Adaptation und Selektion

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Populationsgenetik
Nachweis der natürlichen Selektion
Adaptation und Selektion
WOLFGANG STEPHAN
BIOZENTRUM, LMU MÜNCHEN
Die Anpassung von Lebewesen an ihre Umwelt ist ein zentrales Thema
der Evolutionsbiologie. Dieser Prozess ist jedoch kaum fassbar, wenn er
ausschließlich auf der phänotypischen Ebene betrachtet wird. Im Folgenden wird die Anpassung aus der Sicht der Darwin’schen Selektionstheorie
beschrieben und das Wirken der Selektion auf der Genomebene analysiert.
The adaptation of organisms to their environment is a major objective of
evolutionary biology. This process, however, is hard to understand if it is
considered exclusively at the phenotypical level. Here we describe adaptation from the perspective of Darwinian selection theory by analyzing
the action of selection at the genomic level.
ó Adaptation, die Anpassung von Individuen
einer natürlichen Population an ihre Umwelt,
ist ein schwer zu definierender Begriff. Denn,
laut R. A. Fisher[1], dem großen Evolutionsgenetiker, geht es bei der Anpassung nicht
um spezifische Merkmale wie den langen
Hals oder die langen Beine, die es der Giraffe ermöglichen, an den oberen Blättern der
Bäume herumzufressen, sondern um die
„Konformität“ aller Merkmale eines Individuums mit allen Facetten, die die Umwelt ausmachen. Untersuchungen einzelner Merkmale, wie sie in der klassischen Evolutionsbiologie oft durchgeführt werden, laufen
somit Gefahr, einen Großteil der Bedeutung
des Begriffs Adaptation unberücksichtigt zu
lassen. Wie aber kann man dem Fisher’schen
Anspruch gerecht werden und die „Gesamtheit“ der Merkmale eines Organismus und
ihre Angepasstheit an einen komplexen
Lebensraum analysieren?
R. A. Fisher betont, dass Adaptation durch
die Bewegung einer Population auf einen
Phänotypen hin charakterisiert ist, der in
die gegenwärtige Umwelt am besten passt.
Neben neutralen Evolutionskräften wie
Mutation, Rekombination und genetischer
Drift ist diese Bewegung insbesondere von
der natürlichen Selektion getrieben. Es liegt
deshalb nahe, anstelle des operational nur
schwer fassbaren Begriffs Adaptation die
natürliche Selektion zu untersuchen, die auf
die Individuen einer Population wirkt. Dies
hat den Vorteil, dass man sich (zunächst)
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nicht auf bestimmte Merkmale, die etwas
mit Adaptation zu tun haben könnten (was
man allerdings oft nicht weiß), festlegen
muss.
Um die natürliche Selektion nachzuweisen,
ist es am effizientesten, die Auswirkungen
der Selektion durch zwischenartliche Vergleiche (z. B. durch Betrachtung des Verhältnisses von nicht synonymen zu synonymen
Substitutionen in kodierenden Bereichen)
oder auf Populationsebene anhand der genetischen Variabilität zu studieren. So hat die
molekulare Populationsgenetik in den letzten 20 Jahren eine Reihe von statistischen
Verfahren hervorgebracht, mit deren Hilfe
man Rückschlüsse auf das Wirken der Selektion in der Vergangenheit ziehen kann. Das
Datenmaterial, auf das sich diese Methoden
stützen, beruht auf kleinsten, natürlich vorkommenden Veränderungen im Genpool
einer Population (insbesondere single nucleotide polymorphisms oder SNPs). Der große
Durchbruch kam dann in den letzten 5–10
Jahren mit dem Einzug der Populationsgenomik, mit deren Mitteln es möglich geworden
ist, SNP-Datensätze genomweit in Modellorganismen zu erheben and statistisch zu analysieren. Der entscheidende Fortschritt des
genomischen Ansatzes besteht darin, dass
sich die Interpretation der Testergebnisse vereinfacht, weil man Phänomene wie demo-
Die hitchhiking -Methode
Kim und Stephan[2] haben einen composite
likelihood ratio (CLR)-Test entwickelt, um die
Wahrscheinlichkeit zu berechnen, dass eine
beobachtete lokale Reduktion der Variabilität
im Genom durch positive Selektion entstanden ist (anstatt durch neutrale Evolutionsfaktoren); d. h. der CLR-Test vergleicht die
Wahrscheinlichkeit von SNP-Daten unter
einem neutralen Modell mit der unter einem
hitchhiking-Modell. Durch Maximierung letzterer Wahrscheinlichkeit bezüglich der
Modellparameter können diese gleichzeitig
geschätzt werden. Auf diese Weise erhält
man Schätzwerte für den Ort, an dem die
vorteilhafte Mutation im Genom aufgetreten
ist, und auch für deren Selektionskoeffizienten (Selektionsvorteil). Ein Computerprogramm, um diese Rechnungen durchzuführen, ist unter http://www.yuseobkim.net zu
finden.
Dieses Verfahren soll am Beispiel von polyhomeotic (ph), einem in Drosophila melanogaster unter Selektion stehendem Gen[12],
erläutert werden. Die besagte Genregion wurde durch einen Genom-Scan gefunden[4]. In
der Nähe des dabei in der europäischen
Population entdeckten Fragments mit niedriger Variabilität (Abb. 1) wurden in den afrikanischen und europäischen Stichproben
weitere Fragmente analysiert. Dabei ergab
sich ein Tal der Variabilität, das in der afrikanischen Population viel enger war als in
der europäischen (Abb. 1), weshalb für die
Feinanalyse die afrikanische Stichprobe
gewählt wurde[12]. Durch Anwendung des
CLR-Tests konnte schließlich das Target der
Selektion im großen Intron von ph-p lokalisiert werden (in einem Bereich, in dem mehrere Transkriptionsfaktor-Bindungsstellen liegen), und auch der Selektionskoeffizient
konnte ermittelt werden. Obwohl die phDuplikation vor mehr als 25 Millionen Jahren
stattgefunden hat, sind die ph-Duplikate auf
der Sequenzebene sehr ähnlich, jedoch zeigen sie unterschiedliche Expressionsprofile.
Offenbar stehen sie also noch am Anfang
ihrer Differenzierung, aber starke Selektion
sorgt dafür, dass sich ihre Funktionen allmählich auseinander entwickeln.
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WISSENSCHAFT · SPECIAL: L ABORAUTOMATION/HTS
˚ Abb. 1: Nukleotiddiversität π und θ in der polyhomeotic-Region einer afrikanischen D. melanogaster-Population. Die Diversitätswerte wurden durch Sequenzieren von 13 kurzen Fragmenten
gemessen, wobei das mit einem Stern gekennzeichnete Fragment im ursprünglichen Genom-Scan
einer Population aus Holland als monomorph gefunden wurde[4]. π ist die durchschnittliche
Anzahl der Unterschiede zweier Allele an einer Nukleotidstelle, während θ proportional zur Anzahl
der SNPs in der Stichprobe ist. Im gekennzeichneten Bereich sind zwei Eigenschaften des hitchhiking-Effekts zu sehen: a) π und θ sind erniedrigt und b) ihre Differenz π – θ, die zu Tajimas DStatistik proportional ist, ist negativ. Der vom CLR-Test geschätzte Angriffspunkt der Selektion ist
durch einen senkrechten Pfeil angedeutet und liegt im großen Intron von ph-p. Der untere Teil der
Abbildung zeigt die in der Feinanalyse[12] sequenzierten 18 Fragmente, die Struktur der Gene und
die Distanzen (in kb).
grafische Einflüsse, die das gesamte Genom
betreffen, von lokalen Effekten (wie der Wirkung der Selektion) unterscheiden kann.
Um genomweite SNP-Datensätze nach Spuren positiver (d. h. adaptiver) Selektion abzusuchen, haben wir eine Methode entwickelt,
die auf dem hitchhiking-Effekt beruht[2] (Box).
Dieser besagt, dass in einer lokalen Region
des Genoms die genetische Variation reduziert ist, wenn in dieser Region in jüngerer
Vergangenheit eine vorteilhafte Mutation aufgetaucht und sich in der gesamten Population durchgesetzt hat. Das Wirken positiver
Selektion hinterlässt somit im Genom definierte Muster der Sequenzvariabilität; und
die Gesamtheit dieser Muster bildet eine Genkarte, die angibt, wo im Genom evolutionäre
Veränderungen mit adaptiver Bedeutung in
der jüngeren Historie einer Population stattgefunden haben. In anderen Worten, diese
Genkarte stellt eine Momentaufnahme der
Adaptation dar.
Genom-Scans positiver Selektion
Um positive Selektion mithilfe des hitchhiking-Effekts zu identifizieren, wird das
Genom systematisch nach Regionen reduzierter Variation abgesucht. Organismen,
deren Genom vollständig sequenziert ist, eignen sich besonders gut für solche Untersu-
chungen. Beim Menschen hat das HapMapProjekt mehr als 3,1 Millionen SNPs gefunden[3]. In D. melanogaster konnte ein solcher
Scan bisher nur in einem kleineren Maßstab
durchgeführt werden (für das X-Chromosom
und ein Autosom)[4, 5]. In frei lebenden Mäusen wurde die Variation genomweit durch
Mikrosatelliten gemessen[6]. Die Untersuchung dieser Datensätze mithilfe des CLRTests (Box) und dessen Weiterentwicklungen[7, 8] hat zu folgenden Resultaten bei
D. melanogaster und dem Menschen, den am
besten untersuchten Arten, geführt.
D. melanogaster: In den SNP-Scans wurden
jeweils 260 kurze Fragmente auf dem X-Chromosom in einer ursprünglichen afrikanischen
und einer abgeleiteten Population aus Holland untersucht[4, 5]. Ferner wurden 375 Fragmente auf dem 3. Chromosom der holländischen Population analysiert[9]. Die Analyse
ergab, dass auf dem X-Chromosom der afrikanischen Population in den letzten 60.000
Jahren 160 Ereignisse positiver Selektion Spuren hinterlassen haben, während in der europäischen Population, die sich erst nach der
letzten Eiszeit (vor etwa 15.000 Jahren) von
der ursprünglichen afrikanischen Linie abgespalten hat, 60 Selektionsereignisse gefunden wurden[8]. Die Frequenz der adaptiven
Ereignisse ist damit in Europa höher als in
Afrika, was mit der Ausbreitung der Fliegen
in neue Territorien (temperierte Klimazonen)
und damit verbundenen Anpassungen zu tun
haben dürfte. Ferner ist sie höher als auf dem
3. Chromosom, was dadurch bedingt ist, dass
die meisten adaptiven Mutationen (schwach)
rezessiv sind.
Die Angriffspunkte positiver Selektion im
D. melanogaster-Genom können sehr genau
lokalisiert werden (Box). Das bedeutet, dass
man die Gene kennt, die in der Adaptation
eine Rolle gespielt haben. Mithilfe dieser
Information kann man nun beginnen, einzelne adaptive Merkmale zu analysieren. Bisher wissen wir, dass von den Genen mit
bekannter Funktion die weitaus meisten in
Signalwegen wirken, die an der ökologischen
Anpassung beteiligt sind. Dazu gehören Resistenzgene und Gene, die die Körpergröße regulieren oder die Sinneswahrnehmung beeinflussen. Andererseits wurden aber auch Gene
identifiziert, die sich nicht einfach in das herkömmliche Bild der ökologischen Anpassung
einordnen lassen. Beispielsweise wurde positive Selektion an einem der beiden polyhomeotic-Gene nachgewiesen (Box). Dieses Gen
kodiert für einen Transkriptionsrepressor
(aus der Polycomb-Gruppe).
Mensch: Die Analyse der HapMap-Daten
hat zur Lokalisierung zahlreicher Genregionen im menschlichen Genom geführt, die Evidenz für Selektion aufweisen. Zunächst hat
man sich dabei auf so genannte unvollständige hitchhiking-Ereignisse konzentriert, also
Selektionsereignisse, in denen das vorteilhafte Allel noch auf dem Weg zur Fixation ist,
sich in der Population aber noch nicht vollständig durchgesetzt hat[10]. Statt einer Reduktion der Variation führt dies zu einem Muster,
in dem die genetische Variation in langen
Haplotypen organisiert ist. Das bekannteste
Beispiel hierfür ist die Genregion, die das für
das Aufspalten von Milchzucker verantwortliche Lactase-Gen enthält. Bekanntlich ist dieses Gen in Nordeuropäern seit der Verbreitung der Milchwirtschaft (seit ca. 12.000 Jahren) unter positiver Selektion, nicht aber in
anderen Populationen (also beispielsweise
nicht bei Asiaten). Weitere Klassen von
Genen, die man bei der Analyse der HapMapDaten in den insgesamt 700 identifizierten
Genomregionen gefunden hat, umfassen Pigmentgene und Gene, die die Gehirngröße
beeinflussen. Ähnliche Klassen von Genen
wurden auch gefunden, wenn die HapMapDaten auf Stellen im Genom durchsucht wurden, an denen die genetische Variation – ähnlich wie bei D. melanogaster – reduziert ist[11].
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Schlussbemerkungen
Es ist zu erwarten, dass der hier aufgezeigte
Ansatz neue Impulse für die Untersuchung
der Adaptation liefert. Zum einen wird vom
Fisher’schen Diktum der Gesamtheit der
Merkmale (bzw. des Genoms) ausgegangen,
zum anderen können – aufgrund der Kenntnis der involvierten Gene – gezielt adaptive
Merkmale analysiert werden. Jedoch ist auch
offensichtlich, dass der Weg bis zu einem adäquaten Verständnis der Adaptation noch weit
ist. Ein solches Verständnis der Adaptation
erfordert nämlich eine detaillierte Charakterisierung der mithilfe der Selektion identifizierten Gene. Hier stehen wir aber noch am
Anfang.
Danksagung
Dieses Projekt wird durch die VolkswagenStiftung und DFG gefördert.
ó
Literatur
[1] Fisher, R. A. (1958): The genetical theory of natural selection. Dover Publications, New York (Second edition).
[2] Kim, Y., Stephan, W. (2002): Detecting a local signature of
genetic hitchhiking along a recombining chromosome.
Genetics 160: 765–777.
BIOspektrum | 03.08 | 14. Jahrgang
[3] International HapMap Consortium (2007): A second generation human haplotype map of over 3.1 million SNPs. Nature
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strong positive selection drives neofunctionalization in the
tandemly duplicated polyhomeotic genes in Drosophila. Proc.
Natl. Acad. Sci. USA 105: 5447–5452.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Wolfgang Stephan
Biozentrum, LMU München
Großhaderner Straße 2
D-82152 Planegg-Martinsried
Tel: 089-2180-74102
Fax: 089-2180-74104
[email protected]
www.zi.biologie.uni-muenchen.de/evol
AUTOR
Wolfgang Stephan
Physik-Studium in Erlangen,
Promotion in Konstanz, anschließend an der University of
Sussex (bei J. Maynard Smith
und B. Charlesworth) und National Institutes of Health (bei
C. H. Langley) mit Schwerpunkt Populationsgenetik.
1989–2000 tenure track vom
Assistant zum Full Professor
an amerikanischen Universitäten. Seit 2000 Leiter des Bereiches Evolutionsbiologie der
LMU München.
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