KÖRPER UND GEIST SIND EINS Ein buddhistisches Retreat mit Thích Nhất Hạnh in Waldbröl 1. Auflage April 2015 Final Version 1.14.04.15 © 2015 tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigungen jeglicher Art z. B. in Form konventioneller Kopiertechnik oder auch mit Mitteln der elektronischen Datenverarbeitung auch in Auszügen nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors. Dieses Buch wurde im Digitaldruckverfahren hergestellt. Umschlaggestaltung, Satz und Layout: K.L.S. Publishing, Köln Text: Neue deutsche Rechtschreibung Mit 19 Abbildungen ISBN-13 (Softcover): 978-3-95802-454-0 ISBN-13 (e-Book): 978-3-95802-455-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Inhaltsverzeichnis Vorwort ..................................................................................... 9 Waldbröl und der Buddhismus ............................................... 11 Thích Nhất Hạnh und Plum Village ......................................... 16 Ankunft im Retreat, Working Meditation und Wohnen ......... 17 Achtsamkeit ............................................................................ 22 Intersein .................................................................................. 27 Zen-Buddhismus, Dhyana und Linji ......................................... 28 Sitzmeditation, Frühstück, Buddha, Dharma und Sangha ...... 30 Dharma-Unterweisung und Gehmeditation ........................... 37 Exkurs zur Geschichte des Gebäudes ...................................... 47 Nahrung und Achtsamkeit ...................................................... 55 Relaxing Meditation ................................................................ 60 Dharma Sharing, Mindful Breathing, das Innere Kind und tiefes Schauen ..................................... 61 Ein Krankenhausbesuch .......................................................... 70 Abendessen, der Klang der Dinge und ruhiger Fluss .............. 71 Retreat und Stress................................................................... 76 Five Mindful Commitments und Ende des niederländischen Retreats ............................................. 79 Interimszeit ............................................................................. 84 Auftakt zum deutschen Retreat .............................................. 92 Dharma Sharing im neuen Gewand ........................................ 96 Körper und Geist: Einheit oder Dualität?................................ 98 Glück, Leid, Schlamm und Lotos ........................................... 105 Irritationen und Consulting-Angebot der Laienbrüder des Intersein-Ordens ............................... 107 Five Mindful Commitments im Spiegel eigener Erfahrungen ......................................... 110 Consulting zum Thema Gewalt in der Familie unter karmischen Aspekten ........................ 112 Einweihung des Ashoka-Instituts .......................................... 117 Achtsamkeit im Kleinen ........................................................ 127 Stupa der Unvoreingenommenheit, Garten der Transformation, Tor des Interseins und Hitlerwand .......... 129 Nachbereitung mit tiefem Zuhören ...................................... 135 Fragen und Antworten.......................................................... 137 Neubeginn, Teezeremonie und Obertonsingen ................... 140 Das Innere Kind umarmen .................................................... 147 Five Mindful Commitments beim deutschen Retreat .......... 149 Zusammenfassende Dharma Lesson zu „Körper und Geist sind eins“ ......................................... 152 Finales Dharma Sharing ........................................................ 162 Resümee ............................................................................... 163 Ausklang und Achtsamkeitstag ............................................. 166 Heimfahrt ..............................................................................175 Anhang ..................................................................................177 Text der Gedenktafel am Rand des Königsbornpark zur Durchgangsstraße ...................................................................... 177 Textauszug des Ordners zur Ausstellung „Heilende Herzen“ .... 178 Textauszug der wöchentlich abgehaltenen Zeremonie für die deportierten Kinder und die Täter ............................................. 180 Die fünf Achtsamkeitsübungen („Five Mindful Commitments“) 181 Kontaktadressen ...................................................................185 Danksagung ...........................................................................186 Über den Autor ..................................................................... 187 Vorwort An einem buddhistischen Retreat teilzunehmen ist ein einzigartiges Erlebnis. Einige betrachten es als Verjüngungskur des Geistes, andere wiederum sehen darin eine Quelle tiefgreifender spiritueller Erkenntnis. Egal unter welcher Voraussetzung man sich zu diesem Schritt entschließt, eines ist sicher: Ein Retreat geht an keinem spurlos vorüber. Beim ersten Retreat erscheint vieles fremd und ungewöhnlich. Das Gehörte will verstanden und umgesetzt, Achtsamkeit gelernt und in den täglichen Ablauf eingebunden werden. Für die Beschäftigung mit anderen Aspekten bleibt dabei wenig Zeit. Aber auch der Rahmen, in den ein buddhistisches Retreat eingebettet ist, ist bedeutsam. Das Buch führt in den Ablauf und Inhalt eines buddhistischen Retreats unter der Leitung Thích Nhất Hạnhs in Waldbröl ein, macht vertraut mit der Geschichte des Hauses, das die Gemeinschaft vor einigen Jahren erwarb, und spiegelt die persönlichen Eindrücke des Autors. Für diejenigen, die an einem Retreat in Waldbröl teilnehmen wollen, kann es wichtige Orientierungshilfe sein, allen 9 anderen bietet es viel Wissenswertes zu Thích Nhất Hạnh und seiner speziellen Auslegung der buddhistischen Lehre. 10 Waldbröl und der Buddhismus Vierundsechzig Kilometer von Köln in südöstlicher Richtung entfernt liegt Waldbröl als größte Stadt im Oberbergischen Kreis. Zu Zeiten des Nationalsozialismus bestanden Pläne, aus dem beschaulichen Ort die größte Stadt zwischen Köln und Kassel zu machen. Federführend für dieses Projekt zeichnete Robert Ley, der fünft höchste Beamte im Dritten Reich. Neben Industrieanlagen, Kasernen und kulturellen Einrichtungen inklusive einer guten Autobahnanbindung hatte er für den kleinen Ort sogar eine U-Bahn vorgesehen. Die Einwohnerzahl hätte sich sprungartig vergrößert. Man dachte damals an eine Größenordnung von weit über einer Viertelmillion. Zugleich sollte der Ort durch eine der insgesamt zehn Adolf-Hitler-Schulen (AHS) aufgewertet werden, deren Baubeginn bis heute eine Mauer dokumentiert. Im Volksmund wird sie die „Hitlermauer“ genannt. Von den ehrgeizigen Plänen Robert Leys in den Dreißigerjahren wurde nur der Bau eines Hotels umgesetzt. Zu diesem Zweck wurde ein bereits an dieser Stelle existierendes Heim für Behinderte umgebaut und erweitert. Die Eröffnung des Hotels wurde jedoch durch die Kriegswirren verhindert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das 150 Meter lange Gebäude zunächst als Krankenhaus ge- 11 nutzt, ehe es ab 1986 der Akademie für Psychologische Verteidigung der Bundeswehr als Standort diente. Nach deren Auflösung folgte von 1990 bis 2006 die Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation. Verwaltet wurde die Immobilie in all den Jahren von der Diakonie Duisburg. Nach Auszug der Behörde und einem zweijährigen Leerstand entdeckte die buddhistische Gemeinschaft um Thích Nhất Hạnh das in einem malerischen Park gelegene Gebäude für sich und erwarb es 2008 von der Diakonie Duisburg. Bereits kurze Zeit später eröffnete das European Institute of Applied Buddhism (Europäisches Institut für Angewandten Buddhismus), kurz EIAB genannt, hier seine Pforten. Neben dem großen Hauptgebäude nutzt das EIAB zusätzlich ein kleineres separates Gebäude, das ehemals eine Zivildienstschule beherbergte. Wer aus dem Reichtum der Lehren Buddhas schöpfen will, ist im EIAB genau am richtigen Ort. Verkehrsgünstig unweit der Autobahn A4 gelegen, ist das EIAB nicht nur einfach mit dem Auto zu erreichen, sondern besitzt auch eine gute Nahverkehrsanbindung. Die Fahrtzeit von Köln mit Bahn oder PKW beträgt ca. eine Stunde. 12 Im Inland sowie im benachbarten Ausland stoßen die Kurse des EIAB auf großes Interesse. Die Themen sind weit gefächert. In Ausrichtung auf den Buddhismus (hier vor allem der Aspekt der Achtsamkeit) reicht das Angebot von Fotografieren, Malen, Tanz über Tai Chi Chuan, Shiatsu, Qi Gong bis hin zu Akkupunktur, buddhistischer Psychologie, Gehmeditation, Zen und die Kunst des Tees, Sprache des Herzens, Bewältigung von Lebenskrisen und eigener Vergangenheit, Umarmung des Inneren Kindes sowie innere Klarheit durch Meditation. Ferner gibt es ein sogenanntes „Teen Camp“ für Jugendliche sowie Oster-, Sommer- und Jahreswechsel-Retreats. Erklärtes Ziel des EIAB ist es, Menschen ungeachtet ihres Alters und ihrer Konfession mit buddhistischer Praxis vertraut zu machen. Und ihrem Leben durch Achtsamkeitsübungen zu mehr Stabilität, Ausgeglichenheit, Freude und Frieden zu verhelfen. Als gemeinnützige Organisation bietet das EIAB nicht nur Kurse buddhistischen Inhalts an, sondern engagiert sich auch für Verständnis zwischen den Religionen. Die Durchführung der Kurse beschränkt sich nicht nur auf eigene Räumlichkeiten; auf Wunsch kommen die Lehrenden auch in Schulen oder andere Institutionen. 13 Das EIAB ist ein spirituelles Zentrum, das über Thích Nhất Hạnh der vietnamesischen Dhyanatradition, auch Thien genannt, zuzuordnen ist. Abbildung 1: Hauptgebäude Traditionsgemäß liegt der Schwerpunkt nicht auf einem ausgiebigen Bücherstudium, sondern vielmehr auf der Praxis der Achtsamkeit. Primär steht nicht die Auseinandersetzung mit der buddhistischen Lehre bzw. Theorie im Fokus. Vielmehr kommt es darauf an, direkt und unmittelbar die Quintessenz dieser Lehre im konkreten Alltag zu erfahren. Jedem einzelnen Augenblick Achtsamkeit zu zollen ist das Ziel. Achtsamkeit soll sich nicht nur auf bestimmte Übungen (z. B. die Sitzmeditati- 14 on) und Zeiträume beschränken, sondern in jedem Moment und jeder Aktion des täglichen Lebens gegenwärtig sein. Jeden einzelnen Augenblick unseres Lebens als Glück und Freude zu erleben, ist das große Geheimnis, das es zu entdecken gilt. Highlights sind die im Sommer von Thích Nhất Hạnh durchgeführten Retreats. Sie wenden sich vorwiegend an Menschen aus Deutschland und den Niederlanden. Thích Nhất Hạnh, ein 1926 geborener vietnamesischer Mönch und ZenMeister, ist nicht nur ein begnadeter Schriftsteller, Poet und Kalligraph, sondern zugleich einer der bekanntesten buddhistischen Lehrer unserer Zeit. Seine Auslegung des Buddhismus ist weltweit einzigartig. Man spricht ihn in der Regel nur mit „Thay“ (Lehrer) an. Thích Nhất Hạnh wie auch der Leiter des EIAB lehren in englischer Sprache. Für Teilnehmer anderssprachiger Nationen stehen Dolmetscher zur Verfügung. Sie übersetzen nicht simultan, sondern mit leicht zeitlichem Versatz, in denen der Vortragende schweigt. So entstehen bei den Ausführungen kleine Pausen, die Zeit für ein kurzes Überdenken des Gehörten lässt. Ein sehr angenehmer Rhythmus. 15 Thích Nhất Hạnh und Plum Village Im August 2012 war es siebzig Jahre her, dass Thích Nhất Hạnh zum Mönch ordiniert wurde. Eigenen Aussagen zufolge bereute er bislang keinen einzigen Tag seiner im Alter von sechzehn Jahren getroffenen Entscheidung. Zwei Kriege, den Indochina-Krieg der Franzosen sowie den Vietnam-Krieg der Amerikaner, hat er als Mönch miterlebt und überlebt. Zur Zeit des Vietnamkriegs bemühte sich Thích Nhất Hạnh auf vielen Ebenen um Frieden für sein Land. Er schrieb Personen des öffentlichen Lebens mit der Bitte an, sich für eine Beendigung des Krieges auszusprechen oder bat den Papst anlässlich einer Audienz um einen entsprechenden Vorstoß. Ende der sechziger Jahre reiste Thích Nhất Hạnh als Teil einer buddhistischen Friedensdelegation nach Paris, um bei Friedensverhandlungen mitzuwirken. Infolge seines pazifistischen Engagements erklärte die Regierung von Südvietnam ihn zur „persona non grata“ und verweigerte ihm 1966 nach einer Vortragsreise in die USA und nach Europa die Rückkehr nach Vietnam. Ein Verständnis aller beteiligten Staaten füreinander bewirken zu wollen, war den Politikern seines Landes äußerst suspekt. Notgedrungen blieb Thích Nhất Hạnh für einige Zeit in Amerika und übersiedelte später nach Frankreich. In der 16 Nähe von Bordeaux gründete er 1982, unterstützt von seinen Nonnen und Mönchen, die buddhistische Gemeinschaft „Plum Village“, in der er seitdem lebt. Der Name „Plum Village“ bezieht sich auf die Umsetzung der Idee, auf zehn der insgesamt zwanzig Hektar 1250 Pflaumenbäume anzupflanzen, denn es galt, für die Gemeinschaft eine solide finanzielle Basis zu schaffen. Und in der Tat wurden durch den Verkauf der Früchte, teilweise zu Marmelade verarbeitet, schon bald gute Gewinne erzielt. Das Angebot wurde später durch die Anpflanzung von Feigenbäumen erweitert. In „Plum Village“ leben Mönche und Nonnen in zwei getrennten Weilern. Gemeinsame Aktivitäten sind die Ausnahme. Ankunft im Retreat, Working Meditation und Wohnen Meine erste Begegnung mit dem EIAB fand im Jahr 2012 statt. Spontan entschied ich mich am Jahresanfang, zum ersten Mal im Leben an einem buddhistischen Retreat teilzunehmen und meldete mich für August zu „Lichaam en geest zijn een / Körper und Geist sind eins“ an. 17 Das zweiwöchige Retreat richtet sich in der ersten Woche an Niederländer, in der zweiten an Deutsche, wobei die große Anzahl der in Deutschland in der Diaspora lebenden Vietnamesen auffällt. Überwiegend kommen sie aus Bremen, Hamburg, Kehl, Köln, Kiel, Frankfurt a. M. und München. Die internationale Beachtung des Retreats belegt die Teilnahme von Gästen aus Belgien, Frankreich, Italien und den USA. Alle Altersgruppen sind vertreten. Ungeachtet der Sprachbarrieren und Altersunterschiede gestaltet sich die Kommunikation untereinander sehr offen und ungezwungen. Obwohl sich der Inhalt in der zweiten Woche wiederholt, habe ich beide Wochen gebucht. 1.089 Euro für vierzehn Tage inklusive Übernachtung im 3- bis 4-Bettzimmer und Verpflegung erschienen mir nicht zu viel, um die langjährige theoretische Auseinandersetzung mit dem Buddhismus mit der Praxis in Deckung zu bringen. Vor allem lag mir daran, Thích Nhất Hạnh einmal hautnah zu erleben. Kaum ein Jahr ist es her, dass ich ein Buch von Thích Nhất Hạnh zur Hand nahm. Von der Einfachheit und Klarheit seiner Darstellung der buddhistischen Lehre tief beeindruckt und berührt, verschlang ich schnell weitere Werke. Sie gaben mir 18 viele wertvolle Anstöße und halfen mir, in einer nicht gerade leichten Zeit mit Mut und Gelassenheit nach vorne zu blicken. Ich treffe am Freitag gegen Mittag im EIAB ein, einen Tag vor dem offiziellen Beginn des niederländischen Retreats. „I have arrived, i am home“, begrüßt ein Schild die Ankommenden am Schaumburgweg an der Auffahrt zum EIAB. Die kunstvoll geschwungene Schrift, so erfahre ich später, basiert auf einer Kalligraphie Thích Nhất Hạnhs. Anfangs erscheint mir die Aussage etwas überzogen, doch bereits nach wenigen Tagen werde ich den Willkommensspruch aus vollem Herzen bejahen. Allerdings nicht, weil ich mich im Kreis der Retreat-Teilnehmer so aufgehoben fühle, sondern weil ich spüre, dass ich bei mir, im Innersten meines Selbst, angekommen bin. Noch ist alles ruhig. Das Gros der Teilnehmer wird erst für die Abendstunden erwartet. Die frühzeitige Ankunft beschert mir nicht nur erste interessante Begegnungen, sondern auch einen Einstieg in die Praxis der Achtsamkeit in Form von Gemeinschaftsarbeit. Natürlich auf rein freiwilliger Basis – man sucht sich das Betä- 19 tigungsfeld selbst; keiner bittet um Mithilfe oder weist Arbeit zu. Zuerst wasche und zerteile ich eine Unmenge von Kürbissen, dann reinige ich mit anderen einige Toiletten- und Waschräume und helfe danach große Mengen von Mulch auf den Freiflächen zu verteilen, welche den Treppenaufgang zum Eingang des Hauptgebäudes flankieren. Keinen einzigen Moment empfinde ich die Arbeit, auch „working meditation“ genannt, als Last. Im Gegenteil: Sie tut gut und befriedigt – mein kleiner, unsichtbarer Beitrag zum Retreat. Wo übernachten hunderte von Menschen bei einem solchen Retreat, wie löst man das Problem der Verpflegung, wie gestaltet sich ein Tagesablauf und welche Inhalte werden geboten? Die meisten Teilnehmer wohnen im ehemaligen Zivildienstheim. Das dreistöckige, in Winkelform in den Hang gebaute Haus, einen Steinwurf vom Hauptgebäude entfernt, erhielt vor einigen Jahren den Namen „Tempel des großen Mitgefühls“. Im Erdgeschoss befinden sich Küche, Wirtschaftsräume und ein Speisesaal, der an den Informationstagen (donnerstags ab zwanzig Uhr oder sonntags ab neun Uhr) für 20