variablen zu erklären versuchen, sind immer wieder
gescheitert.1
Gerhard Mackenroth war aber auch der Ansicht, dass Bevölkerungssoziologie ohne historische Betrachtung nicht betrieben werden kann, da Bevölkerungsverhältnisse ihren Ursprung in der Vergangenheit haben bzw.
demographische Prozesse sich erst allmählich und mit beträchtlicher Zeitverzögerung auf Sozialstruktur, Wirtschaft und Politik auswirken. Auch der
deutsche Sozialdemograph Josef Schmid (1984) vertrat die Ansicht, dass
die Beschäftigung mit Bevölkerungsgeschichte ein notwendiger Bestandteil
der Bevölkerungssoziologie sei: „Es geht ihr aber dabei nicht um ‚Historie‘,
sondern vielmehr um bevölkerungsbezogene Erforschung vergangener
Epochen, die für unsere Gegenwart besonders konstitutiv sind und die zum
Gegenwartsverständnis wesentlich beitragen.“ (Schmid 1984: 18 f.)
Viele soziologische Theorien – und darunter auch die meisten moderni1
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Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft bzw. Bevölkerungssoziologie vgl. Henßler, Schmid 2007; Mackensen, Reulecke, Ehmer 2009.
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sierungs- und differenzierungstheoretischen Ansätze – haben lange Zeit darauf verzichtet, die physikalischen Größen von Bevölkerung, Raum und
Zeit systematisch in ihren Bezugsrahmen aufzunehmen. Genauere Überlegungen lassen jedoch erkennen, dass soziodemographische Prozesse und
die damit zusammenhängenden sozialen Dimensionen – wie etwa Lebensverläufe und Generationenabfolge – zu den zentralen und fruchtbarsten
theoretischen Kategorien der Soziologie gezählt werden können. An wenig
anderen Gegenstandsbereichen können Verknüpfungen zwischen der Mikroebene individuellen Verhaltens, der Mesoebene sozialer Institutionen
und der Makroebene des gesamtgesellschaftlichen Strukturwandels so anschaulich gemacht werden wie bei den Verknüpfungen von sozio-ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, familialem Handeln und der
Geburtenentwicklung. Auch Veränderungen der Lebenserwartung sind sowohl mit Wandlungen individuellen Gesundheitsverhaltens als auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen von Sozial- und Gesundheitssystemen verbunden. „Ohne die fundamentalen Einsichten in die Populationsdynamik
und die demographische Entwicklung, nicht als Globaltrends, sondern als
hochdifferenzierte Prozesse, kann die Soziologie also weder den gesellschaftlichen Wandel angemessen erfassen, noch einen Beitrag zu einer rationalen Fundierung der Gesellschaftspolitik leisten.“ (Mayer 1989: 259).
Gegenwärtig gehören in Europa namentlich Prozesse der demographischen
Alterung – aufgrund langfristig tiefer Geburtenhäufigkeit und erhöhter Lebenserwartung älterer Menschen – zu den gesellschaftspolitisch heißen
Themen (vgl. Kap. 6).
Verstärkte Überlappungen: In den letzten drei Jahrzehnten ergaben sich
verstärkte Überlappungen zwischen bevölkerungsstatistischen und soziologischen Forschungsansätzen, und zwar primär aus zwei Gründen:
Erstens erhielten die Sozialwissenschaften vermehrt Zugang zu anonymisierten Grunddaten der Statistik. Die Verbreitung von MikrozensusDaten oder umfangreicher Paneluntersuchungen hat den traditionellen Unterschied zwischen sozialer Umfrageforschung und Bevölkerungsstatistik
aufgeweicht. Große Datensätze erlauben es, demographische und soziale
Fragestellungen empirisch zu verknüpfen. Umgekehrt flossen die klassischen Methoden der statistischen Demographie vermehrt in soziologische
Analysen ein. So werden heute in manchen soziologischen Forschungsarbeiten etwa Kohortenunterschiede (= Verhaltensunterschiede zwischen
Menschen aus unterschiedlichen Geburtsjahrgängen) empirisch analysiert.
Auch ereignisanalytische Studien und die Benützung stochastischer Modelle für diskrete Ereignisse in kontinuierlicher Zeit erfuhren in den letzten
Jahrzehnten einen deutlichen Aufschwung, wodurch vermehrt soziologische
Variablen in demographische Analysen (zum Beispiel von Geburtenentwicklung oder Überlebensordnung) einbezogen werden.
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Zweitens ergaben sich in konzeptueller und theoretischer Hinsicht einige
Konvergenzen. Das wichtigste Beispiel ist die Entwicklung der Lebensverlaufsforschung, die traditionelle soziologische Forschungsfragen (wie soziale Ungleichheiten) mit soziodemographischen Fragen (wie Familiengründung oder Migrationsprozesse) verbindet. Damit werden klassische
demographische Konzepte (Geburtsjahrgang (Kohorte), Alter, generatives
Verhalten, Sterblichkeit usw.) systematischer mit sozialwissenschaftlichen
Konzepten (Lebenslauf, Familienzyklus, kritische Übergänge und Statuspassagen) verknüpft (Behrens, Voges 1996; Sackmann 2007). Eine Verknüpfung von demographischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen ist
seit längerem auch im Bereich der historischen Familienforschung zu beobachten, wodurch Beziehungen zwischen Geburtenentwicklung, Lebenserwartung und Familien- und Generationenstrukturen in verschiedenen
Zeitepochen differenziert erfasst werden konnten (Sieder 1987; Chvojka
2003). Auf gesellschaftstheoretischer Ebene haben Fragen zum Zusammenhang von Sozialstruktur und Reproduktion (Geburtenentwicklung, Generationenfolge) ebenfalls eine theoretische Weiterentwicklung erfahren. Gegenwärtig genießen namentlich Analysen über Zusammenhänge zwischen
demographischer Alterung und sozialpolitischen Rahmenbedingungen eine
besondere Aufmerksamkeit.
Insgesamt gelang und gelingt es der Bevölkerungssoziologie – dank
Verknüpfung von statistischen Massendaten und individuellen Datensätzen
einerseits und dank Verbindung von demographischen und soziologischen
Konzepten andererseits – besser, Wechselwirkungen zwischen individuellem Verhalten, gesellschaftlichem Wandel und demographischen Prozessen
zu bestimmen. Damit kann die Gefahr demographischer Fehlschlüsse (demographic fallacies) vermieden werden. Demographische Fehlschlüsse entstehen, wenn die differenzierten und komplexen Wechselwirkungen zwischen demographischen Entwicklungen und sozialem Verhalten von Individuen oder Gruppen ausgeblendet werden. Ein klassisches Beispiel ist die
Gleichsetzung von demographischer Alterung mit gesellschaftlicher Überalterung (Lengwiler 2008). Auch Vorstellungen eines sich anbahnenden
Kriegs der Generationen aufgrund einer steigenden Alterslast basieren auf
demographischen Fehlschlüssen (Bräuninger, Lange, Lüscher 1998). Ein
weiteres Beispiel eines demographischen Fehlschlusses ist die hie und da
geäußerte Idee, Bevölkerungs- und Geburtenrückgang seien eindeutige Anzeichen eines gesellschaftlichen Niedergangs. Demographische Fehlschlüsse liegen aber auch vor, wenn aus der Zahl von Geburten direkt und linear
der spätere Bedarf nach Studienplätzen abgeleitet wird; wenn aus der zunehmenden Zahl von alten Menschen ohne Berücksichtigung intervenierender sozialer Variablen direkt auf einen zukünftigen Pflegenotstand geschlossen wird, oder wenn eine Zuwanderung ausländischer Menschen mit
Überfremdung gleichgesetzt wird, u. a. m.
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Kapitel 2
Demographischer und
gesellschaftlicher Wandel
2.1 Demographischer Wandel – zwischen Optimismus
und Pessimismus
Es gab schon früh Versuche, Zusammenhänge zwischen demographischen
und gesellschaftlichen Verhältnissen auszuarbeiten und allgemeingültige
Bevölkerungsgesetze zu formulieren (vgl. Birg 1989; Cromm 1988). Im
18. Jahrhundert wurde etwa versucht, aus der Regelmäßigkeit demographischer Entwicklungen die göttliche Ordnung der Welt zu belegen (Süssmilch
1765). Ein Bevölkerungsgesetz, das bis heute nachwirkt, ist dasjenige von
Thomas Robert Malthus (1766–1834). In einer zuerst 1798 publizierten
anonymen Streitschrift und 1803 wissenschaftlich modifizierten Arbeit ‚Essay on the Principle of Population‘ stellte Malthus den gesellschaftsoptimistischen Standpunkten der damaligen englischen Sozialisten sein pessimistisches Vermehrungsgesetz entgegen. Nach seiner Ansicht tendiert die Bevölkerung rascher anzuwachsen als die für ihr Überleben notwendigen
Nahrungsmittel: Die Bevölkerung wächst, wenn keine Hemmnisse auftreten, in geometrischer Reihe an. Die Unterhaltsmittel nehmen nur in arithmetischer Reihe zu (Malthus 1977 (1798): 17). Drei, für alle Völker und
alle Zeiten als gültig betrachtete Grundsätze bilden das Kernstück seiner
Bevölkerungstheorie:
a) Das Wachstum der Bevölkerung ist begrenzt durch die Unterhaltsmittel.
b) Die Bevölkerung vermehrt sich beständig, wenn die Subsistenzmittel
wachsen, es sei denn, sie wird durch mächtige Hemmnisse daran gehindert, und:
c) Die allzu starke Tendenz der Bevölkerungsvermehrung über die Unterhaltsmittel hinaus wird durch Hemmnisse reguliert, die sich in Enthaltsamkeit, Laster und Elend gliedern.
In anderen Worten: Die Tendenz der Menschen, sich schneller zu vermehren als ihre Nahrungsmittelgrundlage, führt zu Laster und Elend; ein Elend,
das in heutigen Worten ausgedrückt nur durch eine gezielte Bevölkerungseinschränkung vermieden werden kann. Das Bevölkerungsgesetz von
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Malthus war schon zu seinen Lebzeiten umstritten. Das von ihm postulierte
Missverhältnis zwischen Bevölkerungswachstum und Nahrungsspielraum
hat öffentliche Diskussionen jedoch immer wieder und bis heute geprägt,
obwohl in den letzten zwei Jahrhunderten die Nahrungsbasis weltweit rascher angestiegen ist als die Bevölkerung. Auch der historisch einmalige
Anstieg der Weltbevölkerung in den letzten 50 Jahren konnte durch eine erhöhte Nahrungsmittelproduktion mehr als kompensiert werden (Lam 2011).
Hunger war und ist bis heute primär kein Bevölkerungsproblem, sondern
ein soziales Verteilungsproblem.
Seit Malthus wogt der Streit zwischen Bevölkerungspessimisten und
Bevölkerungsoptimisten hin und her. Bevölkerungspessimisten gehen davon aus, dass ein starkes Bevölkerungswachstum zur Verarmung, zu sozialer Desintegration oder zu einem ökologischen Zusammenbruch beiträgt.
Bevölkerungsoptimisten gehen umgekehrt davon aus, dass ein Bevölkerungswachstum wirtschaftliches Wachstum und technologische Innovationen stimuliert. Die Auseinandersetzungen zwischen mehr optimistischen
und mehr pessimistischen Annahmen bestimmen nicht nur die Diskussionen
zur Weltbevölkerungsentwicklung, sondern sie durchziehen alle bevölkerungssoziologischen Themenbereiche (Immigration, Geburtenrückgang,
demographische Alterung). Thomas Etzemüller (2007) spricht in diesem
Zusammenhang davon, dass die Bevölkerungsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder durch einen apokalyptischen Charakter bestimmt
waren.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und vor allem in den 1920er und
1930er Jahren – traten die Thesen von Malthus in den Hintergrund, als klar
wurde, dass das rasche Bevölkerungswachstums Europas im 19. Jahrhundert keine Explosion gewesen war, sondern eine Wachstumswelle, die zu
verebben begann. In dieser Zeitperiode bildeten erstmals ein tiefes Geburtenniveau und eine steigende demographische Alterung die Grundlagen
pessimistischer bevölkerungspolitischer Vorstellungen, beispielsweise in
der Schweiz, wo damals ein rascher Bevölkerungsrückgang – bis 2000 auf
nur noch 2.8 Mio. Menschen – befürchtet wurde (Studer-Auer 1941: 9).2
In den Nachkriegsjahrzenten erhielten angesichts der raschen Zunahme
der Bevölkerung in Asien und Afrikas neo-malthusianische Vorstellungen
einen erneuten Auftrieb. Allerdings wurde das Bevölkerungsgesetz von
Malthus in dieser Zeit weniger als eherne Regel, sondern als zu lösendes
Gegenwarts- und Zukunftsproblem thematisiert (um etwa Programme zur
Familienplanung durchzusetzen). In den letzten Jahrzehnten standen vermehrt ökologische Überlegungen (steigende Umweltbelastung, Klimawandel und reduzierte Bio-Diversität) im Vordergrund pessimistischer Zukunftsdiskurse. In europäischen Ländern sind angesichts langjährig tiefer
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Die tatsächliche Wohnbevölkerung der Schweiz lag 2000 bei nahezu 7.2 Mio.
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Geburtenraten umgekehrt pessimistische Szenarien zu den Auswirkungen
eines Bevölkerungsrückgangs ein Thema (Coulmas, Lützeler 2011).
Aus soziologischer Sicht ist vor allem die Feststellung bedeutsam, dass
bevölkerungstheoretische Modelle und Analysen in starkem Masse von den
jeweilig vorherrschenden sozial- und gesellschaftspolitischen Diskursen
beeinflusst werden. Die gesellschaftlichen Entwicklungen berühren nicht
nur den Zusammenhang von demographischem und sozialem Wandel, sondern auch Wahrnehmung und Interpretation demographischer Prozesse.
Diese Verknüpfung von wissenschaftlicher Analyse, sozialpolitischen Ideen
und Zukunftsperspektiven ist auch bei den nachfolgend angesprochenen
Theorien zum demographischen Übergang feststellbar (Szreter 1993).
2.2 Bevölkerungsentwicklung und gesellschaftlicher
Wandel – Grundprinzipien
Bei bevölkerungssoziologischen Diskussionen stehen die gesellschaftlichen
Ursachen und Konsequenzen quantitativer Veränderungen der Bevölkerung
im Zentrum. Im Grunde geht es um den Versuch, quantitative Phänomene
bevölkerungsstatistischer Art mit qualitativen Veränderungen der Gesellschaft zu verknüpfen. Dabei besteht – wenn nicht kritisch vorgegangen
wird – die Gefahr einseitiger Kausalzuordnungen. Drei grundlegende Sachverhalte sind zu berücksichtigen:
a) Die Folgen quantitativer demographischer Veränderungen (wie zahlenmäßige Zunahme der Zahl von Personen oder ein erhöhter Anteil von
älteren Menschen) sind von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Gesellschaftliche Machtverteilung und der Umgang einer Gesellschaft mit sozialem Wandel sind ebenso bedeutsame intervenierende
Faktoren wie Modernität und Wohlstandsniveau einer Gesellschaft. Vielfach sind nur konditionale Aussagen möglich, etwa in der Richtung,
dass sich eine Bevölkerungsverschiebung nur dann auf die Lebenslage
von Individuen auswirkt, wenn spezielle soziale, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen vorhanden sind.
b) Es handelt sich immer um Wechselbeziehungen, was einfache Kausalzuordnungen erschwert (vgl. Abbildung 1). Aus diesem Grund sind die
feststellbaren Folgen demographischer Prozesse je nach dem gewählten
Zeithorizont unterschiedlich. Bei wechselseitigen Einflussprozessen variieren kurz- und langfristige Folgen häufig. So kann beispielsweise
starke Zuwanderung billiger Arbeitskräfte das Lohnniveau kurzfristig
senken, aber langfristig dank erhöhter wirtschaftlicher und soziokultureller Dynamik zu einem höheren Lohnniveau beitragen.
c) Es existiert in keinem Bereich ein paradigmatischer Konsens. Je nach
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theoretischen Ausgangspunkten wird ein rasches Bevölkerungswachstum als positiver Einfluss auf Wirtschaftswachstum oder umgekehrt als
Ursache von Verarmungsprozessen wahrgenommen. Erschwert wird eine
sachliche Diskussion durch eine Tradition kulturpessimistischer Interpretationen, wodurch sowohl ein rasches Bevölkerungswachstum als
auch eine schrumpfende oder alternde Bevölkerung von vornherein negativ bewertet werden (Oel 2007).
Gleichzeitig lässt sich allerdings nicht verneinen, dass demographische
Trends vielfach alle Lebens- und Politikbereiche berühren, und zwar langfristig nicht selten in tiefgreifender Weise.
Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung und gesellschaftlicher Wandel
Bevölkerungsentwicklung
Quantität
-Bevölkerungswachstum
-Bevölkerungsrückgang
Bevölkerungsstruktur
Qualität
-Altersverteilung
-Ethnische Struktur
-Geschlechterverhält.
Soziale und wirtschaftliche Strukturen
z.B. Machtverteilung, Wohlstandsniveau, Modernität,
Innovationsfähigkeit, Konfliktniveau usw.
Familiales und individuelles Verhalten
z.B. Fertilitätsverhalten, Migrationsverhalten, soziales
und politisches Verhalten bei Wandel usw.
2.3 Die Entwicklung der Weltbevölkerung
Historische Angaben zur Bevölkerungsentwicklung der Welt oder einzelner
Regionen sind wenig verlässlich. Historische Quellen tendieren teilweise
dazu, die Bevölkerung von Städten oder die Verluste bei Schlachten zu
übertreiben. Zuverlässige Volkszählungen im heutigen Sinne existieren für
die meisten Länder höchstens für die letzten 100 oder 150 Jahre, wenn
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überhaupt. Selbst heute ist man bei verschiedenen afrikanischen und asiatischen Ländern bezüglich Bevölkerungsentwicklung weiterhin auf Schätzwerte angewiesen. Die in Tabelle 1 angeführten Angaben zur Weltbevölkerung sind – zumindest für die Zeit vor 1950 – höchstens grobe Schätzungen, die einerseits auf einer kritischen Analyse verfügbarer historischer
Quellen und andererseits auf demographischen Modellberechnungen basieren (vgl. Livi-Bacci 2007).
Tabelle 1: Entwicklung der Weltbevölkerung
Geschätzte Weltbevölkerung
in Millionen Menschen
Jahr
Vor Christus
8000
5–10
3000
28–30
2000
47–50
1000
1 AD
50–87
170–250
Nach Christus
500
190–260
1000
250–310
1200
370–400
1400
375–410
1500
450–500
1650
470–545
1700
610–680
1750
790–800
1800
813–1 125
1850
1 170–1 241
1900
1 650–1 762
1950
2 532 (Schätzung UN)
1980
4 453 (Schätzung UN)
2010
7 001 (Schätzung UN)
2030
8 517 (Szenario UN)
2050
9 300–9 700 (Szenario UN)
Quellen: Biraben 2004, Krengel 1994, United Nations 2011. Zahlen vor 1950 basieren einerseits auf Modellrechnungen und andererseits auf Schätzungen gemäß verfügbaren historischen Quellen.
Die Zahl an modernen Menschen (homo sapiens) – nach dem Aussterben
der Neandertaler vor gut 25 000 Jahren die einzig überlebende Art der Gat21
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