Christian Kühn Diagonale Begegnungen: Ein Wohnbau von sps‐Architekten in der „Grünen Mitte Linz“ Die Gleisschleife der Westbahn gehört zu den Besonderheiten des Linzer Stadtgrundrisses. Ihre Trasse folgt in gehörigem Respektabstand dem Flussverlauf der Donau, die im Bereich der Altstadt zu einer großen Kurve ansetzt und in einem halbkreisförmigen Schwung bis zum Industriehafen führt. Die Gleisschleife, ein massives Verkehrsbauwerk, das sich stellenweise auf zwei Dutzend Gleise verbreitert, wird im Süden von einem anderen Verkehrsträger, einer sechsspurigen Autobahn, gekreuzt. Die hier von Eisenbahn und Autobahn aus der Ebene geschnittene Insel, die heute annähernd die geographische Mitte der Stadt bildet, lag vor 150 Jahren noch weit außerhalb der Stadtgrenze. Hierher hat das 19. Jahrhundert Funktionen ausgelagert, die man außerhalb der Stadt halten wollte und die nun wieder in den Stadtkörper gerückt sind. 1860 wurde im Norden, direkt neben der Bahntrasse, der St. Barbara‐Friedhof angelegt, auf dem unter anderem Adalbert Stifter begraben liegt. Im Südwesten des Areals befindet sich seit 1867 die Landesirrenanstalt Niedernhart, heute der neurologische Teil des Universitätsklinikums Linz. Von hier aus wurde im zweiten Weltkrieg unter dem NS‐Regime die Ermordung von 70000 Menschen organisiert, die in Nebenanstalten unter dem Vorwand von Euthanasie und Eugenik erfolgte. Die Besiedlung dieser Insel verlief in mehreren Etappen mit dem Ergebnis einer durchwachsenen Struktur, in der unterschiedliche Ordnungen ineinanderlaufen. Es gibt Ansätze zu einer Blockrandbebauung nach dem Muster des 19. Jahrhunderts, Schrebergärten und Einfamilienhäuser, Wohnhochhäuser und parallel gestellte Wohnhausscheiben, dazwischen eingestreut Industrie und Gewerbe. Auf einem 8.5 Hektar großen Teilgebiet dieser Stadtinsel, das im Westen an den St.Barbara‐Friedhof und im Osten an die Bahntrasse grenzt, entsteht seit 2012 die „Grüne Mitte Linz“. Mehr als 800 Wohnungen, die bis 2017 von verschiedenen Bauträgern errichtet werden, lagern sich um einen großen, annähernd dreieckigen Park, der das Zentrum der Anlage bildet. Der ursprüngliche städtebauliche Entwurf von Albert Blaumoser sieht eine Blockrandbebauung vor, deren rechteckige Blöcke sich zum zentralen Grün hin öffnen. Die schräg von Südosten nach Nordwesten führende Bahntrasse wird zur Störung in diesem Muster: Im östlichen Teil der Anlage klappen die Blöcke diagonal auf und bilden nach Süden hin orientierte Höfe. „Grün“ soll diese Mitte nicht nur durch den öffentlichen Park im Zentrum werden, sondern auch durch einen besonders hohen Anteil an begrünten Terrassen und Loggien bei den einzelnen Wohnungen. Im Rahmen eines „umfassenden Grünraumkonzepts“ sind jeder der 800 Wohnungen begrünbare, mit einer Vegetationsschicht von mindestens 30 cm ausgestattete Freiflächen im Ausmaß von 10% der Wohnnutzfläche zugeordnet. Der befestigte Anteil beträgt zusätzlich mindestens 6 m2. Diese Vorgabe galt auch für die Bebauung eines Grundstücks, das die „Grüne Mitte“ im Süden begrenzt. Im ursprünglichen Entwurf war hier ein geschlossener Block mit Hof vorgesehen, der sich im städtebaulichen Leitprojekt in einer eher unglückliches „L“ verwandelte. Im geladenen Wettbewerb, den die GWG im Jahr 2013 für das Grundstück ausschrieb, konnte sich Simon Speigner als einer jener Projektanten durchsetzen, die statt diesem „L“ ein ruhiges, lineares Bauwerk mit einer etwas größeren Baukörpertiefe vorschlugen. Der Wettbewerbsbeitrag aus dem Jahr 2013 sieht für das Erdgeschoß und den ersten Stock überwiegend öffentliche Nutzungen vor: Ein Stadtteilzentrum und die Kleinkindergruppen des Kindergartens im EG, im ersten OG die anderen Kindergartengruppen und nur an den beiden Enden des Bauköpers je zwei Nord‐Süd durchgesteckte Wohnungen. Dem Kindergarten sollte eine großzügige Spielterrasse vorgesetzt sein, mit dem Garten darunter über eine Spielskulptur verbunden. Geblieben ist von dieser Idee der Kindergarten mit Krabbelstube, der nun das gesamte Erdgeschoß einnimmt. Einen halböffentlichen Treffpunkt in der Art eines Stadtteilzentrums gibt es zumindest hier nicht mehr. Anstelle der Spielskulptur finden sich im Garten standardisierte Spielgeräte, abgezäunt vom Park mit einem Maschendrahtzaun, dem man eine rasche Begrünung wünscht. Die großzügige Terrasse auf dem Niveau des ersten OG, die sich durch die Tiefe des Kindergartengeschoßes ergibt, dient nun ausschließlich Wohnungen. Erschlossen werden die Wohnungen von vier Treppenhäusern an der Nordseite, also vom zentralen Grünraum aus. Die Treppen an den beiden Enden des Blocks versorgen je zwei Wohnungen pro Geschoß, die beiden mittigen Treppen vier Wohnungen, zwei größere mit vier Zimmern und Querlüftung und zwei Kleinwohnungen mit zwei Zimmern. Diese mittleren Treppenhäuser laufen parallel zur Hauptachse und bieten etwas mehr Raum als üblich. Alle Treppenhäuser liegen an der Nordseite der Fassade und sind natürlich belichtet, über große Verglasungen, vor die als zusätzliche Schichte gebäudehohe, bedruckte Planen gespannt sind. Sie zeigen Handschriften bekannter Oberösterreichischer Persönlichkeiten, die vom Künstler Peter Androsch ausgewählt und arrangiert wurden. Eine Auswahl dieser graphischen Botschaften findet sich auch auf der Südfassade, wo sie als Folien auf die verglasten Balkonbrüstungen aufgebracht wurden. Die Komposition dieser Fassade lebt vom Aufbau in mehreren Schichten. Die erste Fassadenebene zeigt eine strenge Abfolge von geschlossenen und offenen Flächen, hellgrau gestrichener Vollwärmeschutz und einheitliche Fensterformate mit dunklen Rahmen. Vor dieser rationalistischen Fassade schweben, thermisch getrennt, die hängenden Gärten, das Markenzeichen der „Grünen Mitte“. Sie bestehen aus zwei Schichten: einem durchlaufenden Balkonband und der davor gehängten eigentlichen Grüninsel, die jeweils einen Sitzbereich mit verglaster Brüstung und einen Pflanztrog umfasst. Diese eigenwillig gekanteten Elemente gibt es in zwei Versionen, einer nach links und einer nach rechts geneigten, die sich in der Fassade wie zufällig zu größeren, symmetrischen und asymmetrischen Mustern kombinieren. Aus Distanz betrachtet, gibt diese in einheitlichem Grau lasierte Fassade einiges an Rätseln auf, die sich erst aus der Nähe aufklären. Das Besondere an der Fassade sind nicht zuletzt die zahlreichen Blickbeziehungen zwischen den wohnungseigenen Freiräumen. Speigner gehört nicht zu den Architekten, die stolz darauf sind, dass ihre Terrassen von den anderen Wohnungen aus praktisch uneinsehbar sind. Im Gegenteil: Wer hier die Schutzzone seiner Wohnung verlässt, soll, anders als etwa in Harry Glücks Terassenhochhäusern in Alt Erlaa, die Nachbarn und ihre gärtnerischen Bemühungen diagonal über die ganze Fassade erleben können. Die Erforschung dieses Fassadenbiotops wird Soziologen und Botaniker in ein paar Jahren zur interdisziplinären Forschung an diesen Ort zusammenführen. Man wünscht diesen hängenden Gärten, dass sich nicht Unkraut von Balkon zu Balkon fortpflanzt, sondern Zier‐ und Nutzpflanzen und nachbarschaftliche Ideen jeder erdenklichen Art. Das Potential dazu ist jedenfalls vorhanden. (2016)