284 Interkulturelle Geschichte Frankreichs lich Nationale mag sich dann z. B. ein spezifischer Umgang mit diesen Referenzen, deren spezifische Wirkungsweise, deren spezifische Vernetzung erweisen. Ein Beispiel: der französischen Germanophilie wenn nicht Germanomanie des 19. Jh. stand in Deutschland nicht so sehr eine Frankophilie oder Frankomanie gegenüber, sondern eine Gräkomanie. In Deutschland waren die kulturellen Referenzen anders verteilt als in Frankreich. Die genaue Erforschung der interkulturellen Geschichte eines jeden europäischen Landes würde gewissermaßen dessen genetischen Abdruck liefern, jedenfalls von der Epoche an, in der die sehr lange Inkubationsphase der Nationenwerdung in die Phase der Selbstidentifikation als Nation wechselt. Das ist, cum grano salis, um 1800 in weiten Teilen Europas der Fall. Die Kategorie „kulturelle Referenz“ erweist ihre Nützlichkeit von dem Augenblick an, wo die Referenz Frankreich einigermaßen deutlich konturiert ist, sei es durch positive Elemente (la douce France, fille aînée de l’Église, translatio studii usw.), sei es durch Abgrenzung mithilfe von Stereotypen, ein seit den Kreuzzügen in den Quellen manifester Vorgang. Dieser Buchabschnitt beleuchtet die interkulturelle Geschichte Frankreichs nunmehr aus der Perspektive der Expansion und des Kolonialismus sowie der Rückwirkungen auf Frankreich, aus der Perspektive von „Europa“ als kultureller Referenz in Frankreich und aus der Perspektive kultureller Transfers nach Frankreich. 10 Frankreich und die außereuropäische Welt – Außereuropa in Frankreich 10.1 „Die Barbaren müssen in Zukunft die süße Milde der französischen Herrschaft spüren.“ „Die französische Nation darf nicht auf den europäischen Erdflecken beschränkt bleiben, sie muß sich bis in die letzten Winkel der Erde ausbreiten, die Barbaren müssen in Zukunft die süße Milde der französischen Herrschaft spüren und nach ihrem Vorbild ihre Sitten verfeinern“, so sprach François Charpentier von der Académie Française im Jahr 1666 im Zusammenhang mit der Errichtung der französischen Ostindischen Handelskompagnie (Compagnie française pour le commerce des Indes orientales), (zit. nach Pluchon, 1991 I, 9). 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 285 Die von Charpentier angestrebte Akkulturation erfolgte durchaus auch in umgekehrter Richtung: Franzosen nahmen in Nordamerika (Kanada) indianische Sitten an oder entschlossen sich vollständig zum Leben mit den Indianern. Dies ist ein Merkmal der Geschichte nicht nur der französischen, sondern der europäischen Expansion überhaupt, daß dort, wo es zu ausgesprochenen Kulturkontakten in Übersee kam, die Akkulturationsprozesse beidseitig verliefen. Der Ausspruch Charpentiers fiel in eine Zeit, in der Frankreich erstmals den Versuch einer richtiggehenden Kolonialpolitik unternahm. Er fiel in eine Zeit, in der Frankreich als kulturelle Referenz modernistisch neu definiert wurde, in der Frankreich nach dem Willen seines Herrschers Kulturmodell nicht nur in Europa, sondern in der Welt sein sollte. Letzteres erklärte sich vor allem auch daraus, daß man es überall in der Welt mit Konkurrenz aus Europa zu tun hatte. Das zivilisatorische Sendungsbewußtsein sollte die Kolonialpolitik stützen. Der Ausspruch fällt schließlich in eine Zeit, in der Außereuropa mehr als früher auf Frankreich selbst zurückwirkte. Außereuropäische Welten waren in der französischen Vorstellungswelt seit dem Mittelalter präsent. Vor der Renaissance wurde diese Welt bis zu einem gewissen Grad schematisch nach heidnisch/ nicht-christlich wahrgenommen. Es gab keinen imaginären clash der Kulturen, der die Vorstellungswelt beherrscht hätte. Die Schematik der Vorstellungen läßt sich an den mittelalterlichen Weltkarten ablesen, darüber hinaus mag es manche Differenzierung aufgrund der Lektüre von Reiseberichten wie jenes fiktiven des John von Mandeville oder aufgrund der Beschäftigung mit der arabischen Wissenschaft gegeben haben. Von einer Präsenz Außereuropas in der französischen Vorstellungswelt läßt sich dennoch erst seit dem 16. Jh. sprechen, nachdem Berichte über Amerika rezipiert und erste Indianer vorgeführt und betastet worden waren, nachdem die Kartographie der Entdeckungen zur Konturierung eines neuen Weltbildes beigetragen hatte. Über die Verbreitung dieses neuen Wissens in den ersten Jahrzehnten des 16. Jh. sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Es revolutionierte mitnichten das Weltbild aller Menschen, nicht einmal aller Gelehrten. Dennoch waren einem neuen Wissen die Türen geöffnet worden. Die Infrastruktur des neuen Wissens bestand in der grenzüberschreitenden Republik der Gelehrten und der mit nationalen Akzenten versehenen Kolonial- und transmaritimen Handelspolitik. Die Geschichte Frankreichs außerhalb Frankreichs, wie die Kolonialgeschichte genannt werden könnte, und die 286 Interkulturelle Geschichte Frankreichs Geschichte Außereuropas als kultureller Referenz in Frankreich hängen eng miteinander zusammen. Die Geschichte der französischen Expansion wird durch die Französische Revolution prinzipiell zweigeteilt. Nach zögerlichen Anfängen im 16. Jh. entstand allmählich eine Art Kolonialreich, das keinerlei Geschlossenheit aufwies; im Siebenjährigen Krieg (1756–63) und in der Epoche der Revolution ging ein großer Teil des Besitzes verloren, so daß nach dem Ende Napoleons die französische Kolonialgeschichte gewissermaßen neu begann, unter anderen Voraussetzungen, mit neuen Zielsetzungen und Schwerpunkten, unter denen ganz besonders Algerien hervorzuheben ist. Noch heute sind gerade im Fall Algerien, aber nicht nur dort, die Folgen dieses Teils der französischen Weltgeschichte zu spüren. Drei Hauptaspekten soll Aufmerksamkeit zuteil werden: 1. Entwicklung der französischen Expansion; 2. Rückwirkungen auf Frankreich selbst; 3. Frankreich als Exportnation von Zivilisation. 10.2 Die französische Expansion (16. Jahrhundert bis 1931) Katharina von Medici und 6.000 Soldaten: 1582 Im 16. Jh. befand sich Frankreich gewissermaßen außerhalb der Konkurrenz. Am Wettlauf um Amerika, Afrika und Indien zwischen Portugal und Spanien nahm es nicht teil. Lediglich versuchten die französischen Könige die Aufteilung der überseeischen Welt zwischen Portugal und Spanien im Vertrag von Tordesillas 1494, dem der Papst seinen Segen gab, als inexistent zu ignorieren. Franz I. verteidigte das Prinzip der Freiheit der Meere. Die Überlegung, daß nicht allein die Entdeckung neuer Erdteile die Souveränität darüber begründen könne, sondern nur der dauerhafte Besitz, zeitigte solange kaum Folgen, wie es keine schlagkräftige Marine gab, um diesem Prinzip zur Wirkung zu verhelfen. Während sich England unter Heinrich VIII. und Elisabeth I. bereits im 16. Jh. mit Verve in die koloniale Aufholjagd stürzte, blieb es in Frankreich bei einigen privaten Initiativen, die z. T. die wohlwollende Unterstützung der Könige fanden. Was fehlte, waren kapitalkräftige Financiers, wie es sie in Italien oder im Heiligen Römischen Reich gab, es fehlte an einer Handelsmarine und entsprechend bedeutenden Häfen. Eine gewisse Bedeutung erlangte der Hochseefischfang von den französischen Atlantikhäfen aus. Mitunter kamen die Schiffe bis an die amerikanische Küste, wo den Indianern Pelze abgekauft wurden. 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 287 Zwei weitere Faktoren bestimmten die Ansätze zu einer Kolonialpolitik im 16. Jh.: Der aufkommende konfessionelle Bürgerkrieg band viele Kräfte; die Auseinandersetzung mit dem Habsburgerreich dominierte die überseeischen Zielvorstellungen. Manchmal mutet es wie eine fixe Idee an, daß das iberische Kolonialreich für Frankreich erobert werden sollte. Den heftigsten Versuch unternahm Katharina von Medici, die 1582 sechzig Schiffe mit 6.000 Soldaten ausrüsten ließ, die Madeira, die Kapverdischen Inseln, die Azoren und Brasilien in französische Hand bringen sollten. Das Unternehmen scheiterte höchst kläglich, aber im Jahr darauf wurden noch einmal 3.000 Soldaten losgeschickt – mit demselben Ergebnis. Die Bilanz des 16. Jh. lautete folglich: Es gab keinen nennenswerten französischen Kolonialbesitz, allerdings waren französische Händler bereits auf allen Routen nach Amerika, Afrika und Indien vertreten, der Handel mit gewinnbringenden Gütern wie Zucker, Datteln, Holz und Gewürze, um nur einige zu nennen, nahm Gestalt an. Von Le Havre starteten zwischen 1568 und 1610 immerhin 115 Schiffe nach Marokko, also durchschnittlich 3 pro Jahr, zwischen 1571 und 1610 wurden 363 Schiffe nach Afrika, Brasilien und zu den Antillen geschickt, im Schnitt also 9 Schiffe pro Jahr. Zusammen macht das allein für diesen Hafen im Schnitt jeden Monat ein Handelsschiff nach Übersee oder, sehr theoretisch gerechnet, es wechselten sich im 14tägigen Rhythmus Abfahrt und Ankunft eines Überseeschiffes in Le Havre ab. Der Überseehandel wurde damit zur Gewohnheit und verlor das Außergewöhnliche. Allerdings muß alles in Relation gesehen werden. Zur gleichen Zeit machten im Hafen von Lissabon 700 Schiffe aus dem Überseehandel jährlich fest. 300 französische Kolonisten in Kanada (1642) Heinrich IV. stand der Frage einer kolonialen Expansion offen gegenüber. Am liebsten wäre ihm eine Allianz mit England und den Niederlanden gewesen, um Habsburg seiner ,indischen’ Besitzungen zu entledigen, aber der Plan, den Sully 1603 in London vortrug, stieß dort auf keine Gegenliebe. Einstweilen hatte Heinrich 1598 die Gründung einer Compagnie du Canada et de l’Acadie durch bretonische Kaufund Seeleute gebilligt. Diese Seehandelsgesellschaft rüstete mehrere Expeditionen aus, die den Sankt Lorenz-Strom erkundeten, zu den großen Seen vorstießen, auch nördlich bis zu dem späteren Montréal gelangten. Die Ermordung Heinrichs 1610 stoppte den Elan der Monarchie, immerhin war das französische Engagement in Kanada gefe- 288 Interkulturelle Geschichte Frankreichs stigt worden. Freilich bleibt die Frage, warum England und die Niederlande, die im Vergleich zu Portugal und Spanien ja auch Nachzügler waren, in wenigen Jahrzehnten Kolonialreiche aufbauen konnten, während dies Frankreich im großen und ganzen nicht gelang. Eindeutig lagen die außenpolitischen Prioritäten auf dem europäischen Kontinent, aber es gab auch erhebliche innere Widerstände, die der gesellschaftlichen Desintegration Frankreichs entsprangen. Sehr deutlich zeigte sich dies unter Richelieu, der versuchte, eine starke königliche Marine als Grundlage der Kolonialpolitik nach englischem und niederländischem Beispiel aufzubauen, bei den Notabeln des Landes aber auf sehr mäßige Gegenliebe stieß. Unermüdlich gründete er Handelskompagnien, die aber an konfessionellen Gegensätzen und ausreichendem Humankapital scheiterten. Es gelang jedoch 1635, Guadeloupe, Martinique und Dominique, später auch die westliche Hälfte von Santo Domingo zu besetzen – alles Voraussetzungen für die Stärke des französischen Kaffee- und Zukkerhandels im 18. Jh. Auf den Antillen erreichte die Zahl der französischen Kolonisten im Todesjahr von Mazarin (1661) 11.000, während sie in Kanada erst bei 3.000 lag. Doch schon das muß als spektakulärer Anstieg gewertet werden, zählte man doch 1642 lediglich 300 Kolonisten in Kanada. Modell Niederlande: Colbert und das Kapital Colbert und Ludwig XIV. bildeten ein recht gutes Gespann. So kam es 1664 zur wichtigen Gründung der Compagnie des Indes occidentales, die mit einem Kapital von 7 Mill. Pfund ausgestattet war. Im Vergleich: die größten früheren französischen Handelskompagnien hatten höchstens 300.000 Pfund an Kapital erhalten. Diese Compagnie bündelte praktisch alle Handelsinteressen der Kolonien. Colbert orientierte sich eindeutig am niederländischen Vorbild. Er setzte den Aufbau einer Flotte ins Werk, dessen Belastungen noch bis ins letzte Dorf zu spüren waren. Landesweit wurden die größten Bäume für die Marine reserviert und durften nicht für den Alltagsbedarf, vor allem den Häuserbau, verwendet werden. Noch im selben Jahr 1664 wurde die Compagnie des Indes orientales gegründet, verbunden mit einem Aufruf an alle Franzosen, sich mit Kapital zu beteiligen. Das angestrebte Stammkapital lag bei 15 Mill. Pfund. Der König persönlich zeichnete Anteile. Der entscheidende Konstruktionsfehler im Vergleich zu den Niederlanden bestand allerdings darin, daß es sich um staatliche Gründungen handelte und nicht um Zusammenschlüsse 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 289 von Kaufleuten, deren Motivation, durch den Überseehandel großen Profit zu machen, sich als praxisnäher erwies denn das Streben nach Gloire und Weltmachtstellung, das die Epoche Ludwigs beherrschte. Mit anderen Worten, der Erfolg blieb dem enormen Aufwand versagt. Modell Frankreich: Ludwig XIV. Eine Reihe von Ereignissen zeigt, daß die Prioritäten der französischen Außenpolitik unverändert in Europa lagen. Zwischen 1665 und 1667 führte Frankreich an der Seite der Holländer einen Seekrieg gegen England. Frankreich eroberte einige weitere Antilleninseln. 1667 kam es zum Friedensschluß und Frankreich gab, eine äußerlich überraschende Handlung, die eroberten Inseln an England zurück. Was war geschehen? Philipp IV., Schwiegervater Ludwigs XIV. war gestorben. Ludwig erhoffte sich die spanischen Niederlande, als deren rechtmäßiger Erbe er sich sah. Um zum Ziel zu gelangen, war ein neutrales England wichtig. In seinen Memoiren sprach es Ludwig ganz deutlich aus, daß ihm die spanischen Niederlande und die Franche-Comté wichtiger waren als einige weit entfernte Inseln. 1667 begann der sog. Devolutionskrieg: Ludwig hatte sich verschätzt, England schlug sich mit Schweden auf die Seite der Niederlande, um Frankreichs Expansionsdrang zu begrenzen. Frankreich gewann schließlich Lille, Tournai und Douai, in etwa das Gebiet des heutigen Département du Nord. Die Bilanz beim Tode Colberts, der die Europapolitik Ludwigs kritisch beäugte, sah in etwa so aus: Französisch Louisiana, Kanada, eine Reihe von Antillen-Inseln, Cayenne und Guyana, einige Stützpunkte in Afrika, im indischen Meer Madagascar und einige weitere Inseln. Nun war dieses Kolonialreich insoweit eine theoretische Erscheinung, als es von den Franzosen kaum bevölkert wurde. Während bereits Hunderttausende von Engländern in Übersee lebten, zählten die Franzosen nur einige Zehntausende, und das, obwohl Frankreich das bevölkerungsreichste Land Europas war. Das zeigt sehr deutlich, daß die Bevölkerung im Gegensatz zu Richelieu und Colbert keinen kolonialen Traum verfolgte. Die Handelsflotte umfaßte mittlerweile rd. 200.000 Tonnen (England: 250.000; Niederlande: 500.000), die Kriegsflotte bestand aus 120 Schiffen gegenüber 106 englischen und 96 holländischen. Ludwig konnte den durch Colbert erreichten Stand nicht halten, bei seinen europäischen Ambitionen dienten ihm Teile der Kolonien als Tauschware. Es ist müßig, 290 Interkulturelle Geschichte Frankreichs die permanenten Gefechte, Schlachten und Scharmützel zwischen England und Frankreich in Übersee aufzuzählen, der Wille zur außereuropäischen Expansion fehlte der französischen Politik und er fehlte in beinahe allen Bevölkerungsschichten. Während die religiösen Dissenters in England zuhauf den Weg nach Übersee nahmen, blieb die Zahl der Hugenotten, die denselben Weg in französische Kolonien beschritten, gering. Es ist wichtig, die großen Linien der französischen Außenpolitik nicht von den mentalen Dispositionen der Bevölkerung zu trennen. John Law und die Spekulation (1717 bis 1720) Der nächste Knotenpunkt in der französischen Kolonialgeschichte bildete sich in der Zeit John Laws, dessen revolutionäres Finanzsystem wir bereits kennengelernt haben. Law hatte erstmals eine französische Nationalbank gegründet, die Papiergeld ausgab. Um dem Papiergeld das notwendige Vertrauen zu verschaffen, mußte die Bank über materielle Gegenwerte verfügen. Law besann sich dabei auf die Kolonien, das ungeliebte Kind der Außenpolitik. Am 5. September 1717 gründete er die Compagnie d’Occident, die mit Handelsprivilegien in Louisiana und für den kanadischen Pelzhandel ausgestattet wurde. Am 1. August 1718 wurde die Bank Pächterin der Tabaksteuer, also der Steuer auf ein Kolonialprodukt, sie wurde mit einem Privileg für den Verkauf von Kaffee ausgestattet. Neben dem Münzrecht erhielt sie desweiteren 1719 das Handelsmonopol für den indischen Raum, das von der Compagnie des Indes wahrgenommen werden sollte. Grundsätzlich mochte dieses System der materiellen Absicherung ausreichen, Law verstand es aber nicht, die richtigen Leute an sich zu binden. Eine Reihe erfahrener Überseehändler marginalisierte er, statt mit ihnen zusammenzuarbeiten. Statt einer koordinierten Kolonialpolitik versuchte Law, mit repressiven Maßnahmen Männer in die Kolonien zu bringen: Vagabunden, Bettler und Personen ohne Leumund sollten aufgegriffen und in die Kolonien deportiert werden, insbesondere arbeitsfähige Männer. Diese 1718 eingeleiteten Maßnahmen wurden 1722 bereits zurückgenommen; eine Entvölkerung Frankreichs wurde befürchtet. Eine absurde Idee, deren Verbreitung die Betroffenen, die künftighin keine Deportation mehr fürchten mußten, aber sicher mit Erleichterung aufnahmen. 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 291 Zweihunderttausend Sklaven und Dreißigtausend Franzosen (1754) Laws Bankerott war bereits besprochen worden; die Tatsache, daß Louisiana nun wirklich kein zweites Mexiko war oder werden konnte, spielte beim Zusammenbruch der Spekulation eine wichtige Rolle. Das weitere 18. Jh. wurde von der englisch-französischen Rivalität in Übersee gekennzeichnet. Frankreich entwickelte sich allmählich zu einem ernsten Gegner, was einerseits mit dem Niedergang Spaniens zusammenhing, andererseits mit dem Aufschwung des Zukkerrohr- und Kaffeanbaus auf den Antillen, dem Herzstück des französischen Kolonialbesitzes. Grundlage dieses Aufschwungs war die Sklaverei: 1713 besaßen die Franzosen auf den Antillen rd. 24.000 Sklaven, 1717 waren es ca. 37.500, 1730 ca. 79.500, 1751 schon rd. 148.500, 1754 rd. 172.500. Die gesamte schwarze Bevölkerung betrug dort in 1740er Jahren 192.000, denen lediglich 33.000 Franzosen gegenüberstanden. Damit lebten auf den französischen Antillen mehr Menschen als auf den englischen Antillen, während sich die Verhältnisse in Nordamerika völlig anders zugunsten Englands darstellten. Im indischen Raum war Frankreich weiterhin nur in einigen Handelspunkten präsent, aber der Handel florierte. Mitte des 18. Jh. wuchs der französische Überseehandel beträchtlich. Der Import stieg von 112.805.000 Pfund 1740–48 auf 155.555.000 1749–55. Der Export entwickelte sich in den beiden Vergleichszeiträumen von 92.334.000 Pfund auf 257.205.000 Pfund. Der Warenaustausch mit europäischen Ländern hatte 1736–39 bei 245.476.000 Pfund gelegen. Der Siebenjährige Krieg (1756–63), der gelegentlich als der erste Weltkrieg bezeichnet wird, führte Frankreich in ein koloniales Desaster. Am Ende des Krieges blieben wenig mehr als die Antillen, dem Kernstück des französischen Kolonialismus. England hatte auf breiter Front die Konkurrenz in Übersee gewonnen. Die französische Unterstützung für den amerikanischen Unabhängigkeitskampf konnte das Blatt nicht wenden. Eine Veränderung des französischen Kolonialbesitzes erbrachte jenes Engagement nicht. Brissot de Warville und die „Société des Amis des Noirs“ (1788): die Revolution und die Sklaverei Schon in den Jahren vor der Revolution von 1789 intensivierte sich die Diskussion um die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Sklaverei. In Frankreich galt das Gesetz, daß jeder Sklave, der franzö- 292 Interkulturelle Geschichte Frankreichs sischen Boden betrat, ein freier Mensch war. Die wenigsten nichtWeißen haben dieses Gesetz genutzt, sie folgten ihren Herren im Mutterland als Domestiken und vermieden in lebensnahem Pragmatismus, die Freiheitsfrage allzu deutlich zu stellen. Gelegentlich jedoch gab es mutige Menschen, die sogar einen Prozeß darum riskierten. Das Problem lag nicht in der rechtlichen Norm und der Rechtsprechung, sondern darin, inwieweit die Bevölkerung den nichtWeißen die freien Entfaltungsmöglichkeiten einräumte, derer es bedurfte, um aus dem Buchstaben des Gesetzes Lebenspraxis erwachsen zu lassen. Die vorrevolutionäre Diskussion drehte sich deshalb besonders um den Status der Farbigen in den Kolonien. 1788 gründete Brissot de Warville in Paris die Société des Amis des Noirs, der u. a. Lafayette, des französischen Königs ungeliebter General im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, als prominenter Zeitgenosse beitrat. Brissot hatte die Idee zu der Gesellschaft von einer Londonreise im Jahr 1787 mitgebracht, wo bereits eine Antisklaverei-Bewegung existierte. 1789 war der Philosoph und Mathematiker Condorcet Präsident der Gesellschaft. Er richtete an alle Amtsbezirke ein Schreiben, in dem er dazu aufforderte, die Abschaffung der Sklaverei als Desiderat in die Beschwerdehefte aufzunehmen. Die Diskussion wurde in die Nationalversammlung getragen, sie wurde aber zunächst von der Frage überlagert, mit wieviel Repräsentanten die Antilleninseln, um die es fast ausschließlich ging, vertreten sein sollten. Sollten nur die Weißen gerechnet werden, also keine 30.000, oder die Gesamtbevölkerung, d. h. über 600.000? Zugelassen wurden schließlich sechs weiße Deputierte, die nur die Hauptinsel, Santo Domingo, repräsentierten. Im Oktober 1789 wurden weitere vier Repräsentanten für Martinique und Guadeloupe in die Versammlung aufgenommen. Während sich die Nationalversammlung um das Thema des Sklavenhandels und der Freiheit der Sklaven herumwandt, kam es in den Kolonien zu den ersten Freiheitsaufständen. Davon unbeeindruckt verabschiedete die Nationalversammlung am 8. März 1790 ein Dekret, das bezüglich der Kolonien und des Sklavenhandels alles beim Alten beließ, wenn auch in schöne Worte verpackt. Berichterstatter war Barnave gewesen, jene Galionsfigur der Vorrevolution in Grenoble, der sich ganz unter den Einfluß der Überseehändler begeben hatte. Pierre Pluchon sieht es noch kritischer: Die Versammlung legalisierte den Sklavenhandel und machte die Menschen- und Bürgerrechtserklärung zur Makulatur. 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 293 Unter dem Eindruck der immer heftigeren Aufstände, die den Schwarzen schließlich die faktische Macht brachte, beschloß der Konvent am 4. Februar 1794, die Sklaverei abzuschaffen. Die Geltung der Menschenrechtserklärung für die nicht-Weißen wurde ausdrücklich betont. Die reine Moral war es nicht gewesen, die zur Abschaffung geführt hatte. Aufständischer Druck und wirtschaftliche Argumente zählten. Zucker und Kaffee waren wegen der Aufstände bedeutend knapper geworden, die revolutionäre Presse hatte sich des Themas angenommen. Es galt zu retten, was zu retten war. Die Forschung macht für die schleppende Entwicklung bis zur vorübergehenden Abschaffung der Sklaverei auch die Ausbildung einer rassistischen Ideologie verantwortlich, deren Linien sich bereits im 17. Jh. abzeichneten. Dieser ideologische Ballast wurde nicht wirklich abgeworfen, wie es die Leichtigkeit zeigt, mit der Napoleon die Sklaverei wieder legalisierte (20. Mai 1802). Am 22. August 1795 schuf der Konvent die Rechtsgrundlagen für die Inkorporation der Kolonien in das Mutterland. Die Verfassung Frankreichs galt nunmehr auch für die Kolonien, die zu Départements erklärt wurden. Diese Maßnahme war von mehr theoretischer denn praktischer Bedeutung. 1804 erklärte sich Santo-Domingo unter dem Namen Haiti für unabhängig, Garanten waren England und die USA. Martinique wurde von den Engländern besetzt, allerdings nicht annektiert; Guadaloupe wurde mehrfach von den Engländern besetzt und erst 1815 endgültig an Ludwig XVIII. zurückgegeben. Um es kurz zu machen: 1815 befand sich die französische Expansion in Übersee fast wieder am Nullpunkt. Was war geblieben bzw. nach dem Ende Napoleons an Frankreich zurückgegeben worden? Im wesentlichen die kleineren Antillen-Inseln ohne Haiti, Guyana, die Stützpunkte im Senegal und in Indien (z. T. erst 1817 zurück an Frankreich). Am Anfang war Algier – Die Neuorientierung der Kolonialpolitik nach 1815 Während der Restauration bemühte sich die Kolonialpolitik vorwiegend um eine Wiederbelebung des Handels sowie des Zucker- und Kaffeeanbaus. Da der Sklavenhandel verboten war, mußten nunmehr freiwillige Arbeitskräfte angeworben werden, was sowohl in Afrika wie in China mit sehr mäßigem Erfolg versucht wurde. 1822 wurde die Unabhängigkeit Haitis anerkannt, ein Vertrag über 150 Mill. Francs regelte die Entschädigung der früheren weißen Besitzer. 294 Interkulturelle Geschichte Frankreichs Expeditionen ins Innere Afrikas und in den indochinesischen Raum sowie das Engagement in Algerien deuteten eine Neuorientierung an. Überhaupt: Frankreich hatte seine Position einer europäischen Hauptmacht verloren und war nun zu neuen außenpolitischen Orientierungen bereit. Zwischen 1830 und 1870 entstand ein Kolonialreich, das zwar weit hinter dem Englands zurückstand, das aber im Vergleich zu anderen europäischen Mächten den zweiten Platz einnahm. Die eigentliche Geschichte Frankreichs als Kolonialmacht begann erst nach 1830. Am Anfang war Algerien. Frankreich besaß dort Handelsinteressen, war aber keine Kolonialmacht. Vertreten wurde es von einem Generalkonsul, der die Rahmenbedingungen des französischen Handels mit dem Dey von Algier verhandelte. Am 29. April 1827 kam es bei einem solchen Gespräch zu einem Eklat, der französische Generalkonsul fühlte sich vom Dey unehrenhaft behandelt. Hintergrund war eine Schuldenangelegenheit aus den Jahren 1793–98, die der Dey geregelt wissen wollte. Parallel dazu kam es zu kriegerischen Gefechten in anderen Teilen Algeriens. Der französische König brach die diplomatischen Beziehungen zum Dey ab und ließ den Hafen von Algier blockieren. In der Zwischenzeit kriselte es in Frankreich und die Regierung unter dem unpopulären Polignac versuchte nun, die Algerienaffäre zum Prestigegewinn im innenpolitischen Kräftespiel zu nutzen. In Toulon wurden eine Flotte und eine Armee zusammengestellt, begleitet von Malern und Schriftstellern, die der in der Öffentlichkeit ungeliebten Aktion publizistischen Glanz verleihen sollten. Am 5. Juli wurde Algier erobert. Einige Jahre lang wußte man mit dem Sieg nichts Rechtes anzufangen. 1834 schließlich wurde die Eroberung dem Kriegsministerium unterstellt, regiert wurde mit königlichen Dekreten. Die Kolonie war folglich dem rudimentären parlamentarischen Regime des Mutterlandes entzogen. Kolonialismus, Mission und Nation Nach und nach eroberte sich die Kolonialfrage einen beständigen Platz in der öffentlichen Meinung und schaffte den Einzug in das Bedeutungsfeld von „Nation“. Aus der Wirtschaft kam ein gewisser Druck. Marseille spekulierte auf einen wachsenden Mittelmeermarkt, nicht zuletzt wegen des Weinexports, Rouen spekulierte auf neue Märkte für Baumwollprodukte. Die Kirche erneuerte ihren missionarischen Elan; die Rekatholisierung Frankreichs und die Katholisierung der „Heiden“ in aller Welt entsprang demselben katholi- 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 295 schen Eifer. Die Zivilisierung der Kolonien nach französischem Verständnis wurde zu einem umfassend debattierten Gegenstand unter Einbeziehung der Problematik des Kulturkontakts zwischen Europäern/Franzosen und landstämmiger Bevölkerung. Unter Louis-Philippe wurden zahlreiche Expeditionen in alle Welt geschickt, mit denen zum einen französische Präsenz zum Ärger Englands bewiesen werden sollte, zum anderen wurden Möglichkeiten einer kolonialen Ausdehnung erkundet, begleitet von wissenschaftlichen Zielsetzungen. Auch das altbekannte Problem einer Flotte stand wieder auf der Tagesordnung. 1842 bewilligte das Parlament Gelder für ein Siebenjahresprogramm, das den Bau von 200 Schiffen vorsah, davon 100 Dampfschiffe. Zugleich verkündete Guizot die Politik kolonialer Stützpunkte. Mit Ausnahme Algeriens, wo die Franzosen ihre territoriale Herrschaft zugweise ausdehnten, das überhaupt zum Experimentierfeld eines neuen Typs von Kolonie wurde, sollten keine großen Territorien erobert, sondern befestigte Stützpunkte errichtet werden, die dem französischen Überseehandel den Rücken stärken sollten. Während der Julimonarchie wurde wieder vermehrt über die Abschaffung der Sklaverei diskutiert, zumal hier England einigen Diskussionsdruck erzeugte. Die Februarrevolution von 1848 erbrachte den Durchbruch, denn bereits am 4. März dekretierte die provisorische Revolutionsregierung die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien. Betroffen waren davon 262.564 Sklaven. Darüber hinaus wurde systematisch versucht, die algerische Kolonie als Ventil für die französische Wirtschaftskrise zu nutzen. Ein Aus- bzw. Einwanderungsprogramm wurde aufgelegt und in der Tat siedelten sich in wenigen Jahren mehrere Zehntausend Franzosen in Algerien an, wo sie zumeist als Landwirte Fuß zu fassen suchten. Die Erfahrungen waren allerdings überwiegend negativ, Epidemien dezimierten die Einwanderer. Das Projekt wurde in einem völlig anderen Geist von Louis-Napoleon (III.) wieder aufgegriffen: Er schickte die Opposition massenweise in die algerische Deportation. Die Inszenierung von Kolonialpolitik – Napoleon III. Die Verdichtung der französische Implantation in Algerien sollte nunmehr auch auf den Senegal angewandt werden. Besonders Bordelaiser Händler waren daran interessiert. Schrittweise wurde der Senegal in Besitz genommen. Napoleon III. widmete ganz besondere Aufmerksamkeit dem Mittelmeer, das er, älteren Vorstellungen fol- 296 Interkulturelle Geschichte Frankreichs gend, zu einem französischen ,Binnensee’ machen wollte. Politischer Hebel war der Schutz der Katholiken. Zwar hatte Paris 1856 einen Vertrag mit der Türkei geschlossen, der dieser im Nahen Osten die Aufgabe übertrug, für Frieden zwischen Muslimen und Christen zu sorgen, doch zeigten die blutigen Massaker im Libanon 1860, daß die Türkei dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen war. Frankreich intervenierte erfolgreich zugunsten der Christen und zog seine Truppen erst im Juni 1861 wieder ab. Was blieb, war ein lang anhaltender kultureller und moralischer Einfluß, außerdem die Sicherung des Seidenhandels, der nach wie vor für Lyon eine außerordentliche Bedeutung besaß. Da die Marine hier auch unter Beweis gestellt hatte, daß sie zum Schutz von Christen befähigt war, war ihr öffentliche Anerkennung in Frankreich sicher. Was weder Richelieu noch Colbert und anderen danach gelungen war, war nun endlich erreicht. Ein anderer Schritt, Frankreich im Nahen Osten als kulturelle Macht zu implantieren, war das Projekt Suez-Kanal. Napoleon hatte sich schon in den 1840ern, als politischer Gefangener, für solche Kanalprojekte interessiert, den Suez-Kanal und jenen Kanal, der heute Panama-Kanal heißt. Seine Frau, Kaiserin Eugenie, begeisterte sich gleichfalls für solche Projekte. Sie war eine entfernte Verwandte des Unternehmers Ferdinand de Lesseps, und so fanden sich die drei Richtigen, um den antiken Traum des Suez-Kanals Wirklichkeit werden zu lassen. Anfang 1854 beauftragte der Kaiser de Lesseps mit der technischen Planung und Ausführung des Projekts, während er selber die politische Opposition der Türkei, Englands und Ägyptens beharrlich zu entschärfen wußte. De Lesseps, ein talentierter Propagandist, initiierte eine beispiellose Pressekampagne, die ihm in Frankreich die notwendigen Subskribenten erbrachte, vor allem auch unter den Kleinverdienern mit Ersparnissen; er reüssierte selbst in England, wo die Skepsis und der Widerstand gegen das Projekt besonders hoch waren. Zu seinen Methoden gehörte auch, Ingenieuren kostenlose Reisen nach Ägypten mit zwei Wochen Ferienkreuzfahrt auf dem Nil zu spendieren, die nach ihrer Rückkehr völlig begeistert von Ägypten die Realisierbarkeit und den Nutzen des Projekts öffentlich priesen. Die Arbeiten am Kanal begannen schließlich 1863. 1869, am 17. November, wurde der Kanal eröffnet. Die moderne Ingenieurskunst wurde gemeinsam mit Frankreich als kultureller und politischer Macht in Anwesenheit internationaler hoher Diplomaten und Fürsten zelebriert. 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 297 Die Etablierung Frankreichs als kultureller Macht in der Welt, selbstredend verbunden mit der Wahrnehmung massiver wirtschaftlicher und Handelsinteressen, nicht zuletzt auch militärischer Interessen, ist verknüpft mit der Strategie der Weltausstellungen. Napoleon machte sich darüber hinaus die liberale Doktrin des Freihandels zu eigen; neben einem Freihandelsvertrag mit England (1860) wurde auch der Kolonialhandel liberalisiert, so daß den Kolonien mehr Eigenständigkeit zufiel. Als rätselhaft wurde das französische Engagement in Mexiko in den 1850er und 1860er Jahren angesehen, obwohl es durchaus plausible Gründe dafür gab. Angesichts der fortdauernden Abneigung gegen Papiergeld beruhte Frankreichs Währung unverändert auf Silber- (75%) und Goldmünzen (25%). Ab 1847 verringerte sich der Silberanteil jedoch dramatisch, während australisches und kalifornisches Gold den Markt überschwemmte. Das wenige Silber wurde immer wertvoller und gewinnbringend ins Ausland verkauft; Silber wurde in Frankreich zur Mangelware. Da waren Nachrichten über reiche Silberminen im Staat Sonora im Norden Mexikos gerade willkommen. Nach holperigen, privaten Initiativen übernahm die französische Regierung die etwas unsicheren Konzessionsrechte im Jahr 1862 und schickte mit dem technischen Personal auch Truppen in den Norden Mexikos. 1864 wurde Sonora zu einem französischen Protektorat erklärt, gegen die Zustimmung des mexikanischen Königs Maximilian, ein Habsburger, dessen seinerzeitige Kandidatur auf den Thron Napoleon im übrigen gestützt hatte. Ein massives Aufgebot an Soldaten, verkehrs- und finanztechnischer Infrastruktur führte zunächst zum Erfolg; Frankreich erhielt hinreichend Silber. Die USA allerdings beharrten darauf, ihren südamerikanischen Hinterhof sauber zu halten; nach dem Ende des Sezessionskrieges waren die erforderlichen Kräfte frei, um der Monroe-Doktrin zur Geltung zu verhelfen. 1866 zog Napoleon seine Truppen aus Mexiko ab. Dritte Republik und Imperialismus In etwa gleichzeitig drängte Frankreich im fernen Osten vor. 1863/64 errichtete es ein Protektorat über Kambodscha, Vorstufe zur Bildung einer ausgesprochenen Kolonie in Indochina. Damit waren die entscheidenden Weichen gestellt, die Frankreich unter der Dritten Republik ins imperialistische Zeitalter führten. Die ersten Jahre, bis ca. 1879, standen jedoch unter dem Zeichen kolonialen Nullwachstums. In Frankreich selbst blieb das koloniale Engagement umstritten, ei- 298 Interkulturelle Geschichte Frankreichs nige der Leitfiguren wie Gambetta und Jules Ferry verhielten sich anfangs reserviert, bis sie sich zu einer expansiven Kolonialpolitik ca. 1879 bis 1885 entschlossen. Hauptstück blieb fraglos Algerien. Der Anspruch, das Land als Teil Frankreichs zu betrachten, wurde tiefer und tiefer in das nationale Gedächtnis eingebrannt, den Forderungen der französischen Kolonisten in Algerien mehr und mehr nachgegeben. Im angrenzenden Tunesien rivalisierte Frankreich mit England und insbesondere Italien. Die Tunesienfrage bedeutete zudem ein wichtiges Element in den deutsch-französischen Beziehungen: In den ersten Jahren der Republik – und daraus erklärte sich die relative Zurückhaltung z. B. eines Gambetta – war die Meinung verbreitet, daß man entweder nur eine Politik der Revanche gegenüber Bismarck oder nur eine expansive Kolonialpolitik betreiben könne. Erst allmählich setzte sich die Auffassung durch, daß sich Frankreich als starke Kolonialmacht wesentlich besser gegenüber dem Deutschen Reich behaupten könne. Bismarck seinerseits nutzte den damit gegebenen diplomatischen Spielraum und signalisierte Frankreich mehrfach, so auch auf dem Kongreß 1878 in Berlin, daß es seine Unterstützung für eine expansive Tunesienpolitik zuungunsten der englischen und italienischen Interessen besitze. Am 12. Mai 1881 wurde dem Bey von Tunesien schließlich das französische Protektorat erfolgreich aufgenötigt. In Tunesien konkurrierten Frankreich, Italien und England um technisches Prestige sowie um Handelsvorteile. Frankreich war an der Schaffung einer Verkehrsverbindung durch die Sahara interessiert, die zahlreichen technischen Expeditionen scheiterten jedoch allesamt. Von Süden drangen französische Expeditionseinheiten über den Niger und den Kongo ins Innere Afrikas vor und legten den Grundstein für ein ausgedehntes französisches Kolonialgebiet in Schwarzafrika. Während Frankreich in Ägypten letztlich England das Feld überließ, festigte es seine Position in Ostafrika in Obok und später Dschibuti, dem Brückenkopf für die südostasiatische Politik. In Indochina (Kotschinchina, Annam, Tongking, Vietnam, Laos, Kambodscha) annektierte die französische Republik größere Gebiete und ließ sich in immer größere militärische Unternehmungen hineinziehen. Madagaskar schließlich wurde 1896 fester Bestandteil des Kolonialreiches. Die Kolonialarmeen Frankreichs entwickelten im Lauf der Zeit eine eigene Identität, die sich in den 1950er Jahren als ein entscheidendes Hemmnis der Entkolonialisierungspolitik entpuppte. Ein anderer Aspekt war der technische Wettlauf, den sich die europäischen 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 299 Kolonialmächte lieferten und den sie, gewissermaßen gewaschen, parfümiert und geschmückt, in ihren Pavillons auf den Weltausstellungen im Miniaturformat darboten. Frankreich nutzte die Weltausstellung von 1889 in Paris, um die vermeintliche Symbiose von Französischer Revolution, Dritter Republik und französischer Kolonialmacht zur Schau zu stellen. Der Handel mit den Kolonien machte nur wenige Prozente des französischen Handels insgesamt aus, die Kapitalinvestitionen fielen nicht so enorm aus, wie Lenin gemeint hatte, und der darauf seine auch in Frankreich diskutierte These vom Imperialismus als Höhepunkt des Kapitalismus gegründet hatte. In der Folgezeit gelang es Frankreich, um nunmehr fest etablierte Kerngebiete herum in Afrika wie in Südostasien relativ geschlossenen Kolonialbesitz unter verschiedenen juristischen Formen aufzubauen. Der sprachliche und kulturelle Einfluß konnte unter diesen äußeren Bedingungen erhöht und dauerhaft implantiert werden, ein Einfluß, der die Entkolonialisierung überlebte und bis heute spürbar geblieben ist. Der weitere Ausbau des Kolonialreiches soll nicht in allen Einzelheiten erzählt werden. Hervorzuheben ist die langwährende Marokkokrise, die nicht zuletzt Frankreich mit Deutschland in einen heftigen Konflikt brachte und die fester Bestandteil der Ursachenforschung zum Ersten Weltkrieg wurde. Am 30. März 1912 wurde ähnlich wie seinerzeit in Tunesien jedoch ein französisches Protektorat in Marokko errichtet. In der Debatte im Parlament am 14. Juni 1912 verurteilte Jaurès diese Form der Kolonialpolitik und warnte davor, daß die koloniale Brachialgewalt zu nicht weniger gewalttätigen nationalistischen Bewegungen in den – faktisch ja besetzten – Ländern führen werde. Er hatte zwar Recht, aber der Protektoratsvertrag wurde im Parlament mit 460 gegen 79 Stimmen angenommen. Mit Jaurès hatten 73 weitere Sozialisten dagegen gestimmt. Während das Ende des Ersten Weltkrieges eine nochmalige Erweiterung des Kolonialreiches, des Empire, mit sich brachte, war längst eine Debatte um die Autonomie der Länder entbrannt. Im Grunde stammte sie aus den 1890er Jahren und brachte die Anhänger zweier gegensätzlicher Positionen – Assimilation versus Autonomie – in Stellung. Die Assimilisten, darunter Arthur Girault, spiritus rector der Kolonialgesetzgebung zwischen 1890 und 1930, dachten an eine Etablierung der Verfassung, des Verwaltungs- und Rechtssystems des Mutterlandes in allen Kolonien, gewissermaßen an eine gleichmäßige Departementalisierung des gesamten Reiches, während die Autonomisten der Kolonialpolitik die Aufgabe zuwie- 300 Interkulturelle Geschichte Frankreichs sen, die Kolonialländer zur politischen Reife der Selbständigkeit zu führen. Émile Démaret beispielsweise, Kolonialinspektor, empfahl eine föderative Struktur für die Beziehungen zwischen Frankreich und den Kolonien. Faktisch folgte die Kolonialgesetzgebung sowohl der einen wie der anderen Lehre. Die Nation und die Kolonien (Erster Weltkrieg) Unter ökonomischen Gesichtspunkten nahm das Kolonialreich 1913 die Rolle des drittgrößten Handelspartners ein: In diesem Jahr betrug der Handel (Import/Export) mit Großbritannien 2,569 Mrd. Francs, mit Deutschland 1,936 Mrd., mit dem Kolonialreich 1,692 Mrd. und mit Belgien/Luxemburg 1,665 Mrd. Anders ausgedrückt entfielen im Jahr 1913 13% der Exporte und 9,4% der Importe auf das Kolonialreich. Dies läßt nicht ganz die Bedeutung des Kolonialhandels durchschauen. Eine ganze Reihe zu importierender Produkte wie Erdnüsse, Zucker, Olivenöl, Kork, Reis, Phosphat und Blei, um nur einige zu nennen, die Grundstoffe der Nahrungsmittel- und anderer Industrien waren, wurden ausschließlich aus dem eigenen Kolonialreich importiert. Umgekehrt stillten die Kolonien ihren Bedarf an bestimmten Produkten wie Kerzen, Baumwollstoffen, Konstruktionsteile aus Eisen und Stahl oder auch den Bedarf an Bier zu 75% bis 90% aus dem Mutterland. Die Kolonialwirtschaft trug ohne Frage zur Stabilisierung und zur Sicherung der heimischen Wirtschaft bei. In den Kolonien waren besonders kräftige Kapitalgewinne möglich, die Existenz dieses vermehrten Kapitals half Frankreich, über die Krisen des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit hinwegzukommen, während der Mangel an verfügbaren Handelsschiffen Frankreich im Krieg immer weniger an Kolonialprodukten zukommen ließ. Der Mangel an französischen Soldaten veranlaßte die Kriegsregierungen, besonders Clemenceau, Soldaten unter der einheimischen Bevölkerung der Kolonien zu rekrutieren, insgesamt maximal 680.000 Männer, Algerienfranzosen und andere französische Kolonisten eingeschlossen. Das entsprach 7–8% aller Mobilisierten. Parallel dazu wurden im Krieg rund 300.000 Arbeiter rekrutiert, darunter nicht nur ein Drittel Algerier, sondern auch ein knappes Drittel Arbeiter aus Indochina. Es konnte niemanden wundern, daß nach Kriegsende die Kolonien die politische Dividende ihres Engagements und ihres Blutzolls für das Mutterland einfahren wollten. Schrittweise wurden in der Lokal- und Regionalverwaltung Autonomierechte eingeführt und Wahlen zu Munizipalversammlungen zugelassen. 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 301 1928 waren das Kolonialreich zum wichtigsten Handelspartner und zum größten Kapitalempfänger des Mutterlandes aufgestiegen. Die Rückwirkungen dieser Entwicklung auf die Mentalität der französischen Bevölkerung ist weiter unten zu klären, so viel sei aber schon jetzt erwähnt, daß aufgrund der gegebenen Verhältnisse erst nach dem Krieg das Kolonialreich – Algerien war ein Sonderfall – bei aller Heterogenität, die es auszeichnete, nachhaltig als eine Art zweites Frankreich begriffen wurde – in einem Augenblick, indem der intellektuelle Ablösungsprozeß der Kolonien bereits in vollem Gange war. Die Feierlichkeiten zum Centenaire Algeriens (1830–1930) und die Kolonialausstellung 1931 mochten die Entwicklung für einen Moment noch kaschieren. 10.3 Kulturelle Rückwirkungen der Expansion auf Frankreich Von Montaigne bis zum Suez-Abenteuer 1956 Der französische Kolonialismus hat, wie jeder Kolonialismus, zur Veränderung der Welt beigetragen. Umgekehrt veränderte der Kolonialismus auch Frankreich selbst. Kolonialismus bedeutete immer auch eine Multiplizierung und Pluralisierung außereuropäischer Kulturkontakte, aus denen heraus bestimmte kulturelle Referenzen in Frankreich entstanden. Deren Wirkung läßt sich beispielsweise an Ägypten als kultureller Referenz ablesen – von Napoleon über den Bau des Suez-Kanals durch de Lesseps bis zum Suez-Abenteuer im Oktober/November 1956! Den Gelehrten, Intellektuellen, politischen Eliten, Theologen und Juristen wuchsen neue Kategorien des Denkens zu. Die geographische Erforschung des eigenen Landes, der eigenen Provinzen und Regionen erhielt Impulse aus der Erforschung Asiens, Afrikas und Amerikas. Die im Zuge der Expansion gewonnenen neuen Erkenntnisse und die beschrittenen neuen Erkenntniswege führten vor allem auch zu einer verfeinerten Selbstdefinition. Letzteres war noch in den 1930er Jahren in Frankreich der Fall. Zur Selbstdefinition gehörte auch die Entwicklung der Rasselehren, die dem eigentlichen Rassismus vorangingen. Der Vergleich mit dem Anderen und den Anderen reizte die Schriftsteller seit dem 16. Jh. Montaigne versuchte sich an einer ethnisch korrekten Interpretation des Kannibalismus und kam dabei zu der Erkenntnis, daß das gegenseitige Abschlachten von Hugenotten und Katholiken mitnichten einen Ausweis zivilisatorischer Überlegenheit der Franzosen über die amerikanischen Indianer sein könne. Montesquieu, und 302 Interkulturelle Geschichte Frankreichs nicht nur er, nahm sich in den Lettres persannes die klischeehaften Kenntnisse über den persischen Orient vor, um die innerfranzösischen Verhältnisse zu kritisieren. Voltaire war ein Chinabegeisterter und sah in der chinesischen politischen und sozialen Verfassung im Gegensatz zum hinterherhinkenden Europa bereits die von der Aufklärung beschworene Ratio an der Arbeit. Die Südseeinseln lieferten das Bild vom guten Wilden, der noch wie im Naturzustand lebe. Die Frage, in welchem Verhältnis die politische Gesellschaft und die Gesellschaft im Naturzustand stünden, beschäftigte die Aufklärung über alle Maßen. Die außereuropäische Welt, ihre bruchstückhafte und von Vorurteilen behaftete Kenntnis, stellte eine Vielzahl idealisierender Bilder zur Verfügung, die in der Reformdiskussion in Frankreich ihre Wirkung entfalteten. Es handelte sich um eine Vielzahl kultureller Referenzen, die zu Modernisierungszwecken zu Hause genutzt wurden. Eine detaillierte Erforschung dieser außereuropäischen kulturellen Referenzen könnte bestimmte Konjunkturen ergeben. China behauptete sich vom späteren 17. Jh. bis weit in die Mitte des 18. Jh. als positiv konnotierte kulturelle Referenz und wurde erst danach einer wachsenden Kritik zuteil. Die Sphinx in Frankreich – Ägypten als kulturelle Referenz Alle außereuropäischen kulturellen Referenzen in der Frühen Neuzeit sind im europäischen Verbund entstanden. Häufig lassen sich für einzelne Referenzen Konjunkturhöhen und -tiefen in mehreren Ländern gleichzeitig bestimmen. Dies ist einfach der Tatsache zu verdanken, daß Gelehrte, Künstler und Wissenschaftler am Aufbau dieser Referenzen maßgeblich beteiligt waren – und diese waren untereinander vernetzt. Ägypten als kulturelle Referenz entstand im Italien des Humanismus, Rom war und blieb bis ins 18. Jh. das künstlerische Zentrum, in dem an den Konturen der Referenz gefeilt wurde, aber schon im 16. Jh. fand Ägypten Eingang in Kunst und Literatur Frankreichs. Frankreich eignete sich Ägypten in besonderer Weise als kulturelle Referenz an – zur Stärkung der Selbstreferenz Frankreich. Der Herzog von Sully schmückte sein Haus in Paris zu Beginn des 17. Jh. mit einem Sphingenpaar: Die eine Sphinx symbolisierte die Bewahrung von Arkanwissen, die andere war als Sinnbild von Klugheit zu verstehen. Beides gehörte zu den Essenzen frühneuzeitlicher Politik, in der Sully sich sein aktives Leben lang bewegt hatte. In der Epoche Ludwigs XIV. waren es französische Künstler, die die sog. Ägyptenmode einführten (Nicolas Poussin 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 303 [1594 bis 1665], Jean Berain d. Ä. [1637 bis 1711], Nachfolger im Amt von Charles Le Brun; etc.). Sphingen fanden sich in der Frühphase des Parks von Versailles, im Spiegelsaal des Schlosses, wo sie die Klugheit, aber auch die Stärke des französischen Königs meinten. Bossuet baute die ägyptische kulturelle Referenz in seine Universalgeschichte (1681) ein, die er für die Bildung des Dauphin verfaßt hatte. „Bossuet schilderte darin das ägyptische Altertum und seine baulichen und kulturellen Leistungen als Resultat eines durch vorbildliche absolute, aber auch aufgeklärte Monarchie bewirkten goldenen Zeitalters.“ (Dirk Syndram) Marie-Antoinette wählte sich die Sphinx zum persönlichen Symbol und ließ sie auf ihren Möbeln in den Schlössern von Versailles, Fontainebleau, Saint-Cloud anbringen. Sie verhalf der Ägyptenkonjunktur zu einem neuen Konsumhoch in Frankreich. Die Revolution eignete sich Ägypten auf ihre Weise an, ägyptische Symbole dienten zur Darstellung der régénération. So nutzte Napoleon alle propagandistischen Mittel, um seine Niederlage in Ägypten (Ägyptenzug 1798–99) anläßlich des Brumaire-Staatsstreichs 1799 als großartigen Sieg darstellen zu lassen. Ägypten als kulturelle Referenz, die Stärke, Großartigkeit, Ewigkeit, Schöpferkraft und vieles mehr symbolisierte, war so übermächtig, daß negative Konnotationen geradezu ausgeschlossen waren. Lesseps zehrte von diesem Nimbus und verstärkte ihn aufgrund des erfolgreichen Kanalbaus. Verursachten Kaffee und Tabak die Französische Revolution? Die Bevölkerung insgesamt spürte die Rückwirkungen vornehmlich im medizinischen und Nahrungsmittelbereich. Viele Produkte wie Kartoffeln oder Tomaten wurden anfangs wegen der geringen Importmengen ausschließlich für Heilzwecke eingesetzt. Als dann der Anbau in Frankreich selbst gelang, eröffnete sich in einem sehr langwierigen Prozeß die Möglichkeit, die Abhängigkeit vom heimischen Getreide zu mindern. Vor allem der Mais und die Kartoffel führten regional schon vor dem 19. Jh. zu einer geringeren Krisenanfälligkeit. Die Schwierigkeiten, diese Pflanzen schnell und in großen Mengen anzubauen, resultierten vielleicht weniger aus vorhandenen Vorurteilen als aus der Tatsache, daß die Grundherrschaftsverfassung, die Organisation der Dorfgemeinden und der Kirchenzehnt tiefgreifende strukturelle Hindernisse darstellten. Anders formuliert: Die neuen Pflanzen erforderten im Grunde eine neue soziale Organisation der Landwirtschaft, die sich aber nicht übers Knie brechen ließ. 304 Interkulturelle Geschichte Frankreichs Zu den Produkten, die die Soziabilität nachhaltig veränderten, gehörten der Tabak, der Kaffee und der Tee. Kaffeehäuser, Tabakrauchen, aufkommender Journalismus, die freie politische Meinungsäußerung im Gespräch formten eine neue politische Soziabilität, deren Ausmaß die überspitzt formulierte Frage stimulierte, ob Kaffee und Tabak am Ausbruch der Revolution 1789 schuld gewesen seien? Dies spielt auf die berühmten Cafés in den Arkaden des PalaisRoyal an, jenem Kommunikationsort vorrevolutionärer Gärung, wo sich Kaffee, Tabak und Literalität vereinigten. 10.4 Kolonialismus als kulturelle Referenz in der Bevölkerung? Drama und Christentum Faktische Auswirkungen der Expansion waren nicht zu bestreiten. Nachhaltig war auch das europäische Mächtesystem davon betroffen, denn essentielle Statusverbesserungen oder -verschlechterungen wurden letztlich nur noch über die Positionierung als Kolonialmacht erzielt. In dieser Perspektive, der sich die französische Außenpolitik im 19. Jh. in mehreren Anläufen und nach 1880 endgültig beugte, wirkt die kontinentale Vormachtstellung Frankreichs unter Napoleon I. nur wie eine Episode. Die z. T. geringe Stringenz der französischen Kolonialpolitik bis in die Zeit des Second Empire hatte damit zu tun, daß ihr ein breiter Rückhalt in der öffentlichen Meinung fehlte. Im 19. Jh. änderte sich dies ganz allmählich, nicht zuletzt dank der Presse und des algerischen Experiments. Doch auch in den ländlichen Gebieten, in denen die mündlichen Kommunikationstechniken weiterhin eine hervorragende Rolle spielten, wurde das Thema Kolonisation heimisch. Es mag sein, daß die menschlichen Dramen und Schicksale, die mit der Kolonisation verbunden waren, zur Popularität des Themas beitrugen. Vor allem erweckten diese Schicksale das christliche Mitleid und paßten sich so in die katholisch-christliche innere Mission Frankreichs ein. Hier dürfte der entscheidende Unterschied zu früheren Jahrhunderten liegen: Daß sich Schriftsteller in vielfältiger Weise der kolonialen Themen annahmen, läßt sich unschwer bis ins 16. Jh. zurückverfolgen. Daß Künstler aller Sparten die Themen bearbeiteten, gilt ebenfalls seit dem 16. Jh., selbst wenn die berichterstattende Malerei des 19. Jh. innovative Elemente beisteuerte. Sicherlich spielten einzelne Themen wie die vermeintliche oder wirkliche Menschenfresserei eine populäre Rolle seit dem 16. Jh., ein gewisser Exotismus als Würze der sonstigen dem Volk zugedachten 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 305 Informationen hat eine lange Tradition, aber es war nichts, was die Masse der Menschen wirklich bis ins Innerste berührte. Im 19. Jh. geschah aber genau dieses: die koloniale Welt gehörte jetzt zur eigenen Welt, sie war fast permanent präsent, sie erheischte Anteilnahme. Die Aufgabe, der barbarischen Welt eine christlich-französische Zivilisation zu schenken, wurde zur nationalen Aufgabe, an der jeder irgendwie teilhatte. Nur unter dieser Voraussetzung konnte in der Dritten Republik der nächste Schritt unternommen werden – die propagandistische Vereinigung von Nationsbegriff und Kolonialmachtstatus. ,Ertränkt die französische Soldateska im Meer!’ – Kolonialdebatten während der Dritten Republik Der Kolonialismus hatte in der Dritten Republik immer Befürworter und Gegner. Eine ausgesprochene Lobby entstand erst Ende der 1880er Jahre, als eine Art Kolonialpartei in Gestalt miteinander vernetzter Vereine entstand. Die Diskussionen über den Kolonialismus zeichneten sich durch ihre Realitätsferne aus. Die ausgedehnten Kerngebiete des Kolonialreiches waren seit Napoleon III. stabil geblieben; es gab ein Kolonialreich, das war eine Tatsache. Dennoch wurde über die Frage diskutiert, ob ein Kolonialreich errichtet werden solle oder nicht. Realitätsnäher war die Frage nach den Kosten und Gewinnen der Kolonien. Die einen verdammten die angeblich hohen Kosten, die der Staat, d. h. die Bürger, ohne große Vorteile für Frankreich trügen, die anderen sahen in den Kolonien die Möglichkeit, soziale und wirtschaftliche Probleme von Frankreich in die Kolonien zu verlagern und dort zu lösen. Die naheliegende Frage, was die Kolonien tatsächlich kosteten, wem sie Kosten aufbürdeten, und wer tatsächlich Profit daraus schlug, wurde so pragmatisch nicht gestellt und nicht beantwortet. Tatsächlich wendete der französische Staat bis 1900 durchschnittlich nur ca. 6,5% des Budgets für die Kolonien auf. Erst Ende der 1880er entstand ein Unterstaatssekretariat, Jahre später ein Ministerium für Kolonialfragen. Die „Bekehrung“ führender Männer der Dritten Republik wie Gambetta und Jules Ferry zur aktiven und expansiven Kolonialpolitik folgte in erster Linie einem nationalen Prestigedenken, der Überzeugung, daß Frankreich seine europäische Position gegenüber dem Deutschen Reich nur über nennenswerte Erfolge als Kolonialmacht verbessern könne. In der Tat zahlte sich diese Haltung aus, denn nachdem Bismarck von der aktiven politi- 306 Interkulturelle Geschichte Frankreichs schen Bühne entfernt worden war, konnten die französischen Regierungen, von der Dummheit der deutschen Außenpolitik profitierend, Schritt für Schritt den früher kaum für denkbar gehaltenen kolonialpolitischen Ausgleich mit dem größten Rivalen in der Weltpolitik, nämlich Großbritannien, herstellen. Die Kolonialpolitik selber löste in Frankreich zwar teilweise scharf geführte Debatten aus, aber sie fand außerhalb des missionarischen Aspekts kaum Zugang zum sehr breiten Publikum. Die Sozialisten bekämpften vor allem die inhumanen Auswüchse des Kolonialismus, aber vor 1900 bildeten sie eine kleine Minderheit mit begrenztem Publikum. Die Kolonialvereine (Comité de l’Afrique française, ab 1890; eine Interessensgemeinschaft von Abgeordneten im Parlament, ab 1892; die Union coloniale, ab 1893; Comité de l’Asie française, ab 1900; Comité du Maroc, ab 1903; etc.) waren nicht sehr mitgliederstark, dafür aber wegen ihrer Vernetzung mit den politischen und wirtschaftlichen Milieus außerordentlich einflußreich. Sie veröffentlichten Bulletins, deren Auflagen in den Hochzeiten vor dem Ersten Weltkrieg nur wenige Tausend Exemplare betrugen. Die Zeitungen griffen Kolonialthemen, vor allem Affären, von Fall zu Fall auf. Während die einen kolonialistische Propaganda betrieben, veröffentlichten die anderen Berichte über die Systematik und Perfektionierung der Tötung Einheimischer durch Kolonialtruppen (Berichte des Marineoffiziers Pierre Loti September/Oktober 1883 im Figaro). Selten verursachte die Kolonialpolitik große Debatten im Parlament, mehr als 30% Gegenstimmen bei Abstimmungen über kleine oder große koloniale Projekte gab es kaum. Wenn um und nach 1900 die Verfügbarkeit eines großen Kolonialreiches zum festen Bestandteil der Vorstellung von der Grandeur der französischen Nation gehörte, lag dies am Mangel an ernsthaften Gegnern des Kolonialismus. Frankreich unterschied sich darin wenig von anderen europäischen Nationen. Höchstens war die Debatte über den Kolonialismus mit Rücksicht auf die eigene Geschichte, in der man sich seit der Dritten Republik die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 besonders hoch anrechnete, etwas verlogener als anderswo. Charles Gide, einer der führenden Wirtschaftspublizisten in der Kolonialismus-Debatte vor der Jahrhundertwende, begründete die zivilisatorische Mission Frankreichs mit eben den „Prinzipien von 1789“. Daß Sklaverei und Sklavenhandel bekämpft werden müßten, folgte daraus; daß die Rechte der „Barbaren“, wenn man sie als Individuen betrachte, geschützt werden müßten, folgte ebenfalls daraus. Dieser Rechtsschutz 10 Frankreich und die außereuropäische Welt 307 wurde aber nicht auf die „Barbaren-Staaten“ als politische Körperschaften übertragen, im Gegenteil, diese mit dem Schwert zu bekämpfen, hätten die zivilisierten Nationen das Recht. Daß die individuellen Rechte dabei auf der Strecke blieben, wußte Gide ebenso wie die Politiker. Andere sprachen ganz offen aus, daß die Prinzipien von 1789 kein Exportartikel sein könnten. Wenige wie der Sozialist Paul Louis verwarfen den Kolonialismus ohne Wenn und Aber. Gustave Hervé schrieb in La guerre sociale von 1906, man solle die französische Soldateska, die das unabhängige Marokko angriffe, im Meer ertränken. Dessen ungeachtet zeitigte die Kolonialpropaganda der Vereine nach der Jahrhundertwende Früchte. Die Gewöhnung an nichtweiße Soldaten in den eigenen Reihen, präsent bei den Paraden am 14. Juli, Bildungsangebote, Briefe und Berichte, literarische und künstlerische Strömungen bewirkten eine Veralltäglichung des Kolonialismus. Besonders wichtig für die Verfestigung von Bildern wurden populäre Offiziere der Kolonialarmeen wie Joffre, Lyautey, Gallieni usf. Auf die Ausbildung einer spezifischen Identität in den Kolonialarmeen war schon hingewiesen worden. Die Romanliteratur kultivierte das Bild der wohltuenden Zivilisationsmission Frankreichs, die sich im Einklang mit dem Geist von 1789 befinde. In entsprechenden Schulbüchern wurde dasselbe Klischee gepflegt, die Erhebung der Kolonien mit ihrer einheimischen Bevölkerung in einen höheren Zivilisationsstand. Gerne wurden die Franzosen von 1900 mit den Römern verglichen, die den Galliern die Zivilisation gebracht hätten. Nicht zu vergessen die aufblühende Postkartenindustrie, die die Bevölkerung mit idyllisierten Motiven aus den Kolonien beglückte. Das Ende des Postkartenidylls Der Erste Weltkrieg machte aus dem Postkartenidyll eine für viele Franzosen plötzlich reale Erfahrung: Arbeiter und Soldaten aus der Kolonialbevölkerung wurden, wie oben beschrieben, zu einigen Hunderttausend in Frankreich selbst eingesetzt. Regional, von Ort zu Ort verschieden, gab es gute Szenen des Miteinanders, aber auch häßlichen Rassismus. Viele Vorurteile gegenüber bestimmten nordafrikanischen oder asiatischen Bevölkerungsgruppen, die noch heute kursieren, wurden damals ausformuliert. In den großen Städten bildeten sich Wohnghettos, in denen die ins Land geholten Arbeiter lebten und die sich z. T. bis heute als spezifische Wohnviertel wenn nicht sogar Ghettos erhalten haben. 308 Interkulturelle Geschichte Frankreichs Der Versuch, die Kolonien in Frankreich populär zu machen, wurde nach dem Krieg mit vermehrten Anstrengungen, aber ohne wirklich neue Inhalte, fortgesetzt. Organisierte Reisen, Radiosendungen, Schulklubs, alles was der organisierenden Kolonialphantasie einfiel, wurde ausprobiert. Die Kolonialausstellung von 1931, an der sich nur wenige europäische Staaten beteiligten, stand ganz im Dienst dieser Propaganda. Ziel war, die Franzosen an die Vorstellung eines „größeren Frankreich“ zu gewöhnen. Dieser Idee und der Rede vom „Empire“ stand allerdings keine Verfassungswirklichkeit gegenüber. Die eingeborene Bevölkerung der Kolonien wurde als Teil der Familie, als Teil des nationalen Wir-Kollektivs präsentiert – nach vollendetem Prozeß der Neuerschaffung der Eingeborenen nach französischen Werten. Im Geschichtsunterricht in der Primarschule wurden die „Heldentaten“ der französischen Kolonisten in ein chronologisches Kontinuum mit den Heldentaten Jeanne d’Arcs, der Märtyrer der Revolution usw. gestellt. Mit anderen Worten: Ging es in Wirklichkeit nicht um die „régénération“ der Franzosen selbst? Der Kolonialismus war einer der Samenspender für die vieldiskutierte Regenerierung. Wie tief solche Bilder in der Bevölkerung reichten, bleibt umstritten. Während in der Kunst und Musik die Auseinandersetzung mit der nichteuropäischen Welt zu ästhetischen Synthesen (Gauguin, Kubismus, Jazz usw.) führte, die ohne diese Auseinandersetzung nicht denkbar gewesen wären, während es in diesen Bereichen zu einem Kulturtransfer kam, der die überlieferte europäische Ästhetik veränderte, läßt sich in bezug auf die Bevölkerung insgesamt kaum eine ähnliche Hypothese begründen. Zwar wuchs die in den 1920er Jahren geborene Generation mit dem Kolonialismus als einer festen vorstellungsweltlichen Größe auf, aber es wurde keine Generation, die ihr Leben multikulturell eingerichtet hätte. Nur wenige Vorboten in der Literatur und im Film deuteten die Unausweichbarkeit der Fragestellung an! Meinungsumfragen nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben zwar hohe Zustimmungsquoten zu einem Frankreich als Kolonialmacht, aber die Kenntnisse über die Kolonien waren ungenau und gering. Dies hat sicherlich den Entkolonialisierungsprozeß nach dem Zweiten Weltkrieg (s. Kapitel 13) erleichtert.