Untitled - Widerspruch

Werbung
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994)
Zitat
Chico: "Der Müllmann ist da."
Groucho: "Sag ihm, wir brauchen nichts."
Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994)
INHALTSVERZEICHNIS
Artikel
Zum THEMA: Philosophie des Mülls
7
Wolfgang Habermeyer / Konrad Lotter:
Philosophie des Mülls - 12 Thesen
11
Wolfgang Herrmann:
Müll, Gewalt, Bewusstsein.
17
Roger Behrens:
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des
Mülls
23
Alexander von Pechmann:
Zum Begriff des Mülls.
Versuch der systematischen Bestimmung und
historischen Einordnung des Müllproblems der
Gegenwart
31
Joachim H. Spangenberg:
Mensch und Müll
51
Ferdinand Rotzinger:
Ist Müll ein Abfallproblem?
57
Karl-Heinz Barth:
Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst 65
Konrad Lotter:
Calvinos Mülltonne
Bücher
zum Thema
71
Egon Becker / Peter Wehling:
Risiko Wissenschaft
Alexander von Pechmann
73
Gernot Böhme:
Am Ende des Baconschen Zeitalters
Ignaz Knips
74
Vilem Flusser:
Vom Stand der Dinge
Ignaz Knips
77
Al Gore:
Wege zum Gleichgewicht
Elmar Treptow
78
Volker Grassmuck / Christian Unverzagt:
Das Müll-System
Konrad Lotter
80
Frank Hoffmann / Theo Rombach:
Die Recycling-Lüge
Konrad Lotter
83
Neuerscheinungen
Leserbrief
Gottfried Hösel:
Unser Abfall aller Zeiten
Ferdinand Rotzinger
84
Niklas Luhmann:
Ökologische Kommunikation
Martin Bondeli
85
Lothar Schäfer:
Das Bacon-Projekt
Alexander von Pechmann
88
Ernst U. von Weizsäcker (Hg):
Weniger Abfall - Gute Entsorgung
Peter Deeg
92
Hermann Amborn (Hg):
Unbequeme Ethik
Stephan Dünnwald
93
Robert Kurz et al:
Rosemaries Baby
Wolfgang Habermeyer
96
George Leaman:
Heidegger im Kontext
Konrad Lotter
99
Gerhard Schweppenhäuser:
Ethik nach Auschwitz
Wolfgang Habermeyer
101
Albrecht Wellmer:
Endspiele. Die unversöhnliche Moderne
Roger Behrens
105
Jean Ziegler / Uriel da Costa:
Marx, wir brauchen Dich
Jonas Dörge-Weidemann
107
Klaus Weber:
Die Unterdrückten gegen die Herrschenden Erwiderung auf Thea Bauriedl
109
AutorInnenverzeichnis
115
Impressum
116
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 7-10
AutorenInnen: Redaktion
Zum Thema
Zum Thema
Philosophie des Mülls
Müll als Thema der Philosophie? Statt der hehren „Arbeit am Begriff“
nun die elende „Arbeit im Dreck“? Sic tempora mutantur. Zwischen die
Reiche der Freiheit und der Natur wachsen die Berge aus Müll. Die Abfälle unserer Zivilisation vergiften die Erde, verschmutzen das Wasser
und verunreinigen die Luft. Der Müll schiebt sich zwischen Mensch und
Natur und macht die Zukunftshoffnung auf ihre Versöhnung zum Märchen aus alter Zeit. Kein Mensch weiß, wie die Milliarden Tonnen vorhandenen und künftigen Mülls je zu ent-sorgen sind.
Mit dem Müll setzt gegenwärtig eine neue Dimension der ÖkologieDiskussion ein. Die ökologische Kritik am bestehenden Wirtschaftssystem begann mit der Erfahrung der Endlichkeit der Natur, d.h. der Endlichkeit des Erdöls und anderer Ressourcen. Es folgte die Wahrnehmung
der Zerstörung der Natur, des Waldsterbens, der Strahlenbelastung, des
Ozonlochs. Diese beide Richtungen der Kritik überlagerten und ergänzten sich zwar, stellten vor allem aber auch Gegensätze dar. Die eine
Richtung ging von den Voraussetzungen, die andere von den Folgen der
Produktion aus. Obwohl beide die „Grenzen des Wachstums“ diagnostizierten, wurde im einen Fall das Wirtschaftswachstum als Ausplünderung
des Planeten, als Vernichtung endlicher Rohstoffe kritisiert, deren Entstehen Jahrmillionen gedauert hatte, im anderen Fall als Eingriff in die
Naturkreisläufe, der den Lebensraum der Pflanzen, Tiere und Menschen
zerstört.
zum Thema
Mit dem Müll beginnt eine dritte Richtung der ökologischen Kritik. Neu
daran ist nicht nur die zunehmende Überforderung der Gesellschaft und
des Staats, mit den Abfällen der Produktion und Komsumtion fertig zu
werden. Neu daran ist vor allem, daß sie die beiden anderen Richtungen
in sich vereinigt und auf eine neue Stufe hebt. Denn Müll ist beides: er ist
aufgebrauchte, vernutzte Natur und zugleich Zerstörung der Natur als
Lebenswelt. Verschleiß des natürlichen Reichtums an Rohstoffen und
Energie und Verschleiß des natürlichen Lebensraums sind die Kehrseiten desselben wirtschaftlichen Wachstumsprozesses, die in der Zunahme
des Mülls ihren sichtbaren Ausdruck haben. Die Potenzierung von Mülls
ist zugleich die De-Potenzierung von Natur.
Auch unter ideologischen Gesichtspunkten weist der Müll in eine neue
Richtung. Solange dem Wachstum nur durch die Endlichkeit der Natur
Grenzen gesetzt schienen, verblieb die Diskussion in den die Moderne
kennzeichnenden, anthropozentristischen Bahnen. Die Sorge galt ausschließlich dem Menschen, dessen Wohlergehen und Zukunft durch die
Endlichkeit der Ressourcen bedroht schien. Mit der Verlagerung des
Schwerpunkts auf die Naturzerstörung (als „Lebenswelt“ oder „Schöpfung“) machte die anthropozentristische zunehmend einer ökozentristischen Perspektive Platz. Die Natur wurde nicht nur als Heimat des Menschen, sondern allen Lebens verstanden, das in ihren vielfältigen Vernetzungen nur einer holistischen Denkweise erschlossen werden konnte.
Für viele war und ist die ökozentristische Perspektive bis heute schlüssig
und akzeptabel. Richtig aber ist sie wohl nur als Negation der anthropozentristischen Perspektive. Denn sie setzt dem einen falschen Extrem
nur ein anderes entgegen: dem Positivismus der instrumentellverfügenden Vernunft nur die Metaphysik einer selbsttätigen und selbstzweckhaften Natur. Der Anthropozentrismus ordnete die Natur dem
Menschen unter und negierte die Eigenart und Fremdheit der Natur
indem er sie dem Menschen assimilierte. Der Ökozentrismus ordnet den
Menschen der Natur unter und negiert die Eigenart und Fremdheit des
Menschen, indem er ihn in natürliche, „kosmische Kreisläufe“ zu re-
zum Thema
integrieren versucht. Wie der Mensch aber Teil der Natur ist, so steht er,
indem er arbeitet und seinen Stoffwechsel mit der Natur regelt, der Natur auch gegenüber. Er bewegt sich innerhalb der natürlichen Zirkularität
und sprengt diese Zirkularität zugleich. Für diese Zwischenstellung ist
der Müll der sinnlich-stoffliche Ausdruck: er stellt den Endpunkt der
linearen Produktionsprozesse dar und durchbricht die Zirkularität der
Naturprozesse.
Fast ließe der Müll sich als „anthropologische Konstante“ begreifen: der
Mensch beginnt sich vom Tier zu unterscheiden, wo er aus der Zirkularität der Natur heraustritt und Müll erzeugt. Aber mit dieser Definition
des Menschen als „das Tier, das Müll erzeugt“, ist das Wesen des Menschen nur unzureichend erfaßt. Entscheidend ist die geschichtliche Dimension, in der die Möglichkeit der (quantitativen und qualitativen)
Müllproduktion in bestimmten Produktionssystemen aktualisiert wird.
Eine neue Qualität entsteht, wo die Zeit, die die Produktionsabfälle benötigen, um durch Verwesung, Verrottung, Zerfall etc. wieder in die
natürlichen Kreisläufe einzugehen, im Verhältnis zur Lebensdauer des
Menschen unverhältnismäßig lang wird. An dieser Grenze, die mit der
Erzeugung von chemischen und atomaren Abfällen überschritten wird,
wird Abfall im eigentlichen Sinne zu Müll, zu nicht mehr abbaubaren
und wieder-verwendbaren Stoffen. Das Müll beginnt, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu überlagern.
*
In ihren 12 Thesen zur Philosophie des Mülls gehen Wolfgang Habermeyer und Konrad Lotter von einem Begriff des guten Lebens aus, der
sich nicht mehr (wie in der Antike) an der sozialen Gemeinschaft der
Polis oder (wie in der Neuzeit) an Reichtum und wirtschaftlichem
Wachstum, sondern am Frieden des Menschen mit der Natur orientiert.
Auf dieser Grundlage wird das Anwachsen des Mülls als Symptom einer
gestörten Beziehung des Menschen zur Natur und, darüber hinaus, als
Symptom eines mißlingenden Lebens begriffen.
9
zum Thema
Als Stellungnahme zu diesen Thesen erläutert Wolfgang Herrmann den
Sinn und die Bedeutung der religiösen Reinigungsriten, wie sie insbesondere das Alte Testament vorschreibt. Nachdem die Menschen das rechte,
religiöse Maß verloren haben, verrennen sie sich, so die Hauptthese, in
falsche Extreme. Einerseits produzieren sie immer mehr Schmutz, Gewalt und Müll, andererseits nimmt das Bedürfnis nach Hygiene und
Sauberkeit wahnhafte Züge an. Müll und Reinheitswahn werden gleichermaßen als Ausgeburten der Gewalthaltigkeit der herrschenden Rationalität begriffen.
Roger Behrens spannt einen Bogen von der Philosophie des Abfalls zur
Philosophie des Mülls. Für Walter Benjamin hat „Abfall“ noch die positive Bedeutung einer Spur. In der Phantasie und in den Händen von
Kindern oder Künstlern gewinnt er seinen ursprünglichen Gebrauchswert zurück. Für Adorno hingegen ist alle Kultur nach Auschwitz
„Müll“.
Den systematischen Ort des Mülls zwischen menschlicher und natürlicher Reproduktion bestimmt Alexander v. Pechmann. Sein Beitrag
zeichnet die Prozesse nach, in denen sich das menschliche Reproduktionssystem vom Naturzyklus abkoppelt und seine eigenen Zyklen erschafft.
Joachim Spangenberg sieht in der „Vermüllung“ der Natur ein Grundprinzip der menschlichen Arbeit, das er physikalisch als Maximierung der
Entropie beschreibt. Auf dieser Grundlage entwickelt er Optionen und
Perspektiven der „Entmüllung“.
Ferdinand Rotzinger kritisiert die von der gegenwärtigen Umweltpolitik
vorgegebene Zielhierarchie von Abfallvermeidung, -verwertung und entsorgung. Da die Vermeidung dem Prinzip des Wirtschaftswachstums,
die Verwertung (weitgehend) den Naturgesetzen widerspricht, bleibt
letztlich nur die Entsorgung (Verbrennung, Deponie), die in zunehmendem Maße die Lebensräume einschränkt und die Lebensqualität vermindert.
zum Thema
Karl-Heinz Barth schließlich zeichnet in seinem „Lehrstück grüner
Punkt“ die Verdrehung einer ökologischen Idee in ihr direktes Gegenteil
nach. Was 1990 als Verordnung über die Vermeidung von Abfällen begonnen hat, entpuppt sich 1993 als profitträchtige Entsorgungsindustrie,
die im Interesse ihres eigenen Wachstums einer Ausdehnung von Abfällen in die Hände arbeitet.
Im Rezensionsteil werden Bücher zum Thema und philosophische Neuerscheinungen besprochen. Der Leserbrief von Klaus Weber zu Thea
Bauriedls Artikel „Miteinander oder Gegeneinander?“ in Nr.24 schließt
das Heft ab.
Die Redaktion
11
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 11-16
Autor: Wolfgang Habermeyer / Konrad Lotter
Artikel
Wolfgang
Habermeyer / Konrad Lotter
Philosophie des Mülls
12 Thesen
1) In der Gegenwart orientiert sich der Begriff des guten Lebens am Frieden des
Menschen mit der Natur.
Der antike Begriff des guten Lebens konzentrierte sich auf die soziale
Gemeinschaft. Als zóon politikón, als gesellschaftliches
Wesen, konnte der Mensch seine wahre Natur erst in der Gesellschaft
entwickeln. Am Leben der polis nahm er, als freier Bürger, in demokratischer Rede und Entscheidung teil. Die moderne Gesellschaft war dagegen nicht mehr auf Autarkie und
Selbstgenügsamkeit, sondern auf Reichtum und Expansion gerichtet. Als
homo faber oder homo oeconomicus produzierte der Mensch Waren.
Seine Vorstellungen vom guten Leben gründeten im Konsum bzw. in
der Anhäufung von Reichtum als potentiellem Konsum. Gegenwärtig
schließlich orientiert sich der Begriff des guten Lebens am Frieden mit
der Natur. Da der Mensch selbst Natur ist, schlägt jede Gewalt gegen die
äußere Natur in eine Gewalt gegen die menschliche Natur um. Ein menschenwürdiges Leben scheint nur in einer Natur möglich, die nicht zum
12 Thesen
bloßen Mittel degradiert, sondern auch um ihrer selbst willen anerkannt
wird.
2) Müll ist das Symptom einer gestörten Beziehung des Menschen zur Natur und
damit eines mißlingenden Lebens.
Geringe Bevölkerung, Vorrang der Landwirtschaft, idyllische Formen
des Handwerks und des Handels sorgten dafür, daß der Müll in der Antike nicht zum Problem wurde. Exponentielles Wachstum der Bevölkerung, industrielle Revolution und Welthandel hatten den Müll in der
Moderne zwar zu einem unübersehbaren Faktum gemacht. Die Natur
aber schien in unbegrenzten Dimensionen zur Verfügung zu stehen,
nicht nur als Lieferantin von Wasser, Luft, Energien, Bodenschätzen etc.,
sondern auch als Halde für den anfallenden Schmutz und Abfall. Erst in
der Gegenwart erscheint der Müll als Symptom einer gestörten Beziehung des Menschen zur Natur und damit als Symptom eines mißlingenden Lebens. Das unveränderte Industriesystems und sein verselbständigtes Wachstum gerät in einen immer schmerzlicheren Widerspruch zu den
Vorstellungen eines menschenwürdiges Lebens.
3) Der Müll hat als Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts und damit des Lebens eine universelle Bedeutung bekommen.
Zum Symptom eines mißlingenden Lebens ist der Müll durch seine Universalität geworden. Er ist nicht mehr das, was in eine Tonne geworfen,
von der Müllabfuhr abgeholt und auf eine Weise beseitigt wird, die seine
Tabuisierung erlaubt. Zum einen ist der Müll allgegenwärtig, in der Luft,
im Wasser und im Boden: als Ruß, als Giftstoffe, als Strahlung etc. Fortwährend sind unsere Sinne mit der Aufnahme und Verarbeitung von
Reizen (Gestank, Lärm, Hautreizungen, Aufnahmen von Giftstoffen
durch die Nahrung) beschäftigt, die in der verschmutzten Umwelt ihren
Ursprung haben. Zum anderen führt der Müll zu Krankheiten (Allergien,
Schilddrüsenkrebs, Hautkrankheiten), zum Aussterben von MikroOrganismen, Pflanzen und Tieren. Nur eine Wissenschaft, die über ein-
Habermeyer/Lotter
fache Kausalbeziehungen hinausgeht und die Natur in ihren Gesamtzusammenhängen und Vernetzungen begreift, erfaßt auch, inwieweit der
Müll das ganzen ökologischen Gleichgewicht stört und das Fortbestehen
des Lebens in Frage stellt.
4) Müll ist der Endpunkt im Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, eine Totes,
das zugleich eine zerstörerische Aktivität entwickelt.
Letztlich beruht das menschliche Leben auf einem durch Arbeit vermittelten Stoffwechsel mit der Natur. Solange der Mensch in der Form des
Atmens, des Essens, Trinkens etc. nur seine einfachen, körperlichen
Bedürfnisse befriedigt, bleibt er in ökologische Kreisläufen eingebunden.
Es entsteht zwar Abfall (Reste, verschmutztes Wasser, Kot etc.), im
eigentlichen Sinne aber kein Müll. Sobald der Mensch anfängt, seine
Bedürfnisse auszuweiten und zu verfeinern, beginnt er, die Kreisläufe
des Stoffwechsels zu durchbrechen. Nicht sofort, aber mit der Entwicklung der Produktion immer offensichtlicher. Einerseits entnimmt der
Mensch der Natur Dinge (wie Bodenschätze, Energien etc.), die sie nicht
oder nicht so schnell reproduzieren kann, wie sie ihr entnommen werden. Andererseits gibt er ihr Dinge (wie vernutzte Bodenschätze, chemische und atomare Abfälle) zurück, die sie nicht oder nicht so schnell in
ihre Kreisläufe zurückführen kann, wie sie ihr aufgebürdet werden. Müll
ist also der Endpunkt eines linearen Prozesses. Er ist der Endpunkt eines
Prozesses, in dem die Natur ihre Potenzen, in den Stoffwechsel mit dem
Menschen einzugehen und Leben zu erzeugen und zu erhalten einbüßt.
Müll ist somit etwas (für überschaubare, menschliche Zeiträume) Endgültiges, Absolutes und Totes, ein Stoff, der alle produktiven Möglichkeiten verloren hat. Zugleich ist Müll aber auch Anfang. Er ist ein Totes,
das eine höchst zerstörerische Aktivität entwickelt, das Lebendige sich
assimiliert und in einen Strudel der Vernichtung hineinreißt.
12 Thesen
5) Industrielle Produktion ist eine (durch die Herstellung von Gebrauchswerten vermittelte) Produktion von Müll.
Verbreitet ist die Auffassung, Müll sei nur das Akzidentelle der Produktion und Konsumtion. Er entstehe aus Zufall, Willkür oder Unachtsamkeit und könne bei sorgfältiger Planung, bei bewußtem, sparsamem Umgang oder Verzicht auf luxuriöse Verpackung vermieden werden. Industrielle Produktion bringe 1) gewollte Gebrauchswerte
und 2) ungewollte Nebenprodukte (wie Abgase, Abwässer, vernutzte
Maschinen) hervor. Tatsache jedoch ist, daß Müll wesentlich und substantiell zur industriellen Produktion gehört bzw. daß die industrielle
Produktion geradezu als Verwandlung von Natur in Müll definiert werden könnte. Differenziert werden könnte hier allenfalls zwischen drei
Formen des Mülls:
erstens dem Müll, der als ungewolltes Nebenprodukt bei der
Produktion von Gebrauchswerten anfällt (z.B. Verschleiß von Energie);
zweitens dem Müll den die produzierten Gebrauchswerte darstellen, die sich auf dem Markt nicht verkaufen lassen und wieder „eingestampft“ werden;
drittens dem Müll, den die Gebrauchswerte selbst nach dem
Ablauf ihrer Gebrauchs-Zeit darstellen.
Gebrauchswerte sind also selbst potentieller Müll. Der Umschlag der
einen in den anderen ist eine Frage der Zeit, wobei schlechte Qualität,
wechselnde Mode, technische Innovation etc. dazu beitragen, daß die
Gebrauchs-Zeit schrumpft und der Umschlag beschleunigt wird. Fast
realistisch erscheint der Witz, der einem Ski-Fabrikanten die Worte in
den Mund legt: „Die Herstellung eines Paar Ski dauert nur noch eine
Stunde und das beste ist, wenn sie abgeschlossen ist, sind sie technisch
bereits überholt.“
Habermeyer/Lotter
6) Der Einsatz von Energie erzeugt Müll in Form von Wärme, der die Erdatmosphäre aufheizt.
Die Gleichsetzung von industrieller Produktion und Müllproduktion (die
über die Zwischenstufe des Gebrauchswert vermittelt ist) wird auch
durch den Einsatz bzw. den Verschleiß von Energie bestätigt. Jede Produktion beruht auf dem Verschleiß und damit der Dissipation von Energie. „Dissipation“ heißt, daß die an Kohle, Öl, Strom, Bewegung etc.
gebundene Energie in ungebundene, vagierende Energie (sog. „Niedertemperaturwärme) verwandelt wird. Erstens fließt die Energie innerhalb
geschlossener Systeme immer nur in diese eine Richtung, von hohem
Niveau in niederes Niveau. Zweitens ist die dissipierte Energie nicht
mehr verfügbar, d.h. nicht mehr in brauchbare Energie zurückverwandelbar. Nach dem
zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (bzw. seiner Übertragung auf die
Ökonomie, wie sie erstmals Nicolas Georgescu-Roegen vorgenommen
hat) könnte Müll daher allgemein als Dissipation von Energie im Sinne
der Entropie oder als übergang von Ordnung in Chaos definiert werden.
Die Erwärmung der Erdatmosphäre als Energie-Müll stellt also den
zweiten Endpunkt einer linearen Entwicklung im Stoffwechsel des Menschen mit der Natur dar. In ihrer Zunahme und in der Zunahme der
stofflichen Rückständen der industriellen Produktion tritt uns der Fortschritt entgegen, den die Entropie, das „Grundgesetz vom Niedergang“,
inzwischen gemacht hat.
7) Die Umbenennung von Müll in „Wertstoff“ ist Ideologie im Interesse eines ungebrochenen, naiven Konsumverhaltens.
Die Umbenennung von Müll in „Wertstoff“, von Müllabfuhr in „Wertstoffsammlung“ oder „Abfallwirtschaft“ ist kein bloßer
Euphemismus. In ihr verbirgt sich insofern auch Ideologie, als ein wahres Moment zu einem Ganzen und Absoluten gemacht wird. Richtig ist,
daß nicht alles, was weggeworfen wird, aus diesem Grunde schon Müll
ist. Es enthält (wie Altpapier, Alteisen, Abwässer, Bauschutt) noch
12 Thesen
Gebrauchswerte, die recycelt, d.h. als „Sekundärrohstoff“ in die Produktionen zurückgeführt werden können. Falsch ist jedoch die Annahme,
die durch die Unbenennung supponiert wird, daß sich die ganze industrielle Produktion eines schönen Tages in Zyklen organisieren ließe.
Solche Vorstellungen sind dazu angetan, dem verschreckten Konsumenten das böse Gewissen zu nehmen und seine frühere Naivität wiederzugeben. „Recyceln“ heißt nur, daß die Verwandlung von Natur in Müll
langsamer vonstatten geht, nicht, daß der lineare Prozeß dieser Verwandlung durchbrochen wäre. - Verschiedene Autofirmen machen zur Zeit
mit der Recycelbarkeit ihrer Produkte Werbung. In einer Anzeige heißt
es: „Der neue Saab 900. 1.410 kg schwer. Davon sind 1.269 kg recycelbar.“ Keine Rede, wo die restlichen 141 kg bleiben; keine Rede, wie oft
recycelt werden kann und welcher Qualitätsschwund dabei in Kauf genommen werden muß; keine Rede, wieviel Abgase das Auto während
seiner Lebensfahrleistung in die Luft bläst; keine Rede auch, wieviel Müll
schon bei seiner Herstellung angefallen ist.
8) Die Grenze zwischen Abfall und Müll hat eine geschichtliche Dimension.
Müllbeseitigung, traditionell eine Aufgabe der Gemeinden, wird zunehmend von der Privatwirtschaft wahrgenommen („Grüner Punkt“). Damit kommt in den Blick, daß die Grenze zwischen Abfall und Müll, also
zwischen dem, was noch Recycelbares und dem, was nichts Recycelbares
mehr enthält, unscharf ist. Sie ist keine Frage des bloßen Stoffs, sondern
vor allem auch eine Frage des Profits. Müll ist also weniger das, was
keinen Gebrauchswert mehr enthält, als das, was das Recyceln, die
Rückverwandlung in Gebrauchswert, nicht mehr lohnt, weil der Einsatz
von Kapital, Technik und Energie keinen ökonomischen Gewinn mehr
verspricht. Damit bekommt der Begriff des Mülls auch eine geschichtliche Dimension. Möglich, daß eine spätere, verbilligte (z.B. Solar-)Energie
die Grenze verschiebt, unmöglich jedoch, daß sie sie aufhebt.
Habermeyer/Lotter
9) Alle Müllbeseitigung ist letztlich Endlagerung. Fortschritte können nur in der
räumlichen Konzentration bestehen.
Die Existenz von Kläranlagen und Filtersystemen, von neuen Verbrennungstechniken und biogenetischen Abbauverfahren etc.
verschleiert die Tatsache, daß es letztlich nur eine Art der Müllbeseitigung gibt, nämlich die Endlagerung. Auf der Deponie versammelt sich
schließlich alles, was keinen stofflichen oder ökonomischen Gebrauchswert mehr besitzt. Fortschritte der Müllbeseitigung können letztlich nur
dadurch erzielt werden, daß der Müll räumlich konzentriert wird, also
z.B. nicht mehr in die Luft geblasen, sondern in Filtern aufgefangen oder
durch Verbrennung verdichtet wird. Müll ist damit nicht vermieden, aber
man weiß, wo er ist und behält ihn auf diese Weise besser unter Kontrolle. Allerdings: für wahrscheinlich die meisten und für sehr bedrohliche
Formen des Mülls (Abgase, Kohlendioxid, Niedertemperaturwärme etc.)
gibt es bis heute keine Möglichkeiten der räumlichen Konzentration.
Fraglich ist, ob solche Möglichkeiten technisch überhaupt je zu bewältigen sind.
10) Die gegenwärtige Müll-Diskussion schreibt das ökonomische Wachstum fest. Die
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Müll-Produktion werden nicht in Frage
gestellt.
Zur Zeit wird das Müllproblem vor allem unter drei Aspekten diskutiert.
Unter ökonomischem Aspekt: wie durch Verteuerung Müll vermieden
oder wie die Müllbeseitigung finanziell geregelt werden kann. Unter
technischem Aspekt: wie die Müllbeseitigung „logistischer“ oder technisch-effizienter geregelt werden kann. Unter juristischem Aspekt: wie
die Verantwortung und damit die Haftung unter den Marktteilnehmern
verteilt und definiert werden kann. Vorausgesetzt und als Sachzwang
akzeptiert bleiben dabei die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die
das ökonomische Wachstum festschreiben. Als theoretische und praktische Herausforderung gilt nicht der einfache Zusammenhang von ökonomischem Wachstum und Müllwachstum. Als theoretische und praktische Herausforderung gilt stattdessen, wie das ökonomische
12 Thesen
Wachstum unter größtmöglicher Müllvermeidung weitergehen kann. Wie
sich aber die Luftverschmutzung trotz Katalysatoren potenziert, weil die
Verminderung der Abgase des einzelnen Autos durch die Vermehrung
der Autos kompensiert wird, so wird sich auch der Müll insgesamt potenzieren. Jede Verminderung des Mülls bei der Produktion der einzelnen Ware wird durch die Ausweitung der Warenproduktion im Prozeß
des ökonomischen Wachstums insgesamt bedeutungslos gemacht. Die
Müllberge werden sich also weiterhin ausdehnen, der Lebensraum des
Menschen wird weiterhin schwinden.
11) Die ökologische Marktwirtschaft beruht insofern auf einem Widerspruch, als der
Staat aus dem kapitalistischen Wachstum, das den Müll produziert, zugleich die
Steuern bezieht, deren Höhe den Spielraum absteckt, der ihm zur ökologischen Regulierung und damit zur Müllvermeidung oder -beseitigung zur Verfügung steht.
Die ökologische Marktwirtschaft versucht, den Wirtschaftsprozeß staatlich zu regulieren. Durch die Erhebung von Ökosteuern für Energieverbrauch oder CO2-Emission oder, wofür u.a. Al Gore plädiert, durch
Subventionierung von Ersatzstoffen oder Ersatztechnologien soll das
kapitalistische Wachstum ökologisch verträglich gemacht werden (so wie
die soziale Marktwirtschaft das kapitalistische Wachstum sozial verträglich machen sollte). Seine Steuern, deren Umfang den Rahmen für die
Maßnahmen der Regulierung abstecken, bezieht der Staat aber aus genau
jenem Wachtum, das er zu regulieren beabsichtigt. Das ökologische Ziel
der Naturverträglichkeit (Müllvermeidung, Müllrecyceln) wird also durch
das ökonomische Ziel des Wachstums (mit verstärkter Müllproduktion)
gefördert wie gehemmt. Beide Ziele können nur gemeinsam, in Koexistenz, verfolgt werden, obwohl sie sich gegenseitig ausschließen. Wie
aufgrund eines beschleunigten Wachstums die „Altlasten“ des bisherigen
Wachstums (wenn auch nur teilweise) aufgefangen werden, so wird immer neuer
Müll produziert, dessen „Eigenleben“ naturwissenschaftlich noch gar
nicht erforscht ist.
Habermeyer/Lotter
12) Ein gutes Leben ist weder auf der bestehenden Grundlage des verselbständigten
ökonomischen Wachstums, noch auf der Wieder-Eingliederung des Menschen in
„kosmische Kreisläufe“ zu verwirklichen. Es bedarf neuer Organisationsformen der
Gesellschaft.
Was gegenwärtig praktiziert wird, ist eine Art von Müll-Pragmatismus. In
der liberalen Demokratie beruht das gute Leben
auf der Freiheit des Konsums, die durch das ökonomische Wachstum
ermöglicht wird. Daran wird nicht gerüttelt; die ökologische Marktwirtschaft versucht nur, den Prozeß der wachstumsbedingten Zerstörung zu
bremsen und seinen Endpunkt hinauszuzögern. Als Alternative hat sich
eine Art Müll-Metaphysik herausgebildet, die das gute Leben als Reintegration des Menschen in natürliche, „kosmische Kreisläufe“ definiert.
Die Verantwortung für die Schöpfung und die zukünftigen Generationen
ersetzt die pragmatische Zielhierarchie von Müll-Vermeidung, Verwertung und Entsorgung durch das ausschließliche Ziel der Vermeidung. An
Hinweisen, daß dieses Ziel auch unter Zwang, d.h. unter Ausschaltung
liberaler Freiheiten durchgesetzt werden muß, fehlt es nicht. - Wer die
genannten Extreme des Pragmatismus und der Metaphysik, der verantwortungslosen Freiheit und der diktierten Verantwortung vermeiden will,
kommt in Zugzwang. Wird die bestehende Form des Wirtschaftswachstums als die letzte Ursache des Müllwachstums anerkannt, dann eröffnen
sich (hypothetisch) zwei Wege. Entweder wird gezeigt, wie ein qualitativ
verändertes Wachstum ohne die lebensgefährliche Zunahme des Mülls
möglich ist. Oder es wird gezeigt, wie dynamische Gesellschaften in
stationäre, wachsende Ökonomien in schrumpfende übergeführt werden
können bzw. wie diese Überführung ohne soziale Revolten und politisches Diktat abgewickelt werden kann.
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 17-22
Autor: Wolfgang Hermann
Artikel
Wolfgang Hermann
Müll, Gewalt, Bewusstsein.
Zwei bewußtseinsgeschichtliche Bemerkungen
Erstens. Die Welt in den Schmutz ziehen: Müll
Die Geschichte des Mülls beginnt nicht erst in der „modernen“, auf
Reichtum und Expansion gerichteten Gesellschaft1, sondern durchaus
viel früher, in der antiken Welt. Das stetige, krebsartige Wachstum des
Mülls und die darin angelegte tendenzielle Vernichtung der Welt durch
die Beschleunigung der Entropie korreliert mit dem Wachstum der Geldmenge sowie der Zunahme zerstörerischer Potentiale in den Gesellschaften und
Staaten. Letztere zeigt sich vor allem im Ausbau des Militärwesens und
dessen wachsenden Fähigkeiten zur Destruktion.
Die aufeinander bezogenen Wachstumsbereiche - Geldmenge, Militärpotential, Müll - lassen sich durch exponentielle Kurven2 veranschaulichen, die
zeigen, daß die Gegenwart von einer atemberaubenden Beschleunigung
dieser destruktiven Tendenzen gekennzeichnet ist. Der lange Zeit zunächst nur sehr langsame, flache Anstieg dieser exponential sich vollziehenden Entwicklungen verführt zu der Annahme, die Ursachen der
„modernen“ Probleme seien im Zeitraum etwa der letzten Jahrhunderte
zu finden, d.h. im Zeitalter des Kapitalismus und seiner zunehmenden
Beschleunigungsvorgänge (z.B. im Bereich technischer Innovationen,
1
siehe W. Habermeyer/K. Lotter, Philosophie des Mülls, 1.These in diesem Heft.
Müll. Gewalt, Bewusstsein
_________________________________________________________________
sozialer Bewegungen usw.) und seien mit seiner Überwindung zu korrigieren.
Das immer noch ungebremste, ebenfalls exponentielle Bevölkerungswachstum,
d.h. die Vermehrung der Menschen als einer biologischen Spezies auf
Kosten aller anderen, kann nur von einer fundamentalen Dynamik her
verstanden werden, deren Folge die Dynamik der Zerstörung der Biosphäre durch die Menschen ist. Müll ist der Indikator dieser Zerstörung.
Einführung des Geldes und Entwicklung des Militärwesens sind Merkmale patriarchaler Gesellschaftsformationen und zeigen die Durchsetzung des
Patriarchats an. Geldwirtschaft und Militär sind das Rückgrat der Staaten; und Staaten sind bisher nur als patriarchale aufgetreten, - rational
strukturiert, hierarchisch organisiert, männlich dominiert.
Geld ist das Abstraktum der materiellen Werte und der Macht, über sie zu
verfügen, bis heute symbolisiert im Gold als dem illusionären Garanten
des gesellschaftlichen Vermögens. Die Verwandlung der Welt in käufliche, dem Geld gleich-gültige Waren hat ihre zunehmende Verschmutzung, Vermüllung zur Folge.
2
Hermann
Militärische Gewalt ist die potentielle und immer wieder aktuelle Vernichtung gesellschaftlichen und natürlichen Reichtums. Abziehende Truppen
hinterlassen Tod und Zerstörung; und schon ihr Unterhalt hat gesellschaftliches Vermögen verschlungen. Insofern könnte das gänzlich unproduktive, lediglich Ressourcen vernichtende Militär als „sozialer Müll“
verstanden werden.
Geldwesen und Militär folgen einer spezifischen Rationalität. In seiner
detaillierten Studie „Geld und Geist - Zur Entstehungsgeschichte von
Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike“ (Frankfurt 1977)
hat Rudolf Wolfgang Müller analysiert, wie die Einführung des Geldwesens in den sich zunehmend patriarchal formierenden antiken Gesellschaften in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung des bürgerlichen Geistes steht, d.h. „moderner“ Rationalität, dem bürgerlichen Identitätsbewußtsein, der Differenz von Subjekt und Objekt. Geld als
Abstraktum gesellschaftlicher Kommunikation und Macht korreliert
ihrem Geist, ist dessen Verdinglichung.
Am Heraklesmythos, insbesondere der Augias-Episode, habe ich den
Zusammenhang von Müll und Gewalt zu zeigen versucht (W. Herrmann,
Mammon, Schmutz und Sünde - Die Kehrseite des Lebens, Stuttgart
1991). Herakles, Kultheros der aggressiven Dorer, zieht raubend, mordend und vergewaltigend durch das Land (die Tätigkeit aller patriarchalen „Helden“, seien es die mythischen Vorzeithelden, die mittelalterlichen Ritter und Kreuzfahrer, die Konquistadoren oder ihre späteren
Nachfahren). Die Reinigung des Augiasstalles unterscheidet sich der
Struktur nach nicht von der Aufgabe eines gegenwärtigen Abfallingenieurs.
Der Mythos repräsentiert die geschichtliche Dimension des bürgerlichen
Bewußtseins. Er zeigt : Müll ist keine dem gesellschaftlichen Bewußtsein
nur äußerliche, gleichgültige Erscheinung, sondern Teil seiner Struktur.
Die Geschichte des Mülls ist auch die der Rationalität. Oder umgekehrt:
Die Geschichte des bürgerlichen (aufgeklärten, kritischen, liberalen usw.)
Bewußtseins bildet sich in den wachsenden Mengen und Erscheinungsformen des Mülls ab. Sie beginnt in der Antike und ist Ausdruck zunehmender Destruktivität der Gewaltverhältnisse. Das Chaotische des Mülls
demonstriert die Kehrseite jener Rationalität, die ihn hervorbringt. Müll
ist ein erkenntnistheoretisches Thema.
Müll. Gewalt, Bewusstsein
Müll als privatum, d.h. Beraubung der Natur, als abgetrenntes und verlorenes Vermögen des Lebens, ist das getreue Gegenbild des sich als individuiert und damit „privat“ verstehenden rationalen bürgerlichen Geistes. Eine Bewältigung des Müllproblems setzt also eine grundlegende
Veränderung unserer gesamten geschichtlich ausgeprägten Bewußtseinsformen voraus. Die Marxsche Dialektik von Sein und Bewußtsein ist neu
und vertieft zu bestimmen.
Zweitens. Die Sehnsucht nach Erlösung: Reinheit
Reinheitswahn ist beileibe kein der Gesellschaft äußerliches Phänomen, ist
mehr als nur Ausdruck irregeleiteter, fanatisierter Teilgruppen oder Individuen. Reinheitswahn gehört konstitutiv zum herrschenden, allgemein
die Lebensvollzüge bestimmenden und die Einstellungen prägenden
Bewußtsein der Menschen.
Dabei ist Reinheit ein dem Heiligen benachbarter Begriff; und das Streben
nach Reinheit ist Ausdruck der Erlösungssehnsucht, der Sehnsucht nach
Vollkommenheit und Glück. Schmutz und Reinheit, Chaos und Kosmos, die Ware und der Müll, Geist und Gewalt, - eins ist ohne das andere nicht zu denken. Wie aber wird aus der Sehnsucht nach dem Heiligen,
nach Reinheit, ein Wahn, der sich in Orgien von Gewalt austobt, - in
fanatischer Ketzerverfolgung, im Haß gegen Minderheiten, im Rassismus
aller Spielarten? In Auschwitz wurden Menschen zu „Müll“ gemacht: im
Namen einer Reinheit (von Volk, Blut, Rasse), die andere Menschen in
Stalingrad als „Menschenmaterial“ verschliß, - auch das eine Form von
„Müll“.
Apartheid, „ethnische Säuberungen“, völkischer Nationalismus demonstrieren die ungeheure Gewalt des Reinheitswahns in den christianisierten
Gesellschaften, also den Gesellschaften abendländischer Rationalität.
Ihnen wohnt eine immer wieder entfesselte Bereitschaft zur Aggression
inne, - als Wüten der Inquisition, als conquista und Kolonialismus, als
Imperialismus und Nationalismus, - die das Ausmaß von Aggressivität in
Hermann
vergleichbaren nichtchristlichen Kulturen, beispielweise Ostasiens, mühelos in den Schatten stellt.3
Zu den ideologischen Ursachen gehört das christliche Sündenverständnis.
„Sünde“ als gottfeindliche Macht, als Todesverfallenheit und Lebensfeindlichkeit, wurde in der christlichen Theologie (in augustinischer Tradition) als eigenmächtiges Begehren definiert und diese Gier von der
Sexualmoral her illustriert.
Verhängnisvoll wirkte sich die von der christlichen Frömmigkeit und
Theologie übernommene spätantike Leib- und Materiefeindlichkeit aus,
die ihre Pointe in der Abwertung und Unterdrückung des Weiblichen
fand. Das weibliche Geschlecht als Eingangstor zur Hölle... Lust und
Sinnlichkeit konnten fast ausschließlich nur noch negativ verstanden
werden; eine zum Kontroll- und Machtmittel der Hierarchie degenerierte
Askese hielt die Gläubigen im Verein mit der Höllenangst im Zaum.
Sexualität war - von der unumgänglichen Notwendigkeit der Zeugung
möglichst vieler Kinder abgesehen - vom Teufel; Aggressivität aber
konnte entfaltet werden.
Die eigentliche Sexualisierung des Sündenbegriffs wurde durch die Erbsündenlehre vorgenommen: Durch den Liebesakt der Zeugung würde die
Sünde von Geschlecht zu Geschlecht unweigerlich vererbt; die Quelle
großen menschlichen Glücks sei die Ursache des Verhängnisses. Dieses
Sündenverständnis war blind für die Prozesse der Gewalt, die mit dem
Geldwesen, dem Militär, der Rationalität angelegt sind. Um diese Blindheit zu verstehen, sind einige religionsgeschichtliche Hinweise zum Symbol der Reinheit nötig.
Reinheit ist in den Systemen der Religion in aller Regel ein defensives Konzept. Das meint: Alles Unreine steckt an, befleckt, stigmatisiert. Man muß
es also möglichst meiden oder muß - im unvermeidlichen Berührungsfall, wie z.B. bei sexuellen Vorgängen, im Kontakt mit Krankheit oder
mit Tod - entsprechende karthartische Rituale (Lustrationen) vollziehen,
die den Zustand der Reinheit wiederherstellen.
3 Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973), dt. TB Reinbek
1977, hat den Begriff der Nekrophilie zur Kennzeichnung dieser Aggressivität gewählt.
Müll. Gewalt, Bewusstsein
Gut zugänglich ist das alttestamentliche Regelwerk, das die Reinheitsgebote
umfaßt (vor allem im Buch Leviticus, 11-16). Aus seiner Weiterentwicklung ist die Reinheitspraxis des orthodoxen Judentums entstanden, die
übrigens alles andere als ein zwanghaftes, „gesetzliches“ Verhalten der
Menschen zur Folge hat, wie es das vulgäre christliche Vorurteil wissen
will.
Die religionsgeschichtlichen Voraussetzungen der Reinheitsgebote können hier nicht erörtert werden.4 Nur soviel: Die Beachtung von „erlaubten“ und „nicht erlaubten“ Bereichen des Lebens (Ernährung, Gesundheit, Sexualität und Tod) bedeutet eine materielle Konkretheit des Gotteswillens, einen religiösen Materialismus, wie ihn das Christentum weithin
nicht kennt. Was im archaischen Konzept des Alten Testamentes „Sünde“ genannt wird, also Gottesferne und Lebensfeindschaft, erhält hier
neben der moralischen Dimension, die sich in subjektiven, willentlich
vollzogenen Taten äußert, eine transmoralische Dimension. Die mit der
moralischen Dimension gegebene Gewalt, z.B. eines Diebstahls oder
Totschlages, beruht auf aggressiven Triebregungen von Individuen oder
Gruppen und gilt ethisch als prinzipiell beherrschbar oder doch zähmbar. Die durch Unreinheit gegebene Gewalt, z.B. durch die sexuelle Berührung, durch die Geburt oder durch die unaufhebbare Tatsache des
Todes, beruht dagegen auf naturgegebenen Sachverhalten (freilich in
religiöser Interpretation von „Natur“) und ist prinzipiell unaufhebbar, jedenfalls in diesem defensiven Konzept. Der durch Befleckung entstandene „Makel“, eine objektive, transmoralische „Schuld“, muß stets neu
durch Reinigungsrituale entsühnt werden.5
Das christliche Sündenverständnis hat sich weitgehend von der transmoralischen Dimension gelöst und definiert fast ausschließlich moralische
Schuld als Sünde. Die mit dem naturbezogenen Leben selbst gegebenen
Probleme (Nahrung, Sexualität, Geburt und Tod) wurden mehr und
mehr übersehen oder moralisiert, wie vor allem die Sexualität. Wesentli4
Vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von
Verunreinigung und Tabu (1966), dt. Berlin 1985.
5 Hierzu Fernando Belo, Das Markusevangelium materialistisch gelesen (1974), dt.
Stuttgart 1980, S.59-83 (Die Symbolordnung des Alten Israel); Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II (1960), dt. Freiburg/München 1971, S.
33-56 (Der Makel).
Hermann
che Fragen menschlicher Existenz wurden damit tendenziell unsichtbar
gemacht und dem allgemeinen Diskurs entzogen.
Die ökologische Krise - sinnfällig greifbar als Müll - trifft deshalb Theologie und christliche Frömmigkeit fast unvorbereitet, weil die Sündenlehre auf moralische Fragen verengt wurde und keine Kategorien zum Verständnis des Naturumgangs entwikkelt sind, wie sie das archaische Konzept der Reinheit und des Makels sowie die jüdische Frömmigkeit
immerhin kennen. Dadurch, daß dem Menschen durch dieses Konzept
in Form von Tabus Grenzen gesetzt sind, z.B. bestimmte Pflanzen und
Tiere oder auch Teile von Tieren (Blut, Innereien) als „nicht erlaubt“
anzusehen, ist ein Respekt vor der Schöpfung, eine „Ehrfurcht vor dem
Leben“ (Albert Schweitzer) gewahrt, die der christianisierten Moralkultur, der alle Lebewesen gleich-gültig sind, weithin abhanden geraten ist.
In der neutestamentlichen Zeit war die Auslegung der Reinheitsgebote allerdings noch offen. Sie wurde erst in den Jahrhunderten der Entstehung
des Talmuds vollendet. Der Jude Jesus vertrat, wie eine Fülle von neutestamentlichen Texten belegt, ein revolutionäres, nämlich offensives
Konzept der Reinheit. Das Unreine ist nicht zu meiden - etwa Leprakranke, Besessene, Kollaborateure mit der (heidnischen) römischen Besatzungsmacht, Prostituierte, selbst Tote -, sondern durch Zuwendung
erneut zu integrieren und dadurch zu heilen. Jesus nimmt Kontakt auf,
berührt, mißachtet Tabu-Grenzen und demonstriert so, daß Reinheit
keineswegs defensiv verstanden werden muß, daß vom ihm vielmehr
eine „ansteckende“ Reinheit ausgeht, die alle Vermeidungs- und Abgrenzungskonzepte überflüssig macht.
Diese „ansteckende Reinheit“ war übertragbar und wurde in der Urkirche praktiziert. Das Ritual der Taufe hatte durchaus den Sinn, dieses
lebenspraktische Konzept für die Gläubigen zu etablieren. Die überkommenen Grenzen zwischen dem Gottesvolk und der heidnischen
Welt, zwischen heilig (rein) und profan (unrein) wurden als überwindbar
erfahren, wie vor allem Paulus demonstrierte und durchsetzte. Der Satz
„dem Reinen ist alles rein“ (Titus 1,15) hatte für das wohlgeordnete
religiöse und soziale Gefüge der antiken Welt eine revolutionäre Kraft.
Das Christentum hat dieses Konzept jedoch nicht durchgehalten, sondern hat ein neues, sehr komplexes Symbolsystem defensiver und diskrimi-
Müll. Gewalt, Bewusstsein
nierender Reinheit entwickelt. Seine moralischen Grundpfeiler sind vor
allem die aus spätantiker Frömmigkeit übernommenen Themen der
Keuschheit und der Jungfräulichkeit, also Formen sexueller Sublimierung
bzw. - in der Regel eher - Unterdrückung. Ideologische Rechtfertigung
fand dieses System in Begriff der „reinen Lehre“, der dogmatischen
Orthodoxie. Dieses System ist in der Lage, jederzeit ungeheure aggressive Energien freizusetzen: als Inquisition und Ketzerverfolgung um der
„reinen Lehre“ willen, als moralische Kontrolle der Gläubigen, besonders der Frauen, als terroristische Wut gegen alle „Ungläubigen“ in Pogromen, Kreuzzügen und Eroberungskriegen. Grundlage dieser aggressiven Energien sind die Standards patriarchaler Gesellschaften: Ehre, hierarchische Unterordnung, Geld und Militär. Die Geschichte der
Ketzerverfolgung zeigt bei genauerer Analyse unmißverständlich, daß es
neben der „offiziellen“, kirchlichen Begründung für die Verfolgung stets
noch eine uneingestandene, „inoffizielle“ Begründung gab: den Verstoß
gegen die undiskutierbaren, in der Regel unbewußten Standards patriarchaler Verfassung.
Indem „Sünde“ überwiegend moralisch und noch dazu sexualisiert verstanden wurde, konnte die Dynamik der Ausplünderung der Welt und
ihre Verwandlung in einen Müllhaufen nicht erkannt, geschweige denn
als destruktive Gewalt benannt werden. Für das Naturverhältnis der
Menschen waren die christianisierten Gesellschaften sprach- und bewußtlos geworden. Daran hat auch die tendenziell nachchristliche Bewußtseinsgeschichte seit der Aufklärung nichts geändert.
Daß „Sünde“ primär Gewalt ist und sich als Vergewaltigung äußert, war
nicht formuliert und konnte deshalb auch die Ethik nicht bestimmen.
„Reinheit“ wurde überwiegend als moralisiertes Thema erlebt, das sich
als Reinheitswahn und in Vorurteilsstrukturen umsetzt: Rassismus, Antijudaismus, Minderheitenhetze sind die brutale Konsequenz. „Ethnische
Säuberungen“, faschistische Menschenvernichtung, Apartheid können
sich als Ausdrucksformen des Reinheitswahns immer wieder als Massenbewegungen durchsetzen.
Müll und Reinheitswahn sind siamesische Zwillinge, Ausgeburten des
gewalthaltigen Geistes der herrschenden Rationalität.
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 23-30
Autor: Roger Behrens
Artikel
Roger Behrens
Von der Philosophie des Abfalls zur
Philosophie des Mülls
Zur Wiederaufbereitung einer Allegorie
I.
„Kinder nämlich sind auf besondere Art geneigt, jedwede Arbeitsstätte
aufzusuchen, wo sichtbare Betätigung an den Dingen vor sich geht. Unwiderstehlich fühlen sie sich vom Abfall angezogen, der sei es beim Bauen,
bei Garten- oder Tischlerarbeit, beim Schneidern oder wo sonst immer
entsteht. In diesen Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die
Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein zukehrt.“1
Die Welt der Kinder, der Walter Benjamin diese einfühlsame Beschreibung gibt, droht zur Vergangenheit zu werden: zwar ist noch so manchem Kind das gefahrenlose Spiel mit dem Abfall aus der Produktionswelt der Erwachsenen vergönnt, doch mehr und mehr wird diese spielerische Aneignung der Dingwelt zum Spiel mit dem Tod. Seitdem
Kinderspielplätze auf dioxinverseuchten Böden gebaut und die Wiesen
von radioaktiven Regen Tschernobyls verstrahlt sind, seitdem verschiedene Kunststoff-Farben, die auch die Spielzeugwelt bunt machen, sich
als cadmiumhaltig und damit krebserregend erwiesen haben, seitdem
kann den Kindern nicht einfach die Welt der Erwachsenen, samt ihres
Abfalls, zum Spielen überlassen werden.
Abfall hat bei Benjamin noch die positive Bedeutung einer Spur; er kann,
wenn er in die geschickten Hände des Kindes gerät und von seiner Phan1
W. Benjamin, „Alte vergessene Kinderbücher“, in: ders., Gesammelte Schriften III,
Frankfurt/Main 1991, S.16.
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls
tasie durchdrungen wird, einen Gebrauchswert zurückerhalten, den er im
Akt der Produktion als Reststoff schon verloren gehabt zu haben schien.
Mit der Phantasie des Dialektikers bewaffnet, kann Benjamin es den
Kindern gleichtun und sich ebenfalls dem Abfall zuwenden: die Allegorie
des Abfalls wird ihm zum dialektischen Bild: als „Abfall der Geschichte“
notiert er im Passagen-Werk ein Fragment, aus dem hervorgeht, wie „in
der Analyse des kleinen Einzelmoments [der] Kristall des Totalgeschehens zu entdecken sei“, von „Montage der Geschichte“ ist dabei die
Rede2. Ein Ergebnis dieser Montage ist das Passagen-Werk selbst - Benjamin hinterläßt der Nachwelt diese Arbeit als „dialektische Feerie“, als
Märchen3. Denn das Märchen selbst ist „Abfallprodukt ... im Entstehungs- und Verfallsprozeß der Sage“4. Er nimmt den Abfall der Geschichte, die trümmerhaften Formen von Vergangenheit und Gegenwart,
und montiert sie zum aufblitzenden Bild der Zukunft; aus dem Abfall
liest er wie aus dem Kaffeesatz: daß der Abfall sich dabei dem Tausch
und somit der Verwertung entzieht, macht ihn zum Speicher für einen
Vorgriff auf ein Gesellschaftsbild, das dem Prinzip der Verwertung fern
liegt. Am konkretesten hat Benjamin diesen Gedanken wohl im Ursprung des deutschen Trauerspiels an dem Bild der Ruine dargelegt5.
Benjamin verortet hier die Ruine sowohl geschichtsphilosophisch („Mit
ihr hat sinnlich die Geschichte in den Schauplatz sich verzogen“6), erkenntnistheoretisch („Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge“7) und ästhetisch („... trümmerhafte Formen
des geretteten Kunstwerks...“8).
Die Ruinen sind nicht bloß „Emblem der Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit der kapitalistischen Kultur ..., sondern auch .. Emblem ihrer
Destruktivität“9. Diese Destruktivität deutet heute nicht mehr auf die
Befreiung vom Kapitalismus zugunsten einer neuen Epoche, sondern auf
die Destruktion einer jeden Möglichkeit weiterer Geschichte. Dieses ist
2
W. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd.V.1., a.a.O., S.575.
vgl. Susan Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das PassagenWerk, Frankfurt/Main 1993, S.401ff.
4 W. Benjamin, „Alte vergessene Kinderbücher“, a.a.O., S.17.
5 vgl. W. Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.1., S.353ff.
6 ebd., S.353.
7 ebd., S.354.
8 ebd., S.358.
9 Buck-Morss, Dialektik des Sehens, a.a.O., S.204.
3
Behrens
der Unterschied zwischen einer Schloßruine oder den Trümmern eines
antiken Tempels und dem explodierten Kraftwerk; dieses ist mithin der
Unterschied zwischen Abfall und Müll. Das Attribut, das dem Abfall
zukommt, ist der Ver- und schließlich Zerfall - das Unbrauchbare wird
durch diese „Logik des Zerfalls“ (Adorno) wieder dem Werden zugeführt; nicht ein Kreislauf ist damit gemeint, sondern der Zerfall hinterläßt an den Dingen Spuren, die von gänzlich Neuem zeugen. Dem Müll
hingegen kommt die Eigenschaft des Nicht-mehr-zerfallens zu; seine
Destruktivität konstruiert nicht die Idee des Neuen, sondern potenziert
die Gewalt der Destruktion.
Müll hat etwas Bewegungs- und Geschichtsloses: der Giftmüll zerfällt
höchstens in eine neue Gefahrenstufe des Gifts, die Zerfallszeiten radioaktiven Mülls haben für mehr als ein Menschenleben den Charakter des
Ewigen, die Plastikverpackung bleibt immerwährendes Zeugnis unserer
Kultur. Das Verfallsdatum auf den Nahrungsmittelprodukten gibt ein für
alle Male an, an welchem Tag der Gegenstand seine Dinglichkeit verläßt,
um für den Rest aller Zeiten Müll zu sein: die Objektwelt steht damit
nicht in unterschiedlichsten Stadien von Gebrauchsmöglichkeiten dem
Menschen gegenüber, eben bis zum Abfall, für den die Kinder noch
Verwendung finden, sondern in einem kruden Dualismus - einem „dualen System“ eben - von nur einer Verbrauchsmöglichkeit; alles was diese
Möglichkeit übersteigt, ist Müll. Den Objekten kommt also nicht mehr
neben dem Tauschwert ein Gebrauchswert, sondern ein Verbrauchswert
zu10.
Auch ist Abfall eine Rarität: von vergangenen Zeiten sind seine Reste
kaum noch erhalten, die paläontologischen Knochenabfälle sind regelrechte Schätze der Wissenschaft. Zwar wissen wir von den unhygienischen Zuständen vom Kot durchmatschter Straßen im Mittelalter, von
dem Schmutz in den Arbeitervierteln um die Jahrhundertwende, doch
haben diese Zeiten ihren Abfall nicht hinterlassen. Der Müll wird dementgegen für alle kommenden Zeiten seine Zeichen setzen: eine Rarität
wird das werden, was noch nicht Müll ist. Die kommenden Schätze nicht nur für die Wissenschaft - werden der Abfall im Müll sein, das was
10
vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.2, München 1988,
S.44. Das beste Beispiel ist das Auto: der Gebrauchswert - Fortbewegung und
Transport - des Autos ist im Verhältnis für die dafür aufgewendete Zeit der Produktion geradezu irrational (vgl. Ivan Illich, Die sogenannte Energiekrise, Reinbek 1974,
S.26f.). Gleichzeitig wird zum Wertkriterium des Autos heute buchstäblich der
Verbrauch gemacht.
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls
doch noch einmal verwertbar ist. Doch schon jetzt haben die kapitalistischen Weltmarktgesetzte entschieden, daß dieser Umgang mit dem Abfall im Müll kein Kinderspiel sein wird, wie Benjamin es beschreibt, sondern Kinderarbeit, die die imperialistischen Länder mit ihrem Müll
verteilen, aufzeigbar an den von uns oftmals mit falscher Freude über
Kreativität bestaunten Konservenblechkoffern oder Gummireifenschuhen aus afrikanischen Ländern. Der Unterschied zwischen Müll und
Abfall kann sogar in den derzeit beliebten Epochenbegriffen von Moderne und Postmoderne gefaßt werden: die Moderne als jenes Zeitalter
mit positivem Verwertungsbezug zum Müll, in dem man sogar anfing im
18. Jahrhundert künstliche Ruinen zu bauen; die Postmoderne dann nach
einem Vorschlag von Burghart Schmidt datiert auf den Abriß einer von
den ehemaligen Mietern selbst zerstörten Betonwohnruinen im Jahre
1972.11 Sammeln und Verwenden, das gehört zur Welt der Abfälle; Abfälle soll man „nicht inventarisieren sondern ... auf die einzig mögliche
Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden“12. In einer Zeit,
in der Müll nur noch mit Schutzanzügen aufgelesen werden kann, ist
Inventarisierung, das heißt: Endlagerung der Zwang. Der Repräsentationskraft des Abfalls steht somit die reine Präsenz des Mülls gegenüber.
II.
Dieser Unterschied zwischen Abfall und Müll ist auch für die Philosophie virulent: das, was im abstrakten Sinn mit Müll bezeichnet wird - von
der Kunststoffverpackung bis zu verbrauchten Brennelementen -, berührt zweifellos Grundfragen der Philosophie, maßgeblich das Problem
der Naturbeherrschung, oder: um es altmodischer auszudrücken, das
Verhältnis von Subjekt und Objekt. Und doch hat sich die Philosophie
den Müll nicht zum nennenswerten Thema gemacht: auch hier wirkt,
11 vgl. Burghart Schmidt, Postmoderne - Strategien des Vergessens, Darmstadt und
Neuwied 1986, S.8; Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur,
Stuttgart 1988, S.9. „Die Moderne Architektur starb in St. Louis/Missouri am 15.Juli
1972 um 15.32 Uhr,“ so Jencks, mit der Sprengung der Pruitt-Igoe-Siedlung. „Zweifellos hätte man die Ruinen erhalten, sie unter Denkmalschutz stellen sollen...“(ebd.)
Das Problem heute ist keines mehr von Denkmalschutz, sondern vielmehr der gebotene Schutz vor giftigen Bausubstanzen, weshalb ein Abriß von Ruinen oftmals gar
nicht möglich ist (In Hamburg-St. Pauli steht ein nichtabreißbares Hochhaus: um es
niederzureißen, müßte der asbestverseuchte Bau vollständig mit einer Kunststoffhülle überzogen werden).
12 W. Benjamin, Passagen-Werk, a.a.O., S.574.
Behrens
was Günther Anders in den 50er Jahren schon „Apokalypse-Blindheit“
nannte13. Verhärtet wird diese Blindheit paradoxerweise dadurch, daß die
akademische Philosophie sich gerade in den letzten Jahren den Symptomen der Müllproduktion des Kapitalismus nicht länger entziehen konnte
und unter dem Stichwort „ökologische Ethik“ einen Bereich abzirkelte.
Diese Ethik ist aber eine Ethik des äußersten Symptoms: sie spekuliert
über die zerstörten Wälder aus Beispiel und reine Möglichkeit und entwirft eine Moral für den Umgang mit dem kranken und noch gesunden
Baum. Nur selten reichen diese Spekulationen für eine Ethik der inneren
Symptome hin, also eine Ethik des Mülls, beziehungsweise eine Ethik
der Ursachen, was bedeuten würde, eine Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln.
Das hat wohl auch damit zu tun, daß unter dem Stichwort der „ökologischen Ethik“ weniger die ökologischen und gar nicht die sozialen Probleme benannt werden, sondern allenfalls die ethischen. Die Richtung
dieser Philosophie ist präventiv, die ökologische Katastrophe der Wennfall - der Müll aber, mit dem wir es heute zu tun haben, ist schon die
Katastrophe, in Gang gesetzt durch eine Maschine der Warenzirkulation.
Dabei wird auffällig, daß es die Philosophie keineswegs versäumt hat, auf
die Industrie zu reagieren, die den Müll hervorgebracht hat: unzählige
Publikationen widmen sich der Informations-, Medien- und Computertechnologie. Aber hier interessiert nicht das sichtbar-konkrete Resultat,
die physische Bedrohung, die zum Beispiel dadurch entsteht, daß es
noch keine Möglichkeit gibt, Computerschrott zu entsorgen, sondern das
Interesse gilt der Unsichtbarkeit, der virtuellen Realität oder den elektronischen Daten14.
Die Philosophie fühlt sich nicht so recht zuständig für den Müll (was
anscheinend konstitutiv zum Müll gehört: daß niemand sich für ihn zuständig fühlt)15: im Zuge der wissenschaftlichen Arbeitsteilung ist das
Müllproblem an die Soziologie abgetreten worden, an die Ökologie, die
Sozialgeschichtsschreibung, die Umweltpädagogik, die Technologiefol13
vgl. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.1, München 1988, S.235ff.
Man müßte dem hinzufügen: wenn es Untersuchungen zum Thema Müll gibt,
dann auch wieder nur im Interesse an der Form der Unsichtbarkeit, etwa der Radioaktivität.
15 In ökonomischen Begriffen heißt das, daß Müll kein Eigentum darstellt. Im Zeitalter des weltweiten Industriekapitalismus rückt hinter die Frage nach dem Eigentum
an Produktionsmitteln also noch eine zweite: die danach, wem die Destruktionsmittel
gehören.
14
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls
genabschätzung vielleicht noch im radikalsten Fall. Eine Philosophie,
gleich ob dem System oder der Kontingenz verschrieben, die zum Zentraltopos das Prinzip des Werdens hat, in dem alle Formen des Ver- und
Zerfalls aufgehoben sind, hat wahrscheinlich auch gar nicht die logische
Apparatur, um sie einem Phänomen zuzuwenden, das konstitutiv vom
Prinzip der Unvergänglichkeit bestimmt ist. Der Müll ist die adäquate
Allegorie der „Dialektik im Stillstand“ - nichts paßt auf ihn besser als
Benjamins Satz: „Die Überwindung des Begriffs 'Fortschritt' und des
Begriffs der 'Verfallszeit' sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache“16.
III.
Und doch kann festgestellt werden, daß der Müll seine Spuren auch in
der geistigen Welt längst hinterlassen hat. Noch aus den Tagen, wo der
Müll harmloser Abfall war, hat er sich einen allegorischen Wert bewahrt.
Kurt Schwitters konnte aus Abfall noch Collagen komponieren und
Marcel Duchamp Ausrangiertes zur Kunst erklären, der Abfall war als
Fundstück noch gebrauchsfähig. Auch in der Literatur, Benjamin sehr
verwandt, finden sich Allegorien des Abfalls, etwa bei Kafka: er entwirft
„das Bild der heraufziehenden Gesellschaft“ nicht unmittelbar, sondern,
wie Adorno festhält, er „montiert es aus Abfallsprodukten“17. Abfall ist
ästhetisch gesehen - um Kants berühmten Satz aus der Kritik der Urteilskraft umzuwandeln - wertmäßig ohne Wert: an ihm läßt sich ein Bild
von Schönheit noch konstruieren, auch wenn es bloß dessen Negatives,
die Vergänglichkeit ist, das was einmal schön war, der Zerfall.
Der Müll schließt demgegenüber eine Ästhetik oder Ästhetisierung aus,
wenngleich er am einfachsten dadurch vergessen und verharmlost wird,
wenn man ihn ästhetisiert; Müll wird zu dem - wieder in Anlehnung an
einen Kantischen Satz -, was ohne Begriff mißfällt. In der Kunst hatte
das seine Protagonisten im Punk und Trash der Musik und Literatur, im
Bereich des Films wären die Splattermovies zu nennen. Es wurde daraus
eine regelrechte Kunst des Mülls, samt einer dazugehörigen Urteilskraft
der Geschmacklosigkeit. Filme wie „Soilent Green“ oder „Blade Runner“ gewöhnen uns heute schon an eine Zukunft, in der die Menschheit
in ihrem eigenen Müll erstickt ist; hinzu kommt eine Unzahl von Science
16
W. Benjamin, Das Passagen-Werk, a.a.O., S.575.
Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders., Prismen, Frankfurt/Main 1987, S.258.
17
Behrens
Fiction Filmen im Stile von Star Trek, die schon mit einer Erlösungszeit
nach dem Zeitalter des Mülls operieren18. Aber diese Antiästhetik des
Mülls braucht gar keine Science Fiction: jüngst ist in den USA eine Welle
der Geschmacklosigkeit, eine Verherrlichung der Barbarei und des Mülls,
zu verzeichnen, die selbst schon wieder eine ganze Industrie von Comicfiguren und Fernsehshows hervorgebracht hat. Die hierbei inszenierte
Antiästhetik des Mülls operiert mit unserem anästhetischen Verständnis
vom Müll: im Kinofilm ist er nicht riechbar, der Gift- und radioaktive
Müll ist sinnlich nicht faßbar, unseren Hausmüll bringen wir in Tonnen
und Schächten aus der Wahrnehmbarkeit, und selbst auf dem Computerbildschirm werden Daten symbolisch in einer Mülltonne zum Verschwinden gebracht. Kommt es da noch von ungefähr, wenn auch die
philosophische Ästhetik den Menschen langsam auf eine Anästhetik
vorbereitet?19
Günther Anders hat im Zusammenhang mit der atomaren Drohung vor
einer „Solennifizierung“, also einer „Verfeierlichung durch Ästhetisierung“ gewarnt, die es sich leistet, „die Wahrheit in ihrer ganzen Furchtbarkeit auszusagen. Das kann sie sich deshalb leisten, weil sie das
Furchtbare in die Sprache des Ästhetischen übersetzt, das heißt: weil sie
das Horrende als etwas durch seine Größe ... Erhabenes darstellt... Die
Darstellungen des Höllensturzes passen ins Barock, nicht in unser Zeitalter, und die (massenhaft existierenden) Darstellungen der Katastrophe
gehören nicht an die Wand gehängt, als Ausschmückung unserer Wohnungen...“20
Diese Solennifizierung droht auch dem Problem des Mülls: wo die Begriffe der Schönheit nicht mehr hinreichen, soll der Müll wenigstens seine
Erhabenheit erhalten, der Müll wird schließlich sogar vergöttert, zur
negativen Religion des Industriekapitalismus. Schließlich hat der Müll ja
durchaus etwas Göttliches, sagen wir im Sinne einer Spinozistischen
Substanz in Hinblick auf seine Unvergänglichkeit. Allegorisch ließen sich
die Müllberge schon als jene Berge deuten, auf denen der kommende
18
„Raumschiff Enterprise“ ist im 24.Jahrhundert situiert, gespickt mit Botschaften,
die immer wieder auf die Fehler unserer Zeit deuten und von einer großen Katastrophe zu Beginn des zweiten Jahrtausend reden. Diese Katastrophe wird als überwunden dargestellt, ohne das gesagt wird, wie das geschah.
19 vgl. Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik, in: ders., Ästhetisches Denken,
Stuttgart 1990, S.9ff.
20 G. Anders, Die atomare Drohung, München 1993, S.128.
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls
Moses seine Gesetzestafeln empfangen wird. Erstes Gebot: Du darfst
nicht wegwerfen. Um die Groteske zu verlängern: im Englischen hat
diese Vergötterung des Mülls schon auf jeder Pfandflasche ihren Begriff
gefunden, wenn dort das Wort „redemption-value“ in das Glas eingelassen ist: Erlösungs- oder gar Versöhnungswert des Mülls. Zu Recht hat
Adorno daraus schon das geschichtsphilosophische Telos abgeleitet:
„Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Autofriedhof stattfinden.“21
Eine Religion des Mülls braucht schließlich nicht nur das moralische
Gesetz in sich, sondern auch den bestirnten Himmel, in dem der neue
Gott zu wohnen hat. Günther Anders hat dem einen luziden Aphorismus gewidmet:
„Das industrielle Problem von morgen wird nicht lauten: 'Wie produzieren wir die von uns gewünschten Produkte?', sondern: 'Wie produzieren
wir Installationen, mit deren Hilfe wir die unerwünschten Produktabfälle
loswerden?' Und es wäre denkbar, daß wir auf die Erzeugnisse gewisser
Produkte werden verzichten müssen, weil wir unfähig sein werden, deren
Abfälle zu bewältigen. Schon heute ist die Eliminierung des tödlichen
Atommülls (sofern diese als Eliminierung gelten darf) ebenso kostspielig
wie die Errichtung von Reaktoren, und schon morgen wird man überhaupt nicht mehr wissen, wohin damit. Das fehlt noch gerade - dieser
Vorschlag ist ja bereits in Betracht gezogen worden - daß wir den Dreck
ins All schießen: daß wir den Weltraum also deshalb erobert haben, um
ihn zur Jauchegrube für die Erde machen zu können. Eine nette Variante
der Säkularisierung des Himmels wäre das freilich.“22
Erst in dieser religiösen Sicht auf den Müll läßt sich eine Ästhetik des
Mülls jenseits von Schönheit und Erhabenheit entfalten: indem sie nahtlos sowohl von den alten Religionen und dem dazugehörigen Abfall
zehrt. Die Brücke, die jetzt geschlagen wird, mag etwas konstruiert klingen; aber sind denn nicht die berühmtesten Ruinen die von Kirchen und
Klöstern, also religiösen Bauten gewesen - man denke etwa an Caspar
David Friedrichs Bilder? Gleichzeitig ist es auch kein neues Bild, von der
Industriereligion zu sprechen und dabei die Fabriken mit ihren kirchturmartigen Schornsteinen zu den neuen Gotteshäusern zu allegorisieren.
Warum also nicht eine stillgelegte Fabrik, oder ein zerstörtes Atomkraft-
21
22
Th.W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, a.a.O., S.282.
G. Anders, Philosophische Stenogramme, München 1993, S.93f.
Behrens
werk zur Ruine erheben? Bilder dieser Art finden sich in den - von viel
Religiösität durchsetzten - Filmen Andrej Tarkowskijs23.
Diese Ästhetik ist aber nicht das, was Hartmut Böhme sich gerne
wünscht: „radikale Herausforderungen an das kulturelle Selbstverständnis der Industriegesellschaften und deren Verhältnis zur 'Irrationalität'
und vor allem zur Natur“24. Hier gleichsam eine ästhetische Kraft im
Sinne einer Herausforderung ausmachen zu wollen, wäre das, was Anders mit Solennifizierung oder auch Auratisierung25 meint. Herausfordern läßt sich die kapitalistische Müllproduktion aber nicht durch eine
Wahrnehmbarmachung durch die Kunst, sondern nur indem die Kunst
als unmißverständliche ästhetische Anklage fungiert, die schließlich eine
praktische Herausforderung provoziert. Statt einer Ästhetisierung des
Mülls bedarf es also einer Vermüllung der Ästhetik; darauf mag auch
Adornos Satz aus der Negativen Dialektik gezielt haben: „Alle Kultur
nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“26
23
vgl. Hartmut Böhme, Ruinen - Landschaften. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Allegorie in den späten Filmen von Andrej Tarkowskij, in: ders., Natur und
Subjekt, Frankfurt/Main 1988, S.334ff.
24 ebd., S.335.
25 vgl. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.2, München 1988, S.44f.
26 Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1982, S.359
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 31-50
Autor: Alexander von Pechmann
Artikel
Alexander
Pechmann
von
Der Begriff des „Mülls“.
Versuch der systematischen Bestimmung
und historischen Einordnung des Müllproblems der Gegenwart
„Müll“ bezeichnet, was schlecht wegkommt. Den einen ist er der unappetitliche Inhalt überquellender Mülltonnen, der unlieb an den Konsum
vergangener Tage erinnert; den anderen entlarven die wuchernden Müllhalden den Menschen als den gefährlichsten Feind der Natur. Während
jene der Müllabfuhr erwartungsfroh entgegensehen, stemmen diese sich
ihrer Ankunft erbittert entgegen. Für die Freunde kultureller Freuden wie
für die Liebhaber intakter Umwelten bezeichnet „Müll“ nichts als ein
Ärgernis. Der Müll-Platz scheint sich ortlos zwischen allen Örtern, immer am falschen, zu befinden. Er soll weg, und immer ist er da. Weil er
keinen Ort hat, heißt er „Ab-Ort“; weil er der Fall ist, der kein Fall ist,
nennt man ihn „Ab-Fall“.
Aber das Nichtige und Ausgeschlossene strahlt seine eigene Faszination
aus. Es schließt das Ausschließende auf: die Schrottplätze bieten Künstlern eine unerschöpfliche Quelle der Anregung, Archäologen entschlüsseln die verborgenen Informationsgehalte alter Müllgruben, und Agenten
entlocken den Mülltonnen auch die intimsten Geheimnisse. Also muß
„Müll“ doch etwas bezeichnen, ein „dazwischen“ zwischen säuberlich
Getrenntem: den lustvollen Erscheinungen der Zivilisation und dem
schönen Schein der Natur.
Das gleiche Schicksal erleidet der Müll als Gegenstand der Wissenschaften. Den Naturwissenschaftlern ist er zu unrein und chaotisch, seine
Zum Begriff des Mülls
Verbindungen nicht analysier- und seine Abläufe nicht modellierbar. Für
Ökonomen ist er das schlechthin Nutzlose: unproduktive Kosten, und
den Juristen eine Sache, dessen Besitz der Besitzer flieht1. Dem Arzt ist
„Müll“ die Quelle von Krankheiten, Giftküche und Infektionsherd in
einem, und den Ethikern das Abbild des Schlechten, das nicht sein soll
und doch immer da ist. Der Müll scheint in keiner Wissenschaft Heimat
zu haben; er geistert auch hier ortlos umher - und ist doch keine Utopie.
Im folgenden möchte ich mich dem „Phänomen Müll“ nähern. Dem
Versuch der Definition folgt eine Skizze der Müllproduktion und beseitigung in unterschiedlichen Produktionsweisen, um das „Müllproblem“ der Gegenwart historisch zu bestimmen zu können.
A) Müll als Exkrement des menschlichen Reproduktionssystems
Unter „Müll“ verstehe ich im folgenden allgemein die Exkremente der
menschlichen Reproduktion. Diese Definition faßt die Wortbedeutung
in einem weiten Sinn. Was unter gewissen Gesichtspunkten in „Abfall“,
„Abgase“, „Abprodukte“, „Abwasser“, „Abwärme“, „Kot“, „Schrott“,
o.ä. unterschieden wird, wird hier unter der Definition „Exkremente der
menschlichen Reproduktion“ zusammengefaßt.
a) Unter dem „menschlichen Reproduktionssystem“ soll der Prozeß von
Produktion und Konsumtion verstanden werden, durch den der Mensch
(Individuum wie Gattung) sich reproduziert und sich dadurch erhält.
b) „Exkremente“ sollen Dinge bezeichnen, die das System der menschlichen Reproduktion ausscheidet. Daß Dinge als Exkremente ausgeschieden werden, bedeutet, daß sie eine Funktion, die sie in diesem System
hatten, verloren haben; aufgrund ihres Funktionsverlusts werden sie als
funktionslos ausgeschieden und damit der Umwelt des Systems, der
Natur, zugeführt.
c) Alle Dinge, die Funktionen für die menschliche Reproduktion haben,
werden aus dem System wieder ausgeschieden; d.h. sie verlieren ihre
Funktion als Funktionsträger und werden daher zu Müll. Sie variieren
gemäß ihrer Beschaffenheit und Funktionalität nur hinsichtlich der Dauer, in der sie im menschlichen Reproduktionssystem verbleiben.
1
Das Abfallgesetz von 1986 definiert in §1: „Abfälle ... sind bewegliche Sachen,
deren sich der Besitzer entledigen will oder deren geordnete Entsorgung zur Wahrung des Wohls der Allgemeinheit, insbesondere des Schutzes der Umwelt, geboten
ist.“
Pechmann
d) Der Prozeß, den die Dinge als Funktionsträger im menschlichen Reproduktionssystem durchlaufen, besitzt eine gerichtet-lineare Struktur.
Da sie während der und durch die Funktionsausübung ihre Funktion
verlieren, werden sie als Müll ausgeschieden und müssen durch neue
Funktionsträger ersetzt werden. Das System der menschlichen Reproduktion ist daher offen und erhält sich nur, indem Dinge a) von außen
aus der Natur als Funktionsträger aufgenommen werden, b) im System
ihre Reproduktionsfunktion erfüllen und 3) am Ende als funktionslos aus
dem System in die Natur ausgeschieden werden.
Müll als Exkrement der menschlichen Reproduktion weist dieser also die
Systemeigenschaft der Offenheit und dem Funktionsablauf die Eigenschaft der gerichteten Linearität zu2.
1. Doppelcharakter der Arbeit: Gebrauchswertproduktion und
Müllerzeugung
Betrachten wir auf der Grundlage dieser Definition zunächst die Art der
Erzeugung des Mülls. - Im Unterschied zu anderen Reproduktionsweisen ist die menschliche zweckgerichtet: der Mensch reproduziert sich
nicht, indem er vorhandene Dinge als Lebensmittel findet und verzehrt,
sondern indem er sie seinen Bedürfnissen gemäß produziert und konsumiert. Er gestaltet durch seine zweckgerichtete Tätigkeit die vorgefundenen Dinge zu Gebrauchswerten um und befriedigt durch deren Konsumtion seine Bedürfnisse. Diese Intentionalität richtet den
Funktionsablauf zu einem unumkehrbar-linearen Prozeß, der mit der
Konsumtion der Produkte endet; sie zeichnet das menschliche
Reproduktionssystem aus.
Diese Art zweckgerichteter Tätigkeit kann nicht stattfinden, ohne in das
vorhandene Natursystem einzugreifen und es zu zerstören3. Um die
vorgefundenen Dinge in funktionale Gebrauchswerte zu verwandeln,
muß der Mensch unter Aufwendung von Energie in das Natursystem
2 Zwar spricht man ökonomisch vom Zirkulationsprozeß der Waren; aber sie zirkulieren nicht. Sie werden produziert, verbraucht und danach ausgeschieden. Ihr Prozeß ist ein linearer und gerichteter Funktionsablauf.
3 In Bezug auf die sozio-kulturelle Evolution bemerkt Niklas Luhmann, daß die
Gesellschaft nicht auf diese Zerstörung „reagieren muß und daß sie uns anders gar
nicht dorthin gebracht hätte, wo wir uns befinden. Die Landwirtschaft beginnt mit
der Vernichtung von allem, was vorher da wuchs.“ (N. Luhmann, Ökologische
Kommunikation, Opladen 1988, S.42.)
Zum Begriff des Mülls
eingreifen und die nützlichen Eigenschaften des vorhandenen Rohmaterials von den nutzlosen trennen und isolieren. Durch diesen selektiven
Eingriff entstehen einerseits nützliche Gebrauchswerte, die als Funktionsträger im System der menschlichen Reproduktion fungieren, andererseits nutzloser Müll, der aus dem System ausgeschieden wird4. Dieser
Vorgang der Verwandlung des gegebenen Rohmaterials in einen
Gebrauchswert wiederholt sich im Produktionsverlauf, bis er im Endverbrauch seine Gebrauchsfunktion verloren hat und schließlich als Müll
aus dem Reproduktionssystem ausgeschieden wird5.
Aufgrund der Offenheit des menschlichen Reproduktionssystems, das
die Funktionsträger seiner Umwelt, der Natur, entnimmt, sind die
zweckgerichtete Produktion und Konsumtion von Gebrauchswerten
sowie die Erzeugung von Müll als Exkrementen der Produktion und
4
Volker Grassmuck und Christian Unverzagt kritisieren, daß „der Endzustand eines
Produkts nach der Phase seiner Verwendung ... in den gängigen ökonomischen,
technischen, philosophischen Diskursen nicht vor(kommt). Nur als Verschwundenes, Vergessenes, als Negativ.“ (V. Grassmuck, Chr. Unverzagt, Das Müll-System,
Frankfurt/Main 1991, S.67.)
5 Diesen Vorgang des Gebrauchswertsverlusts bringt Elmar Altvater mit dem „Entropie“-Begriff in Verbindung: „Ein Auto oder ein Computer sind jeweils ein hochorganisiertes, geordnetes Ensemble von Stoffen. Viel Intelligenz, Energie und Material
waren notwendig, um das auf die Befriedigung eines Bedürfnisses intelligent angeordnete Ensemble von Materialien herzustellen. Dabei ist in der Umwelt von Auto
und Computer die Entropie gestiegen. In der Anordnung als Auto oder Computer
haben die Stoffe niedrige Entropie als vorher, eben weil dazu Energiezufuhr notwendig war, die der Umwelt irgendwo, irgendwie entnommen worden ist... Die
Entropie der Umwelt ist bei der Produktion des jeweiligen Gebrauchswerts (Auto
bzw. Computer), bei der komplexen Anordnung von Material, gestiegen und sie
steigt beim Gebrauch durch Abnutzung (Material) und Energieverbrauch, bis
schließlich nur noch Müll zurückbleibt: als Abfall in der Lithosphäre, als Abluft in
der Atmosphäre, als Abwasser in der Hydrosphäre.“ (E. Altvater, Die Zukunft des
Marktes, Münster 1991, SS.253f.)
Mir scheint diese Analogie zwei verschiedene Ebenen zu verbinden. Ob ein Gegenstand Gebrauchswert oder Müll ist, hängt davon ab, ob und wie er menschliche Bedürfnisse befriedigt, aber nicht von der „Intelligenz seiner Anordnung“. Der zweite
Satz der Thermodynamik gibt eine Antwort auf die Frage, ob sich kinetische Energie
in potentielle Energie restlos rückverwandeln läßt. Er gibt jedoch keine Antwort
darauf, ob der entropieerzeugende Aufwand zur Herstellung und zum Gebrauch von
Produkten entropieärmere Strukturen schafft. Was dem Menschen als ein System
von hoher Ordnung erscheint, muß es keineswegs im Sinne der Thermodynamik
sein. „Müll“ und „Entropiezunahme“ haben verschiedene Bezugssysteme.
Pechmann
Konsumtion die zwei Seiten ein und derselben Art der menschlichen
Reproduktion. Das eine geschieht nicht ohne das andere. Dem intendierten Produkt als Gebrauchswert im System entspricht das nichtintendierte
Produkt, das als Müll ausgeschieden wird6. Zweckverwirklichung und
Müllerzeugung sind daher untrennbare Bestandteile des menschlichen
Reproduktionsprozesses7.
2. Müllbeseitigung als „Naturgabe“
Wenden wir uns der anderen Seite des Mülls, seiner Beseitigung, zu. Da
der Müll durch den Ausschluß aus dem menschlichen Reproduktionssystem als natürliches Ding in den irdischen Stoffwechselaustausch eingeht,
vollzieht sich seine Beseitigung als ein natürlicher, nichtintendierter Vorgang. Durch diesen werden die anthropogenen Strukturen mechanisch,
chemisch und biotisch abgebaut und die Bestandteile gehen wieder in
6 Diesen Doppelaspekt der Arbeit hat Robert Spaemann auf die menschlichen Handlungen überhaupt erweitert: „Es liegt im Wesen menschlicher Handlungen, daß sie
Nebenwirkungen hervorbringen. Dieser Satz ist die Kehrseite des anderen, daß
Handeln auf Zwecke gerichtet ist.. Nur durch solche Selektion (zwischen Zweck und
Nebenfolge) wird Handeln überhaupt möglich, und nur durch sie wird es von 'blinden' Naturereignissen unterscheidbar.“ (R. Spaemann, Technische Eingriffe in die
Natur als Problem der politischen Ethik, in: D. Birnbacher (Hg), Ökologie und
Ethik, Stuttgart 1980, S180f.) - Mir erscheint es dem Wesen menschlicher Handlungen angemessener zu sein, von der Müllerzeugung als einem notwendigen Element
der Arbeit auszugehen, statt sie als eine vermeidbare Folge zu betrachten. Denn diese
Auffassung impliziert, der Mensch könne sich zweckgerichtet die Natur aneignen,
ohne Müll zu erzeugen. Demgegenüber ließe sich der Mensch geradezu als das
Wesen definieren, das Müll erzeugt. Die Tiere erzeugen keinen Müll, weil sie in der
Natur keine Zwecke verfolgen; die Götter und Engel nicht, weil, wie man hört, sie
ihre Zwecke ohne Arbeit verwirklichen können und sich selbst genug sind.
7 Marx' Kritik der politischen Ökonomie hat den Müll-Aspekt der Arbeit außer Acht
gelassen. Daß die Arbeitsprodukte nicht nur Bedürfnisse befriedigen, sondern letztlich in der Mülltonne landen, diese ungewollte Seite der Reproduktion ist ausgeblendet. Im „Kapital“ beschreibt Marx die Arbeit als Tätigkeit des Menschen, die „durch
das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes bewirkt. Das Produkt der Arbeit sei ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff, indem die Arbeit sich
mit ihrem Gegenstand verbunden habe... Im gelungenen Produkt (sei) die Vermittlung seiner Gebrauchseigenschaften durch vergangene Arbeit ausgelöscht.“ (195ff).
Diese Charakterisierung der Arbeit stimmt allerdings nur unter der Bedingung, daß
die Theorie von dem nutzlosen Müll, den die Arbeit notwendig erzeugt, abstrahiert.
Zum Begriff des Mülls
den allgemeinen Stoffwechselzyklus des Erdsystems8 ein. Der Müll wird
dadurch in einen Teil des Natursystems rückverwandelt, der erneut als
Rohstoff ins menschliche Reproduktionssystem aufgenommen werden
kann.
In Bezug auf das menschliche Reproduktionssystem läßt sich diese Art
der Müllbeseitigung als „Gabe der Natur“ bezeichnen, die das System in
Anspruch nimmt. „Die Natur“ bzw. der irdische Stoffwechselprozeß
übernimmt kostenlos und ohne menschliche Intentionalität die effektive
Auflösung der Exkremente der menschlichen Reproduktion. Die funktionslosen Ausscheidungen des Systems verschwinden nicht in fernen
Örtern oder im Allgemeinen, sondern werden in natürliche Rohstoffe
rückverwandelt. Die Natur läßt hinterrücks die anthropogenen Strukturen verschwinden und präsentiert vorne wieder den schönen Schein
unbefleckter Natur9. Ohne die Selbstverständlichkeit dieser Gratisgabe
8
Dieser irdische Stoffwechselzyklus besteht aus zwei ineinander verzahnten Kreisläufen, dem anorganischen und dem organischen. Der anorganische Kreislauf verbindet die drei Elemente Erde, Wasser und Luft und gestaltet die Litho-, Hydro- und
Atmosphäre laufend um. Die stofflichen „Medien“ dieses Umschlagsprozesses sind,
wie wir heute annehmen, Kohlen-, Wasser- und Stickstoff sowie andere Elemente
und ihre Verbindungen. Der organische Kreislauf besteht im fortwährenden Aufund Abbau organischer Stoffe. Während die Pflanzen die anorganischen Stoffe in
organische umbilden (Produzenten), zersetzt die Welt der Mikroorganismen (Destruenten) diese wieder in ihre anorganischen Bestandteile. Die Tiere und Menschen
nehmen an diesem Kreislauf (als Konsumenten) teil, indem sie die organischen
Stoffe in arteigene Stoffe umwandeln und ausscheiden.
Der irdische Zyklus wird durch die Energiezufuhr der Sonne inganggehalten. Dabei
entfallen von der jährlichen Sonnenenergie (5020 kcal/a) auf den 'kleinen' organischen Kreislauf nur ca. 0,2%; den Rest absorbiert der anorganische Kreislauf. Die
Biomasse (Land und Meer) beträgt ca. 2412t. Auf die Biomasse der Pflanzen entfallen ca. 98% der organischen Substanz, nur 2% auf die Tiere und Mikroorganismen. Gegenwärtig werden ca. 10% der Biomasse jährlich neu erzeugt, sodaß der BioZyklus ca. 100 Jahre beträgt. Der Aufbau der Biomasse durch die Photosynthese der
Pflanzen und ihr Abbau durch die Verbrennung der Mikroorganismen hält sich im
Gleichgewicht. Aus der Zeit geringerer Intensität der Abbauprozesse im Karbon und
Tertiär stammen Kohle und Erdöl als Ablagerungen der organischen Stoffe. (Quelle:
A. Bauer/H. Paucke, Natur- und Produktionskreisläufe, in: DZfPh 8/1980, S.905ff).
9 Der für diese Umwandlung geprägte Ausdruck der „Selbstreinigungskraft der Natur“ vermittelt das anthropomorphe und zugleich misanthrope Bild, die Natur wasche sich vom anthropogenen Unrat rein. Die Natur vollzieht jedoch keine rituellen
Handlungen. Passender erscheint mir der Ausdruck der „Regenerationsfähigkeit der
Natur“, der sich auf die Kreisläufigkeit und die Wiedereingliederung der anthropogenen Stoffe in den natürlichen Stoffwechsel bezieht.
Pechmann
der Müllbeseitigung ist es kaum denkbar, daß das menschliche Reproduktionssystem sich dauerhaft hätte erhalten können10.
3. Der Müll als „konkrete Einheit“ von Mensch und Natur
Fassen wir beide Seiten, die Müllerzeugung durch das menschliche Reproduktionssystem und die Müllbeseitigung durch den irdischen Stoffwechselzyklus, als Vorgänge eines übergeordneten Gesamtsystems auf,
so ist das beide übergreifende Ganze und beide Systeme Vermittelnde
der naturgesetzliche Energie- und Stofffluß. Der Aufbau von anthropogenen Strukturen, die der Mensch durch die Produktion und die Konsumtion bewirkt, sowie der Abbau dieser Strukturen durch den irdischen
Stoffwechselzyklus unterliegen beide denselben Naturgesetzen, nach
denen sich materielle Veränderungen vollziehen. Weder der intentionallineare Prozeßablauf im menschlichen Reproduktionssystem noch der
zyklische Ablauf des Erdsystems widersprechen den allgemeinen Naturgesetzen11. Sie sind das gemeinsame Dritte, das die Prozeßabläufe beider
Systeme vergleichbar macht.
Der Müll als Exkrement der menschlichen Reproduktion bildet die besondere Art der Vermittlung beider Systeme. In ihm ist die Einheit von
Mensch und Natur konkret: zum einen ist er als ausgeschiedenes Exkrement das funktionslose Resultat der zweckgerichteten Prozesse menschlicher Produktion und Konsumtion; zum anderen ist er Bestandteil des
irdischen Stoffwechselzyklus. Der Müll stellt die Nahtstelle zwischen der
Linearität des Prozeßablaufs im menschlichen Reproduktionssystem und
10
siehe Anmerkung 3.
In Bezug auf das Verfahren der menschlichen Produktion schreibt Marx: „Der
Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d.h. nur die
Formen der Stoffe ändern.“ Er zitiert den italienischen Ökonomen Pietro Verri:
„Alle Erscheinungen des Weltalls, seien sie hervorgerufen von der Hand des Menschen oder durch die Gesetze der Physik, sind nicht tatsächliche Neuschöpfungen,
sondern lediglich eine Umformung des Stoffes. Zusammensetzen und Trennen sind
die einzigen Elemente, die der menschliche Geist immer wieder bei der Analyse der
Vorstellung der Reproduktion findet“ (MEW 23, 57f.).
Wird jedoch in ökologischen Systemtheorien von der besonderen Art, mit der der
Mensch verbindet und trennt, abstrahiert und natürliche und menschliche Prozesse
nur als Energie- und Stoffflüsse gefaßt, werden, wie Engelbert Schramm kritisiert,
„gesellschaftliche Sachverhalte physikalistisch verkürzt.“ (E. Schramm, Die Rolle der
theoretischen Ökologie bei der Erforschung der sozial konstituierten Natur, in:
Dialektik 9, Köln 1984, S.141.)
11
Zum Begriff des Mülls
der Zyklizität der irdischer Prozeßabläufe dar, er bildet den neuralgischen
Umschlagplatz zwischen den beiden Systemen12. Würden wir unterschiedslos die menschliche Tätigkeit bloß als Teil des natürlichen Stoffwechsels auffassen, so wäre „Müll“ kein Thema; faßten wir umgekehrt
alles bloß als Funktion menschlicher Reproduktion, als Gegenstand der
Nützlichkeit, auf, so wäre ebenfalls „Müll“ kein Thema. „Müll“ wird nur
zum sinnvollen Begriff, wenn er weder als das eine noch als das andere,
sondern als beides in einem gefaßt wird. Als Produkt menschlicher Tätigkeit gehört er einerseits dem menschlichen Reproduktionssystem an,
ohne ihm, als ausgeschlossenes Exkrement, anzugehören; als ausgeschlossenes Exkrement gehört er dem irdischen Stoffwechselzyklus an,
ohne ihm, als Produkt menschlicher Tätigkeit, anzugehören. Der Müll
stellt als widersprüchliche Einheit zwischen Mensch und Natur die
Grenze dar, die beide Systeme voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet13.
Schließen wir den Versuch der Begriffsbestimmung mit dem Hinweis ab,
daß diese „dialektische Einheit“ des Mülls das bisherige Ordnungssystem
der Wissenschaften sprengt. Er hat weder in den Humanwissenschaften
Platz, deren Gegenstand die kulturellen Leistungen sind, in denen der
Mensch sich als Urheber und Zweck erkennt, da er gerade die Privation
dieser Leistungen darstellt. Noch hat er in den Naturwissenschaften
seinen Ort, da er anthropogene Strukturen besitzt und nicht die Natur
als solche vorstellt. Er unterläuft das System der Wissenschaften. - Wenn
12
Volker Grassmuck und Christian Unverzagt beschreiben die Müll-Beseitigung
salopp-treffend: „Seitenwechsel im Schlagabtausch zwischen Mensch und Natur“
(Das Müll-System, a.a.O., S.310). - Die Art, in der das Endglied des linearen Prozeßablaufs der menschlichen Produktionsweise in den natürlichen Zyklus umschlägt,
hängt von der Menge und der Beschaffenheit der anthropogenen Stoffe ab. Sie läßt
sich als „ungeregelt, offen bis chaotisch“ beschreiben (A. Bauer/H. Paucke, Naturund Produktionskreisläufe, a.a.O., S.911). - Die junge Chaos-Forschung hält sich
derzeit noch mit netten Spielchen auf, statt sich an Modellierungen der chaotischen
Abläufe zu versuchen, die auf den Müllplätzen beim Aufeinandertreffen fremder
Stoffe stattfinden.
13 Der „Müll“, läßt sich sagen, bildet die reale „Naturalisierung des Menschen“ und
„Humanisierung der Natur“. Er stellt die zwangsläufige Natürlichkeit der menschlichen Produktionen vor, und er zeigt den Umfang und die Art der Verwandlung der
Natur durch den Menschen. Was von Marx als eine positive Menschheitsutopie
gefaßt wurde, ist heute eher als eine Schreckensvision vorstellbar (s. dazu E. Altvater,
Die Zukunft des Marktes, a.a.O., S.247ff.).
Pechmann
der Müll zum gesellschaftlichen Problem und damit zum Wissenschaftsthema wird, kann dies darauf hindeuten, daß mit ihm das bisherige Wissenschaftssystem selbst zum Problem wird14.
B) Geschichtliche Arten der Müllerzeugung
Im folgenden gehe ich davon aus, daß die Erzeugung von Müll ein zwar
nichtintendierter, aber notwendiger Bestandteil der menschlichen Reproduktion ist15, daß aber die Art der Müllerzeugung und der Grad seiner Beseitigung durch die Natur davon abhängt, wie die Gesellschaften
sich reproduzieren. Diesen Arten der Müllerzeugung möchte ich anhand
von vier historischen Produktionsweisen nachgehen: dem Jagen und
Sammeln, dem Ackerbau und der Viehzucht, dem Gewerbe sowie der
Industrie.
1. Jäger- und Sammlergesellschaften
Ca. 98% der Menschheitsgeschichte war der Müll weder in quantitativer
noch in qualitativer Hinsicht ein gesellschaftliches Problem. Die menschliche Reproduktion vollzog sich durch die Konsumtion gesammelter
Pflanzen und gejagter Tiere. Die Natur war hier „das Vorrathshaus,
worin der Mensch ... fertige Naturproducte zum Consum vorfindet“16;
das Nahrungsangebot beschränkte die Bevölkerungszahl und -dichte.
Die Herstellung von Arbeitsgeräten war auf die Bearbeitung von Steinen
und Lehm, von Pflanzen- und Tiermaterial beschränkt; diese Geräte
kehrten nach ihrem Verbrauch als Müll in den allgemeinen Stoffwechselprozeß zurück.
Dieser auf die Jagd konzentrierten Tätigkeit entsprach offenbar auch die
rituelle Praxis. Wenn wir die überlieferten Tierdarstellungen nicht nur als
magische Jagdrituale, sondern auch als Kultbilder deuten, so können wir
daraus schließen, daß für die Jäger durch das Töten und den Verzehr des
„heiligen Tieres“ ein Legitimationsdruck entstand. So gesehen, wäre die
Rückführung der Exkremente der Produktion und Konsumtion in den
14
vgl. dazu Egon Becker, Peter Wehling, Risiko Wissenschaft. Ökologische Perspektiven in Wissenschaft und Hochschule, Frankfurt/Main 1993.
15 In seiner Darstellung der Müll- und Abfalltechnik (Düsseldorf 1985) läßt H.-H.
Habeck-Tropfke das „Zeitalter des Mülls“ mit der Entstehung des Menschen beginnen.
16 Marx, MEGA II.31.1., S.58
Zum Begriff des Mülls
Naturkreislauf als Opfer, als Wiedergutmachung eines entstandenen
Schadens, interpretiert worden.17
2. Die Agrargesellschaften und die antike Metropole
a) Die Art der Produktion und Konsumtion änderte sich mit der sog.
„neolithischen Revolution“. Ackerbau und Viehzucht bestimmten das
System menschlicher Reproduktion bis zur Industrialisierung. Die Bearbeitung des Bodens, der zielgerichtete Anbau von Pflanzen und die
Tierhaltung erhöhten die Arbeitsproduktivität, vermehrten das Nahrungsangebot und damit die Zahl der Menschen. Neben die Pflanzenund Tierzüchtung sowie die Erfindung neuer Arbeitsgeräte trat die bewußte Rückführung der Exkremente und damit die Wiederverwendung
des Mülls als ein wesentliches Element der Reproduktion. Das der Natur
entzogene Material wurde nach seiner Verarbeitung und seinem Verzehr
zurückgeführt und zur erneuten Bedingung der Produktion. Diese Art
der agrarischen Kreislaufwirtschaft war in ihrem Ablauf und in ihrer
Dynamik vom irdischen Jahreszeitenzyklus abhängig und in diesen integriert.
Auch in den Agrargesellschaften stand offenbar das Opferritual im Zentrum. Die Nutzung der Naturressourcen wurde als ein Akt der Naturzerstörung interpretiert, der nur durch ein oft kompliziertes System der
Rückführung der entnommenen Güter als Opfergaben gerechtfertigt und
kompensiert werden konnte. Wir können daraus schließen, daß auch
hier der Ausschluß der Exkremente aus dem menschlichen Reproduktionssystem zugleich als Rückgabe an die als göttlich verehrte Natur interpretiert wurde18.
17
Dieser Deutung entsprechen diverse Funde von Bärenknochen, die in Gestalt des
Bärenskeletts angeordnet waren. Diese Anordnungspraxis läßt den Schluß zu, daß
man glaubte, das Tier werde 'reinkarniert', d.h. in seinem Fleische wiederauferstehen.
(s. H.. Döbler, Vom Wildbeutertum zum frühen Ackerbau, in: Panorama der Weltgeschichte, Bd.2, Gütersloh 1987, S.54.)
18 In seiner Arbeit über das Umweltverhalten im Altertum beschreibt Karl-Wilhelm
Weeber zusammenfassend das archaische Umweltbewußtsein: „Schon der Pflug, der
sich in den Boden eingrub, riß die Erde auf und verwundete sie damit gleichsam eine 'Versündigung' an der Unversehrtheit der Mutter Erde, die man durch mancherlei Opfer und Rituale zu kompensieren bemüht war“ (K.-W. Weeber, Smog über
Attika, Zürich 1990, S. 71). - Zu den Methoden der ökologischen Selbstregulierung
in archaischen Gesellschaften: vgl. N. Luhmann, Ökologische Kommunikation,
a.a.O., S.68ff.
Pechmann
b) Auf der Grundlage der Agrarwirtschaft entstanden die antiken Metropolen, die sich das agrarische Mehrprodukt aneigneten und konsumierten, und die einen neuen Reproduktionszyklus ausbildeten. Die Städte
Babylon, Theben, Mohendscho-Daro, Athen oder Rom entwickelten
einen urbanen Reproduktionszyklus mit eigener Dynamik, der sich vom
natürlichen Kreislauf löste: die Metropolen setzten die Konsumtion des
agrarischen Mehrprodukts in die Produktion von „Herrschaft“ um. Es
entstand ein urbaner Komplex von neuen Bedürfnissen und Gütern: die
zentrale Verwaltung, Kontrolle und Planung des agrarischen Mehrprodukts brachte die Schrift, das Rechen- und Geldwesen sowie die Institutionen der Tribut- bzw. Steuerpflicht und mit ihnen eine Schicht von
Bürokraten hervor; die Nahrungsmittelnachfrage ließ zentral organisierte
Technologien der Bodenbewirtschaftung und des Transports, Flußregulierungssysteme und Verkehrswege entstehen sowie die Fronpflicht,
Sklaverei und den Handel; das Bedürfnis nach Sicherung und Erweiterung des Territoriums militärisches Wissen und das Heer; und schließlich
erzeugte das Legitimationsbedürfnis der Herrschaftszentren neue Arten
der religiös-kulturellen Repräsentation und mit ihnen die Klasse der
Priester und der Handwerker. Dieses urbane Reproduktionssystem war
in seiner Dynamik nicht mehr in natürliche Kreisläufe eingebunden,
sondern durch die interne Struktur der Erhaltung und Erweiterung politischer Macht bestimmt.
War das Dorf Zubehör des Bodens, so wurde nun der Boden Zubehör
der Stadt. Die Abfolge von Produktion und Konsumtion erhielt damit
eine lineare Struktur: die Städte eigneten sich das Agrarprodukt an und
konsumierten es zum Zweck der Herrschaft; die Exkremente der Konsumtion kehrten nicht mehr in die natürlichen Kreisläufe zurück, sondern blieben in der Stadt - und wurden zum Müllproblem. Je dynamischer die Zentren waren, desto mehr Produkte und Menschen brauchten
und verbrauchten sie, desto mehr Müll erzeugten sie. Die antike Zivilisation durchzieht daher nicht nur das Verlangen nach den agrarischen
Mehrprodukten der Zentren (und ihr ständige Eroberungsdrang) am
Beginn, sondern auch das ungelöste Müllproblem am Ende der Nahrungskette. Babylon, mit ca. 250 000 Einwohnern die erste Metropole,
wurde nicht nur auf der Exploitation des Landes, sondern buchstäblich
Zum Begriff des Mülls
auf der eigenen Scheiße erbaut19. Zwar entstanden hier neben Wasserzulaufsystemen auch Abwasserkanäle; aber die urbane Wachstumsdynamik
sprengte alle Regulierungsversuche. - Die Stadt Rom besaß seit dem 6
Jhrt.v.Chr. die cloaca maxima, die damit „das älteste heute noch in
Gebrauch befindliche Bauwerk ist“20. Da die umliegenden Felder und
der Tiber die anfallenden Müllmassen der Millionenstadt bald nicht mehr
aufnehmen konnten, wurden am Stadtrand in den Armenvierteln offene
Gruben bzw. tiefe Gewölbe zur „Endlagerung“ des Mülls angelegt, die
diese Aufgabe aber nie erfüllten. Schließlich untergrub der Aufwand, den
die Metropole zur Reproduktion ihrer Weltherrschaft betrieb, die Bedingungen ihrer Herrschaft. Das römische Imperium verwandelte Ackerbauern in Soldaten- und Sklavenheere, vernichtete den mediterranen
Waldbestand, plünderte die Bodenfruchtbarkeit und verwandelte die
Städte in „offene Kloaken“ (Lewis Mumford)21. Das Resultat des urbanen Reproduktionssystems war die Verwüstung des Herrschaftsgebiets.
Nach dem Kollaps des antiken Weltreiches trat wieder die einfache agrarische Kreislaufwirtschaft an dessen Stelle.
Betrachten wir die Formen, in denen in der Antike die Exkremente der
urbanen Reproduktion zum Thema wurden, so sind sie offensichtlich
weder unter dem religiösen Aspekt der Rückgabe an die Natur noch
unter dem ökonomischen Aspekt der Wiederverwendung interpretiert
worden. Der Dominanz der Stadt über das Land entsprach das „natürliche Recht“ des Stadtbürgers auf den Besitz des Bodens und der Sklaven
sowie auf die Aneignung des Landprodukts. Diese Kolonialisierung des
Landes wurde als zivilisatorische Leistung der Stadtkultur verstanden.
Das nichtintendierte Resultat dieser Aneignung, der Müll, hingegen wur19
„(Babylons) Bewohner (mußten) ihren Geruchssinn nur entsprechend urbanisieren, um nach der Devise 'Tritt sich fest' handeln zu können. Man baute die Türschwellen der Häuser einfach Generation für Generation ein Stückchen höher, während die alten in dem von den Bewohnern hinterlassenen Abfall und dem der folgenden Generationen verschwanden. So ging das alte Babylon permanent in einem
neuen unter - bis es sich schließlich doch unter die Erde gewachsen hatte.“ (V.
Grassmuck, Chr. Unverzagt, Das Müll-System, a.a.O., S.45)
20 ebd., S.44.
21 In diesen Kontext gehört die These von A. Kobart, den Untergang des römischen
Imperiums mit der Ermattung und dem Aussterben der Oberschicht durch ihre
Vergiftung mit Blei zu erklären. (s. K.-W. Weeber, Smog über Attika, S.171-190). Es
wäre dies ein eindruckvoller Fall, in dem die unbeabsichtigten Nebenfolgen zum
Kollaps des Reproduktionssystems führten.
Pechmann
de als „nutzlos“, „störend“ wahrgenommen und als ein bloß Negatives
verdrängt22. Es fehlten der antiken Stadtkultur offenbar die Kategorien,
um das wachsende Müllproblem und seine Ursachen angemessen beschreiben zu können. Zwar mehrten sich in der Spätantike die Stimmen,
die die Praxis der Verwüstung und Vermüllung der Natur nicht mehr
verdrängten, sondern aussprachen; aber ihre Kritik orientierte sich nur
an ästhetischen und ethischen Maßstäben. Horaz etwa bedauerte die
Verschandelung der Landschaft, Seneca und Plinius kritisierten den Verfall der Sitten und die „naturwidrige“ Lebensweise23. Die antike Stadtkultur war offenbar strukturell unfähig, auf die Kehrseite ihres eigenen
Herrschaftssystems zu reagieren, nämlich daß sie durch die Dynamik
ihres Reproduktionszyklus die Grundlagen ihrer Reproduktion, die Agrarwirtschaft, verwüstete und zerstörte und damit schließlich selbst kollabierte.
3. Die mittelalterliche Gewerbewirtschaft
Das Mittelalter hatte kein Müllproblem. Allenfalls ein ästhetisches. Der
städtische Abfall wurde in Gruben oder auf die Straße gekippt, wo sich
seiner die Rennsau, der „schizhusfeger“ oder der Abdecker annahm. Mit
der Zunahme des städtischen Gewerbes im Mittelalter entstanden qualitativ neue Abfallprobleme, die jedoch im Rahmen der kommunalen und
zünftigen Verwaltung gelöst wurden. Die städtischen Zünfte und Gilden
überwachten und kontrollierten die Beschaffung, Verwendung und Beseitigung chemischer Stoffe als Arbeitsmittel zur Metallverarbeitung,
Glas- oder Textilherstellung24. Die folgenreichsten Nebenwirkungen
22
Wolfgang Hermann ist dieser antiken Sichtweise anhand des Mythos der „Reinigung des Augiasstalls“ nachgegangen. Dort erscheint der Viehmist nicht mehr als
wiederverwertbarer Dünger, sondern als „Schmutz“, an dem der Stall zu ersticken
droht, und von dem er gereinigt werden muß. Heraklit löste das „Müllproblem“,
indem er den Stall vom Schmutz reinigte und das reine Wasser verschmutzte. „Die
Lösung des Herakles war jedoch eine Scheinlösung... Schmutz kann auf diese Weise
niemals beseitigt werden; er kann nur an einen anderen Ort gebracht werden... Es
gibt keine Orte, an denen Schmutz 'fort' wäre.“ (W.Herrmann, Mammon, Schmutz
und Sünde. Die Kehrseite des Lebens, Stuttgart 1991, S.66)
23 siehe K.-W.Weeber, Smog über Attika, a.a.O., S.63ff, 155ff.
24 Die Verwendung von Chemikalien war im Mittelalter weniger ein ökologisches, als
ein ideologisches Problem. Die „chemischen Handwerker“ (Köhler, Färber, Ärzte,
Schmiede etc.) wurden kirchlicherseits im Bund mit teuflischen Naturmächten gesehen. Diese Sichtweise erhöhte nur die Wachsamkeit, Kontrolle und den Zwang zur
zünftiger Organisation der Gewerbe.
Zum Begriff des Mülls
entstanden durch die Erzverhüttung und Metallverarbeitung (Gießerei),
deren Brennholzverwendung zum Abbau des Waldbestandes in Mitteleuropa führte. Im Ganzen jedoch waren sowohl die städtische als auch
die agrarische Produktion und Konsumtion durch die umfassende feudal-ständische Ordnung in einem Maße beschränkt, die deren Exkremente nicht zum Problem werden ließ25.
4. Die industrielle Produktion
Die Art, in der der Mensch sich in der Moderne reproduziert, ist nicht
mehr durch die Vorgänge der Aufnahme, der Veredelung und des Genusses naturgegebener Güter und Stoffe bestimmt, sondern durch die
technische Herstellung der Stoffe und Güter. An die Stelle der Produktivität der Natur und die Dynamik ihrer Kreisläufe tritt die Produktivität
der Arbeit und die Dynamik des industriellen Prozesses26. Die Landwirtschaft und das Gewerbe werden durch ein umfassendes technologisches
System ersetzt, das die Vorgänge der Produktion, des Transports und der
Konsumtion zu einem kommunizierenden Gesamtsystem, dem Weltmarkt, vernetzt. Nicht mehr die Natur, sondern die Technik bestimmt
die Masse und Dauer, die stoffliche Zusammensetzung und den Energieeinsatz der Produktion. Dieser Art der technisch-industriellen Produktion, die sich zeitlich und stofflich von den Naturschranken losgelöst hat,
entsprechen die Exkremente, die das moderne Reproduktionssystem
ausscheidet. Der Industriemüll wird quantitativ und qualitativ zum Problem, weil die Geschwindigkeit, die Masse und Art seiner Erzeugung mit
den natürlichen Abbaukapazitäten und seiner Wiedereingliederung in
den irdischen Stoffwechselzyklus konfligieren. Die Technogenität des
industriellen Mülls tritt in Gegensatz zur Reproduktionsweise der Natur.
25
Max Weber sieht in der zünftigen Organisation der mittelalterlichen Stadt den
entscheidenden Unterschied zur antiken Stadt, die auf „kriegerischen Erwerbsinteressen“ beruhte (M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, München 1923, S.284). Hier war
der Krieger Bürger, dort der Gewerbetreibende. Hier herrschte die Stadt über das
Land, dort war die Stadt neben dem Land.
26 In der Wirtschaftslehre drückt sich dieser Wechsel im Übergang von den Physiokraten zur Arbeitswertlehre aus. Für jene war die Landwirtschaft wertbildend, für
diese jede Art gebrauchswertbildender Arbeit. Diese Konzentration auf die
gebrauchswertbildende Arbeit verursacht, daß die Wirtschaftslehren bis heute nur auf
einen quantitativ geringen Teil der Produktion focussiert sind und die Müllerzeugung
schlicht ignorieren. (vgl. dazu den Beitrag von Joachim H. Spangenberg in diesem
Heft.)
Pechmann
a) der Wissenschaftscharakter der industriellen Produktion
Die Zweckmäßigkeit des Produktionsablaufs durch die Technik, die ihn
regelt und kontrolliert, ist nicht möglich ohne eine spezifische Art des
Wissens, das die Gesetzmäßigkeit der Produkteigenschaften und der
Wirkungen der Stoffe ideell repräsentiert. Dieses Wissen gründet nicht
auf Erfahrung (wenngleich diese weiterhin nützlich bleibt), sondern
beruht auf der Abstraktion von der Erfahrung und auf der experimentellen Analyse; es besteht in der allgemein-mathematischen Modellierung
von mechanischen, chemischen und organischen Prozessen27. Zwar setzt
die moderne Reproduktion immer an einem je gegebenen „Stand der
Technik“ an, aber sie verändert ihn fortwährend, indem sie neue wissenschaftsbasierte verallgemeinerbare Techniken zur Stoff- und Güterproduktion entwickelt. Der take-off der Produktion beginnt nicht wie früher
im Frühling, sondern mit einem neuen wissenschaftlichen Modell, das
die ideelle Grundlage der industriellen Produktionstechnik bildet; diese
ist „vergegenständlichte Wissenskraft“ (Marx). Damit setzt sich die Wissenschaft zum Ausgangpunkt der technisch-industriellen Produktion und
macht diese von jener abhängig28. Wissenschaftliche Innovationen lassen
27
Die erfahrungsfreie Qualität dieses Mensch-Natur-Verhältnisses veranschaulicht
Bacons „Haus Salomons“, das „Labor“ als Tempel der Moderne: hermetisch von
allen Störungen der Umwelt abgeschirmt, durch Sicherheitszonen, Alarmanlagen und
Sperrtüren abgetrennt, durch künstliches Licht erhellt, haben zu ihm und seinen
Gerätschaften Zutritt nur die Priester der Moderne, die Wissenschaftler. Unter der
Inschrift „verum est factum“ unterziehen sie dort nach festen und strengen Ritualen
Teile der Natur dem Verhör: mit den geheiligten Instrumenten der Wissenschaft
sezieren und traktieren, kombinieren und synthetisieren sie in der lautlosen Tempelstille; sie beobachten und berechnen; berechnen und beobachten. Von Zeit zu Zeit
wird der erwartungsvollen Öffentlichkeit dann das Ergebnis verkündet: „es wird
kommen das neue Zeitalter der Mechanik, der Chemie, der Elektrizität, der Atome,
der Chips und der Gene!“ Mit großem Staunen und voll Bewunderung vernimmt es
das Volk - und macht sich daran, die Prophezeiungen in die Tat umzusetzen.
28 Diese These von der Abhängigkeit der industriellen Produktion von der Wissenschaft soll anhand der „Dampfmaschine“ erläutert werden, mit der das „industrielle
Zeitalter“ beginnt. Karl Marx und Max Weber sehen beide die Dampfmaschine, die
sog. „philosophical machine“, am Anfang der Entwicklung; sie erst stelle die Bedingung für eine rationelle und berechenbare Produktion dar. Webers Ansatz verfehlt
jedoch den entscheidenden Gesichtspunkt. Er sieht in der Dampfmaschine die
technische Lösung des Bergbauproblems, wie Wasser mit Feuer sich heben läßt.
„Der Gedanke der modernen Dampfmaschine entspringt dem Stollenbau des Bergwerks.“ (M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, a.a.O., S.173, auch S.154f.) Für Marx
Zum Begriff des Mülls
die vorhandenen Verfahren und Produkte veralten, erzeugen neue Bedürfnisse und befriedigen diese zugleich durch ihre industrielle Anwendung29. Der jeweilige Stand der Wissenschaft bzw. der technologischen
Anwendung prägt daher die Qualität und die Quantität des industriellen
Mülls.
b) Der universelle Charakter
Das moderne Reproduktionssystem hat nicht mehr die Erhaltung der
Jägersippe, des Dorfes oder der Stadt als Zentrum, sondern ist prinzipiell
universell. Es reproduziert sich, indem es die naturgegebenen und traditionellen Schranken abbaut und sich erweitert. Im Prinzip sind alle Mendagegen steht die Dampfmaschine am Beginn der industriellen Produktion, weil sie
die zur Massenproduktion nötige Energie von den bisherigen natürlichen Schranken
befreit. Mit Watts Konstruktion sei der erste Motor gefunden worden, der seine
Bewegungskraft selbst erzeugt und ganz unter der menschlichen Kontrolle steht. Die
Dampfmaschine sei daher die „Mutter der Industriestädte“. Marx hebt nun hervor,
daß sich das „große Genie Watts“ darin zeige, daß dieser seine Konstruktion „nicht
als eine Erfindung zu besondren Zwecken, sondern als allgemeinen Agenten der
großen Industrie“ geschildert habe (MEW 23, S.298). Wie sein Landsmann Adam
Smith der Vater der modernen politischen Ökonomie wäre James Watt der Vater der
modernen Industrie.
Offen bleibt bei Marx jedoch die Frage, ob Watts Erfindung ein wissenschaftliches
Modell zugrundelag, sodaß ohne die allgemein-mathematische Modellierung des
Wärme-Kraft-Mechanismus, die Dampfmaschine nicht hätte gebaut werden können,
oder ob sie das Resultat eines konkreten Erfahrungswissens war (vgl. zu der Frage:
J.D. Bernal, Wissenschaft. Science in History, Bd. 2, Reinbek 1970, S.537ff). Watt
mag an dem Schnittpunkt stehen, wo die mathematische Naturwissenschaft und die
Ingenieurskunst zusammentrafen. Betrachten wir die weitere Entwicklung der sog.
„Primärtechnologien“, erst den Elektromotor, dann die Atomkraftwerke, so wären
diese ohne mathematische Modellierung in der Elektrodynamik und der Quantentheorie weder entstanden noch technologisch anwendbar und kontrollierbar.
29 Der Zyklus des modernen Reproduktionsprozeß ist daher weniger durch die
Abfolge von Kapitalakkumulation und -krise als durch die „Kondratjeffschen Wellen“ von wissenschaftlichen Basisinnovationen bestimmt, bzw. drücken Wachstumskrisen des Kapitals zunehmend den Mangel an Basisinnovationen aus. - Es wäre
lohnend, die zeitverzögerte Geschichte des Müllplatzes Erde mit den Etappen der
Basisinnovationen zu erzählen: den Schwefel- und Kohlenstoffwolken der kohlebasierten Energieindustrie folgte die Bereicherung der Atmosphäre mit radioaktiver
Strahlung, dieser eine äußerst umfangreiche Palette von Stoffen aus den Giftküchen
der Petro-Chemie. Bald wird auf den Deponien auch der gentechnische Bio-Müll zu
finden sein. Alle diese Schichten überlagern sich zu einem undurchdringlichen MüllGanzen.
Pechmann
schen als Produzenten und Konsumenten30 sowie alle natürlichen Dinge
als Gegenstände der Produktion und Konsumtion ins System einbezogen; und es reproduziert sich, indem es wächst und sich laufend neue
Bereiche erschließt31. Die Entstehung neuer Bedürfnisse durch die wissenschaftlich-technischen Innovationen32, die Herstellung von Massenprodukten durch die industrielle Produktionsweise sowie die Vermehrung der Weltbevölkerung33 durch das Wachstum der Produktion, des
Transports und der Kommunikation sind Ausdruck des universellen
Charakters des modernen Reproduktionssystems. Der Zugang aller zum
Weltmarkt und die Allgemeinheit der Menschenrechte bilden die ökonomischen und politischen Teilhaberechte an diesem System; die Globalität der Umweltprobleme, die (Zer-)Störung der globalen Stoffwechselkreisläufe durch die Exkremente des Systems, bildet die externe Folge
des universellen Systems.
c) Der industrielle Müll
Betrachten wir die Kehrseite der modernen Reproduktion: den industriellen Müll. Er ist das nichtintendierte Resultat der industriellen Produktion und entspricht ihr quantitativ und qualitativ. Mit der wachsen-
30
Max Weber hat zurecht als Vorbedingung der industriellen Produktion den Vorgang der „Demokratisierung des Luxus und der Befriedigung des Luxusbedürfnisses
breiterer Massen“ genannt (M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, a.a.O., S.156).
31 zu den Faktoren der Selbstverstärkung des Systems siehe: Lothar Mayer, Ein
System siegt sich zu Tode. Der Kapitalismus frißt seine Kinder, Oberursel 1992
(Rezension von G. Nagl in Widerspruch Nr.23).
32 Die menschliche Seele nennt Aristoteles „in gewisser Weise alles“. Doch dieses
„alles“ verwirklicht erst die wissenschaftlich-technische Produktion, für die es keine
absolute Grenze der Bedürfnisvielfalt gibt, und die nur vom Stand der Technik
abhängt.
33 Die weltweite Bevölkerungszahl steigt in Relation zur Dynamik und zum Umfang
des modernen Reproduktionssystems und bildet ihrerseits die Voraussetzung zur
Erweiterung der Produktion und Konsumtion. 1800, 10 Jahre nach Watts Bau der
Dampfmaschine, zeigt sich „ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit...
Die Vermehrungsrate der Menschheit steigt in kurzer Frist von kleinen Bruchteilen
eines Prozentes auf 2%, in manchen Gebieten auf 4%“. (W. Braunbek, Die unheimliche Wachstumsformel, München 1973, 69f.) Das Bevölkerungswachstum steigt
seither in Abhängigkeit zur Globalisierung und Verwissenschaftlichung des Reproduktionssystems über-exponentiell.
Zum Begriff des Mülls
den Umwandlung von Energieträgern in Arbeit durch Verbrennung34
entstehen Ab-Wärme und Ab-Stoffe; durch die mechanische und
chemische Verarbeitung der Rohstoffe entsteht Produktionsmüll und
durch die Produktvernutzung Konsumtionsmüll. Für den modernen
Reproduktionsprozeß besteht die Regel, daß dessen Exkremente umso
unnatürlicher sind, je intelligenter die Produktion und die Produkte sind.
Die auf der wissenschaftlichen Modellierung basierenden, tech
nogenen Produkte treten als Müll in Gegensatz zu den natürlichen Abläufen. Sie vollziehen als Müll eine eigenartige Metamorphose: aus begehrten „hochwertigen Produkten“ verwandeln sie sich in Müllgestalt in
„toxische Zeitbomben“35. Durch den Ausschluß aus dem System und die
Integration in den natürlichen Stoffwechsel wird der industrielle Müll
nicht mehr abgebaut, sondern wandelt sich in ein stoffliches Gemisch
chaotischer Prozeßabläufe um. Die präzis kontrollierten Produkte werden als Exkremente des Systems zu unkontrollierbaren Irrläufern, die die
Zirkularität der Naturprozesse gefährden.
Diese Kollision der Struktur und Dynamik des technisch-industriellen
Produktionsprozesses mit denen des natürlichen Stoffwechsels erscheint
34
Die Moderne fußt geradezu auf dem magischen Ritual des Verbrennens: das Verbrannte verschwindet. Sowie die Menschheit sich vom Diabolischem reinigte, indem
die Besessenen der vernichtenden Kraft des Feuers übergeben wurden und ihre
Asche in alle Winde zerstreut wurde, so verfahren auch die modernen Verbrennungsanlagen. Doch, sowie die Verbrannten in veränderter Gestalt als Märtyrer
wiederkehrten, so tauchen die Schornsteinemittenten mit der Unaustilgbarkeit alles
Bösen spukhaft verändert als „saurer Regen“, Klimawechsel, Treibhauseffekt etc.
wieder auf. Die Müllverbrennungsanlagen gründen auf dem magischen Selbstbetrug
des Empirismus: was man nicht wahrnehmen kann, existiert nicht.
35 Legt man die Chemie des Kohlenstoffs und seine Fähigkeit zur Ketten- und Ringbildung zugrunde, so ergibt die Anzahl der möglichen Eiweißsorten eine Zahl, die die
Gesamtheit aller Elementarteilchen im Weltall übertrifft. Nimmt man Chlor, Fluor
und Schwermetalle hinzu, so ist die Anzahl der Verbindungen praktisch unendlich.
Während die Natur mit einer relativ geringen Anzahl von Verbindungen auskommt,
die sie in einem Zeitraum von Milliarden Jahren auf ihre Umweltverträglichkeit und
Abbaubarkeit „getestet“ hat, werden in jedem Jahr Tausende neuer, immer komplexerer Kohlenstoff-Verbindungen technisch hergestellt und der Umwelt ausgesetzt.
Die natürliche Evolution verfolgt offenbar eine gänzlich anders angelegte Strategie
des Strukturaufbaus als die wissenschaftlich-technischen Verfahren der Produkterzeugung.
Pechmann
als wachsendes „Müllproblem“36. Es besteht entweder in der Nichtabbaubarkeit der Menge wie Art der ausgeschiedenen Produkte („Müllberge“) oder in der zunehmenden Veränderung der natürlichen Stoffwechselprozesse („ökologischer Kollaps“) bis hin zur Zerstörung des globalen
Kreislaufsystems („Klimakatastrophe“)37. Der industrielle Müll ist nicht
mehr nur das Exkrement der Industriegesellschaften, sondern ihr Problem. Sein Wachstum untergräbt die Bedingungen ihrer Existenz; das
System droht an den Exkrementen seiner Reproduktion zu ersticken.
5. Die reflexive Moderne (zyklische Reproduktion)
Will das moderne Reproduktionssystem nicht an seinen Exkrementen
kollabieren, bedarf es der Reflexion auf das Müllproblem. Der Müll wird
zum gesellschaftlichen Problem und bedarf der Aufnahme und der Bearbeitung im System. Mit der gegenwärtigen „Müllkrise“ ist eine zusätzliche Technologie entstanden, die die Exkremente der Produktion und
Konsumtion in Rohstoffe der Produktion rückverwandelt. Das menschliche Reproduktionssystem übernimmt damit die Funktion der Rückverwandlung von Müll in Rohstoffe, die bislang die Natur gratis übernom-
36
Hier wird das Problem selbst zum Problem; denn man weiß in den wenigsten
Fällen, und in diesen auch nur post festum, wie die Bestandteile des industriellen
Mülls in und mit der Umwelt reagieren, und welche chemische Verbindungen dabei
entstehen. (s. näheres: W. Klöpffer, Grundlagen und Grenzen der Einzelstoffbewertung unter Umweltgesichtspunkten, in: M. Held (Hg), Leitbilder der Chemiepolitik.
Stoffökologische Perspektiven der Industriegesellschaft, Frankfurt/Main 1991, S.1933.)
37 Der 'Club of Rome' schreibt in seinem jüngsten Bericht: „Man hatte bis vor kurzem angenommen, daß eine wohlwollende Natur die Abfallprodukte der menschlichen Gesellschaft in der Luft, im Boden und in den Flüssen und Meeren für immer
absorbieren und neutralisieren würde. Diese Annahme läßt sich jedoch nicht länger
aufrechterhalten: Wir scheinen eine kritische Schwelle überschritten zu haben, jenseits derer die Folgen menschlicher Einwirkung die Umwelt ernsthaft zu schädigen
drohen, mit möglicherweise irreversiblen Folgen“ (Die Globale Revolution, Hamburg 1991, S.26). Er nennt vier Schadensarten globalen Ausmaßes: die Ausbreitung
toxischer Substanzen in der Umwelt, die Säuerung von Seen und Wäldern durch
Schadstoffe; die Verseuchung der oberen Schichten der Atmosphäre durch Fluorkohlenwasserstoffe (FCKW) sowie den sog. Treibhauseffekt, den er als den bei
weitem bedrohlichsten Umweltschaden bezeichnet. Dieser Aufzählung fehlen die
vielen lokalen und regionalen Mülldeponien und Altlasten, die sich ihrerseits zu einer
globalen Bedrohung vernetzen.
Zum Begriff des Mülls
men hatte und nun diesen Dienst versagt38. Das System vollzieht den
transzendenten Sprung von der einfachen Linearität des Produktionsund Konsumtionsprozesses in die selbstbezügliche Zirkularität. Auf der
Basis neuer mechanischer, chemischer und thermodynamischer Technologien entsteht eine Wiederaufbereitungsindustrie, die die verbrauchten
Rohstoffe technisch-industriell erneuert und den Müll wieder in Rohstoffe der Produktion rückverwandelt39.
Durch diese Reflexion kommt das moderne Reproduktionssystem zum
Begriff seiner selbst: es reproduziert sich, indem es sich von den naturgegebenen Reproduktionsbedingungen abschließt, die anthropogenen
Endstoffe selbst abbaut und sich damit die Ausgangsstoffe der Produktion selbst erzeugt. Durch den umfassenden Einsatz von Sortier-, Lagerund Aufbereitungstechnologien entstehen Steuerungs- und Kontrollsysteme, die die funktionale Umwandlung Rohstoff-Produkt-Müll-Rohstoff
zu konstanten Energie- und Stoffflüssen stabilisieren sollen40. Mit der
Verringerung des Energieeinsatzes durch die Verbesserung des Wirkungsgrades der Maschinen, mit Rohstoffeinsparungen durch dessen
effektivere und intelligentere Nutzung sowie durch thermisches und
stoffliches Recycling soll das Industriesystem technisch optimiert werden41. Dieses zyklisch-reflexive System verwandelt die Reproduktionsbedingungen in ein wissenschaftlich modelliertes, technisch geregeltes und
funktional abgeschlossenes Produktionssystem um und setzt damit sich
selbst als Urheber seiner eigenen Bedingungen42.
38
Hinter dieser Übernahme der Müllbeseitigung durch die Gesellschaft verbirgt sich
die alte Vorstellung: der Mensch könne es besser als die „unvollkommene Natur“.
39 siehe nähere Daten über die Entwicklung der Wiederaufbereitungsindustrie: Entsorgungswirtschaft - schrumpfende Anzahl von Unternehmen in einem weltweit
wachsenden Markt, in: Die Mitbestimmung 2/94, Düsseldorf 1994, S.24ff.
40 Harald Wollny, Abschied vom Müll. Perspektiven für Abfallvermeidung und eine
ökologische Stoffflußwirtschaft, Göttingen 1992.
41 Zu diesen Stabilisierungsmaßnahmen zählen auch die Schritte zur Beschränkung
der „unvernünftigen Bevölkerungsexplosion“, die den Erfolg dieser Bemühungen
gefährden (siehe: Club of Rome, Die Globale Revolution, a.a.O., S.92ff.).
42 S. Moscovicis Versuch über die menschliche Geschichte der Natur (Frankfurt
1982) und G. Ropohls Die unvollkommene Technik (Frankfurt/Main 1985) geben
gute Beschreibungen der reflexiven Moderne. G. Ropohl beschreibt und fordert eine
„ökotechnische Ergänzung“ durch eine „umfassende Ökosystemtechnik“. Diese
werde „auf die durchgängige Technisierung der Natur hinauslaufen“, die „die Natur
Pechmann
a) Die Spirale und der „Sondermüll“
Die Kehrseite des reflexiv-modernen Reproduktionssystems ist die Erzeugung des reflexiven Mülls, des sog. „Sondermülls“. Da die systemintendierte Rückverwandlung der technogenen Stoffe in Rohstoffe ohne
einen (gegen unendlich gehenden) Energieverbrauch nicht möglich ist,
ist das technische Recycling de facto ein Downcycling43. Der intendierte
Sprung von der einfachen in die reflexive Moderne mißlingt; das Reproduktionssystem bildet eine Spirale aus, in der die Technogenität der Stoffe nicht abgebaut, sondern angereichert wird. Das Ende der Spirale ist
der auf den Begriff gebrachte Müll: die absolute Differenz von Produkt
und Natur, die ökologische Katastrophe44.
allseitig domestiziert“. Diese „Hege und Pflege (bedeute) gewissermaßen das Ende
der Natur“ (133).
43 Frank Hoffmann und Theo Rombach, Die Recycling-Lüge, Stuttgart 1993, insb.
S.7-17.
44 Da nichts absolut ist, ist auch hier die Differenz relativ. Aber es versagt angesichts
der Zeitdimensionen beider Systeme die Vorstellungskraft. Das unweigerliche Ende
des atomaren „Brennstoffkreislaufs“ ist u.a. Plutonium. 10-9 g ist für den einzelnen
und die Menge von einer Orangengröße für die Biosphäre tödlich. Die Masse des
Plutonium-Mülls bis zum Jahr 2000 wird auf 100 t geschätzt - genaues weiß man
nicht! Da Plutonium über einen Zeitraum von einer halben Million Jahren toxisch
bleibt, gibt es nur drei Möglichkeiten seiner „Ent-Sorgung“: entweder es geht in den
natürlichen Stoffwechsel ein, dann hat die Menschheit ausgesorgt; oder es wird aus
dem irdischen Stoffwechsel ent-fernt, dann übernehmen Raketen die Müllabfuhr;
oder es wird unterirdisch „endgelagert“, dann bedarf es Lagerstätten ohne Austausch
mit ihrer Umgebung. - Schließen wir die beiden ersten Möglichkeiten wegen ihrer
Gefährlichkeit aus, so bleibt nur die Beseitigung des atomaren Mülls in „Endlagerstätten“. Diese Art seiner Beseitigung bestünde darin, daß wir heute wissen, daß er
im Zeitraum von einer halben Million Jahre nicht in den natürlichen Stoffwechsel
eingeht. Ein solches Zukunftswissen - und damit die atomare Müllbeseitigung - ist
aus drei Gründen unmöglich: erstens ist der Stofffluß zwischen Litho-, Hydro-,
Atmo- und Biosphäre und deren Wechselwirkungen heute weitgehend unerforscht;
zweitens sind die Wechselwirkungen zwischen Plutonium und Mantelschutz während
eines Zeitraums von Jahrhunderttausenden noch nicht getestet worden; und drittens
beruhen die Aussagen der Atomtheorie auf Wahrscheinlichkeiten über den Aufenthaltsort atomarer Teilchen. Exakte Aussagen über den Aufenthaltsort der Plutoniumatome und insbesondere der Alpha-Teilchen während eines Zeitraums von 5
Jahrhunderttausenden zu treffen, verbietet die Theorie selbst. Den Ort jenseits der
Örter, den Ab-Ort, gibt es nicht!
Da eine tatsächliche Müllbeseitigung unmöglich ist, bleibt nur eine symbolische. Das
Beste wäre, das Plutonium umzuetikettieren: statt nach Pluto, dem Todesgott, nen-
Zum Begriff des Mülls
6. Zukunftsszenarien
Die weitere Entwicklung des globalen „Müllproblems“ läßt sich nur als
mögliches Szenario beschreiben. Seine Lösung setzt voraus, daß das
moderne Reproduktionssystem die Ressourcen freisetzt, die zur effektiven Bearbeitung der von ihm erzeugten Folgen benötigt werden. Zur
Zeit zeichnen sich zwei mögliche Lösungswege des globalen Müllproblems ab: die High-Tech-Strategie und der Ausstieg aus dem modernen
Reproduktionssystem.
a) Die High-Tech-Strategie
Der eine Weg besteht in dem erneuten Versuch, nach den internen Regeln des modernen Reproduktionssystems die energetische und stoffliche Offenheit des Systems mit wissenschaftsbasierten Technologien zu
schließen. Er stützt sich zum einen auf der Nutzung der Kernbindungskräfte als Energieträger und erzeugt die systemerhaltende Energie durch
die Kernfusion. Da die Fusionstechnologie auf den unbegrenzten Energievorrat des Wassers zurückgreifen kann und der Fusionsabfall relativ
„umweltverträglicher“ als der chemische Verbrennungs- und der atomare Spaltabfall sein wird, könnte der Fusionsreaktor die „Primärtechnologie der Zukunft“ darstellen45. Er basiert zum anderen auf der industriellen Nutzung der biotischen Prozesse durch deren technische Nachahmung.
Durch
den
Einsatz
biotechnisch
präparierter
„Stoffwechselmaschinen“ soll die Art der Produktivität der Natur zur
Erzeugung von industriellen Rohstoffen und Gebrauchsgütern genutzt
und zugleich ihre Integration als biologisch abbaubarer Müll in die natürlichen Kreisläufe garantiert werden46.
Diese High-Tech-Strategie besteht in der qualitativ neuen wissenschaftlich-technischen Imitation sowohl der solaren als auch der irdischen
Zyklen und in ihrer Nutzung im Rahmen der industriellen Massenproduktion. Über die nichtintendierten Nebenfolgen dieser Produktionsweinen wir es z.B. nach der Göttin der Morgenröte Eosium, oder besser: Lethesium,
nach dem Vergessen - und erzählen den Enkeln nichts davon.
45 siehe Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, Kernfusion - Stand und Perspektiven,
Garching 1993.
46 zu den Anwendungsbereichen der Biotechnologie: M. Catenhusen, H. Neumeister,
Chancen und Risiken der Gentechnologie, München 1987, S.40-193.
Pechmann
se, den Fusions- und den Bio-Müll, lassen sich gegenwärtig nur Vermutungen anstellen47.
b) Der Ausstieg aus dem Industriesystem
Die andere, entgegengesetzte Option bietet der Ausstieg. Er zielt darauf,
die Organisation der Produktions- und Konsumtionsprozesse nicht auf
deren wissenschaftlich-technische Steuerbarkeit zu gründen, sondern auf
die alten Erfahrungen zurückzugreifen, daß die irdische Energiequelle
die Sonne ist, und daß die Natur selbst produktiv, aber auch verletzlich
ist. Auf der Basis der verfügbaren Sonnenenergie und unter Berücksichtigung des „ökologischen Gleichgewichts“ werden Produktions- und
Konsumtionsformen angestrebt, die in Übereinstimmung mit der Dynamik und der Struktur der natürlichen Stoffwechselkreisläufe stehen,
und deren Exkremente in diese Kreisläufe wieder rückführbar sind.
Dieser Lösungsweg setzt allerdings die Selbstdistanzierung des modernen Reproduktionssystems von sich und seine Selbstbeurteilung als eines
kontingenten und veränderbaren Faktums voraus. Dies erscheint systemimmanent als unmöglich48. Näher liegt, diese Option als ein Zukunftsszenario zu interpretieren, das keiner intendierten Strategie folgt, sondern
das das nichtintendierte Resultat künftiger globaler Katastrophen vorwegnimmt.
47
Trotz des hypothetischen Charakters der Aussagen über den künftigen High-TechMüll spricht nichts gegen die Akzeptanz der folgenden Regel: „Der 'Zyklus von Verund Entsorgung' ist kein Zyklus, sondern eine endlose Kette von Entsorgungen. Jede
'Sanierung' (sanus = gesund, heil) schafft neue Sachverhalte, die saniert werden
müssen. Das scheint ein Grundgesetz der Abfallwissenschaft zu sein.“ (V. Grassmuck, Chr. Unverzagt, Das Müll-System, a.a.O., S.197)
48 Pessimistisch formuliert Lothar Mayer: „Seine Steuerungs- und Rückkopplungsmechanismen machen den Kapitalismus im Wettbewerb mit anderen gesellschaftlichen Systemen haushoch überlegen. Er wird seinen Siegeszug fortsetzen, bis er von
dem einzigen verbleibenden Protagonisten verschlungen wird: sich selbst.“ (L. Mayer, Ein System siegt sich zu Tode, a.a.O., S.40)
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 51-56
Autor: Joachim H. Spangenberg
Artikel
Joachim H.
Spangenberg
Mensch und Müll
1. Die Geschichte des Mülls
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte ihres Mülls - und
umgekehrt. Unser Wissen über zahlreiche Frühphasen der Menschheit,
bauend nicht auf Traditionen, sondern auf gefundenen Relikten, gründet
sich auf die Analyse von Müllfunden. Ohne Pfeilspitzen, Knochenreste,
Pfahlbauten etc. wäre unser Bild der menschlichen Vorvergangenheit
wesentlich detailärmer. Unsere Lesweise der Menschheitsgeschichte ist
also zu nicht geringen Teilen eine Anthropologie des Mülls.
Schon hier zeigt sich ein Charakteristikum des Mülls: Nicht der dissipativ
verstreute Müll von Einzelpersonen, sondern die Überreste von Siedlungen sind es, die interessante Funde bergen. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte und ersten Urbanisierungsprozessen ballt sich auch der Müll,
bis seine schiere Existenz in Rom zu einer unabweislichen Determinante
des Städtebaus wird. Erste großmaßstäbliche Entsorgungssysteme entstehen.
Nicht der Müll, wohl aber sein geballtes Auftreten ist ein Zivilisationsproblem. Dies bestätigt sich in den nachfolgenden Jahrhunderten, in
denen der Müll vorwiegend in städtischen Agglomerationen geschichts-
Mensch und Müll
trächtig wird: Wie hätte sich wohl der 30-jährige Krieg entwickelt, wäre
nicht ein Drittel der Bevölkerung Zentraleuropas der durch die vermüllungsbedingte mangelnde Hygiene ermöglichten Pestepidemie zum Opfer gefallen?
Der eigentliche Aufschwung des Mülls aber beginnt mit dem Zeitalter
der Industrialisierung. Je größer das Produktionsvolumen, desto größer
wird der Müllausstoß, das Wachstum der Halden hätte ebenso oder sogar besser als Fortschrittssymbol dienen können wie das Rauchen der
Schornsteine. Noch heute sehen ganze Landstriche um den Nukleus des
Industriezeitalters, die Region um Stratford upon Lyme so aus, als hätte
hier der Müll seine Schlacht gegen die Zivilisation gewonnen und das
Territorium endgültig in Besitz genommen.
Mit wachsender Produktion entsteht auch mehr Infrastruktur, mehr
Straßen, mehr Gebäude, mehr Eisenbahnen. All diese Strukturen benötigen eine permanente Unterhaltung, müssen gepflegt, renoviert und restauriert werden, sonst fallen sie der allmählichen Vermüllung zum Opfer.
Die Innenstädte von Liverpool und Bukarest, die Bronx in New York,
die flußnahen Elendssiedlungen Jakartas oder die Favelas von Rio de
Janeiro legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab.
Der Müll, das Tabuisierte, das zu Ent-Sorgende, ist der wahre Spiegel
unserer Gesellschaft, zeigt ihre Produkte ohne den schönen Schein und
entzieht sich der Umleitung zur Selbstreflexivität, die die Kreislaufwirtschaft zu organisieren vorgibt, wächst weiter als Alptraum der Wachstumsgesellschaft, wächst sich aus zur Hauptdeterminante wirtschaftlicher
(Standort-)Entscheidungen.
Spangenberg
2. Der entropische Charakter des Mülls
Die Müllwerdung der Materie stellt die sprunghafte Erreichung eines
quasi-stationären Entropiemaximums dar, das seinerseits einer weiteren,
langsamen Maximierungsdynamik unterliegt: Die Verpackung wird zum
Abfall, der sich langsam zersetzt, seine Bestandteile in Luft, Wasser und
Boden dissipiert. Vermüllung ist ein Grundprinzip menschlichen Handelns; was der Mensch in die Hand nimmt, verwandelt sich direkt oder
indirekt in Müll. Da aber der Übergang von der Produktform zur Müllform eines Gegenstandes als Entropiemaximierung verstanden werden
kann, handelt es sich um einen quasi naturgesetzlich ablaufenden Prozeß
mit eigener Dynamik, der nur durch aktive Gegenmaßnahmen unter
Energieeinsatz (der seinerseits wiederum Müll erzeugt) zeitweilig aufgehalten oder umgekehrt werden kann - eine Sisyphusarbeit. Betrachten
wir den menschlichen Umgang mit der Materie, können wir zwei Hauptgruppen unterscheiden:
a) Ca. ein Zehntel der Materie wird zu geformten, strukturierten, d.h.
niederentropischen Produkten umgewandelt, die am Ende ihrer Nutzungszeit ebenfalls zu Müll werden. Bezeichnet man als Lebenszeit eines
Stoffs die Phase von der Entnahme aus seiner natürlichen Umgebung bis
zu dem Zeitpunkt, an dem er völlig in den biogeochemischen Zyklus
reintegriert ist, ohne Spuren seiner menschlichen Berührtheit zu hinterlassen, dann gilt für Produkte: Nutzungszeit + Müllzeit = Lebenszeit.
b) Ca. neun Zehntel der vom Menschen bewegten Materie gehen den
Weg Natur -> (Inwertsetzung) -> Rohstoff -> (Förderung) -> Müll (was
an dieser Stelle auch die Produktionsabfälle von Vor- und Zwischenprodukten einschließen soll). Erst diese Entropiemaximierung für die überwiegende Menge der genutzten Materie ermöglicht es, dem verbleibenden Rest eine niederentropische Nutzung zuzugestehen: Der Weg zum
Produkt ist mit Müll gepflastert. Hier gilt Müllzeit = Lebenszeit.
Mensch und Müll
3. Der ökonomische Charakter des Mülls
Jeder Produktionsprozeß beginnt mit einem intellektuellen Akt: dem des
Erkennens der Verwertbarkeit von Natur (bzw. des betrachteten Naturausschnitts), gefolgt von ihrer Inwertsetzung, die sich nicht auf einen
Wert eo ipso, sondern vielmehr auf die bei Erschließung und Ausbeutung anfallenden Kosten bezieht. Diese Kosten sind der Preis der Müllproduktion: Halden, Aushub, Bergematerial sind der Beginn fast jeder
Produktionskette und haben - ein Charakteristikum der Müllproduktion einen negativen Preis. Rohstoffgewinnung als Basis der industriellen
Produktion stellt sich somit teilweise als ein Nullsummenspiel dar, bei
dem der positive Preis der gewonnenen Produkte der Reflex auf den
negativen Preis des produzierten Mülls ist, auch wenn der letztere in der
Vergangenheit meist nicht bezahlt wurde. Die resultierenden „offenen
Rechnungen“ werden wir jedoch in Zukunft begleichen müssen, werden
für Altlastensanierung, Grundwasserdekontaminierung etc. zweistellige
Milliardenbeträge aufwenden müssen. Berücksichtigt man zudem die
quantitative Dominanz der Müllproduktion gegenüber der Produktproduktion sowie die letztendliche Müllwerdungstendenz von Vor-, Zwischen- und Endprodukten, so ist es durchaus gerechtfertigt, industriellen
Produktionsprozeß als einen Vermüllungsprozeß zu charakterisieren.
Dehnt man diese Betrachtungsweise auf die gesamte Produktionskette
aus, zeigt sich sehr schnell, daß unsere klassische Wirtschaftstheorie auf
einen quantitativ marginalen Bestandteil der Produktion fokussiert ist,
nämlich auf die Produkte mit positivem Preis. Hier mag eine der subjektiven Schwierigkeiten begründet liegen, die sich heute in der ökonomisch
äußerst zweifelhaften Umgangsweise mit dem Müll niederschlagen.
Zu untersuchen, inwieweit diese tendenzielle Unfähigkeit die Müllproduktion als konstitutives Element jeder - also auch der eigenen - Tätigkeit in den Blick zu nehmen, Resultat einer geschlechtsspezifischen Rollenaneignung unserer fast rein männlichen Entscheidungs-Eliten ist,
Folge der kindlichen Freistellung von Ordnungs- und Aufräumfunktionen und der so entzogenen Möglichkeit, die chaotischen Folgen geplan-
Spangenberg
ten Handelns, die unvermeidliche Müll-Resultante, prägend zu erfahren,
mag an dieser Stelle Berufeneren überlassen bleiben.
Im Ergebnis ist Produktion heute quantitativ überwiegend Müllproduktion, Wertschöpfung tendenziell eher Wert-Erschöpfung.
4. Die Evolution des Mülls
Quantitativ sind also Müll das unerwünschte Haupt-, Produkte aber das
erwünschte Nebenergebnis industrieller Produktionstätigkeit. Selbstverständlich hat der unterschiedliche Grad der Wünschbarkeit zu Optimierungsprozessen geführt, z.B. zu einem verringerten Energieeinsatz pro
Produkteinheit (bei steigendem Flächenverbrauch, auch eine Form der
Vermüllung). Die Steigerung der Ressourcenproduktivität, d.h. die Verringerung der Müllmenge pro Produkteinheit, ist jedoch bisher in industriellen Wachstumsökonomien stets durch die Zunahme der Gesamtproduktion weit überkompensiert worden, so daß die Müllmengen einem
stetigen Wachstum unterlagen. Müll ist so das Zerrbild der Evolution der
Produktion, ihr immer existierender aber lange verdrängter Januskopf.
Steigende Müllmengen machen in der modernen Industriegesellschaft
steigende Entsorgungsanstrengungen notwendig; nicht die Quellen, wie
noch Meadows und die Autoren von Global 2000 vermuteten, sondern
die Senken werden zum begrenzenden Faktor der Produktion. Dabei
ändert sich nicht nur die Menge, sondern auch die ökotoxikologische
Charakteristik des Mülls (auch insofern ist er ein Spiegelbild der Produktion): Das Aufkommen an Sonderabfällen wächst weit überproportional,
verglichen mit der gesamten Abfallproduktionsmenge. So kam der Müll
in die Schlagzeilen: Ein immanenter Entropie-Maximierungsprozeß bewirkt eine dissipative Verteilung toxischer Chemikalien in alle Ecken der
Welt. DDT in Pinguin-Eiern, Dioxin in der Muttermilch, solche Schlagworte beunruhigten die Öffentlichkeit und brachten den (Sonder-)Müll
in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Mensch und Müll
So reflektiert der Müll nur das Prinzip unserer Produktionsweise - wenn
ökologische Kriterien nicht bereits beim Produktdesign greifen, kann das
Abfallmanagement höchstens zur Schadensbegrenzung dienen. Lineare
Produktplanungen vom Rohstoff bis zum Endprodukt, die den Verbleib
des Produkts nach seiner Nutzungsphase nicht berücksichtigten, führten
dazu, daß die Mehrzahl unserer Produkte, aber auch die damit verbundenen Produktionsstrukturen, ökologischen Kriterien keinesfalls gerecht
werden. Folge dieses Produktdesigns ist es dann, daß heute der Preis für
Verpackungskunststoffe (Granulat) zu drei Vierteln aus Entsorgungskosten besteht, und nur noch zu einem Viertel aus Herstellungskosten - aber
zu null Prozent aus eigentlichen Stoff-Kosten.
Die Analyse von Größenentwicklung und Zusammensetzung unserer
Müllberge ist vielleicht der beste Indikator dafür, welche Fortschritte in
einer Gesellschaft Konsum und Produktion auf dem Wege hin zur
Nachhaltigkeit erreicht haben. Allerdings sollte man Indikatoren nicht
mit Steuerungsinstrumenten verwechseln; die Umgestaltung von Produktionsprozessen über die Abfallwirtschaftspolitik erzielen zu wollen, ist
eine Art des rektalen Managements, die hohe Effizienzverluste erwarten
läßt. Besser wäre es, Produktionskettenveränderungen nicht über indirekte Rückwirkungen, sondern über ihre Eingangsgrößen herbeizuführen, d.h. über ein aktive Gestaltung der Preise. Dazu bietet sich an, den
Eigenwert der zu fördernden Rohstoffe (einschließlich EnergieRohstoffe) über Stoffsteuern oder Abgaben preislich spürbar zu machen.
Ohne eine derartige preisliche Belastung der Förderungsmengen gibt es
keinen unvermeidbaren Anreiz zur Verringerung des Materialverbrauchs:
Effizientere Extraktionstechnologien lassen die Gewinnungskosten und
damit den Wert von Rohstoffen sinken, Überangebot auf den Weltmärkten drückt die Preise, so daß heute die Rohstoffkosten nur in Ausnahmefällen in der Kostenstruktur eines Unternehmens eine Rolle spielen, die
eine Steigerung der Stoffnutzungseffizienz als relevante betriebliche
Optimierungsstrategie erscheinen lassen.
Spangenberg
5. Optionen der Entmüllung
Wie kurz dargestellt, ist die Anhäufung der Müllberge ein vierdimensionales Problem: Die immensen produzierten Müllvolumina häufen sich
überproportional schnell zu Müllbergen an, da der Zugang pro Zeiteinheit dort über dem Abgang pro Zeiteinheit liegt. In Analogie zum Bevölkerungswachstum könnte man sagen: Die Geburtenrate ist deutlich höher als die Sterberate. Eine erste zur Zeit diskutierte Lösungsvariante
könnte darin liegen, die Müllzeit zu verkürzen, also die Sterberate zu
erhöhen, indem Produkte hergestellt werden, die biologisch, chemisch,
durch Licht etc. abbaubar sind. Derartige degradierbare Produkte, häufig
hergestellt aus nachwachsenden Rohstoffen, müßten jedoch in Substanzen zerfallen, die direkt wieder Bestandteil der biogeochemischen Rohstoffkreisläufe sind, ohne unerwünschte Reststoffe zu hinterlassen, und
müßten darüber hinaus bei Herstellung, Distribution, Gebrauch und
Redistribution ebenfalls keine nicht unmittelbar remineralisierbaren Substanzen erzeugen. Es ist offensichtlich, daß diese Forderung zumindest
für sämtliche Prozesse der mineralischen Rohstoffgewinnung nicht erfüllbar ist. Da jedoch derartige Stoffe und Mineralien einen Großteil
unserer Produktionsabfälle ausmachen und auch nicht vollständig durch
nachwachsende Rohstoffe ersetzbar sind (die absolut begrenzte Ressource Boden wird weitgehend zur Lebensmittelproduktion benötigt), kann
der Einfluß dieser Strategie letztlich nur gering bleiben.
Im Produktsektor, wo die Gleichung Nutzungszeit + Müllzeit = Lebenszeit gilt, könnte durch eine Verlängerung der Nutzungsdauer bei als
gegeben angenommener Lebenszeit die Müllzeit verringert und somit das
Abfallvolumen reduziert werden, auch da infolge längerer Nutzungsdauer das Produktionsvolumen insgesamt reduziert werden dürfte. Eine an
die Lebenszeit anschließende Müllzeit bliebe jedoch trotzdem, bevor die
Produkte ihr Lebensende erreicht haben. Auch ist diese Strategie nur auf
Mensch und Müll
den begrenzten Anteil des Mülls anwendbar, der überhaupt die Produktphase durchläuft.
Da also der Zeitfaktor nur einen recht eng umrissenen Beitrag zur Abfallmengenreduzierung leisten kann, bleibt als zweite Option, direkt am
Mengenfaktor anzusetzen. Dann erweist sich die zweite genannte Option
als ein Unterfall einer Mengenreduzierungsstrategie. Soll die anfallende
Abfallmenge aber insgesamt dramatisch verringert werden, so gibt es
zwei grundsätzliche Alternativen: einerseits könnte, bei Beibehaltung der
heutigen Produktionsformen, ein drastischer Konsum- und Wohlstandsverzicht (ca. 90%) die gewünschte Müllmengenreduzierung bewirken.
Alternativ bietet sich die Strategie einer gesteigerten Produktionseffizienz
bei Stoffen, Energie und Boden an, d.h. eine Revolutionierung der Ressourceneffizienz, die derjenigen der Arbeitseffizienz in den letzten 150
Jahren vergleichbar wäre. Diese Reduzierung der Geburtenrate wäre am
ehesten die Lösung des Müllproblems.
Auch eine um den Faktor 10 reduzierte Müllmengenproduktion ist nur
dann ohne sich auftürmende Müllberge langfristig durchzuhalten, wenn
jährlich von den Abfällen mindestens 10% der heutigen Produktionsmenge in die biogeochemischen Rohstoffkreisläufe zurückkehren. Obwohl es illusorisch ist, die Mehrheit unserer Produktionsprozesse auf
nachwachsende Rohstoffe umzustellen, bleibt hier doch eine Herausforderung an jede gestaltende Stoffpolitik bestehen. Quantität wie Qualität
der Produktion müssen drastisch umgestellt werden, will man dem
Müllmonster sein Wachstumselixier entziehen.
Daß dafür andere Produktionsstrukturen notwendig sind, sowie insbesondere andere Konsum- und Verbrauchsgewohnheiten, bedarf keiner
besonderen Erwähnung. Insofern stellen die vorgenannten Überlegungen nicht die Lösung des Problems dar, sondern bloß einen Aspekt einer
Gesamtlösung, zu dem die Beträge anderer Disziplinen essentiell sind.
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 57-64
Autor: Ferdinand Rotzinger
Artikel
Ferdinand Rotzinger
Ist Müll ein Abfallproblem?
In der Diskussion der letzten Jahrzehnte hat der „Umweltschutz“ eine
Dimension erhalten, die ihm früher nicht zugebilligt wurde. Äußeres
Zeichen hiervon sind Funktionen und Ämter, die es zuvor nicht gab:
Umweltminister (auf Bundes- und Landesebene), Landesämter für Umweltschutz, Umweltschutzbeauftragte, Umweltschutzreferate und vieles
mehr. Außerdem gab es 1992 eine Welt-Umwelt-Konferenz, deren schieres Stattfinden wenn nicht auf den Willen zur Lösung so doch immerhin
auf die Wahrnehmung eines Problems hindeutet.
Anstoßgeber war im Jahr 1972 der „Club of Rome“, der eigentlich zum
ersten Mal das Thema „Nutzung der Umwelt“ zu einem Problemthema
gemacht hatte. Seinerzeit noch als Exotenveranstaltung belächelt, erhielt
das Thema aktuelle Brisanz durch die sogenannte Ölkrise des Jahres
1973. In der damaligen Diskussion war plötzlich die Angst vor der Endlichkeit der Ressource Erdöl das beherrschende Thema. Autofreie Sonntage (übrigens eine ausgesprochen angenehme Einrichtung) sollten die
Welt-Erdölvorräte strecken helfen.
Dieses etwas hilflose Mittel hat die Diskussion aber verhältnismäßig
rasch auf das Thema der Endlichkeit aller natürlichen Ressourcen gelenkt. Plötzlich wurde auch in der öffentlichen Diskussion klarer, daß der
(Ver-)Nutzung von Rohstoffen und Energie Grenzen gesetzt sind. Es
war das erste Mal, daß eine breite Diskussion um die Grenzen des
Ist Müll ein Abfallproblem?
Wachstums einsetzte. Sie beschränkte sich zunächst auf die klassischen
Energieträger Erdöl, Erdgas, Uran und auf die klassischen Rohstoffressourcen. Dieser Diskussion lag noch ein ausgesprochen anthropozentristisches Weltbild zugrunde: Die Welt und ihre Entwicklung wird
(nur) betrachtet unter dem Gesichtspunkt, ob und inwiefern sie dem
Menschen nützt.
Auch die nächste Phase dieses Diskussionsprozesses hatte die Nutzung
der natürlichen Güter durch den Menschen vorrangig im Auge; es sind
aber immerhin Wirkungszusammenhänge diskutiert und akzeptiert worden, die dazu nicht in unmittelbarem Zusammenhang standen: Naturschutz zum Beispiel wurde auch propagiert und teilweise betrieben unter
dem Aspekt, daß ein dem Menschen nutzbarer Naturhaushalt nur dann
zur Verfügung stehen kann, wenn die erforderlichen Vernetzungen das
Gleichgewicht der Natur intakt halten, also z.B. daß das Amphibienbiotop letztlich auch für die landwirtschaftliche Produktion nützlich und
vielleicht sogar erforderlich ist.
Zwischenzeitlich werden auch in praxi ökozentristische Leitbilder zumindest für diskussionswürdig gehalten.
Diese Bemerkungen müssen aber mit sehr viel Fragezeichen versehen
werden, sind doch die praktischen Folgerungen hieraus marginal. Dies
mag folgendes Beispiel verdeutlichen. Das Bundesnaturschutzgesetz und
die Naturschutzgesetze der Länder postulieren Ziele, die für sich genommen auf eine Beendigung des Krieges des Menschen gegen die Natur hinauslaufen; das Instrumentarium zur Umsetzung dieser Ziele fällt
schon wesentlich dürftiger aus. Eine Sparte wird aber aus dem Friedensschluß mit der Natur völlig herausgenommen: die Landwirtschaft.
Mit einer sogenannten gesetzlichen Fiktion wird bestimmt, daß die „ordnungsgemäße Landwirtschaft den Zielen des Naturschutzes dient“. Diese Fiktion sagt wider besseres Wissen, daß das massenhafte Einbringen
von Herbiziden, Pestiziden und Düngemitteln Maßnahmen seien, die
z.B. den Naturhaushalt verbessern. Damit wird die konventionelle
Rotzinger
Landwirtschaft, einer der größten Boden- und Wasserverschmutzer per
definitionem zum Naturschützer erhoben.
Die jeweils vorgesehenen Ausnahmeregelungen stellen aber auch sicher,
daß in Phasen der Konkurrenz von Ökologie und Ökonomie letzterer
der Vorrang gegeben wird, also der vorgesehene Friede mit der Natur
lediglich ein Waffenstillstand in Zeiten ökonomischer Erholungsphasen
darstellt.
Der Müll hat in dieser skizzierten Diskussionsentwicklung zunächst
keine bzw. eine verhältnismäßig rudimentäre Rolle gespielt. Betrachtet
man die Entwicklung der Müllmengen und setzt sie in Relation zu der
Einwohnerentwicklung (vgl. Schaubild für München am Ende des Artikels) so stellt man zunächst ab Mitte der 50er Jahre ein exponentielles
Wachstum fast. Ursachen hierfür waren vor allem die wirtschaftliche
Entwicklung („Wirtschaftswunder“) mit einer überproportionalen Steigerung der Warenproduktion sowie die grundlegende Änderung auf der
Distributionsebene (zentrale Produktion - dezentraler Konsum), was zu
einem ungeheueren Bedarf an Verpackungen führte. So sind z.B. 50
Vol.% des Hausmülls zur Zeit Verpackungsabfälle.
Dieser Umstand führte zu einem erhöhten Bedarf an Anlagen: Deponien
und, seit den 60er Jahren, Verbrennungsanlagen. Letztlich war es kein
Geheimnis, daß solche Anlagen auch Emittenten von Unangenehmem
waren, seien es Schadstoffe oder, was sinnlich wahrnehmbar war, Gerüche. So wurde die Angelegenheit zunächst anrüchig. Sehr bald war dann
die Emissionsproblematik von Schadstoffen in den Mittelpunkt des
öffentlichen Bewußtseins gerückt. Damit wird aber lediglich ein Teilaspekt der Problematik erfaßt.
Letztlich geht es um die Frage, ob eine Produktionsweise, die auf Wachstum und damit auf eine immer stärkere Vernutzung der endlichen natürlichen Ressourcen aus sein muß, sich nicht selbst „das Wasser abgräbt“,
d.h. ihre Grundlage beseitigt. Das Unbehagen an Abfallbeseitigungsanla-
Ist Müll ein Abfallproblem?
gen spiegelt auch das Unbehagen angesichts der ungehemmter Inanspruchnahme der Rohstoffe wider.
Die Postulate, die aus dieser Diskussion entstanden sind, lassen sich in
der Zielhierarchie
- Abfallvermeidung
- Abfallverwertung
- Abfallentsorgung
zusammenfassen.
Damit, so machen die politisch Verantwortlichen glauben, aber auch
viele Umweltbewegte, sei die Problematik in den Griff zu bekommen.
Es lohnt sich, diese Behandlungsstrategien näher zu untersuchen und vor
allem ihre Tauglichkeit im Hinblick auf die oben erwähnte Ressourcenproblematik zu prüfen.
1) Abfallvermeidung
Dieser Begriff wird gängigerweise so verstanden, daß durch organisatorische, rechtliche oder sonstige Maßnahmen die Menge der Stoffe verringert wird, die in den nachfolgenden Stufen zu „behandeln“ sind. Nachdem aber die Lebensdauer eines jeden Produkts endlich ist, mithin alles
nach Lebensdauer-Ende zu Abfall wird, kann eine wirkliche Abfallvermeidung nur darin bestehen, daß ein Produkt gar nicht erst entsteht.
Damit gerät dieses Ziel in Widerspruch zur herrschenden Produktionsweise, die ja Wirtschaftswachstum voraussetzt, d.h. die Erweiterung des
Umfangs der Warenproduktion. Dieser Umstand kommt sinnfällig auch
in einem gesetzlich niedergelegten Zielkonflikt zum Ausdruck: Während
das Bundesabfallgesetz ebenso wie die Länderabfallgesetze die Abfallvermeidung (und damit die Reduzierung der Warenproduktion) als oberstes Ziel staatlichen und öffentlichen Handelns festlegen, verpflichtet
das Stabilitätsgesetz jede Bundesregierung, für ein angemessenes Wirt-
Rotzinger
schaftswachstum und damit eine Steigerung der Warenproduktion zu
sorgen. Ein unlösbarer Widerspruch.
Auch hier zeigt sich im übrigen, daß zwar hehre Ziele gesetzlich locker
postuliert, die dafür notwendigen Instrumente aber nicht bereitgestellt
werden. Selbst die Verordnung, die die Bezeichnung „Vermeidung“ im
Titel trägt („Verordnung zur Vermeidung von Verpackungsabfällen“), ist
in Wahrheit ein Instrument, mit dem die Verwertung von Abfällen bewerkstelligt werden soll. (Die neuesten Änderungsentwürfe setzen im
übrigen weitgehend werkstoffliche - rohstoffliche - energetische Verwertung gleich und öffnen damit die Wege zur Verbrennung.)
Auch die etwas hilflose Diskussion um die Abfallvermeidung im privaten
Bereich (Mehrweg contra Einweg, verpackungsarmer Einkauf, „Jute statt
Plastik“ etc.) zeigt, daß nach wie vor die Problematik in der Konsumtionsebene statt in der Produktions- bzw. Distributionsebene gesehen
wird.
Auch bei den Umweltverbänden wird so getan, als ob bei der Abfallvermeidung etwas „Überflüssiges“ weggelassen würde, mithin diese Strategie nicht mit Konsumverzicht verbunden wäre. Ich bin der Auffassung,
daß Strategien der Abfallvermeidung solche der Produktionseinschränkung sein müssen, dies hat notwendigerweise den Verzicht auf den Konsum von Produkten zur Folge, was nicht unbedingt mit einer Einschränkung des Lebensstandards verbunden ist.
2) Abfallverwertung
Unter Abfallverwertung versteht man gemeinhin, daß ein gebrauchtes
Produkt, das für seinen eigentlichen Einsatzzweck unbrauchbar geworden ist, durch werkstoffliche oder ggf. auch chemische
Umwandlung der Einsatzstoffe für einen neuen Einsatzzweck genutzt
werden kann.
Ist Müll ein Abfallproblem?
Allen bekannten Verwertungsmethoden gemeinsam ist, daß unbrauchbare Reststoffe entstehen, daß bei den gewonnenen Produkten Primärrohstoffe zugegeben werden müssen (es sei denn man nimmt eine wesentliche Produktverschlechterung in Kauf) und schließlich sind relativ aufwendige
Systeme
erforderlich,
die
eine
saubere
Sekundärrohstoffgewinnung ermöglichen.
Die von verschiedener Seite euphorisch propagierte Kreislaufwirtschaft
kann deswegen nie ein wirklicher Kreislauf in dem Sinne sein, daß es
irgendwann möglich sein wird, Primärrohstoffe vollständig durch Sekundärrohstoffe zu ersetzen. Ein Beispiel beim Papier-Recycling mag
dies verdeutlichen. Bei der Neuproduktion kann maximal 70% Altpapier
eingesetzt werden. Entweder muß also - bei einer unterstellten 100%igen
Altpapiererfassung die Neupapierproduktion um 30% gesteigert werden
(pro Umlaufzyklus) oder bei gleichbleibender Produktion können allenfalls 70% des Altpapiers verwertet werden. Von einem vollständigen
„Kreislauf“ kann daher nicht die Rede sein. Allerdings ist damit eine
Verringerung der Rohstoffinanspruchnahme verbunden. Ob damit insgesamt eine Ressourceneinsparung verbunden ist, bleibt zweifelhaft. Die
Systeme zur Erfassung von Sekundärprodukten sind in der Regel sehr
energieaufwendig; es müßte daher die zusätzliche Energieressourcenentnahme gegengerechnet werden.
Ein weiteres Beispiel soll die ökologische Fragwürdigkeit der stofflichen
Verwertung unterstreichen. Das bei vielen Bürgern (aus „Umweltbewußtsein“) beliebte Sammeln von Joghurtbechern, zum Zwecke der
stofflichen Verwertung erfordert einen wegen des niedrigen Schüttgewichts (im Verhältnis etwa zur Papier- oder Glassammlung) extrem hohen Aufwand an Einsammlungs- und Transportkosten. Darüberhinaus
entsteht ein Sortieraufwand, der wie folgt skizziert werden soll: Ein Joghurtbecher wiegt ca. 5 g, 1 Tonne Joghurtbecher sind demnach 200.000
Stück. Unterstellt man (bei der dem derzeitigen Stand der Technik entsprechenden händischen Sortierung) 5 Sekunden Arbeitszeit für 1 Becher, so sind das 275 Stunden, d.h. bei unterstellten Arbeitskosten von
50.- DM in der Stunde = 13.750.- DM. Damit wird auch deutlich, daß
Rotzinger
ein solches „Sekundärprodukt“ nur mit massiver Subvention auf dem
Markt bestehen kann.
Schließlich hat die stoffliche Verwertung auch eine Alibifunktion zu
erfüllen. Der Bürger, der seine Einwegprodukte nur brav sammelt und
zum Container trägt, hat damit seinen Umweltbeitrag geleistet; sein Gewissen ist rein. Die Industrie freut sich gleich zweifach. Sie kann ihre
Produkte weiterhin absetzen und dabei auf das wunderbar funktionierende Recycling verweisen; bei der Einsammlung, Sortierung, Verwertung und Vermarktung verdient sie gleich nochmals. Also, alles klar!?
3) Abfallentsorgung
Unter Abfallentsorgung wird heute die Endlagerung gebrauchter Produkte ohne oder mit einer vorangehenden Vorbehandlung verstanden.
Historisch bestand die Problemlösung in der ungeordneten Einbringung
der Abfälle in die Umweltmedien. Man verbrannte, man warf ins Wasser
oder einfach irgendwohin. Das Problem war bis Ende des
19.Jahrhunderts ein individuelles; jeder machte mit seinem Abfall das,
was er für richtig hielt oder was für ihn am bequemsten war. Damit war
eine großflächige Verteilung der Abfallstoffe in Boden, Wasser und Luft
verbunden. Zum Beispiel gibt es in München erst seit 1897 eine organisierte und den Einzelnen verpflichtende „Hausunratabfuhr“. Die unorganisierte Entsorgung war nur solange tragbar, als die Qualität der Abfallstoffe noch durch weitgehende Schadstoff-Freiheit bestimmt war und
die Quantität sich noch in stadthygieneverträglichen Grenzen hielt. Gerade letzterer Gesichtspunkt war ausschlaggebend für die Einführung
einer kollektiven Entsorgung. In den Städten stank es nämlich bestialisch
und die Abfälle in den Straßen waren, wenn nicht Ursache, so doch
beschleunigende Faktoren für die Ausbreitung von Ungeziefer, Ratten
und damit von Seuchen.
Ist Müll ein Abfallproblem?
Heute hat neben der Stadthygiene bei der Abfallentsorgung vor allem der
Gesichtspunkt der Minimierung des Eintrags von Schadstoffen in Boden, Wasser und Luft Bedeutung. Die Bemühungen richten sich zum
einen darauf, durch eine „Behandlung“ der Abfälle diese zu separieren in
einerseits hochkontaminierte massen- und volumenmäßig kleine Anteile
und andererseits weitgehend schadstoff-entfrachtete größere Anteile.
Zum anderen wird versucht, für diese Bestandteile je nach Gefährdungspotential adäquate technische Lösungen zu finden, um sie für geologische Zeiträume möglichst gefahrlos für die Umweltmedien endzulagern.
Daß dieser Umgang mit Abfall wenig mit Kreislaufwirtschaft im Sinne
von Ressourcen-Ersparnis zu tun hat, sondern mehr mit einem Schadstoffkreislauf, mag die folgende Betrachtung verdeutlichen. Der sogenannte „Siedlungsabfall“ nimmt nach den derzeit gültigen Rechtsnormen
(wovon die Praxis aber teilweise noch weit entfernt ist) folgenden Weg:
Abfälle, die nicht vermieden oder stofflich verwertet werden können,
werden „thermisch vorbehandelt“, d.h. verbrannt. Dabei entstehen neben CO2 und Wasser Reststoffe unterschiedlichster Art. Die festen
Restprodukte aus der Abgasreinigung (staubförmig, mit Wasser gebunden) müssen ggf. nach einer weiteren Behandlung in einer Hochsicherheits-(Untertage-)Deponie endgelagert werden, oder sie werden zur
Stabilisierung von unterirdischen Hohlräumen (z.B. aufgelassenen Kaligruben) als Versatzmaterial „verwendet“. Die Aschen aus der Müllverbrennung (Schlacke) können je nach Schadstoffinhalten und Baustoffqualitäten entweder (nach einer Aufbereitung, bei der abzulagernde
Reststoffe entstehen) als Baustoffe wieder eingesetzt werden, wobei
naturgemäß ein mehr oder weniger eingebundenes Schadstoffpotential in
die Umwelt eingebracht wird, oder sie wird auf einer speziell vorbereiteten Deponie abgelagert. Bei der Deponierung der Schlacke entstehen insbesondere in der Einbauphase - Sickerwässer, die entweder direkt in
die Kläranlage eingeleitet werden können oder wegen ihres Schadstoffgehaltes vorher nochmals aufwendig vorbehandelt werden müssen. Immer entstehen dabei feste Restprodukte (Klärschlamm oder Sickerwasserkonzentrat), die ihrerseits wieder weiterverarbeitet werden müssen.
Rotzinger
Der Klärschlamm wird z.B. verbrannt, dabei entstehen z.B. wieder
Schlacken, die wieder abgelagert werden, wobei wieder belastete Sickerwässer entstehen usw. usw.
Aus dieser schematischen Darstellung wird deutlich, daß bei der Abfallentsorgung anstatt eines Wirtschaftskreislaufs ein Reststoffkreislauf entsteht. Die technische „Bewältigung“ des Abfallproblems führt also dazu,
daß mit immer größerem technischen Aufwand mit immer größeren
Mengen hochkontaminierter Materialien umgegangen werden muß.
Gleichzeitig müssen immer mehr Teile der Erdoberfläche ober- oder
unterirdisch in Anspruch genommen werden.
Aus alledem läßt sich entnehmen, daß die Bewältigungsziele Vermeidung, Verwertung und Entsorgung nicht nur in einer quantitativen Hierarchie zueinander stehen, sondern daß zwischen Vermeidung einerseits
und Verwertung und Entsorgung andererseits ein tiefer qualitativer Unterschied besteht. Während die Abfallbehandlungsformen an der tatsächlichen Existenz des Abfalls ansetzen, stellen wirksame Strategien der
Abfallvermeidung die herrschende Produktionsweise überhaupt in Frage,
da sie von einer Reduzierung der Warenproduktion ausgehen.
So gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, daß in naher Zukunft das Problem
an der Wurzel gepackt wird, als gering einzuschätzen; die gesellschaftlichen Mechanismen der entwickelten Länder werden eher immer
„perfektere“ Behandlungsstrategien entwickeln. Die Entwicklung der
letzten Jahre bestätigt das.
Schlussbemerkung
Die vorstehend skizzierten Gedanken sind weder besonders originell,
noch sind darin Erkenntnisse enthalten, die in dem Sinne neu sind, daß
sie bisher keiner gedacht hat.
Die Vorstellung, daß die Menschen, vor allem aber die hochindustrialisierten Volkswirtschaften hemmungslos die endlichen Rohstoff- und
Ist Müll ein Abfallproblem?
Energieressourcen ausbeuten, die Erdoberfläche Stück für Stück zu
einem Endlager für Abfälle machen, die Umweltmedien Boden, Wasser
und Luft so mit Schadstoffen anreichern, daß die Erde auf lange Sicht
unbewohnbar und „unlebbar“ wird, diese Vorstellung ist gleichzusetzen
mit dem geplanten Suizid der Menschheit als ganzer.
Es ist erstaunlich, mit welcher Gelassenheit dies betrieben oder hingenommen wird. Voraussichtlich wird noch ein beschleunigender Effekt
dadurch eintreten, daß die sogenannten Länder der Dritten Welt ein
Wirtschaftsentwicklungsniveau anstreben, welches dem der „entwickelten“ Länder der ersten und zweiten Welt gleichkommt.
Und damit schnappt die Falle zu. Das berechtigte Bedürfnis der Menschen dieser Länder, einen Lebensstandard anzustreben, der mit dem
unsrigen vergleichbar ist, wird schließlich den Niedergang und Untergang der Menschheit beschleunigen.
Der Müll ist nur der Indikator für dieses Problem
em.
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 65-70
Autor: Karl-Heinz Barth
Artikel
Karl-Heinz Barth
Der Müll, die Marktwirtschaft und das
Schloßgespenst
1.Dezember 1991
Die „Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen (Verpackungsverordnung - VerpackVO)“ tritt in Kraft. Ziel ist es, überflüssige Verpackungen zu vermeiden und damit den Anfall von Müll zu bremsen.
Oktober 1993
Der neue Aufsichtsrat der „Duales System Deutschland Gesellschaft für
Abfallvermeidung und Sekundärrohstoffgewinnung mbH“ (DSD) konstituiert sich; die sog. „Entsorger“, das sind die Privatfirmen, die im
Auftrag von DSD die Entsorgung der Verpackungsmaterialien durchführen, belegen erstmals drei Aufsichtsratssitze. Die Firmen, die von der
Entsorgung der Gesellschaft von ihren Abfällen oder neudeutsch, von
ihren Wertstoffen leben, bestimmen die Politik einer Gesellschaft, die
laut ihrem Firmenschild für Abfallvermeidung zuständig ist.
Wenn die Vereinigung Münchner Brauerei den Aufsichtsrat der Anonymen Alkoholiker übernähmen, würde niemand glauben, dies sei politisch
gewollt - oder zumindest von der Politik in Kauf genommen. Wenn die
Entsorger Müllvermeidung betreiben, ist dies politisch gewollt, oder!?
Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst
DSD - ein Lehrbeispiel für den Umgang der Politik mit dem Bürger oder für den Umgang der Wirtschaft mit der Politik ?
1.
Am besagten 1.Dezember 1991 trat also die „Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen“ in Kraft. Sollte nicht schon die Überschrift der Verordnung eine Leerformel sein, dann trat eine Verordnung in Kraft, die zum Ziel hatte: die Vermeidung von Verpackungen.
Eine durchaus lobenswerte Zielsetzung, die sich vom dafür zuständigen
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz (und Reaktorsicherheit) auch
trefflich als abfall- und umweltpolitische Großtat verkaufen ließ. In der
Tat: Die Verordnung geht den angesichts des Mangels an Deponie- und
Verbrennungskapazitäten einzig gangbaren Weg und setzt dieselben
Prioritäten, wie es auch die modernen Abfallgesetze tun:
* oberste Priorität genießt die Vermeidung überflüssiger Verpackungen,
* die unvermeidbaren, aus hygienischen oder logistischen Gründen nötigen Verpackungen müssen wiederverwendet oder wiederverwertet werden, und
* erst die Reste, die dann noch übrigbleiben, dürfen der normalen Entsorgungsschiene zugeführt, also deponiert oder verbrannt werden.
Diese Reihenfolge ist in sich schlüssig vor dem Ziel der Schonung knapper Deponie- und Verbrennungskapazitäten. Schlüssig ist ebenfalls, daß
die sog. „thermische Verwertung“ (eine euphemistische Umschreibung
der Tatsache, daß Papier und Plastik gut brennen und dabei auch Wärme
entsteht) nicht als Verwertung im Sinne der Verordnung angesehen wird,
sondern als - erst auf der letzten Stufe mögliche - Abfallentsorgung mit
all ihren negativen Auswirkungen auf die Umwelt.
Barth
2.
Der Weg, auf dem diese Ziele erreicht werden sollten, sollte ein marktwirtschaftlicher und kein dirigistischer sein und wurde (und wird) als
Einstieg in die Kreislaufwirtschaft gefeiert:
Verpackungen sollten nicht par ordre du mufti verboten werden, sondern der Vertreiber der Verpackung soll verpflichtet sein, diese zurückzunehmen. Der dadurch entstehende finanzielle und logistische Aufwand, dem keinerlei Erlös gegenüberstünde, so die Logik, würde schon
dazu führen, daß nur Verpackungen, die sich rechnen, verwendet würden und Überflüssiges verschwinden würde - Verursacherprinzip pur.
3.
Marktwirtschaftlich genauso logisch (und wenn schon nicht abgesprochen, so doch vorhersehbar) wie dieses System war jedoch die Reaktion
der (Markt-)Wirtschaft: Sie wehrte sich heftig gegen diesen der Gewinnerzielung abträglichen neuen Kostenfaktor. Und sie behauptete, sie
könne die Leistung „Rücknahme der Verpackungen“ nicht erbringen
(vor allem die überaus zahlreichen Tante-Emma-Läden seien damit gänzlich überfordert, letztendlich sei die Versorgung der Bevölkerung in
Gefahr).
4.
Und so entstand ein Kompromiß, der die scharfe Waffe „Rücknahmepflicht“ schon ein bißchen stumpfer machte (ob dieser Kompromiß
nicht schon beim Entwurf der Verordnung einkalkuliert oder gar verabredet war, jedoch aus PR-taktischen Gründen zurückgestellt worden war,
gehört zum Kapitel „wie die Politik mit dem Bürger umgeht“): Der
Vertreiber sollte sich von der Rücknahmepflicht dadurch befreien können, daß er sich an einem (noch zu schaffenden System) beteiligte, das
„eine regelmäßige Abholung gebrauchter Verkaufsverpackungen beim
Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst
Endverbraucher oder in dessen Nähe in ausreichender Weise gewährleistet und gewisse (näher definierte) Anforderungen erfüllt.“
War ursprünglich die Rücknahmepflicht beim einzelnen Vertreiber auf
solche Verpackungen begrenzt, die er selbst gewöhnlich verwendet (Tante Emma muß keine Farbdosen zurücknehmen), so war dem „System“
nun schon etwas mehr gestattet (es muß ja schließlich aufgebaut werden): für die verschiedenen „Fraktionen“ wurden gewisse Quoten festgesetzt, die das System zu erfassen, zu sortieren und zu verwerten hat.
Zum 1.7.1995 sollte dieses System 80% der gebrauchten Verpackungen
erfassen und 80% bzw. 90% davon sortieren und verwerten. Trotzdem:
Die Empörung der Wirtschaft war weiter groß und vorhersehbar.
Hatte vielleicht Bundesumweltminister Töpfer wieder nur einmal die
Rolle des „Schloßgespenstes“ (Süddeutsche Zeitung) spielen und mit den
Zähnen klappern dürfen?
Nein: Die Wirtschaft sei nunmehr gefordert und sie werde es schon
richten.
5.
Und die Wirtschaft nahm die Aufforderung ernst: Sie gründete die
„Duales System Deutschland Gesellschaft für Abfallvermeidung und
Sekundärrohstoffgewinnung mbH“. Gesellschafter dieser Firma waren
der Handel, die Verpackungs- und die Markenartikel-Industrie.
Durchaus folgerichtig: Die Verursacher des Abfalls müssen nun für
dessen Beseitigung sorgen. Sie können ihn aber auch modern und arbeitsteilig beseitigen lassen, durch DSD, und die Kosten dafür tragen
(daß diese Kosten - und etliches mehr? - über den berühmten „Grünen
Punkt“ an den Verbraucher weitergegeben werden, ändert zumindest an
der Richtigkeit des Systems nichts).
Barth
Oder ist es aber nicht hier vielleicht schon passiert, daß den Verursachern des Abfalls, pardon der Wertstoffe, wie den mittelalterlichen Sündern die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich mittels Ablaßzahlung von
ihrer Sünde zu befreien? (Wenn dem so wäre, wäre es besonders infam,
daß die Kosten dafür auch noch die Leibeigenen bezahlen).
6.
Diese Gesellschaft braucht nun aber noch, damit alles seine Ordnung
hat, eine staatliche Anerkennung. Es ist ja nicht so gedacht, daß sich
jeder Händler selbst entsorgen lassen könnte, sozusagen im vielzitierten
freien Spiel der Kräfte, sondern von der Verpackungsverordnung gefordert ist ein „System“, das die Entsorgung garantiert. Gefordert ist, könnte man meinen, ein Ansprechpartner für die Politik (die Geschäftsführung dieser Gesellschaft wird wohl deswegen auch gleich mit Ansprechpartnern aus der Politik besetzt).
Diese „Freistellung“ genannte staatliche Anerkennung ist nun wiederum
an gewisse Voraussetzungen gebunden, die zum einen jeder anständige
Gewerbetreibende erfüllen muß und die zum andern besonders in der
Verpackungsverordnung gefordert sind; z.B. die Erfüllung der schon
erwähnten Quoten oder auch die Flächendeckung, was auch heißt, daß
alle Verpackungen und nicht etwa nur die besonders leicht verwertbaren
wie Papier oder Glas gesammelt werden müssen. Oder daß die von der
Verordnung vorgesehene Art der Verwertung garantiert wird und die
Verpackungen nicht etwa verbrannt oder ins Ausland verschifft werden.
Und wiederum leuchtet jedem vernünftigen Menschen ein, daß eine
solche Gesellschaft nicht heute gegründet und morgen hundertprozentig
funktionieren kann. Die Eigentümer dieser Gesellschaft sehen es natürlich ebenso und daher kommt es, daß die dafür zuständigen Umweltminister der Bundesländer mit größten Bedenken diese sog. „Freistellungen“ erteilen und selbstverständlich unter schärfsten Auflagen, die aber
Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst
dann doch in der Praxis das Entsorgerleben gegenüber den Anforderungen in der Verordnung wieder etwas erleichtern.
*
Als kleines Zwischenergebnis darf festgehalten werden, daß
* eine streng am Verursacherprinzip orientierte Verordnung zur
Vermeidung von Abfällen geschaffen wurde,
* das Leben mit dieser Verordnung den Verursachern der Verpackungen
dadurch erheblich erleichtert wurde, daß sie deren Auswirkungen durch
Zwischenschalten einer Gesellschaft erheblich
abmildern können und
* diese Gesellschaft wiederum die (für den Anfang?) noch
einigermaßen strengen Anforderungen etwas erleichtert bekommt.
* (Ohne der Geschichte vorgreifen zu wollen, eine Anmerkung zu den
Kontrollen der immer noch relativ harschen Anforderungen an diese
Gesellschaft: Als besagte Gesellschaft in heftigste Turbulenzen gerät
und die Medien davon voll sind, erklärt ein offizieller Vertreter eines für
die Kontrollen zuständigen Umweltministeriums auf die Frage nach
Konsequenzen, die sein Haus als Reaktion auf diese Turbulenzen gegenüber unserer Gesellschaft zu ziehen trachte, diese Vorgänge seien noch
nicht an sein Haus herangetragen worden).
* Kleiner Exkurs ins Grundsätzliche: Fällt es eigentlich auf, daß
unsere Geschichte schon gar nicht mehr von der „Verordnung über
die Vermeidung von Verpackungsabfällen“ handelt, sondern nur noch
von der „Recycling-Gesellschaft“ (Süddeutsche Zeitung) DSD?
7.
Nach der Grundsatzentscheidung, die Verantwortung für den Vollzug
des Gesetzes in die Hand der Betroffenen zu legen, ergaben sich - rein
theoretisch und rein marktwirtschaftlich - zwei Lösungsansätze:
* Die Gesellschaft entsorgt quasi als verlängerter Arm der Vertreiber
brav und teuer und führt damit dazu, daß sie sich immer überflüssiger
macht, weil sich der Handel von einem lästigen
Kostenfaktor befreien möchte, oder
Barth
* die Gesellschaft wird selbständig und innovativ und entdeckt in der
Entsorgung selbst wieder eine lohnende Aufgabe, die einen neuen Markt
bietet.
8.
Erst einmal organisiert sich die besagte Gesellschaft namens DSD selbst.
Sie ist verantwortlich, aber im Grunde eine Briefkastenfirma. Sie läßt
durch Privatfirmen die Entsorgung durchführen, kassiert dafür Lizenzgebühren von den Herstellern der Verpackungen und soll für die Beseitigung (es ist bewußt hier nicht mehr die Rede von Verwertung) der Rohstoffe/Wertstoffe sorgen.
Die Konditionen, zu denen diese Firma abschließt, sind durchaus anständig, und die Finanzkontrolle der Firma nicht besonders stringent.
Dies hat - streng marktwirtschaftlich immer noch streng logisch - zur
Folge, daß sich viele Entsorgungsfirmen, kleine und große und viele
Gemeinden als eigentlich Verantwortliche für die Beseitigung des Abfalls
unter die Fittiche dieser Firma begeben und auch einen Teil des Kuchens
haben wollen.
9.
Der Firma wiederum geht es blendend; sogar so blendend, daß sie überrollt wird von zurückgegebenen Verpackungen und bald nicht mehr
weiß, wohin damit. (Es handelt sich dabei um Kunststoffverpackungen,
deren Verwertbarkeit schon immer stark bezweifelt wurde). Und so
kommt es, daß besagte Firma im Sommer 1993 mitteilt, sie könne nun
leider ihren Aufgaben für den Bereich der Kunststoffverpackungen nur
mehr sehr beschränkt nachkommen, die Deutschen hätten einfach zuviel
davon zurückgegeben. (Zur Erinnerung: so war es gedacht von der Verordnung).
Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst
Nachdem daraufhin das Schloßgespenst tobt, sammelt die Firma doch
wieder alles. Doch kurz darauf kommt sie nun in erhebliche finanzielle
Schwierigkeiten: Die Lizenznehmer (das sind die Mit-Eigentümer) zahlen
leider nicht und deshalb habe sich leider ein Loch von einer Milliarde
aufgetan. Man brauche Geld, um den Konkurs abzuwenden, und außerdem bessere Verträge: Ansonsten sei das System gescheitert und der
Handel müsse zurücknehmen: Zurück auf Los im großen Monopoly.
Das Schloßgespenst tobt wieder und verschreckt kommt die Rettung:
Die privaten Entsorger (an denen sich - weitsichtig, wie sie sind - schon
längst die großen Stromgiganten wie RWE beteiligt haben) zeigen ihre
Verantwortung für das Große Ganze und retten mittels einer Finanzspritze von ca. 600 Millionen DM das System. (Daß sich das nur die
Großen leisten können und etliche Kleine dabei auf der Strecke bleiben,
ist wiederum marktwirtschaftlich logisch). Der Preis dafür ist auch nur
symbolisch: Die Entsorger dürfen in den Aufsichtsrat ihres Auftraggebers (was wiederum marktwirtschaftlich nicht ganz logisch ist).
10.
Die kleine Geschichte hat zum (vorläufigen) Ende, daß die Firmen, die
vom Anfall der Verpackungen und gerade nicht von dessen Vermeidung
leben, ein Viertel der Aufsichtsratssitze der Firma besetzen, die für die
Vermeidung der Verpackungen sorgen soll. Die Münchner Brauer sind
mit einem Viertel im Aufsichtsrat der Anonymen Alkoholiker!
Nachklapp
Da Deponieraum sehr knapp ist (siehe oben) hat das Schloßgespenst
noch einmal mit den Zähnen geklappert. Es hat eine „Technische Anleitung“ erlassen, nach der nur noch deponiert werden darf, was auf 5%
seines ursprünglichen Volumens geschrumpft ist.
Barth
Rein technisch geht das (angeblich) nur mit Müllverbrennung. Also müssen neue Müllverbrennungsanlagen gebaut werden. Diese wiederum
müssen - da teuer - Material zum Verbrennen haben.
Und was brennt gut?
Plastik und Papier. Und da bei der Verbrennung Wärme entsteht, wird
das verbrannte Material verwertet.
Also spricht, diesmal rein logisch, nichts gegen die thermische Verwertung (siehe oben). Und deswegen muß - rein logisch, zum letzten Mal die Verbrennung auch erlaubt werden, vom Schloßgespenst in der Verpackungsverordnung.
11.
Wer baut Müllverbrennungsanlagen? RWE! Wer macht Umweltpolitik?
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 71-72
Autor: Konrad Lotter
Artikel
Konrad Lotter
Calvinos Mülltonne
Die Müllbeseitigung als Ritus existentieller
Erneuerung
In Paris heißt die Mülltonne „poubelle“, benannt nach Monsieur Poubelle, dem Präfekt des Departments Seine, der ihren Gebrauch im Jahre
1884 verordnete. Auch Italo Calvino, der italienische Schriftsteller, der
seine letzten Jahre in Paris lebte, benutzte die poubelle, um seinen Müll
aus dem kleinen Einfamilienhaus hinauszuschaffen, das er bewohnte.
Und diese Benutzung, diese Beseitigung der Hausabfälle, bereitete ihm,
wie jetzt in einer autobiografischen Skizze aus dem Nachlaß zu lesen ist,
nichts weniger als „Befriedigung“ (vgl. „Die Mülltonne und andere Geschichten“, München 1994, Hanser Verlag).
„Die einzige Hausarbeit, die ich mit einer gewissen Kompetenz und
Befriedigung verrichte, ist das Hinausschaffen des Mülls. Der Vorgang
teilt sich in mehrere Phasen: Abholung des Mülleimers aus der Küche
und seine Entleerung in die größere Tonne, die in der Garage steht,
sodann Transport besagter Tonne auf den Gehweg vor dem Haus, wo
sie von den Müllmännern abgeholt und ihrerseits in den Müllwagen
entleert werden wird.“
Auf die Frage, wohin der Müll nun kommt, nachdem ihn die Müllmänner abgeholt haben, gibt Calvino keine Antwort. Auch nicht auf die Fra-
Calvinos Mülltonne
ge nach dem Zusammenhang von Ökonomie und Müll oder nach der
Grenze von Recyceln und Entsorgen. Dafür beantwortet er eine Frage,
die vor ihm wahrscheinlich noch nicht einmal jemand gestellt hat, auf die
Frage nämlich, worin die Befriedigung besteht, die das Hinausschaffen
des Mülls gewährt.
In seiner Antwort verweist Calvino auf das Rituelle dieser Handlung: auf
den Ritus der Reinigung, der den Ritus des Beendigens und des Neubeginnens in sich schließt. Das ungeschriebene Gesetz, dem das Ritual der
Müllbeseitigung gehorcht, verlangt nämlich, „daß die Ausscheidung der
Abfälle des Tages mit dem Ende desselben zusammenfällt und daß man
sich schlafen legt, nachdem man die möglichen Quellen schlechter Gerüche von sich entfernt hat, kaum sind die abendlichen Gäste gegangen,
werden die Fenster geöffnet, die Gläser gespült und die Aschenbecher
geleert; ... und das tun wir nicht nur aus natürlichem Hygienebedürfnis,
sondern auch, damit wir morgens beim Aufwachen einen neuen Tag
beginnen können, ohne uns noch mit dem abplagen zu müssen, was wir
am Abend zuvor für immer von uns haben abfallen lassen.“
Calvino vergleicht die Befriedigung, die das Hinausschaffen des Mülls
gewährt, mit der Befriedigung der Defäkation, d.h. des Stuhlgangs. Die
Entleerung des Darms vermittelt das Gefühl, der Körper enthalte nun
nichts Fremdes mehr, also nichts, was dem Menschen nicht selbst zugehörte. Es wird eine Scheidung vollzogen zwischen dem Eigenen und
dem Fremden. Nur in der Entäußerung des Fremden erhält man das
Eigene und wehe dem Verstopften oder dem Geizhals, der sich von
nichts zu trennen vermag und am Ende im eigenen Kot erstickt.
Alltägliche Erfahrungen werden zu existentiellen Erfahrung. Aus dem
gewöhnlichen Hausmüll wird seelischer Müll, aus der Reinigung des
Wohnzimmers die Reinigung des „Seins“. Nur indem wir uns fortwährend von den Schlacken unseres abgelebten Lebens trennen, können wir
das erhalten, was unsere Substanz und unser eigentliches Sein ausmacht.
Der existentielle Ritus der Reinigung besteht so in der Notwendigkeit
„mich von einem Teil dessen, was mein war, zu trennen, die Hülle oder
Konrad Lotter
Larve oder ausgedrückte Zitrone des gelebten Lebens abzuwerfen, um
meine Substanz zurückzubehalten und mich am nächsten Morgen wieder
vollständig (ohne Reste) mit dem identifizieren zu können, was ich bin
und habe. Nur wenn und indem ich es wegwerfe, kann ich sicher sein,
daß etwas von mir noch nicht weggeworfen worden ist und vielleicht nie
weggeworfen werden muß.“
Müllproduktion wird gleichgesetzt mit Bewegung, mit Leben, mit Entwicklung hin zum eigentlichen „Sein“. An die Stelle des objektiven oder
geschichtsphilosophischen Gegensatzes von Aneignung und Entfremdung tritt der subjektive, existenz-philosophische Gegensatz von Eigenoder Eigentlichwerden und Wegwerfen. Solange ich wegwerfe bin ich.
Solange ich Abfall produziere, bin ich selbst noch kein Abfall. Die Autobiografie des Menschen wird zur fortwährenden Müllabfuhr, zur fortwährenden Absonderung von Dingen, Gedanken, Beziehungen, Anliegen etc., die fremd geworden sind und nicht (oder nicht mehr) Teil der
eigenen Existenz darstellen.
Subjektiv würde eine Welt, in der nichts weggeworfen wird und daher
keine Erneuerung stattfindet, zum „Inferno“. Soweit hat Calvino recht.
Wie steht es aber mit der objektiven Welt? Wird sie nicht umgekehrt
gerade dadurch zum „Inferno“, daß der Mensch alles wegwirft und die
Erneuerung einen selbstläufigen Charakter annimmt? Wird nicht die
Welt selbst zu „poubelle“ der falschen Selbstverwirklichung des homo
oeconomicus? (Für den Hinweis auf Italo Calvino danke ich Wolfgang
Herrmann.)
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 73-92
Bücher zum Thema
Rezensionen
Besprechungen
Bücher zum Thema
Egon Becker / Peter Wehling
Risiko Wissenschaft. Hochschule
und Wissenschaft in der ökologischen Krise
Frankfurt/Main 1993 (Campus), 172
S., 39.- DM.
Die Bildungspolitik und die Hochschule sind wieder in die Schlagzeilen
geraten. Durch Einsparungen der
Fördermittel und durch Effizienzsteigerungen der Berufsausbildung versucht der Staat seine Finanzkrise zu
beheben. Die Studentenschaft, die
Hauptbetroffenen der Sanierung, protestieren und streiken. Egon Becker
und Peter Wehling, Mitarbeiter am
„Institut für sozial-ökologische Forschung“ in Frankfurt/Main, kritisieren, daß diese finanzpolitische Diskussion nur an den Symptomen der
Hochschulkrise kuriert. Die Hochschulen gehörten vielmehr selbst zu
den Ursachen einer Krise, die durch
ihre Effizienzreform überwunden
werden soll. Sie nennen sie die „Krise
des gesellschaftlichen Naturverhältnisses“, die durch die Wissenschaften
selbst mitinitiiert ist und die der Überprüfung ihrer eigenen Gefährdungspotentiale bedürfe.
Den Kern des „Risikos Wissenschaft“
stellt für die Autoren die Herausbildung eines „scientific-industrialbureaucratic complex“ dar, in dem
sich ein technizistisch-konstruktives
Weltverständnis durchgesetzt habe
(39). Dieser Komplex habe längst
auch die kognitiven Grundlagen solcher Wissenschaften erfaßt, aus denen heraus sich die Spitzen- und Zukunftstechnologien entwickeln. Sie
nennen diesen Komplex den aktiven
und stabilen „Transformationskern“,
der die weltweiten Modernisierungsund Veränderungsschübe bewirke.
„Naturzerstörung, Produktion von
Großrisiken, globale Gefährdungslagen und gewaltige Destruktionspotentiale kennzeichnen den unter Selbsteinwirkung expandierenden Transformationskern“ (40f).
Nach Ansicht der Autoren drohen
gegenüber diesem Kern die Geistesund Sozialwissenschaften zu Elementen eines „Entsorgungs- und Ver-
drängungsapparates“ zu degradieren.
Sie würden entweder durch Methodentransfer oder Anpassungsleistungen in diesen tragenden Kern integriert, oder sie verbleiben als „kulturelle Hülle“, deren vermeintliche
Autonomie darin besteht, den Kern
nicht zu tangieren. Diese institutionalisierte Trennung von Kern und Hülle
verwehre den Wissenschaften die
Selbstreflexivität; die Reflexionspotentiale werden ins Abseits gedrängt.
Unter der Ägide der technisch orientierten Naturwissenschaften sei eine
Neukonzeption von Einheit der Wissenschaften entstanden, die ihr Integrationszentrum nicht mehr im Humboldtschen Ideal von Bildung finde,
sondern
aus
der
technischpraktischen Verschmelzung der Wissenschaften hervorgehe.
Becker und Wehling sind denn auch
skeptisch gegenüber wissenschaftssoziologischen Konzepten, die - wie
Habermas - in den Wissenschaften
Potentiale herrschaftsfreier Kommunikation vermuten; sie gehörten selbst
den kolonialisierenden Mächten an,
vor denen sie geschützt werden sollen. In ähnlicher Weise hat für sie die
These von Ulrich Beck, die Wissenschaften aktivierten im Zuge der Modernisierung selbst Energien der
Selbstbeherrschung und -begrenzung,
„Züge einer Selbstbeschwichtigung“
(54). Es sei die neue Qualität der Wissenschaft, daß sie in ihrer Verbindung
mit technischer Anwendung und industrieller Nutzung zum aktiven Kern
einer zur Selbstreflexion unfähigen
Risikoproduktion geworden ist.
Angesichts der Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse sehen Becker
und Wehling die Aufgabe der Wissenschafts- und Hochschulreform,
ein sog. „Überlebenswissen“ zu erzeugen. Ökologie und Umweltschutz
dürften nicht mehr bloß als externe
Zielvorgaben an die Wissenschaften
verstanden werden, sondern machten
die Reflexion der eigenen Wissenschaftspraxis und neue Arbeits- und
Kooperationsformen
erforderlich.
Diese müßten neben und außerhalb
der institutionalisierten Formen von
Forschung und Lehre entstehen.
„Einzelne Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler können sich durch
die Reflexion auf die Überlebensbedingungen der Gattung aus ihren organisatorisch-institutionellen,
fachlich-disziplinären und politischfraktionellen Bindungen herauslösen.“ (77) So entstünden „ökologische Allianzen“, die in der Bearbeitung der gemeinsamen Überlebensproblematik ihre Einheit haben.
Zu einer solchen ökologischen Reform von Bildung und Wissenschaft
sehen die Autoren Ansätze: Wissenschaftsläden, eigenständige Forschungsinstitute, ökologische Allianzen, die quer zu den universitären Statusgruppen
liegen.
Naheliegenderweise stellen die Autoren fest, daß solche Reformbestrebungen eher und leichter in den Bereichen der kulturellen Hülle stattfinden, daß jedoch im wissenschaftlichindustriell-bürokratischen
Kernbereich solche Allianzen weit schwerer
durchzusetzen sind.
Bücher zum Thema
So bedenkenswert die These der Autoren ist, daß die Wissenschaften im
Zuge der Modernisierung ihren Ort
autonomer Reflexion verloren haben
und selbst die Probleme produzieren,
die durch sie gelöst werden sollen, ihre eigenen Reformvorschläge bleiben blaß. Sicher wird die Entschärfung des konstatierten Risikos Wissenschaft nicht durch ein neues Besoldungsgefüge
und
mehr
ökologische Forschungsförderung gelingen. Ihre Vorschläge zur Veränderung der Studieninhalte und angebote bleiben allgemein und nur
Postulate. Es wird notwendig sein,
diese Perspektiven der Wissenschaft
inhaltlich und organisatorisch zu konkretisieren.
Alexander von Pechmann
Gernot Böhme
Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung
Frankfurt/ Main 1993 (Suhrkamp),
494 S., br., 29.80 DM.
Francis Bacons „Novum Organon“
(1620) hat, so die von Gernot Böhme
verzeichnete Entwicklungslinie, die
neuzeitliche und moderne Wissenschaftsentwicklung bis heute in programmatischer Weise beeinflußt. Das
so umrissene Baconsche Zeitalter ist
bestimmbar durch die Grundüberzeugung, wissenschaftlich-technischer
Fortschritt sei zugleich humaner
Fortschritt, verbunden mit Zielvorstellungen einer Entwicklung der
menschlichen Gattung. Bacons Anre-
gungen zu einer induktiven Verfahrensweise der Naturwissenschaften
leitete Wissenschaft als Forschung
ein. So wurde die ältere Vorstellung
eines abgeschlossenen Feldes von
Wissen verlassen. Bacons Utopie
„Nova Atlantis“ (1627) entwirft einen
wissenschaftlich
und
technisch
durchgebildeten Staat, dem die modernen Gesellschaften mit ihrer Wissenschaftsorganisation und ihrem
Spezialistentum entsprechen. Eine
moderne
Wechselseitigkeit
von
Grundlagenforschung und Technik
entspricht der von Bacon geforderten
Nutzanwendung der Wissenschaften.
Böhme sieht in der westlichen Forschungspolitik der sechziger und
siebziger Jahre und in den Erwartungen eines wissenschaftlichen Sozialismus die Höhepunkte einer Verwirklichung des Baconschen Programms. Heute, so Böhme, sei in den
Industriegesellschaften dieses Programm verwirklicht, ohne daß sich
die mit ihm verbundenen Hoffnungen erfüllt hätten. Vor allem die
Kriegstechnologien und ihre Folgen
sowie die fortschreitende Umweltzerstörung haben die Nützlichkeit der
Wissenschaften suspekt werden lassen und regen zum Umdenken an.
Böhme macht Vorschläge, wie das
Baconsche Zeitalter an seinem Ende
zu verlassen sei. Er geht aus vom
Faktum Wissenschaft, denn Wissenschaft und Technik gehören zur condition humaine. Dennoch läßt sich
eine Veränderung des Konzepts einer
Naturbeherrschung und der Manipulationsnotwendigkeit vorstellen. Auch
wird angeregt, die naturwissenschaft-
liche Forschung weitgehend aus einer
bis heute vorherrschenden Zielorientierung und Nützlichkeitserwartung
zu entlassen. Im Sinne einer Vermittlung von naturwissenschaftlicher und
humanistischer Bildung solle die Befreiung aus einem nutzenorientierten
Wissenstyp angestrebt werden. Wissen, so Böhme, solle wieder Freude
machen und zur Weisheit betragen.
Wissen, Wissenschaft, Technik, Methode, Programm, Paradigma, Interesse, Fortschritt, Mensch, Natur,
Epoche, Ende: In Böhmes Buch
werden die Ausdrücke alltagssprachlich verwendet, teils soziologisch und
teils wissenschaftstheoretisch terminologiert. So führt Böhme zur Epochenbestimmung das früher von ihm
im Feld des Starnberger Institutes
mitentwickelte Konzept einer „Finalisierung der Wissenschaft“ an, einer
gesellschaftlichen
Nutzanwendung
herausgebildeter und verfestigter Paradigmata. Keineswegs aber kann das
besagte Baconsche Zeitalter paradigmentheoretisch in einem engeren,
strukturgeschichtlichen Sinne begriffen werden. Der Epochenbegriff ist
in dem Zusammenhang zu weit angesetzt. Bacon hat in seiner Auffassung
von Forschung nicht an Gesetze im
Sinne mathematisch formulierter
Aussagen über den Verlauf eines Geschehens gedacht und nicht an eine
Erkenntnis von Natur durch sie mitkonstituierenden Modellen. Er überließ noch einer Metaphysik die Aufsuchung der Formen der Dinge in
den Erscheinungen.
Derartige Verständnisschwierigkeiten
könnten damit zusammenhängen,
daß in Böhmes Buch größtenteils
früher verstreut veröffentlichte Aufsätze zu geschlossenen Blöcken
(Transzendentale Wissenschaftstheorie, Theoriegeleitete Wissenschaftsgeschichte, Kognitive Wissenschaftssoziologie) geordnet sind, die vor allem
durch die Leser in Beziehung zu der
übergeordneten
Epochenkennzeichung zu setzen sind, eine Aufgabe,
die die Lektüre wiederum anregend
macht. Im Kapitel über „Transzendentale Wissenschaftstheorie“ etwa
bleibt von Autorenseite aus undeutlich, ob es methodisch um die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit des Gegenstandes von Forschung
und Technik geht oder um den Ansatz zu einer handlungstheoretischen
Modifikation transzendentalen Argumentierens. Es ist ein Unterschied,
zu erklären, unter welchen Bedingungen etwas so ist wie es ist, oder anzugeben, unter welchen Bedingungen
es auch anders sein oder werden
könnte. In Böhmes Buch geht es entschieden um Möglichkeiten zu Veränderungen und Eingriffen. Ein Aufsatz, der hierzu thematisch paßt („Der
normative Rahmen wissenschaftlichtechnischen Handelns“) findet sich
im
Kapitel
„Kognitive
Wissenschaftssoziologie“. Die Leser
haben so die Aufgabe, wenn sie ihn
nicht schon haben, sich über die
Versatzstücke des Buches einen Eindruck über eine zeitgenössische
Rezeption
von
Transzendentalphilosophie
zu
verschaffen. Unentscheidbar bleibt
jedoch, inwieweit Böhme eine
pessimistische Bestandsaufnahme mit
optimistischen Ausblicken vermittelt,
und wie das zu begründen ist. Gerade
Bücher zum Thema
begründen ist. Gerade die Geschichte
einer Verwirklichung des Baconschen
Programms dürfte Anlaß zu der Frage geben, inwieweit der Verlauf programmatisch geleiteter Forschung
voraussagbar ist und unter welchen
Voraussetzungen eine Wissenschaftsforschung selbst einflußreich ist.
Sofern sich hier die Kennzeichnung
eines Zeitalters noch innerhalb des
Zeitalters ansiedeln muß und zugleich
ein Anfang und ein Ende unterschieden werden, ergibt sich eine grundlegende Schwierigkeit, die mit den vorgelegten „Studien zur Wissenschaftsentwicklung“ nicht begreifbar wird.
Die Betrachtungen gehören der besagten Epoche noch an, ein Ende ließe sich allenfalls vorhersagen. Böhme
weist mit seinen Vorschlägen über
das Zeitalter hinaus in einem Plädoyer
für seine Beendigung. Es läßt sich nur
etwas beenden, was noch nicht zu
Ende ist. Offen bleibt, welchem Zeitalter die vorausgesetzten Handlungsspielräume und Mittel angehören.
Böhmes Einschätzung, man pflege
eine Epoche erst dann zu benennen,
wenn man sie verlasse, pointiert ungewollt eine Paradoxie der Immanenz. Ihr Rechnung tragen hieße, sie
über den Weg eines Einbezuges zu
benennen und ihr allererst eine verfügbare Form zu geben, denn es geht
um ein Problemverständnis, das Teil
des zu Verstehenden ist.
Ignaz Knips
Vilem Flusser
Vom Stand der Dinge. Eine kleine
Philosophie des Design
hg. von Fabian Wurm, Göttingen
1993 (Steidl-Verlag), 126 S., 20.- DM.
Die in das Buch aufgenommenen essayistischen Skizzen und Glossen gelten der Architektur, der Stadtplanung
und der Gestaltung von Alltagsgegenständen, Fragen einer kommunikativ vielfach vernetzten und daher
nie bloß kosmetischen Formgebung.
Der ernste Hintergrund von Flussers
zuweilen ironischen Bemerkungen erschließt sich in dem Maße, wie im Bereich des Design, im Bereich der
Wahrnehmung und vor allem im
Gebrauch der Gegenstände die Einsicht auf dem Spiele zu stehen
scheint, daß Gegenstände nicht unabhängig davon wie sie sind, das sind,
was sie sind. Flussers Beschäftigung
mit Fragen einer Ethik der Formgebung ist von einem anderen Zusammenhang her bekannt. Konventionen
(Gesten. Versuch einer Phänomenologie, 1973; 1991) sind nicht ablösbar
von einem ideellen Substrat, an das allenfalls geglaubt werden könnte. Sie
gestalten dasjenige, was notwendig
das Ergebnis ist und folgenreich
bleibt.
Flusser siedelt 'Design' dort an, wo
„Kunst und Technik (und von daher
wertendes und wissenschaftliches
Denken) zur gegenseitigen Deckung
kommen, um einer neuen Kultur den
Weg zu ebnen“. Letzteres ist unvermeidbar im positiven wie im negativen Sinne. Sofern Gebrauchsgegenstände als „Hindernisse zum Abräumen von Hindernissen“ gelten
können, eröffnet sich für das Thema
Gestaltung eine „zugleich politische
und ästhetische Frage“. Es geht um
die möglichst geringe Behinderung
bei einer fortschreitenden Anhäufung
von Gebrauchsgegenständen. Die
Frage nach erträglichen Hindernissen
stellt sich auch im Blick auf den Entwurf von Maschinen: „Wie haben
Maschinen zu sein, damit ihr Rückschlage auf uns nicht weh tut? ...
Selbstredend: Wir können sie so entwerfen, damit sie uns lecken, statt uns
zu beißen. Aber wollen wir tatsächlich
geleckt sein? Das sind schwierige Fragen, weil ja niemand tatsächlich weiß,
wie er sein will.
Das Thema 'Design' schließt das der
„Vergänglichkeit aller Gestalten (und
daher allen Gestaltens)“ ein: „Denn
der Abfall beginnt uns ebenso zu behindern wie die Gebrauchsgegenstände. Die Frage nach Verantwortung
und Freiheit (diese dem Gestalten innewohnende Frage) stellt sich nicht
nur beim Entwerfen, sondern auch
beim Wegwerfen von Gebrauchsgegenständen.“ Die Aufgabe einer Gestaltung verbrauchter Gebrauchsgegenstände hat paradoxe Züge, besagt
doch der zweite Grundsatz der
Thermodynamik, „daß aller Stoff dazu neigt, seine Gestalt zu verlieren“.
Gestaltung von Abfall, Beseitigung
wie Wiederverwertung, heißt vor diesem Hintergrund, Ordnungseinheiten
auf verbrauchte Ordnungseinheiten
zu beziehen. Mit Flussers kybernetisch orientierter Sicht wird die Unumkehrbarkeit von Entropievorgängen betont. Verantwortungsvolles
Gestalten ist für Flusser erst mit einer
solchen Einsicht möglich, denn Eingriffsmöglichkeiten gibt es nur im
Sinne von Verzögerungen, von Aufschüben. Design gerät leicht zur verdeckenden Kosmetik, wenn ein Verhältnis von Linearität und Zeit nicht
bedacht wird.
Die Essays sollen Zweifel anregen
und die Theoriebildung zunächst einer Bodenlosigkeit aussetzen: Theorie
nicht als „innerer Blick nach außen,
wofür das Fenster das Instrument ist
..., ohne dabei naß zu werden“. Ein
„gefahrloses und erfahrungsloses Erkennen“ ähnelt für Flusser einer Architektur der „künstlichen Höhlen“
mit ihrer heimtückischen Gestalt von
„Heim und Heimat“. Ob es vermeidbar ist, „zwischen vier durchlöcherten
Wänden unter einem durchlöcherten
Dach vor Fernsehschirmen zu hocken oder im Auto erfahrungslos
durch die Gegend zu irren“, wird davon abhängig gemacht, ob eine Theorie des Design für dialogische Strukturen einer technischen Lebenswelt
eintritt. „Die gegenwärtige Kulturlage“, schreibt Flusser, „ist so wie sie
ist, weil verantwortungsvolles Gestalten als rückschrittlich erlebt wird“.
Ignaz Knips
Al Gore
Wege zum Gleichgewicht. Ein
Marshallplan für die Erde
Mit einem Vorwort von Hans Immler. Aus dem Englischen von Frank
Hörmann und Walter Brumm, Frankfurt/Main (Fischer-Verlag), 383 S.,
39.80 DM.
Bücher zum Thema
Der amerikanische Vizepräsident Al
Gore gliedert sein Buch in nach dem
bewährten Schema: Symptome, Diagnose, Therapie in drei Hauptteile.
Erstens beschreibt er die gegenwärtigen Naturzerstörungen, zweitens liefert er eine Erklärung und drittens
entwirft er einen „globalen Marshallplan“ zur „Rettung der Erde“. Die
Beschreibung der bekannten Phänomene wie die Abholzung der Regenwälder, die Veränderung des Klimas,
das Ozonloch, das Artensterben, den
Giftmüll usw. verbindet er mit Ausführungen darüber, wie er persönlich
hiermit in Berührung gekommen ist.
Diese Ausführungen wie auch die
weiteren Darlegungen sind von Sendungsbewußtsein erfüllt und werden
dem Autor Sympathien einbringen,
zeigen sie doch immer wieder einen
sowohl weitgereisten wie patriotischen, ernsten, ehrlichen und frommen Mann (Baptist). Erklärt bzw. abgeleitet werden die Phänomene der
Naturzerstörung im zweiten Teil aus
„geistigen Wurzeln“ und falschem
Denken. Dieses bestehe nicht zuletzt
in Platos Trennung von Leib und Seele und Descartes' Entgegensetzung
von Körper und Geist. Nachdem so
die „Umweltkrise“ als „äußere Manifestation einer inneren Krise“ (25)
aufgefaßt worden ist, erwartet der Leser, daß im dritten Teil des Buches als
Therapie gegen die Naturzerstörungen ein neues Denken entwickelt
wird. Und es wird auch von einem
neuen ganzheitlichen Denken sowie
von einer „Ökologie des Geistes“ gesprochen. Aber diese gehen explizit
von der praktischen Vorgabe und
Voraussetzung der „industriellen Zivilisation“ des Kapitalismus aus. Infolgedessen wird es wohl nicht jedem
Leser einleuchten, daß die konkreten
Vorschläge des „Marshallplans“ zur
Rettung der „industriellen Zivilisation“, die im dritten Teil das Schwergewicht des Buches bilden, tatsächlich
das Resultat einer theoretischen Kritik
an Plato und Descartes sind. Mancher
wird eher den Eindruck eines theoretischen Umwegs haben, der zwar
„ungemein schmückt“ (Thomas
Mann), aber letztlich praktischen Interessen der „industriellen Zivilisation“ Rechnung trägt (wie denn auch
schon der erste Marshallplan).
Die Maßnahmen, die der Vizepräsident zur Rettung der Erde vorschlägt
und die dem Rezensenten persönlich
beim Radeln im Englischen Garten
200 Meter hinter dem Aumeister klar
vor Augen treten, sind folgende: erstens müsse die Öffentlichkeit darüber
aufgeklärt werden, daß Umweltschutz
und Naturerhaltung ein vorrangiges
Ziel und ein „neues Organisationsprinzip“ sein müßten; zweitens müsse
aus der Naturerhaltung - mit Hilfe
neuer Technologien - ein profitables
Geschäft mit „gewaltigen Gewinnen“
gemacht werden; drittens müsse der
Staat hierzu steuerliche Anreize geben; viertens seien zwischenstaatliche
Vereinbarungen erforderlich (die unter anderem Konkurrenzvorteile aus
Umweltschutzauflagen verhindern);
fünftens müsse die Weltbevölkerung
„stabilisiert“ werden. Diese „Stabilisierung“ ließe sich hauptsächlich erreichen durch den „Transfer umweltfreundlicher Technologien in die
Dritte Welt“ (302) und durch die
Propagierung der Geburtenkontrolle,
einschließlich der künstlichen Empfängnisverhütung. (Der Heilige Stuhl
sei in diesem Punkt nicht zu tadeln,
sondern gehöre wegen seiner sonstigen Verdienste zu den „natürlichen
Verbündeten“ (319), womit der Vizepräsident in Gegensatz steht zu Kritikern wie Jonas und Popper, die hier
von einem „Verbrechen“ des Heiligen Stuhls gesprochen haben.) Im
Kern hält Al Gore konsequent an den
„Grundsätzen von Privateigentum,
Kapitalismus und Demokratie“ fest,
indem er ihren „Mißbrauch“ verhindern will (274). D.h. Erde, Wasser,
Luft sollen grundsätzlich weiter als
Mittel der „Profitmaximierung“ dienen, aber sie sollen nicht zu „kurzfristigen Profiten“ durch „übermäßige
Ausbeutung“ benutzt werden. In der
Sicherung „wirtschaftlichen Wachstums“ durch „langfristige Investitionen“ mit „langfristigen Profiten“ wobei die „natürlichen Ressourcen“
besonders der Entwicklungsländer
„nicht zu schnell“ auf den Weltmarkt
gebracht werden sollten - bestehe das
„Gemeinwohl“, das sowohl das amerikanische „nationale Interesse“ wie
das „universale Interesse“ sei, wofür
alle Individuen „Verantwortung“ tragen und wozu sie „sich verpflichten“
müßten.
Der Widerspruch oder Zielkonflikt
zwischen Ökonomie und Ökologie
bzw.
zwischen
ökonomischem
Wachstum und Naturerhaltung bleibt
in diesem Konzept der „Rettung der
Erde“ deshalb verdeckt, weil der Vizepräsident nur die eine Seite berück-
sichtigt, nämlich daß die vorgeschlagenen Reformmaßnahmen einer
staatlich regulierten Marktwirtschaft
(ebenso wie die der sozialen Marktwirtschaft) tatsächlich das ökonomische Wachstum fördern können und
sich aus dem Umweltschutz tatsächlich ein Geschäft mit „gewaltigen
Gewinnen“ machen läßt. Andererseits aber hemmen und belasten die
Umweltkosten auch das ökonomische
Wachstum. Das betrifft unter anderem staatlich verordnete Ökosteuern
auf Energieverbrauch und CO2Emissionen, Subventionen für Ersatztechnologie oder kommunale
Entsorgungen
von
nichtrecycelbaren,
unbrauchbaren
Gebrauchswerten, also Müll. Das das
ökonomische Wachstum bzw. die
Produktionsausdehnung im Profitinteresse die unangetastete Voraussetzung bleibt, sind seine Erfordernisse
Rahmenbedingungen maßgebend für
die Spielräume der staatlichen ökologischen (ebenso wie der sozialstaatlichen) Regulationen. Der Staat wird
nicht solche Regulationen vornehmen, die mit dem ökonomischen
Wachstum seine steuerlichen Springquellen verstopfen und ihm das Wasser abgraben. Das ökonomische
Wachstum als ein verselbständigter
unkontrollierter Prozeß wird also mit
Schranken der Naturerhaltung bzw.
mit Naturzerstörungen und ökologischen Krisen einhergehen. Ihnen
wird man mit Al Gore's Reformmaßnahmen zwar kompensatorisch entgegenwirken können, aber in einem
immer weiter abnehmenden Maße.
Die ökologische Marktwirtschaft Al
Bücher zum Thema
Gore's und sein sendungsbewußter
Glaube werden die Müllberge nicht
versetzen.
Elmar Treptow
Volker Grassmuck / Christian Unverzagt
Das Müll-System
Frankfurt/M. 1991 (Suhrkamp), 312
S., br., 18.-DM
Man könnte die großangelegte und
von der ersten bis zur letzten Seite
faszinierend geschriebene Arbeit als
eine Art Müll-Geschichtsschreibung
klassifizieren. Von seinen Ursprüngen
in den frühen Hochkulturen wird berichtet, von der „ursprünglichen Akkumulation des Mülls“ in den antiken
und modernen Metropolen, seinem
„Goldenen Zeitalter“ während der
Wirtschaftswunderjahre bis zur Gegenwart der „Müllinternationale“, die
mit kolonialistischen Mitteln die Entwicklungsländer (und nicht nur sie) zu
Deponieräumen und Endlagerungsstätten macht. Ebenso von der Ausweitung und Differenzierung des
Mülls auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der Produktion und
von den Versuchen, dem Müll durch
Kanalisation, Abfuhr, Konzentration,
Besteuerung etc. Herr zu werden.
Deutlich wird dabei einerseits, daß
sich die Geschichte des Mülls nicht
linear, sondern über Katastrophen
entwickelt, andererseits, daß der Müll
seinen Einfluß- oder Herrschaftsbereich ständig ausdehnt und sich auch
innerhalb der Sprache, der Kunst, der
Rechtsprechung oder der Politik geltend macht.
Mit gleicher Berechtigung könnte
man V. Grassmucks und Chr. Unverzagts Arbeit aber auch als natur- oder
technikwissenschaftliche Abhandlung
lesen, die die stoffliche Zusammensetzung des Mülls analysiert, die Möglichkeiten seiner Recycelbarkeit oder
die Probleme seiner Verbrennung
und Endlagerung diskutiert. Erfreulich ist dabei der überwiegend nüchterne Ton, in dem die Sache quasi
selbst zu Wort kommt, auch dort, wo
von der Unmöglichkeit geschlossener
Kreisläufe in der industriellen Produktion, von den Gift-Rückständen
der Müllbeseitigung und den Gefahren die Rede ist, die davon für unser
Leben und unsere Gesundheit ausgehen. Bitter und zynisch wird der Ton
erst gegen Ende hin, wo die Geschäfte der Giftmüll-Exporteure, die Unverantwortlichkeit der AtommüllEndlagerer und die Machtlosigkeit
derer dargestellt werden, die sich gegen diesen ganzen Wahnsinn zu wehren versuchen.
Am treffendsten allerdings scheint
mir die Klassifikation des Werks als
eines Epos zu sein. Über Geschichtsschreibung und
wissenschaftliche
Analyse hinaus haben wir es mit einem Epos des Mülls zu tun. Dafür
spricht nicht nur die Rahmenerzählung, in denen sich die beiden Autoren zu bloßen Herausgebern eines
aufgefundenen Manuskripts erklären,
in denen ein fiktiver Professor dem
„Geheimnis“ des Mülls auf der Spur
ist. Dafür spricht auch die Erzählstruktur, die sich in Episoden, Brie-
fen, Reflexionen, „Biographien“ und
sogar dramatischen Entwürfen entfaltet oder die Erzählform, die die allgemeinen, gesetzmäßigen, zahlenmäßigen Zusammenhänge fast durchwegs an Einzelfälle individueller
Schicksale, Ereignisse oder Katastrophen zurückbindet. Vor allem aber
erscheint der Müll selbst als eine Art
von Heros, der, wie die antiken Heroen kein prosaisch-begrenztes, sondern ein freies, selbsttätiges Leben
führt und, das ist der entscheidende
Punkt, in seiner individuellen Entfaltung zugleich der Gemeinschaft und
dem sozialen Leben die Gesetze vorschreibt.
Spätestens, seitdem der Müll die
Form des chemischen oder des atomaren „Sondermülls“ angenommen
hat, beginnt er, auf unabsehbare Zeit
unkalkulierbare
Metamorphosen
durchzumachen. „Uneinholbar vor
jeder Zivilisation“ begründet er „eigene Zeitreihen mit eigenen Ereignisstrukturen“, steigt in die Atmosphäre
auf oder sickert ins Grundwasser ab,
geht neue und unbekannte chemischen Verbindungen ein und strahlt
auf andere biologische Strukturen aus.
Durch seine unvorhersehbaren Wirkungen und Gefahren zwingt der
Müll am Ende die Zivilisation in seinen Dienst, so daß „die ganze Infrastruktur der Gesellschaft nach den
Erfordernissen des Müllsystems umgestaltet“ werden muß (S.224 und
S.254). Aus der Frage „wohin mit
dem Müll?“ wird die Frage „wohin
eigentlich mit den Menschen?“ Über
die Pragmatik einer ökologischen
Marktwirtschaft weist V. Grassmucks
und Chr. Unverzagts Ansatz weit hinaus. Es geht nicht um das politische
Problem, ob der Müll mit den demokratischen Mitteln der Besteuerung,
der Subventionierung, der rechtlichen
Verordnungen etc. bewältigt werden
kann. Als philosophische These läßt
sich vielmehr destillieren, daß in Zukunft jedes politische System zum
Müll-System wird, daß seine Leistung
oder Akzeptanz also danach bemessen werden wird, wie es mit den Gefahren der schon bestehenden „Altlasten“ fertig wird, ganz abgesehen
davon, daß sich diese Altlasten im
Prozeß des ökonomischen Wachstums weiterhin potenzieren.
Nichts weniger findet in dem Buch
also statt, als ein Wechsel des gesellschaftstheoretischen oder des geschichtsphilosophischen Paradigmas.
Es sind nicht mehr die klugen, vorausblickenden Taten der Politik, die
das gute Leben der Gemeinschaft regeln und sicherstellen. Es sind auch
nicht mehr die Fortschritte der Ökonomie, an die die Hoffnung auf ein
Leben ohne Mangel und ohne Unterdrückung geknüpft werden. An die
Stelle der Politik und der Ökonomie
tritt der Müll als letzte Bestimmungsinstanz der gesellschaftlichen Organisation und der geschichtlichen Bewegung. Zum einen wird die vom Müll
ausgehende Gefährdung der Gesundheit und des Lebens und die
Sachlogik seiner Beherrschung zum
Maß, an dem sich Politik und Ökonomie (aber auch andere Subsysteme
der Gesellschaft, wie Wissenschaft
oder Technik) gleichermaßen orientieren. Zum anderen wird der Müll
Bücher zum Thema
zur Basis, auf der sich die gesellschaftlichen Phänomene in letzter Instanz
allein noch angemessen aufschlüsseln
und begreifen lassen.
Leicht ließe sich einwenden, daß der
Müll als Produkt der industriellen
Produktion selbst etwas Abgeleitetes,
Sekundäres sei, das schon aus diesem
Grund nicht zum Prinzip einer neuen
Gesellschafts- und Geschichtstheorie
werden könne. Der Einwand zieht jedoch nicht. Obzwar von der Ökonomie produziert, hat sich der Müll
längst verselbständigt. In der Luft und
im Wasser, im Boden und in der Atmosphäre hat er, als Gift und Strahlung, als Ablagerung und Rückstand
ein Eigenleben angenommen, dem
entgegenzusteuern zukünftig die ganze Energie der Ökonomie und Politik
in Anspruch nehmen wird.
Eingebettet liegt die Darstellung des
Müll-Systems und des mit seiner Entdeckung vollzogenen Paradigmenwechsels nun allerdings in eine religiöse, fast mystische Hülle. Schon im
Vorwort ist von einem „Geheimnis“
die Rede, das dem Müll-System zugrundeliege und das die Aufzeichnungen des fiktiven Professors (als deren
bloße Herausgeber sich die beiden
Autoren bezeichnen) nur zögerlich
preisgäben. Nun, am Ende des
Werks, wird das Geheimnis gelüftet:
es ist der Untergang der Menschheit,
der Jüngste Tag. Die Endlösung des
Müllproblems fällt mit der Apokalypse zusammen, die mit dem Paradigmenwechsel zum Müll-System eingeläutet wurde. Als „Bedingung und
Zeichen Seines Kommens kommt die
Schreckensherrschaft des Abfalls“
(S.305). „Abfall“ als Sünde, als Abfall
von Gott und „Abfall“ als Müll
kommen zur Deckung. Der Müll ist
nicht mehr nur draußen in der Welt,
sondern auch drinnen, in jedem Menschen selbst. „Sobald wir selbst der
Müll geworden sind, hat alles Fragen
nach Gründen aufgehört. Wir werden
... vereint zu der Menschheit (sein),
die wir vor unserer Müllwerdung nie
wahrhaft sein konnten.“ (S.308)
Konrad Lotter
Frank Hoffmann/Theo Rombach
Die Recycling-Lüge. Vermeiden
statt verwerten
Stuttgart 1993 (Trias, G.ThiemeVerlag), br., 159 S., 29.80 DM.
Der etwas reißerische Titel verspricht
mehr, als er hält. Man erwartet, insbesondere auch, weil es sich bei den
beiden Autoren um Redakteure von
Tageszeitungen handelt, eine Art
Enthüllungs-Journalismus, eine Überführung falscher politischer Zielsetzungen, eben um „Lügen“, die die
Öffentlichkeit bewußt in die Irre leiten. Stattdessen erfährt man, freilich
in vielen Details und Zahlenbeispielen, was man schon vorher, wenn
nicht gewußt, so doch mit Bestimmtheit vermutet hat: Ohne Recyclen
geht es zwar nicht, Recyclen allein aber bringt die Müllberge auch nicht
zum Verschwinden. Die produktiven
Kreisläufe vom Rohstoff über die
Ware und das Zum-Müll-werden der
Ware hin zu sekundären Rohstoffen
und neuen Waren lassen sich nicht
schließen. Aus Alt wird nicht wieder
Neu. Nur wer erwartet hat, daß aus
einem alten Joghurtbecher ein neuer
Joghurtbecher, aus einem alten Auto
ein neues Auto wird, der sieht sich
nach der Lektüre des Buches enttäuscht. Aber wer hat das schon?
Hoffmann und Rombach weisen zum
einen die Grenzen des Recyclings auf
und zeigen zum anderen, daß das Recycling in vielen Fällen ökologisch
auch gar nicht sinnvoll ist, da die neu
investierte Energie größer ist, als die
ersparte. Ihr Ergebnis: der Begriff der
Kreislaufwirtschaft, der die Assoziation geschlossener Kreisläufe erweckt,
ist ein „Phantom“. Soll man deshalb
nicht mehr von Kreisläufen sprechen? Selbst die Bundesregierung
spricht in der (von den Autoren zitierten) 5.Novelle des Bundesabfallgesetzes nur von „rückstandsarmer Kreislaufwirtschaft“. Der Kreislauf ist also
nur ein in der Natur (etwa in der Verrottung von Gartenabfällen) vorgezeichneter Idealfall, dem man sich
annähern will, von dem man aber
weiß, daß man ihn nicht erreichen
wird.
Wenn die Autoren, als Alternative zur
Wiederverwertung, die Strategie der
Müllvermeidung vorschlagen, so befinden sie sich auf dem Weg, den die
Bundesregierung (zumindest in der
Theorie) bereits eingeschlagen hat.
Die offizielle Zielhierarchie von Müllvermeidung, -verwertung und entsorgung meint nichts anderes. Unterschiede bestehen allenfalls in quantitativer Hinsicht. Auch darin natürlich, daß die politische Praxis der
Theorie hinterherhinkt.
Als Mittel der Müllvermeidung schlagen Hoffmann und Rombach 1.
rechtliche und politische Maßnahmen
(Verpackungsordnung, ökologische
Orientierung des Planungsrechts, des
Steuer- und Subventionspolitik etc.),
2. ökonomische Maßnahmen (Gebührenordnung der Müllabfuhr, ökologische Preisgestaltung) und 3. moralisch-appellative Maßnahmen vor.
Auf diese letztere, wie z.B. freiwillige
Vereinbarungen mit Abfallproduzenten, Aufklärungs- und Informationsarbeit, Vorbildfunktion von Verwaltungen etc. (115), legen sie ganz besonderes Gewicht.
Der Vorwurf, den Hoffmann und
Rombach an das Umweltministerium
richten, daß es „manche heilige Kuh
der Marktwirtschaft“ (2) unbehelligt
davonkommen lasse, fällt auf sie
selbst zurück. Vom immanenten
Zwang ökonomischen Wachstums
und dem kausalen Zusammenhang
von Wirtschaftswachstum und Müllproduktion ist kaum etwas zu erfahren. Ebensowenig vom lebensbedrohenden Müll in Luft und Wasser oder
von den Zwischen- oder Endlagerstätten der chemischen und der Atomindustrie. Aber hier ist sowieso
nicht an Recycling gedacht, so daß sie
das Thema des Buches nur am Rande
berühren.
Die schöne Erkenntnis, daß vor dem
Müll alle Menschen gleich seien, da er
„keine Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder Klassenschranken“
(S.9) nehme, ist nur die halbe Wahrheit. Gleich sind die Menschen nur
im Hinblick auf die Bedrohung, die
der Müll (qua Ozonloch, Klimaver-
Bücher zum Thema
änderung etc.) für ihr Leben und ihre
Gesundheit darstellt. Ganz verschieden dagegen sind die Menschen im
Hinblick auf die Erzeugung von Müll,
denn die reichen Individuen und Nationen haben hier offensichtlich größere Rechte. Nicht nur, daß die Erzeugung des individuellen und des nationalen
Reichtums
mit
der
Erzeugung von Müll eng verbunden
ist (der dann z.T. in die armen Länder
exportiert wird). Er setzt auch moralisch wie politisch in die Lage, allgemein, international die Verringerung
bestimmter Müllarten einzuklagen
(jene nämlich, die man selbst technisch im Griff hat, so daß mit dem
Verbot gleichzeitig die umweltverträglichere Technologie vermarkten
kann).
Konrad Lotter
Gottfried Hösel
Unser Abfall aller Zeiten. Eine
Kulturgeschichte der Städtereinigung
2.erweiterte Auflage München 1990
(Jehle-Verlag), 64.- DM.
Ein Werk, das viele Fakten vermittelt
und dem Leser sowohl die historischen Bezüge nahebringt, als auch
den erstaunlichen Umstand, daß bis
in die Neuzeit das Thema Entsorgung
nicht als reziproker Vorgang zur Versorgung der Gesellschaft gesehen
wurde. Zu allen Zeiten nämlich war
„Abfall“ vor allem nur eines: die Entledigung lästiger Begleiterscheinungen
der menschlichen Zivilisation. Der
Blick des Autors aber geht tiefer. In-
dem er das Problem der Städtereinigung mit dem Problem der Stadthygiene verbindet, begreift er Entsorgung und Versorgung als eine
Einheit. Nur wo die Städte richtig
entsorgt werden, können ihre Bewohner mit lebenswichtigen Gütern
versorgt werden. Dazu gehört neben
frischer und sauberer Luft vor allem
auch frisches und sauberes Trinkwasser.
In einer Fülle von Details stellt der
Autor - von Babylon, Athen und
Rom angefangen und bis zu den Metropolen des 20.Jahrhunderts reichend
- die jeweiligen Probleme der Städtereinigung dar, in ihren Bezügen zur
jeweiligen Form der Produktion und
dem allgemeinen Zustand der Kultur.
Neben der Beseitigung von festen
und flüssigen Abfällen kommt er dabei auch auf den Umgang mit den
menschlichen Exkrementen, mit der
Tierkörperbeseitigung und auf die
Formen der Leichenbestattung. Breiten Raum nehmen die Schilderungen
der teilweise unsäglichen Zustände in
den Städten des Mittelalters und der
Renaissance ein und der häufig hilflosen Versuche der jeweiligen Bürokratien, mit dem Problem der Müllabfuhr fertig zu werden.
Interessant ist übrigens, daß eine auch
heute wieder geführte Diskussion,
nämlich Müllverwertung versus Müllverbrennung, bereits in der zweiten
Hälfte des 19.Jahrhunderts geführt
wurde. Seinerzeit haben die „Utilitaristen“ aus durchaus eigennützigen
Motiven einer landwirtschaftlichen
Verwertung der Abfälle das Wort geredet, während die „Stadthygieniker“
die Verbrennung bevorzugten. Ich
hätte mir eine Kontroverse genauer
behandelt gewünscht, die zwar anklingt, aber nicht vertieft wird. Man
kann sie durch folgende Zitate charakterisieren: „Müll ist eine Materie
am unrechten Ort“ und „Müll ist
nichts anderes, als ein Exkrement der
Zivilisation“. Diese Zitate charakterisieren auch heute zutreffend die Gegenpositionen, die die gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit
Müll beherrschen.
Kritisch sei angemerkt, daß trotz des
Erscheinungsjahres (1990 für die
2.Auflage) die abfallwirtschaftlichen
Betrachtungen Mitte der 70er Jahre
enden, obwohl gerade in der letzten
zwei Jahrzehnten das Thema mit
durchaus gravierend neuen Betrachtungsweisen diskutiert und sowohl
gesellschaftlich breiter als auch wissenschaftlich tiefer angegangen wurde.
Trotzdem wird jeder, der sich über
die vielfältigsten Fragen der Entsorgung interessiert, das Buch mit Gewinn lesen und vor allem auch mit
Vergnügen, denn Gottfried Hösel hat
es verstanden, die vielleicht etwas
spröde Materie mit Hilfe einer ganzen
Reihe von Curiosa aufzulockern und
über weite Strecken hinweg geradezu
spannend zu gestalten. Sehr zur Anschaulichkeit trägt auch die reichhaltige Bebilderung bei. Möglicherweise
wird sich dieses Buch zu einem Standardwerk über die Geschichte der
Städtereinigung entwickeln.
Ferdinand Rotzinger
Niklas Luhmann
Ökologische
Kommunikation.
Kann die moderne Gesellschaft
sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?
Opladen 1990 (Westdeutscher Verlag), 275 S., 24.80.
Bei der erstmals 1986 erschienenen
Schrift handelt es sich um eine argumentativ verdichtete und erweiterte
Fassung eines Vortrages, den der Verfasser ein Jahr zuvor anläßlich der
Jahresversammlung der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte. Der Untertitel, der auch dem Titel des damaligen
Vortrages entspricht, bringt den Zugang, den Luhmann zum brennenden
Problem der Ökologie sucht, sogleich
auf den Punkt. Es kann seiner Ansicht bei der Darstellung und Klärung
des ökologischen Problems weder um
das ständige Erinnern an das Faktum
und die diversen Fakten der Umweltzerstörung zu tun sein noch um die
Suche und Lokalisierung der Ursachen für dieses Faktum. Entscheidend ist vielmehr, Aufklärung über
die Art und Weise zu gewinnen, wie
das gesellschaftliche System auf die
ökologischen Effekte seiner Umwelt
und auf die Kommunizierung über
dieselben reagiert und zu reagieren
imstande ist. Um diese Reaktionsformen zu erkennen und allenfalls beeinflussen zu können, bedarf es aber in
erster Linie einer fundierten Einsicht
in die eigentümlichen Rationalitäten
des modernen gesellschaftlichen Systems.
Bücher zum Thema
Wie einst die Marxsche Theorie das
soziale Problem von der Ebene der
moralischen Empörung und der Aufstellung utopischer Ziele und entsprechender Handlungs-Imperative auf
die Ebene systematischer KonfliktDarstellung einer reich gegliederten
Gesellschaftsformation transponierte,
so sieht Luhmann - mit einer in diesem Punkt unübersehbaren Sympathie für den Theoretiker Marx - seine
Aufgabe darin, das ökologische Problem von jedweder Behandlung durch
einen ökologischen Moralismus und
Utopismus fernzuhalten und stattdessen auf den neuesten, um die ökologische Umweltdimension komplexer
gewordenen
systemtheoretischen
Begriff zu bringen. Und so erstaunt es
denn auch nicht, daß über weite Strecken der Schrift den Apologeten einer
neuen „Umweltethik“, den Verfechtern „spätnaturrechtlicher“ Gerechtigkeits- und Kommunikationstheorien und den religiös-utopischen
Warnern innerhalb der grünen Politik
mit einer guten Mischung aus
entlarvendem
Witz
und
technokratischem
Charme
vorgerechnet wird, daß sie mit ihrer
Form der ökologischen Kommunikation
am
ökologischen
Problemlösungsvermögen des sozialen Systems größtenteils vorbeigehen
und bestenfalls ein salonfähiges und
insofern das ökologische Problem
verharmlosendes Kommunikationssystem der „Selbstalarmierung“ produziert
Ob
sodann
haben.
der Versuch, das ökologische Problem im Gegenzug systemtheoretisch zu begreifen und zu disziplinieren, dem Vergleich mit der
systematischen Darstellungs- und
Kritikpotenz der Marxschen Theorie
standhält? Immerhin bemüht sich
Luhmann, die logische Apparatur, mit
der er das soziale System beschreibt,
zu umreißen und auf das ökologische
Problem hin zu modifizieren. Und es
fehlt auch nicht an einer gewissen
Spezifik der Darstellung, werden
doch die Möglichkeiten einer erfolgversprechenden
ökologischen
Kommunikation speziell mit Blick auf
die einzelnen Instanzen des sozialen
Systems, auf Ökonomie, Recht,
Wissenschaft, Politik, Religion und
Erziehung erwogen.
Nach Luhmann ist das soziale System
sowohl als ein Nexus eines komplexen Ganzen von sich ausdifferenzierenden Teil- und Subsystemen zu verstehen wie auch als ein Gebilde, das
als Ganzes und in seinen Teilen
Strukturen
der
„Autopoiesis“,
„Selbstreferenz“ und „Selbstbeobachtung“ aufweist. Ferner steht das System in einem Bezug zur Umwelt, der
seiner Struktur nach als Relation
(„Einheit“ und „Differenz“) von
„System“ und „Umwelt“ problematisiert und mit evolutionstheoretischen
Überlegungen unterbaut wird. Dieser
Bezug ist dann auch der eigentliche
logische Ort, an dem Luhmann das
ökologische Problem ansiedelt. Um
diesem Problem gerecht zu werden,
müßte das Verhältnis von System und
Umwelt idealiter ein Verhältnis von
Einheit und Differenz derart sein, daß
beide sich wechselseitig gewisse
Funktionen abverlangen. Das Differente hätte die Aufgabe, das System
zu einer die Umwelt integrierenden,
veränderten Einheitsbildung, sozusagen einer neuen Einheit von Einheit
und Differenz anzuregen. Die Einheit
dagegen hätte die Aufgabe, das System aus sich heraus für das Differente
sensibel zu machen, d.h. gegenüber
der Umwelt offen zu halten und auf
seine Grenze reflektieren zu lassen.
Einheiten ohne oder mit völlig integrierter Differenz sind für das System
entweder unsinnig oder „selbstgefährdend“. Ein Beispiel für den ersten
Fall ist die Vorstellung von einem
„Ökosystem“, welches über die Differenz zwischen System und Umwelt
übergreift und so den Systembegriff
ad absurdum führt. Beispiel für den
zweiten Fall ist ein System, das auf die
Umwelt durch Ignoranz oder Totalbeherrschung reagiert und so durch
die Ausschließung der Umwelt selbstgefährdend wird, wie auch ein System, das sich bei auftretender Kollision mit der Umwelt dieser völlig meint
anpassen zu müssen und sich somit
aus eigener Regie selbstgefährdend
wird. Die systemtheoretische Lösung
des ökologischen Problems bestünde
demgegenüber darin, daß das soziale
System eine Anpassung an und Offenheit gegenüber der Umwelt unter
Aufrechterhaltung, ja Stärkung seiner
erreichten Selbständigkeit zu leisten
hätte. Die Frage ist nur, wie diese
Anpassungs- und Autonomieleistung
vor sich gehen soll, wenn man nicht
darauf vertraut, daß die Logik der
Evolution dafür sorgen wird, daß Systeme, die ökologisch selbstgefährdend
sind, von selbst aus der Selektion fallen werden. Welche Systemeingriffe
sind dann vonnöten?
Doch
auch
hinsichtlich
der
Beantwortung der impliziten Frage,
wie die moderne Gesellschaft sich auf
ökologische Gefährdungen einstellen
kann, ist es leichter zu verstehen,
wogegen der Autor sich wendet, als
zu begreifen, worauf er mit seinen
systemtheoretischen
Erklärungen
genau hinauswill. Da das soziale
System nicht nach dem Kausalprinzip
verfaßt ist, ist es nach Luhmann
eigentlich müßig, eine Systemtherapie
so anzusetzen, daß man irgend eine
„Ursache“ für die ökologische
Gefährdung beseitigt. Es versteht
sich, daß er damit auch der
politischen Option, ökologische
Schäden seien nach dem Verursacherprinzip aufzurechnen, wenig abgewinnen kann. Und da das eigentliche Kennzeichen des modernen sozialen Systems nach Luhmann darin
bestehen soll, daß es als einerseits
„binär“ (wahr /falsch; recht/ unrecht)
„codiertes“
und
andererseits
„selbstreferentiell“ strukturiertes System in der Form der sich differierenden Einheit Paradoxien produziert,
Paradoxien mittels Aufstellen von
Typen, verschiedenen Ebenen und
Hierarchien eliminiert und sich dadurch die Bedingung für eine neue
Paradoxie (z.B.: das Prinzip, das
durch Differenzierung der Ebenen
Selbstbezug ausschließt, bezieht sich
auf sich selbst) einhandelt, kann er
sich auch nicht mit der Vorstellung
anfreunden, es müsse eine neue übergeordnete, selbstbezügliche Systemrationalität hergestellt werden, durch die
das System zu kurieren sei. Nach dem
so gekennzeichneten sozialen System
kann man nur noch von differenzset-
Bücher zum Thema
zenden selbstbezüglichen Rationalitäten, die insofern Rationalitäten im
System oder Teilrationalitäten sind,
ausgehen. Und Rationalität herstellen
würde dann offenbar bedeuten, Veränderungsvorgänge auf ebendiese
Struktur der Teilrationalität abstimmen.
Der häufig geäußerte Verdacht, daß
Luhmann mit dieser durchaus
berechtigten Absage an eine neue
totale
selbstbezügliche
Systemrationalität
allzu
viele
Rationalitätsstrukturen über Bord
wirft, ist im vorliegenden Falle
begründet. Übersetzte beispielsweise
Hegel in seiner „Differenzschrift“ die
von Luhmann beschriebene Struktur
der „Paradoxierung“ und „Entparadoxierung“ noch in ein schöpferisches Produzieren und Bewußtmachen der antinomischen Vernunft, so
scheint diese Struktur bei Luhmann
zu implizieren, daß es nurmehr um
eine theoretische Einsicht in einen
schwer überschaubaren Steinbruch
von Rationalitäten gehen kann - eine
Einsicht, die, nebenbei bemerkt, auch
nicht gerade einen unbescheidenen
Wissensstandpunkt markiert. Und
konnte der Jenaer Hegel der genannten Struktur eine Ethik abgewinnen,
die sich das Ziel einer Auflösung der
Paradoxie durch wechselseitige Anerkennung selbstreferentieller Subjekte
setzte, gibt es für Luhmann lediglich
noch eine Ethik des „Anerkennens
der Paradoxie“ nach Auflösung sozialer Subjekt-Rationalität. Martin Bondeli
Lothar Schäfer
Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung
der Natur
Frankfurt/ Main 1993 (Suhrkamp),
276 S., 48.- DM.
Der englische Lordkanzler ist in den
beiden letzten Jahrzehnten zu einem
der meistgescholtenen Männern avanciert. Ihm bzw. dem Erfolg seines
Projekts einer „neuen Wissenschaft“
sei es zu verdanken, daß heute unsere
Flüsse stinken und unsere Städte ersticken, die Böden vergiften und das
Ozonloch stetig wächst. Die Baconsche Utopie technischer Naturbeherrschung sei, so Hans Jonas, zur „Unheilsdrohung“ geworden. Angesichts
solch massiver Schuldzuweisungen
nimmt Lothar Schäfer die Bürde auf
sich, seine Lordschaft zu verteidigen.
Das „Bacon-Projekt“ will im Rückgriff auf den Ethikbestand der Moderne eine Gegenposition zu Jonas'
„Prinzip Verantwortung“ aufbauen.
Für Schäfer bedeutet das Festhalten
an dieser Option insbesondere, daß
wir unser Handeln weiterhin auf moralische Grundsätze stützen müssen,
die der Mensch sich selbst gibt, und
daß die Forderung, menschliches
Handeln dem Diktat einer „Natur an
sich“ unterzuordnen, „unzumutbar
und unmoralisch“ (136) sei. Schäfer
geht es dabei freilich nicht um die
Verteidigung des konkreten Programms von Bacon, dem er einen tatsächlich einseitig-aggressiven und naiven Optimismus der Naturbeherrschung zuschreibt, sondern um die
Rettung des Baconschen Ideals. Diese
Option, durch den Gebrauch techni-
schen Wissens die Lage der Menschheit zu verbessern, sollten wir nicht
preisgeben, meint Schäfer, wenn uns
an der Idee der Aufklärung, am Projekt der Moderne noch etwas liege.
Schäfer nennt es zurecht ein Mißverständnis, Bacons Utopie aufs bloße „Machen“, auf den wertneutralen
Einsatz einer rein technischinstrumentellen Vernunft zu reduzieren. Bacon habe das technisch Machbare durchaus unter die Kautel des
moralisch Guten gestellt. Zwar begründe Können Macht; aber das Dürfen bedürfe für Bacon der Rechtfertigung im Rahmen einer Ethik. Auch
wenn Schäfer einräumt, daß diese
„general admonition“ Bacons, unter
der allein technisches Wissen anwendbar sei, unausgeführt geblieben
sei, so bilden doch die technische und
die moralisch-praktische Vernunft zusammen das Baconsche Ideal, das
Wissenschaft, Technologie und Allgemeinwohl verklammert. Für Schäfer folgt daraus, unter Berufung auf
Bacon eine Änderung der Ökonomiepräferenz vom „profit“ zum „benefit“ einzuklagen. „Das Wachstum
der Wirtschaft darf kein Selbstzweck
sein. Denn wir sind nur dann berechtigt, die Güter der Natur auf die Befriedigung unserer Zwecke zu beziehen, wenn wir Zwecke verfolgen, die
'über alle Natur hinausweisen': sie
müssen auf die Versittlichung und die
Moralität des Menschen bezogen
sein.“ (151).
Diese Verpflichtung des technischindustriellen Handelns auf die Moralität macht jedoch nur Sinn, wenn man
die These vertritt, die Ursache der
ökologischen Krise der Gegenwart
bestünde in einer Verselbständigung
der technisch-instrumentellen Vernunft. Dann macht es Sinn, diese wieder auf ihre anfänglichen ethischmoralischen Grundlagen zu verpflichten. Was aber ist, wenn gerade die
Verbindung von Wissenschaft und
Technik mit Moral das Problem ist?
Wenn der Bau der Atombombe seine
Energien gerade nicht aus der Aussicht auf Macht oder Profit, sondern
aus der moralischen Legitimation des
antifaschistischen Kampfes gezogen
hat; oder wenn der weltweite Ausbau
der Atomindustrie seine Dynamik
nicht aus der Gewinnerwartung der
Energiekonzerne, sondern aus der ethischen Legitimation der Verbesserung der Energieversorgung der
Menschheit erhalten hat? Und warum
soll den Gen-Techniker über die gute
Bezahlung und die hohe Reputation
hinaus nicht auch - und vielleicht vor
allem - das moralische Motiv treiben,
durch die Entwicklung neuer Verfahren der Menschheit zu dienen? Ist
dem so, dann ist die Baconsche Verklammerung von Technik und Moral
nicht die Lösung, sondern die Ursache des Problems.
Nun leugnet Schäfer nicht, daß dieser
naive Optimismus der Menschheitsbeglückung heute seine Grenzen zeitigt, und es daher der Erweiterung
resp. der Begrenzung des Baconschen
Ideals bedarf: neben das traditionelle
Prinzip des Fortschritts müsse das
neue ethische Prinzip der Erhaltung
treten. Gerade weil die Menschheit
durch die Technik die Macht der
Selbstzerstörung erhalten hat, so in-
Bücher zum Thema
terpretiere ich Schäfer, bedarf es einer
allgemeingültigen Norm, die das technisch-industrielle Handeln auf die
Erhaltung der Menschheit verpflichtet. In dem Versuch, diese Norm
nicht durch den Rekurs auf vormoderne Naturmodelle, sondern mit den
Mitteln der Moderne zu sichern, sehe
ich das Besondere von Schäfers Verhaben. Es bedürfe keiner „neuen Ethik“ der Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur, sondern
die Beschränkung geschehe kraft autonomer Selbstbeschränkung. Nicht
die Furcht vor der Katastrophe, der
Schrecken vor dem Abgründigen
menschlichen Tuns oder das „Erzittern“ vor dem Frevel, sondern die
Vernunft sei es, die menschliches
Handeln mäßige.
Es liegt nahe, sich bei diesem Begründungsversuch auf Kant zu beziehen. Läßt sich also, so die Frage, mit
Kant über das traditionelle Gebot der
Versittlichung hinaus der Grundsatz
der Erhaltung der Menschengattung
als Gebot der Vernunft, ohne Rekurs
auf metaphysische Aussagen, einsehen und begründen? Schäfer bezieht
sich dazu auf Kants Pflichtenlehre: so
wie die reine Vernunft dem Menschen gebiete, die Würde des anderen
anzuerkennen, so gebiete sie auch,
uns selbst anzuerkennen. Die erste
Pflicht des Menschen gegen sich
selbst sei „die Selbsterhaltung seiner
animalischen Natur“. Für Kant erstreckt sich diese Pflicht auf das Verbot der Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung. Mir
erscheint es als legitim, wenn Schäfer
diese Pflicht heute zur Sorge um die
Erhaltung der Gesundheit und damit
einer lebenswerten Umwelt erweitert.
Im Rahmen von Kants Ethikkonzept
geht jedoch die Pflicht des Menschen
gegen sich selbst darüber hinaus: es
sei die Pflicht des Menschen zur
„Vervollkommnung seiner selbst“,
um sich dadurch seiner als sittliches
Vernunftwesen würdig zu erweisen.
Für Kant ist die Erhaltung der animalischen Natur des Menschen kein
Zweck, sondern nur die Bedingung
für die „höhere Aufgabe“ der Versittlichung. Der, wie er schreibt, „Anbau
seiner Naturkräfte als Mittel (H.v.m.)
zu allerlei möglichen Zwecken“ sei
die Pflicht des Menschen gegen sich
selbst.
Schäfer stimmt mit dieser Lesart offenbar überein. Er ergänzt daher
Kants Pflichtenlehre: neben die autonome gesetzgebende Vernunft stellt
er als „Ausgangsdatum unsere eigene
leibliche Bedürftigkeit, die uns als
endliche und sinnliche Wesen charakterisiert“ (199). Von diesem Datum
scheint Schäfer nun abzuleiten, es gebe eine Pflicht des Menschen, „auch
für unser leibliches Wohl Sorge zu
tragen.“ Diese erstrecke sich nicht nur
auf das Individuum, sondern auf die
Gattung. „D.h. wir müssen bei all unseren Handlungen gegenüber der Natur reflektieren, was die Auswirkungen unseres Handelns mit Bezug auf
unser kurz- und langfristiges Wohlergehen sein werden.“ (199f) Dieses
Gebot, unser Wohlergehen nicht nur
als Mittel für „höhere Zwecke“, sondern selbst als den letzten Zweck zu
verfolgen, an dem wir all unsere
Handlungen gegenüber der Natur o-
rientieren, sei ein Gebot, dessen Ursache allein die gesetzgebende Vernunft sei.
Schäfer räumt selbst Zweifel an der
Haltbarkeit dieser Konstruktion ein,
die nicht nur attraktiv ist, sondern
m.E. auch das zentrale Argument seiner Verteidigung des Bacon-Projekts.
Denn wäre es die Vernunft, die dieses
„Erhaltungsgebot“ vorschriebe, so
wäre in der Tat die Bezugnahme auf
eine „Natur an sich“, wie Jonas sie
vornimmt, überflüssig und ein unmoralischer Eingriff in die Autonomie
des Menschen. Ja, es wäre dann ein
Gebot der Vernunft, sowohl die außermenschliche Natur als auch das
menschliche Handeln in ihr nach
Maßgabe des „Zuträglichen“ und
„Unzuträglichen“ fürs menschliche
Wohl zu beurteilen. Die interessanten
Ausführungen Schäfers zu einem
„physiologischen Naturbegriff“, der
eine anthropozentrische Bewertung
der Umwelt vornimmt und den
natürlichen Stoffwechsel in Hinblick
auf das Wohlergehen des Menschen
als Sinnenwesens qualifiziert, wären
nicht nur interessant, sondern vor
allem ein Gebot der Vernunft.
Aber ist dieses Handlungsgebot als
ein Gesetz beschreibbar, das die Vernunft gibt; oder erfordert es nicht
doch ein Wissen von Naturgesetzen,
die aus reiner Vernunft gar nicht einsehbar sind? Im Kontext der Kantischen Philosophie jedenfalls ist das
Gesetz, das dem Menschen die Sorge
ums Wohlergehen vorschreibt, ein
Naturgesetz, das deshalb keine moralische Pflicht begründet. Es sei ein
Bedürfnis, das der Mensch als zu ei-
ner der Tierarten gehörig besitzt. Und
Schäfer schließt sich dieser Auffassung offenbar an (197f). Wenn nun
aber dieses Gesetz nicht als Vernunft, sondern als Naturgesetz gilt, wie
kann dieses dann eingesehen werden
ohne Bezugnahme auf eine Natur an
sich? Man muß dann doch erklären,
wie es möglich ist, daß es in der Natur
solche Wesen gibt, die das Wohlergehen ihrer selbst und ihrer Gattung als
Gesetz haben. Schäfers Aussage zum
physiologischen Naturbegriff: „das
Lebendige zentriert die Welt“ formuliert kein Gesetz der reinen Vernunft,
sondern ein Naturgesetz, und ist zudem m.E. nicht weit entfernt von
dem, was Jonas über die Natur sagt,
wovon sich Schäfer gleichwohl absetzen will. Die Vernunft schreibt hier
nicht vor, sondern sie beschreibt nur
ein Gesetz, dessen Ursprung nicht sie
selbst ist. Damit aber scheitert, so
scheint mir, der Versuch, das „Erhaltungsgebot“ ohne Rückgriff auf Aussagen über „die Natur“ durch reine
Vernunft zu begründen.
Schäfers
Insistieren
auf
Handlungszielen, die der Mensch sich
selbst gibt, verleitet ihn dazu, den
Ausdruck „Autonomie“ zweimal in
ganz verschiedener Weise zu
gebrauchen. Einmal beschreibt er die
Selbstgesetzgebung
der
reinen
Vernunft, nach der der Mensch als
Vernunftwesen zur Förderung der
Sittlichkeit verpflichtet ist und dazu
die Natur, sowohl seinen Leib als
auch die außerleibliche Natur, als
Mittel gebrauchen darf. Das andere
Mal bezeichnet „Autonomie“ das
Gesetz, nach dem der Mensch als natürliches Gattungswesen sein Wohl-
Bücher zum Thema
ergehen als Zweck verfolgt und dazu
seiner Vernunft als Mittel bedarf. Beide Ziele, das moralische Gutsein und
das leibliche Wohlsein, aus ein und
demselben Prinzip der Selbstgesetzgebung der Vernunft abzuleiten, ist,
kantisch gesagt, ein Paralogismus.
Schäfers „Bacon-Projekt“ formuliert
eine naheliegende Gegenposition zu
Jonas. Es warnt davor, die Vernunft
als Legitimationsinstanz von Werten
und Normen des Handelns außer
Kraft zu setzen, um sie den Forderungen einer „Natur an sich“ unterzuordnen. Es will das „Projekt Moderne“ modernisieren und das ökonomische Handeln auf das Ziel der
Erhaltung der Gattung Mensch verpflichten, das die Vernunft als das ihre erkennen kann. Dieser Wunsch ist
zweifellos sympathisch. Seine Durchführung offenbart jedoch seine Begründungsschwächen.
Alexander von Pechmann
Ernst U. von Weizsäcker (Hg.)
Weniger Abfall - Gute Entsorgung.
Konflikte um den Hausmüll. Dokumentation von drei Fachgesprächen zur Hausmüllentsorgung
Karlsruhe 1991 (C.F.Müller-Verlag),
br., 39,- DM.
Ernst U. von Weizsäcker sucht den
Konsens. Genauer gesagt: Er sucht
„Konsensinseln“, die den im Strudel
der abfallpolitischen Auseinandersetzung hilflos Umhertreibenden wieder
Orientierung und festes Land unter
die Füße geben soll. Zu diesem
Zweck veranstaltete Weizsäcker (der
auch als Herausgeber des zugehörigen
Tagungsbandes fungiert) zwischen
1989 und 1991 drei Fachgespräche
zum Thema Hausmüll.
Und so funktioniert die Suche nach
der Konsensinsel: Zunächst geben
„die Verbraucher“, „die Produzenten“, „die Umweltschützer“ (sic!),
„die Abfallwirtschaft“ und „die
Wissenschaft“ ihre jeweilige Sicht der
Abfallproblematik zu Protokoll. Dann
trifft man sich in Arbeitsgruppen zu
verschiedenen Unterthemen. Die Ergebnisse werden (von den Sprechern
der Arbeitsgruppen so objektiv wie
möglich) im Plenum vorgetragen.
Selbstverständlich werden Minderheitenmeinungen angemessen gewürdigt.
Zum Schluß kommt ein Strich darunter - und fertig ist die Konsensinsel.
Ganz so einfach ist es dann natürlich
doch nicht. Trotzdem hinterläßt die
Lektüre dieser ach so konsensorientierten Dokumentation einen schalen
Nachgeschmack. Woran liegt das?
Einen unübersehbaren Schwachpunkt
stellen zweifellos die zum größten
Teil doch sehr oberflächlich und allgemein gehaltenen Referate dar. Weniger (RednerInnen) wäre hier mehr
(Tiefgang) gewesen. So aber bleibt alles unverfänglich und damit im
Grunde ziemlich langweilig. Was
nützt es zum Beispiel, wenn die
Vertreterin „der Produzenten“ feststellt, es komme „nun verstärkt darauf an, geeignete Vermeidungs- und
Verwertungskonzepte weiterzuentwickeln und umzusetzen“, solange sie
verschweigt, was sie sich unter dieser
wohlfeilen Floskel konkret vorstellt?
In ihrem Beitrag ist zwar verdächtig
oft von „Konsens“, „Akzeptanz“ und
„Dialog“ die Rede, konkrete Vorschläge über den möglichen Beitrag
der Industrie zur Lösung der Abfallprobleme fehlen aber fast gänzlich.
Wenig aufschlußreich sind leider auch
die Kurzberichte aus den Arbeitsgruppen bzw. aus dem Plenum. Es ist
nie festzustellen, wer denn nun diese
oder jene Meinung vertreten oder aber ihr widersprochen hat. Selbst bei
kontroversen Statements (z.B. „Stoffliche Verwertung ist der energetischen in jeder Hinsicht überlegen.“)
werden Roß und Reiter bzw. RednerIn und GegenrednerIn nicht kenntlich gemacht, so daß alle halbwegs
profilierten Aussagen letztlich nicht
viel mehr wert sind, als die zahlreichen, unverfänglichen Grundsatzaussagen (z.B. „Wir sollten kleine Schritte machen, aber sofort damit beginnen.“)
Bleibt die Frage nach den LeserInnen:
Welche Zielgruppe soll diesen Band
eigentlich (mit Gewinn) lesen? Die im
Bereich der Abfallwirtschaft tätigen
Fachleute? Sicher, aber dazu tröpfelt
eigentlich zu viel an der Oberfläche
entlang. Nicht-Fachleute und interessierte Laien? Schon, aber dazu wird
im Grunde zu viel unkommentiert
nehmerInnen der drei Fachgespräche
stehen gelassen. Bleiben also die Teilselbst, denen sicher an einer schönen,
knappen Tagungsdokumentation gelegen war. Aber dazu hätte auch eine
niedrigere Auflage ausgereicht.
Peter Deeg
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 93108
Neuerscheinungen
Rezensionen
Besprechungen
Neuerscheinungen
Hermann Amborn (Hg)
Unbequeme Ethik. Überlegungen
zu einer verantwortlichen Ethnologie
Berlin 1993 (Reimer Verlag), 24.80.
„Heute,
am
Ende
des
20.Jahrhunderts aber ist Ungewißheit,
genauer: der öffentliche Umgang mit
Ungewißheit, zum eigentlichen Inhalt
der Politik geworden.“ Helmut Dubiel
So wie Wahrheit eher eine Sache des
Redens statt des Tuns ist, so zeigt sich
Ethik eher im Handeln denn im Sprechen. In einer Zeit jedoch, in der zumindest im Westen - Tätigkeit eher
das Bewegen von Symbolen als das
Bewegen von Dingen bedeutet, wird
auch das Reden über Ethik immer
wichtiger. Ethik kann dabei verstanden werden als das Handeln eines
Individuums oder einer Gruppe nach
für gültig erachteten Regeln und
Normen, deren Mißachtung schlechtes Gewissen, kollektive Schuldgefühle oder auch Sanktionen nach sich
zieht. Mit Reden über Ethik soll hier
das Verhandeln, die Konstruktion
und Dekonstruktion von solchen
Normen und Werten bezeichnet
werden.
Exemplarisch zeigt sich die Rede über
Ethik an einem jetzt im D. Reimer
Verlag erschienenen Buch mit dem
Titel „Unbequeme Ethik. Überlegungen zu einer verantwortlichen Ethnologie.“ Im Vorwort des von Hermann
Amborn herausgegebenen Bandes,
der Aufsätze des Niederländers Gerrit
Huizer, Gerald D. Berremans aus den
USA und Vertretern der EthikArbeitsgemeinschaft der 'Deutschen
Gesellschaft für Völkerkunde' versammelt, wird ausdrücklich davon
Abstand genommen, ein ethisches
Regelwerk der deutschen Ethnologie
vorzuschreiben (die Verbotsschilder,
die sich dennoch in die Texte eingeschlichen haben, sollten wir denn
auch als wohl unvermeidliche Begleiterscheinung mit Nachsicht behandeln). Die ethnologischen Ethiker
wollen ihre Aufgabe weiter verstan-
den wissen: als Reflexion einer
Ethnologie,
der
die
alte
Selbstgewißheit abhanden gekommen
ist, und als Suche nach gewissen
Richtlinien in diesem Zustand der
Anstoß und Grundlage zu dieser DisUngewißheit.
kussion scheint das Bewußtsein zu
bilden, daß der Ethnologie eine neue
und gewichtige Verantwortung zuwächst, auf die sie in keiner Weise
vorbereitet
ist.
Die
enorme
wirtschaftliche
Verflechtung,
vielleicht
noch
mehr
die
kommunikative Vernetzung der Welt
und die zunehmende Mobilität ihrer
Bewohner (Tourismus „hier“, Flucht
und Migration „dort“), haben nicht
die herrschaftliche Schichtung in
„Erste“ und „Dritte Welt“, wohl aber
die Möglichkeit einer faktischen und
ideellen Grenzziehung zwischen dem
„hier“ und dem „dort“ gründlich aufgeweicht. Die Ethnologie, für die
diese Trennungslinien - da konstitutiv
für das Fach - vielleicht noch
wichtiger waren als für den Rest der
westlichen Gesellschaft und ihre
Intelligentsia, sieht sich bei deren
Schwinden zugleich dem Gewinn
gesellschaftlicher Relevanz und dem
Verlust
ihres
theoretischen
Fundaments ausgesetzt. Das heißt,
daß die Ethnologie vor einer zugleich
ethischen und epistemologischen
Herausforderung steht: Wie kann eine
Wissenschaft, die bislang Leute der
„Dritten Welt“ in ethnologische
Gegenstände der „Ersten“ transformierte, und dies Hand in Hand mit
einem
Unterdrückungsund
Ausbeutungsprozeß der „Dritten“
durch die „Erste“, sich neu kon-
stituieren unter Verzicht auf dieses
obsolete ständische Modell?
Der Zeitpunkt des Handelns scheint
für die Ethnologie wieder gekommen
- und damit für ihre Theoretiker die
Zeit -, ethnologischen Taten bzw.
ethnologischer Untätigkeit gedanklich
Grundlegendes beizusteuern. Dieser
Aufgabe gehen die Autoren dieses
Bandes anhand unterschiedlicher
Thematiken nach:
Gerrit Huizer fordert statt Entwicklung und Untersuchung marginalisierter Minderheiten die Untersuchung
und Entwicklung heimischer Manager
und Macher.
Gerald Berreman kritisiert die Verwässerung ethischer Richtlinien durch
amerikanische Ethnologen, die durch
allzuviel Ethik ihre Geldgeber verprellt sehen.
Volker Harms thematisiert die Probleme, die der eigentlich schöne Vorsatz, 'Betroffene' in die Durchführung
ethnologischer Ausstellungen einzubeziehen, mit sich bringen kann.
Roland Drubig und Henning Hermann begutachten die Gründe für die
fatale Neigung von Ethnologen und
anderen Geisteswissenschaftlern (sie
betonen, daß dieser Hang ein vorwiegend männlicher ist), sich in kritischen Zeiten in die vermeintlich sicheren Arme der Soziobiologie zu
werfen.
Anette Hornbacher - die im übrigen
einzige Autorin des Bandes - kritisiert
den eurozentrischen Herrschaftsanspruch, der sich hinter K. O. Apels
Entwurf eines vernünftig argumentierenden Diskurses als Grundlage interkultureller Verständigung verbirgt.
Neuerscheinungen
Wolfgang Habermeyer warnt mit
Hans Jonas übereifrige Entwicklungsethnologen vor den unkalkulierbaren
Folgen ihres guten Willens und am
Beispiel von H. G. Gadamers Hermeneutik vor einer ebenso voreiligen
Übertragung europäischer Erkenntniswünsche auf Leute mit anderen
Auffassungen.
Hermann Amborn schließlich skizziert Gründe und Notwendigkeiten
für eine Rückkehr der Ethik in
deutsch-ethnologische Gefilde und
endet interessanterweise bei der Diskussion verschiedener amerikanischer
Theorien.
Bei aller Unterschiedlichkeit lassen
sich einige gemeinsame, und meines
Erachtens genuin westlich motivierte,
Gedanken hervorheben. Da ist zunächst eine tiefgreifende Skepsis und
Besorgnis gegenüber dem technisch
rationellen Fortschritt des Westens,
der zunehmend globalere Auswirkungen zeitigt. Dies und die damit verbundene Möglichkeit einer globalen
Katastrophe motiviert die Texte
Hornbachers und Habermeyers.
Drubig und Hermann ist hingegen
das ebenfalls Aufklärung und Moderne verbundene Thema der Machbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt,
das sich in der Soziobiologie noch
ungebrochen behauptet, zentraler
Gegenstand der Kritik. Auch Huizer
beschäftigt dieses Motiv, das bei den
Machthabern der neuen Weltordnung
liiert ist mit dem introvertierten Spiritualismus des New Age. Kulturkritik,
seit Jahren im Hintergrund der Diskussionen jüngerer EthnologInnen,
entfaltet sich hier als ethnologische
Spielart rationaler Vernunftkritik.
Damit verknüpft ist das zweite Leitmotiv der Texte: die Position der
Ethnologie im Spannungsfeld ökonomischer
und
politischer
Einflußsphären. Hier kollidieren der
Anspruch der Ethnologie, die Interessen der von ihr Untersuchten der
„Dritten Welt“ gegenüber den
Macht- und Geldhabern der „Ersten
Welt“ zu wahren, mit dem Anspruch,
sich einen gebührenden Anteil an
Macht und Geld zu sichern. Ein Interessenskonflikt, der einmal mehr
betont, daß die Ethnologie nicht nur
erkenntnistheoretisch zwischen dem
„hier“ und dem „dort“ siedelt. Dieser
Situation kann - außer mit Appellen
an die EthnologInnen, ihren Appetit
zu zügeln - vielleicht darin begegnet
werden, daß sich das ethnologische
Erkenntnisinteresse von Leuten
„hier“ bezahlen läßt und sich für Leute „dort“ engagiert (vgl. Amborn) eine Position, die Entwicklungs- und
Aktionsethnologie gemeinsam haben
-, oder daß sich das ethnologische
Erkennen an der Kritik der Leute
schärft, die sie bezahlen (vgl. Huizer).
Der heikle Punkt beider Ansätze liegt
darin, daß sie in jedem Fall eine gewisse Dummheit bei den Leuten voraussetzen, die zahlen.
Der Widerstreit von Interessen prägt
auch den dritten Bereich möglichen
ethnologischen Handelns, den der
Kommunikation und Vermittlung
zwischen Kulturen. Volker Harms
schildert einen Fall der versuchten
Beteiligung von 'Betroffenen' an einer
Ausstellung, die daran gescheitert ist,
daß
der
verantwortliche
Wissenschaftler des Museums vor
allem die Kultur, die 'Betroffenen'
jedoch auch ihre Interessen in der
Ausstellung
repräsentiert
sehen
Die Vermittlung von gegenseitigen
wollten.
Ansprüchen im Kontext durchaus
herrschaftlicher Verhältnisse wird von
den Autoren generell als problematisch eingeschätzt, und zwar auf erkenntnistheoretischer wie auf praktischer Ebene, die dazu vorgetragenen
Überlegungen sind jedoch nicht unbedingt überwältigend. Recht dunkel
wird hier zum Teil die Aktionsethnologie beschworen, der von Amborn
vage „Handlungskompetenz“ attestiert wird, eine Handlungskompetenz,
die für den Großteil der hier publizierenden Autoren jedoch jenseits der
eigenen Erfahrung liegen dürfte. Ein
wichtiger Bereich eigener Erfahrung
hingegen, die Praxis von Forschung
und akademischer Vermittlung ethnologischen Wissens, bleibt trotz großen
Renovierungsbedarfs künftigen Veröffentlichungen vorbehalten. Auch
die Frage, wie sich „Handlungskompetenz“ beweisen ließe angesichts der
Situation von Marginalisierten und
Flüchtlingen in der eigenen Gesellschaft, wird von den Autoren nicht
aufgegriffen. Zu denken gibt schließlich folgendes: Die Autoren haben
sich löblich darauf beschränkt, zunächst mal zu schauen, was daheim
ethisch im Argen liegt. Irgendwie
scheint damit jedoch auch der Verzicht gekoppelt zu sein, die Kritik von
Philosophen, Ethnologen und 'Betroffenen' der „Dritten Welt“ in die
eigenen Überlegungen einzubeziehen.
Es hätte sich vielleicht sonst zeigen
können, daß der 'rationale Diskurs'
nicht als einschränkende Kategorie,
aber als Mittel der Verständigung
doch recht weit trägt, oder daß in der
Ethnologie eine andere Hermeneutik
gefragt wäre als die Gadamersche, die
sich ja doch nur mit Texten plagt.
Die Autoren haben erkannt, daß sich
die Ethnologie nicht auf nunmehr
vergangenes Festland alter Gewißheiten zurückziehen kann, sondern sich
der gegenwärtigen und wohl auch
künftigen Ungewißheit zu verantworten hat. Sich dieser Verantwortung zu
stellen, kann, bei allen Unzulänglichkeiten einzelner Artikel, den Autoren
anerkannt werden. Den Band schließt
eine kleine, von Holger Jendral kommentierte und zusammengestellte
Bibliographie ab. Sie signalisiert, daß
weiter gedacht werden soll.
Stephan Dünnwald
Robert Kurz et al.
Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen
Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993
(Edition Krisis im Verlag Horlemann), Pb, 264 S., 24.- DM.
Wen trifft es? Das ist die Frage nach
der Lektüre dieses Bandes. „Demokratisches Erwachen“, „Früchtchen
des Zorns“ oder „Volk im Stimmbruch“ sind u.a. die rhetorischthematischen Überschriften im Buch
aus dem Kreis um die Nürnberger
'Krisis'-Redaktion. Im ersten und
gleichzeitig umfangreichsten Artikel
„Die Demokratie frißt ihre Kinder“
Neuerscheinungen
wird die analytische Basis für die folgenden Artikel bereitet.
Das Buch der fränkischen Fraktion
von Kapitalismuskritikern empfiehlt
sich allen Menschen, denen angesichts des aufkommenden neonazistischen Terrors die moralinsauren Aufrufe der staatstragenden Bedenkenträger zum „Widerstand“ höchst
suspekt vorkommen. In diesem Buch
wird ihnen erklärt, warum dieser Widerstand in Anführungszeichen nur
die Austreibung des Teufels mittels
des Beelzebubs ist; oder anders formuliert, warum das berechnende und
instrumentelle Hochhalten bestimmter moderner Tugenden gegenüber
dem öffentlichen Rückfall in die Barbarei selbst in den Strukturzwängen
des Übels verhaften bleibt. Wer sich
darüber erkundigen will, wie die Kritik der instrumentellen Vernunft der
kritischen Theorie übertragen wird
auf die momentane ökonomische Situation, der ist bei diesem Buch an
der richtigen Adresse. „Die Demokratie sei also gefährdet durch das
Vorzivilisatorische, das 'an sich' in
den Seelen schlummere; und wieder
wähnt sich das demokratische Bewußtsein aus dem Schneider. Die
neuen Rechtsradikalen müssen eine
Art zivilisationsgenetischer Unfall
sein, der atavistische Regungen
durchbrechen läßt. ... Die Heuchelei
ist perfekt, weil der selber repressive
Herrschaftscharakter von Demokratie
und westlicher Rationalität im gesamten geistigen und politischen Spektrum hochgradig tabuisiert ist. Die unbezweifelbaren
emanzipatorischen
und positiven Elemente der westli-
chen Demokratie in ihrem Aufstiegsprozeß werden ideologisch von
ihrer dunklen, negativen Kehrseite
abgetrennt. Der Vergleichsmaßstab
darf immer nur die stets von neuem
zu überwindende Vergangenheit sein,
niemals jedoch eine mögliche Zukunft über die westliche Rationalität
hinaus“ (13f). Wer dem Automatismus des sich selbst verwertenden
Werts der Warengesellschaft zustimmt, der bringt sich selbst um das
fundammentale Argument gegen den
neu aufflammenden Neonazismus.
Die instrumentelle Rationalität des
Kapitalismus und die Realität des
Rückfalls in die Barbarei gehören zusammen; so die zentrale These des
Buchs. Die „Pestparty des spekulativen Kasino-Kapitalismus“ und der
„Fasching der Yuppie-Welle“ haben
in den 80er Jahren das Ende dieser
Rationalität nur mühsam kaschieren
können.
Mit dem Hinausgelangen aus den
Fesseln der westlichen Rationalität,
das als Ziel alle Autoren des Buches
vereint, ist selbstverständlich nicht der
Aufbruch ins Irrationale gemeint,
wenngleich uns, den Subjekten der
'vollendeten Warengesellschaft', die
„Aufhebung des sozialökonomischen
Kerns der Demokratie“ (86) als irreale Utopie erscheinen mag. Zu erkennen, daß Moderne, Nationalsozialismus, parlamentarische Demokratie
und der jüngste europaweite Rechtsruck auf der Ebene der Warengesellschaft bzw. auf der historischen Entwicklungslinie des Kapitalismus strukturell zusammengehören, ist eine
Sache. Zu erkennen, daß aufgrund
des durchgesetzten Weltmarktes eine
durchgängige faschistische Ideologie
nicht mehr hegemoniefähig sein kann,
ist die schon weniger leicht - und daher in dem Artikel ausführlich thematisierte - zu akzeptierende Angelegenheit. Der aufgrund einer nicht durchsetzungsfähigen
Wahnidee
erschlagene Mensch ist trotzdem real
tot. Was heißt also heute Realpolitik?
Es ist nunmal ein Sachzwang der
Verhältnisse, daß zur Verhinderung
von Mord auch der radikalste Kritiker
dieser Verhältnisse pseudoliberale
Kreide fressen, sprich mit den Beinahe-Tätern gemeinsame Sache gegen
die tatsächlichen Täter machen muß.
Würden diese 'unsere' Verhältnisse
die jungfräuliche Unschuldigkeit der
Praxis erlauben, wären sie nicht so
menschenverachtend wie sie sind.
Es gehört zum 'Wesen' des Nürnberger Ansatzes, daß die momentane
Krise des Kapitalismus als Verfallskrise interpretiert wird: Untergang in die
vollendete Barbarei oder Aufhebung
des Kapitalismus sind die einzig möglichen Alternativen. An wen also richtet sich dieser Ansatz? An die paar
wenigen verbliebenen Revolutionäre
im Land? Wohl kaum, dafür müßte
man keine Bücher schreiben; um die
zu erreichen täte es eine Zwölf-MarkTelefonkarte auch. Nein, gemeint ist
sicher die womöglich gar nicht so geringe Zahl derer, denen diese unsere
Verhältnisse nicht passen und die zunächst nach einer theoretischen Aufklärung suchen. Richtig ist es, am real
drohenden Untergang das Bewußtsein zu schärfen. Der schiere Automatismus der Katastrophe wird aber
leicht zum Stolperstein, denn so konkret läßt sie sich nämlich nicht prognostizieren. „Das Ziel ist schon erreicht, universeller kann die Warenform
nicht
mehr
werden,
ebensowenig wie die Subjekte noch
partikularer werden können.“ (43)
Hier irren die Meister m.E., das geht
sehr wohl, wenngleich daran nichts
aber auch gar nichts wünschenswertes
ist: die Gentechnologie z.B steckt
noch in ihren Kinderschuhen und
wenn sie in nicht sehr ferner Zeit diesen entwachsen sein wird, wird sich
gezeigt haben, ob der Kapitalismus
noch einen internen Ausweg, sprich
eine abermalige Steigerung der Unmenschlichkeit zustande gebracht haben wird. Die Vorhersage zielt also
letztlich auf das Bewußtsein der nochnicht Revolutionäre. Aber gerade sie
hoffen doch aus berechtigtem Eigeninteresse auf den Weiterbestand des
status quo ohne offensichtliche und
totale Barbarei. Soll daher der Widerstand (und diesmal ohne Anführungszeichen) gegen die Unmenschlichkeit nicht seinerseits wieder in die
Dialektik von Opposition und ökonomischer Entwicklungspotenz eingemeindet werden - wie weiland die
Arbeiterbewegung in ihrem Widerstand gegen (und damit auch für) den
Kapitalismus -, dann muß in der notwendigen Agitation die Möglichkeit
des 'normalen' Fortbestands der Verhältnisse miteingerechnet werden.
Getreu dem alten 68er Motto ist ja
bereits die Phantasie an der Macht.
Wen also trifft dieses Buch? Der Übergang von der Warengesellschaft
zur wahren Gesellschaft hat den über
Neuerscheinungen
sich selbst aufgeklärten Appell zur
Voraussetzung; von der erst noch zu
erarbeitenden gemeinsamen Praxis
ganz zu schweigen.
Wolfgang Habermeyer
George Leaman
Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement
der Universitätsphilosophen
Hamburg-Berlin 1993 (ArgumentVerlag), br., 161 S., 15.50 DM.
Wir haben es mit keinem Versuch zu
tun, Heidegger im Rahmen der Philosophiegeschichte neu zu interpretieren. Auch nicht mit dem Versuch, die
politische Biographie Heideggers über
V. Far¡as oder H. Ott hinaus fortzusetzen, obwohl dazu eine gewisse Affinität besteht. Der „Kontext“, in den
Heidegger gestellt wird, ist weder die
Philosophie noch die Geschichte,
sondern die Institution der Philosophie. Leaman stellt die deutsche Universitätsphilosophie dar: ihren Zustand im Jahre 1933, ihre Entwicklung bis 1945 und ihre politischeideologische Aufgabe während der
NS-Zeit. Sein Ausgangspunkt und
das Kernstück seines Buches sind
somit die 214 Philosophen, die 1933
an den 23 deutschen Universitäten
lehren. Genannt werden ihren Arbeitsgebiete und ihre Hauptwerke,
vor allem aber ihre politischen
Entwicklungen, ihr Engagement für
oder gegen den Nationalsozialismus
und ihre „Schicksale“. Insbesondere
geht aus den vielen Kurzlebensläufen
hervor, wer (und warum) emigriert ist,
wer (und auf welche Weise) sich an
das Nazi-Regime angepaßt hat und
auch, wie sich viele NS-Philosophen
über 1945 hinübergerettet haben. Ergänzt ist die Darstellung durch eine
Auflistung der Aufrufe und Erklärungen von Hochschullehrern zugunsten
des Nazi-Regimes und ihrer Unterzeichner aus dem Fachbereich Philosophie. Aufgelistet sind auch die gesetzlichen Grundlagen, aufgrund derer
insbesondere
jüdische
Philosophen aus dem Staatsdienst
entlassen wurden.
Leamans Interesse gilt vor allem den
Fakten. Dem entspricht die Form seiner Darstellung: das Verzeichnis und
die Tabelle. Und was er aus den verschiedensten Archiven an Fakten und
Informationen
zusammengetragen
hat, ist bewundernswert und bahnt jedem weiteren Studium der NSPhilosophie den Weg. Allerdings, und
das ist die Kehrseite, haben FaktenSammlungen und Statistik ihre eigene
Logik. Einerseits nämlich stellt sich
die Frage, ob die Einschränkung auf
die Universität (gerade in der Philosophie) als Grundlage der Faktenerhebung berechtigt ist. Weder Bloch,
Benjamin, Lukács etc. kommen in
Leamans Erhebung vor (da sie keine
Universitätsstellung innehatten), noch
die Schüler Rosenzweigs, Buber und
andere jüdische Philosophen (die
nicht an Universitäten, sondern im
Frankfurter „Lehrhaus“ u.a. unterrichteten). Trotzdem waren sie 1933
öffentlich, in Zeitungen, Vorträgen
etc. präsent und standen mit der Universitätsphilosophie in vielfacher
Vermittlung. Andererseits werden
Fakten-Sammlungen, die auf (numerische) Vollständigkeit hin angelegt
sind, dann auch auf diese Vollständigkeit geprüft, und dabei fällt auf,
daß sich verschiedene Philosophen
wie z.B. Christoph Steding (der
„shooting star“ der nationalsozialistischen Kulturphilosophie), dessen
Karriere erst während des „Dritten
Reichs“ begonnen hat, nicht unter
den angeführten 214 Philosophen befinden.
Beeinträchtigt wird die spannende,
durch ihre Details oft überraschende
Lektüre leider auch durch eine Reihe
von Ungenauigkeiten und Widersprüchen. Etwa, wenn Adorno, der gerade
erst Privatdozent ist, zu den neun
„Professoren“ (11) gerechnet wird,
die bei der Machtübernahme der Nazis sozialistischen oder sozialdemokratischen Organisationen nahestanden. Oder, wenn es einmal heißt,
1933 sei „mit Ausnahme des Marxismus keine einzige philosophische
Schule aus den deutschen Universitäten verbannt“ worden (11), ein paar
Seiten später dagegen, es seien „zwei
philosophische Schulen praktisch
verboten oder zur Auflösung gezwungen“ worden (19), nämlich das
Frankfurter Institut für Sozialforschung und der Neopositivismus.
(Auch hier bleibt die Tradition der jüdischen Philosophie, die freilich nur
am Rande mit den Universitäten in
Verbindung stand, außen vor). Um
einen bloßen Druckfehler handelt es
sich wohl, wenn das „Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.April 1933 auf das
Jahr 1937 umdatiert wird (101) etc.
Welche Rolle spielte nun Heidegger
innerhalb dieses Rahmens universitärer Philosophie? Die vorherrschende
Ansicht will, daß es nach der Machtübernahme keine Philosophie mehr
gegeben habe, weil die wirklichen Philosophen in die (äußere oder innere)
Emigration gegangen, die anderen
aber zu gleichgeschalteten „Ideologen“ verkommen seien. Leaman setzt
dagegen erstens, daß es eine eigene
NS-Philosophie gegeben habe, mit
dem Ziel, die Weltanschauung der
NSDAP auszuarbeiten und mit einer
kohärenten politischen Theorie zu
verbinden, zweitens, daß es verschiedene, miteinander konkurrierende
Ansätze dazu gegeben habe und drittens, daß Heidegger innerhalb dieser
konkurrierenden Rechtfertigungsversuche interpretiert werden müsse.
Damit ist das Koordinatensystem, in
das Heidegger üblicherweise hineingestellt wird, von Grund auf verändert. Es sind nicht mehr die großen
Philosophen, die Vorsokratiker, Platon und Nietzsche, sondern die philosophischen Buhlereien um die Gunst
des Führers und die ideologische
Vorherrschaft, die zwischen dem
Amt Rosenberg und den NSRektoren der Universitäten Königsberg (Hans Heyse), Erlangen (Eugen
Herrigel), Heidelberg (Ernst Krieck)
u.a. stattgefunden haben.
Sicher ist, daß Heidegger Rosenbergs
biologische Begründung des Rassismus abgelehnt hat. Ebenso stand er
im Gegensatz zu Heyse, Herrigel,
Krieck, Baeumler u.a., die ihren Rassismus aus der Metaphysik Platons,
aus der Anthropologie oder der Pä-
Neuerscheinungen
dagogik abgeleitet haben. Übereinstimmung aber bestand in der Absicht,
den
Führungsanspruch
Deutschlands zu begründen. Was von
den Heidegger-Apologeten als „Opfer“ oder gar als „Widerstand“ ausgelegt wurde, nämlich sein Streit mit
Rosenberg und anderen NS-Größen,
das entpuppt sich in Leamans Darstellung als das, was er wohl wirklich
war: als inner-nazistischen Streit um
die „bessere“ Begründung deutschen
Herrentums, um die ideologische
Vorherrschaft und den Anspruch
„den Führer zu führen“. Der biologische Rassismus wird von Heidegger
nur durch einen geistigen, philosophischen Rassismus ersetzt, der durch
die Überlegenheit der deutschen
Sprache begründet wird. Aufgrund
ihres eigenen Genius' und ihrer engen
Verwandtschaft mit dem Griechischen könne nur eine aus dem Deutschen entwickelte Philosophie mit
den metaphysischen Irrtümern Platons aufräumen und die Welt vor
dem „Nihilismus“ erretten. Wirkliches Denken ist nur auf deutsch
möglich, und Franzosen und andere
Nationen sprechen, wenn sie zu denken anfangen, deutsch. So bleibt,
nach Leamans Deutung, das „eigentliche Sein“ letztlich die Sache der
Deutschen (140). In dem Versuch,
ihm zum Durchbruch zu verhelfen,
bestand nach Heideggers über 1945
hinaus beibehaltener Ansicht die „innere Wahrheit und Größe“ des Nationalsozialismus.
Konrad Lotter
Gerhard Schweppenhäuser
Ethik nach Auschwitz. Adornos
negative Moralphilosophie
Hamburg 1993 (Argument-Verlag),
292 S., 29.- DM.
„Praxis wird aufgeschoben und kann
nicht warten; daran krankt auch Theorie“ (Adorno, Negative Dialektik)
Wer nichts weiß von Adorno, der
weiß immerhin seinen Satz, daß es
„kein richtiges Leben im falschen“
geben kann. Diejenigen, die sich intensiver mit Adorno auseinandergesetzt haben, wissen, daß damit nicht
gemeint war, alles sich herausnehmen
zu können, weil eh nichts geht. Adorno hat keine Moralphilosophie oder
Ethik geschrieben; er wollte noch,
starb aber zu früh. Der Terminus 'Ethik' war Adorno jedenfalls suspekt:
er lehnte ihn, weil zu adenauerischrestaurativ, zu „aufgeweicht“ und
„unverbindlich“, explizit ab. (Umso
unverständlicher ist es, daß das Buch
„Ethik nach Auschwitz“ heißt). Gerhard Schweppenhäuser maßt sich
nicht an, Adornos Werk in seinem
Sinne zu ergänzen. Er will nur „einen
bislang kaum erschlossenen Aspekt
seiner Philosophie systematisch untersuchen.“ (9) Das ist ihm gelungen.
Es ist ein wichtiges Buch geworden.
Adornos negative Moralphilosophie
ist Kritik an der Moral, nicht um eine
Gegenmoral aus dem Nichts zu zaubern; wirkliche Kritik an der Moral
heißt, sie mit ihrem eigenen Anspruch
zu konfrontieren: Ist Moral moralisch? (Adorno '57 nach Schweppenhäuser, 179. Im folgenden mit
'Ad.i.Schw.' abgekürzt)
Schweppenhäuser in seiner systematischen Spurensuche zu folgen bedeutet, eine Reise durch die fast komplette Geschichte der Moralphilosophie
anzutreten. Er präpariert Adornos eigenen Ansatz in dessen kritischer Rezeption der Klassiker heraus: Sokrates, Platon, Aristoteles, Kant, Hegel,
Marx und Nietzsche sind die Fixsterne, deren Erbe Adorno kritisch aufbewahren möchte. Dokument dafür
sind die beiden Vorlesungen über
Moralphilosophie, die Adorno in den
Jahren 1956/57 und 1963 an der
Frankfurter Universität gehalten hat,
sowie die nicht explizit zum Thema
ausgewiesenen Stellen im gesamten
Werk Adornos, speziell in der Minima
Moralia, der Dialektik der Aufklärung
und in der Negativen Dialektik. Den
zwingend notwendigen Zusammenhang von Freiheit und Moralität sieht
Adorno nach Schweppenhäuser zum
erstenmal bei Aristoteles verortet.
Das 'richtige Leben' setzt Freiheit
voraus. „Ein vom Tyrannen bevormundeter Bürger und ein Sklave, der
per definitionem unfrei ist, sind ebenso vom tugendhaften Handeln abgetrennt wie ein äußerlich Freier, dessen
Fähigkeit zu vernunftgemäßem Handeln aber durch irrationale Charakterzüge deformiert ist. Adorno sieht
hierin eine Antizipation der Einheit
von Freiheit und Willen, die bei Kant
die Grundlage der Moralität bildet.“
(38) Dieser Einheit bei Kant und der
kritischen Auseinandersetzung von
Adorno mit ihr gilt der größte Teil
des Buches. „Auf ihrer äußersten
Spitze hat die Kantische Moralphilosophie einen prägnanten Widerspruch
erreicht: Kant sucht auf der einen Seite nach der Begründung des Sittengesetzes und seinen notwendigen Bedingungen, und nachdem er alle heteronome,
kausale
Abhängigkeit
ausgeschlossen hat, ist die Begründung des Sittengesetzes die Freiheit.
Aber man kann diese Freiheit ihrerseits nirgends vorfinden. Wenn es sie
aber nicht gäbe, gäbe es auch kein Sittengesetz. Der Denkfehler ist leicht
nachzuweisen. Aber wenn man sich
damit begnügen würde, würde man
das Großartigste an Kants Philosophie versäumen.“ (Ad. i. Schw. 89)
Denn, und dies ist ein typisch adornitisches Argument der Ideologiekritik,
das Schweppenhäuser an dieser Stelle
herausarbeitet: „der methodische Widerspruch verweist auf eine Aporie,
die nicht aus inkonsequentem Denken resultiert, sondern authentischer
Ausdruck der aporetischen Struktur
des Sachverhalts selber ist.“ (89) Das
Kantische Moment der Freiheit ist
daher gesellschaftlich geprägt: Aufbruch und Beschränkung zugleich.
Kants Insistenz auf der Idee verwirklichter Freiheit wird nach Schweppenhäuser zur normativen Basis kritischer Theorie, die den Gedanken der
Freiheit und Autonomie gegen einen
Gesellschaftszustand wendet, der alles
zu „heteronom bestimmten Mitteln
für einen einzigen Zweck macht ...:
der Kapitallogik der Verwertung des
Werts.“ (95)
Daß Adorno kein kritikloser Hegelianer gewesen ist, ist hinlänglich bekannt. In diesem Zusammenhang
zeigt sich dieser Umstand darin, daß
Adorno mit Hegel gegen Kant zwar
Neuerscheinungen
einerseits betont, daß das einzelne Individuum aus eigener Kraft die Realität kaum verändern kann, die ihm heteronom entgegen tritt (140), also die
Verwirklichung des richtigen Lebens
qua individuellem Streben verstellt ist,
er aber andererseits gegen Hegel das
Individuum wiederum stärken will
gegen die vermittelte Vorherrschaft
des falschen gesellschaftlichen Allgemeinen. „Das unauflösbare Substrat
von Moralphilosophie ist der einzelne. Das verleiht moralphilosophischer
Reflexion nach ihrer Hegelschen Destruktion neue Dignität. Gleichwohl
findet sich bei Adorno keine Apologie des Individuums, die ja voraussetzen würde, daß Individualität zu ihrem Recht gekommen sei.“ (142)
Kant und Hegel behalten solange gegeneinander Recht, bis die Realität
des gesellschaftlichen Seins eine andere geworden ist. Verändert aber hat
sich nichts. Noch immer gilt Adornos
Diktum: „Längst handelt es sich nicht
mehr um bloßen Verkauf des Lebendigen. Unterm Apriori der Verkäuflichkeit hat das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding gemacht,
zur Equipierung. Das Ich nimmt den
ganzen Menschen als seine Apparatur
bewußt in den Dienst. Bei dieser
Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so viel von sich an das Ich
als Betriebsmittel ab, daß es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt wird:
Selbsterhaltung verliert ihr Selbst.“
(Ad.i.Schw.151) (Dabei konnte Adorno vom Wahn der Fitness-Studios
noch keine Ahnung haben.)
All dies zugrundegelegt, hat Adornos
Werk daher nach Schweppenhäuser
(174) zwei zentrale Themen: (1) die
Reflexion auf die Möglichkeit eines
richtigen Lebens heute und (2) der
„neue kategorische Imperativ“. Zu 1
ist festzustellen, daß Adorno nicht
wie die ganze Armada heutiger konservativer Ethikapostel eine Veränderung des gesellschaftlichen Zustands
mittels aufgestellter und eingehaltener
Moralphilosophie erhofft. Moral ist
Impuls: „keine Folter, keine Konzentrationslager“, nicht Produkt der Rationalisierung. Ratio und Impuls würden als jeweils einzelne ins Leere laufen. „Erst im Zusammenwirken des
auf Veränderung drängenden Impulses und der theoretischen Besinnung
auf die Hindernisse, die seiner Umsetzung gebieterisch im Wege stehen
und eine moralisch geleitete Praxis
des isolierten Individuums blockieren,
sieht Adorno die Chance von Moralität.“ (184) Was bleibt, ist stellvertretendes Leben. „Man sollte soweit es
nur irgend möglich ist, so leben, wie
man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen, gleichsam durch die eigene Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht,
versuchen, die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige
wäre. Dieses Bestreben ist notwendig
zum Scheitern und zum Widerspruch
verurteilt, aber es bleibt nichts anderes übrig, als diesen Widerspruch bis
zum bitteren Ende durchzumachen.
Die wichtigste Form, die das heute
hat, ist der Widerstand“ (Ad.i.Schw.
191f):
(2) Damit ist auch das zentrale Stichwort zum neuen kategorischen Impe-
rativ gefallen: Widerstand, daß
Auschwitz nicht sich wiederhole. Widerstand ist das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen, er kann nicht
theoretisch deduziert und erzeugt
werden. Er tritt praktisch hinzu, als
Parteinahme „für das 'Leibhafte', hier
also für die 'Unmittelbarkeit' gequälter
und gemordeter Individuen“ (187).
Mit den Aporien leben und Widerstand leisten, ist also die Botschaft
Adornos; Moral ist immer eine Zumutung.
Adorno relativ umstandslos in die
Traditionslinie von Marx zu stellen,
wird auf immer eine nicht entscheidbare Option bleiben, die die einen wie
selbstverständlich voraussetzen und
die anderen ebenso vehement ablehnen. Darüber zu streiten halte ich für
sinnlos; ein souveräner Umgang damit wäre stattdessen angezeigt. Was
hat uns Adorno heute in Anbetracht
der uns heute bedrängenden Fragen
noch zu sagen, wenn man sich auf
seine Theorie einläßt? Das Diktum,
daß es kein richtiges Leben im falschen gibt, ist nun an die 30 Jahre alt.
Ebenso seine Aussage, daß, wenn eine die Gesellschaft als Totalität verändernde Praxis nicht möglich ist, die
Zeit zum Nachdenken, zur Theorieproduktion genutzt werden muß. Abgesehen davon, daß in der deutschen
Linken in den letzten 30 Jahren nicht
so wahnsinnig viel und/oder produktiv nachgedacht worden ist, - wie lange soll die Auszeit noch dauern?
Würden wir uns damit abfinden, daß
niemals mehr etwas zu machen ist,
dann wären wir am Ende der Geschichte angelangt. Aber das wäre
nun wiederum auch nicht korrekt adornitisch gedacht. Also was?
Schweppenhäusers Buch krankt leider
daran, daß er sich selbst nicht recht
darüber im klaren ist, für wen er eigentlich das Buch schreibt. Für die
Adornoexperten dürfte es zu redundant sein, für die Adorno-Beginners
ist es zu schwierig geschrieben, zuwenig klar durchstrukturiert und zuwenig zwingend an heutigen Problemlagen angeschlossen. Aber gerade dazu
ist es wichtig. Wichtig als Ausgangspunkt eines neu herzustellenden
Selbstverständnisses unter Linken;
und damit geradezu ein Treppenwitz
der Geschichte: der Theoretiker des
Nichts-geht-mehr als gemeinsamer
Bezugspunkt um endlich wieder aktiv
zu werden. Alle andere Beschäftigung
mit ihm wäre rein philologisch und
damit inadäquat.
Wäre es Gerhard Schweppenhäuser
in seinem Buch öfter gelungen, so befreit wie folgt zu schreiben, es wäre
ein noch besseres Buch geworden.
Zur Minima Moralia: „Sie wollen den
Zerfall des Individuums notieren, um
dem Individuum die Kraft vor Augen
zu führen, die sich aus der Einsicht in
diesen Zerfall ergeben kann. Das Individuum im Sinne einer letzten irreduziblen Gegebenheit erweist sich als
Trug, wenn in ihm selbst die Gesellschaft und ihr historisch-ökonomisch
vermitteltes Bewegungsgesetz als seine eigentliche verborgene Substanz
aufgewiesen werden kann. Diese
Entdeckung aber befreit das Individuum auch, indem es ihm seine Unfreiheit zeigt - nämlich von der Zumutung, aus eigener Kraft moralisch
Neuerscheinungen
handeln zu müssen, während ihm das
in Wahrheit nicht unmittelbar möglich ist. Das einzusehen heißt nicht,
das Individuum geschichtsphilosophisch „jenseits von Gut und Böse“
anzusiedeln und ihm den Freibrief zur
Willkür auszustellen. Es bedeutet
vielmehr, dem Individuum durch die
schonungslose Offenlegung seiner
Unfreiheit die Freiheit in Erinnerung
zu rufen, die ihm die Moralphilosophie als Eigenschaft zuspricht, während sie doch erst herzustellen wäre.
Die theoretische Freiheit zur Einsicht
in die eigene Unfreiheit und die moralische Kraft zur Einsicht in die Beschränktheit der Kraft zum moralischen Handeln wachsen uns aber erst
in dem Moment zu, in dem der ideologische Schleier zerrissen ist, der uns
Autonomie als zweifelsfreie Gegebenheit vorgaukelt.“ (152)
Wolfgang Habermeyer
Albrecht Wellmer
Endspiele, Die unversöhnliche
Moderne
Essays und Vorträge, Frankfurt/Main
1993 (Suhrkamp), 332 S., br., 24.80
DM.
Die Aufsatzsammlung ist ihrem Titel
nach wörtlich zu nehmen. In Anspielung auf Becketts „Endspiel“ möchte
Albrecht Wellmer seine Essays und
Vorträge aus den letzten 15 Jahren in
der „postmetaphysischen Moderne“
situiert wissen: Endspiele „innerhalb
... (und) mit der Metaphysik“, die, wo
sie „philosophisch gespielt“ werden,
„nur um Plural gedacht werden“
können (9). Dieser Plural bezieht sich
zunächst auf die Bandbreite der
Themen, von der Kommunitarismusdebatte über Aspekte der Philosophien Adornos, Wittgensteins, Jonas' und Arendts, bis hin zu architekturtheoretischen Fragen und einem
Aufsatz zu „Terrorismus und Gesellschaftskritik“. Es scheint der unhintergehbare Anspruch dieses Buches
zu sein, für ein Philosophieren zu
plädieren, das sich einmischt, das die
„Bereitschaft zur Anpassung“ nicht
mitmacht, sondern „jene Tugenden“
verteidigt, „ohne welche eine demokratisch verfaßte Republik zum autoritären Staat verkommen muß.“ (301)
Und doch wird Wellmer in keinem
der versammelten Aufsätze diesem
Anspruch gerecht - mithin hätte deshalb der Verzicht auf so manche
Floskel aus dem Repertoire des Kritischen der philosophischen Ernsthaftigkeit der Texte mehr gedient. So offen Wellmer sich zu den postmodernpluralen Spielmöglichkeiten mit der
Moderne bekennt, so sehr scheut er
scheinbar die Überschreitung der
verordneten Fachgrenzen philosophischen Denkens.
„Daß die systembedrohenden Widersprüche und Krisen des Kapitalismus nicht mehr primär auf der Ebene des ökonomischen Systems zu
suchen sind, sondern daß sie vor allem Probleme der Legitimation, der
Motivation und der Administration
betreffen“ (292), ist allein mit dem
Argument, diese Ansicht entspricht
den „Entwicklungen der Kritischen
Theorie“ unbegründet. Die Kritik an
Marx, daß dessen Demokratie-
Konzeption „am Ende unter der
Wucht der Kapitalanalyse begraben“
worden sei (85), bleibt unhinterfragt
in dem Punkt, ob Marx eventuell aus
guten Gründen eine Kritik der politischen Ökonomie dem Programm einer demokratischen Sittlichkeit voranstellte. Wellmer verabschiedet die
Möglichkeit dieser Frage damit, daß
er jede Form von Kapitalismuskritik
als „externes Problem“ (71) betrachtet. Ihm geht es allein um die Begründung einer „demokratischen Sittlichkeit“ im Sinne der Kommunitarismusdebatte. Was er im Rahmen
dieser Debatte durchaus überzeugend
an unterschiedlichen Freiheitsmodellen und Naturrechtskonzeptionen
diskutiert, bleibt in Hinblick auf eine
kritische Theorie allerdings bloß ein
Freischein für einen Diskurs politischer Philosophie, ohne wirklich politisch zu werden.
Wellmers Engagement innerhalb der
Kommunitarismusdebatte gibt Anlaß
zu der Nachfrage, ob bei diesem Rehabilitierungsversuch des Gemeinschaftsbegriffs für die „Linke“, zu der
Wellmer sich zählt, wirklich ein gegenwärtiges Zentralproblem kritischer
Theorie getroffen ist, oder ob diese
Debatte nicht vielmehr einer Ausweichstrategie und einer theoretische
Flucht vor den praktischen Problemen der Gegenwart gleichkommt. Ist
es nicht ein Zurück zur vormarxschen
Rezeptur des liberalen Bürgertums,
das wirklich noch glauben mochte,
die ökonomischen und die politischen
Zügel durch die bloße Proklamation
demokratischer Freiheiten in den
Griff zu bekommen? Heute ist es
wahrlich bloß „behauptet, daß die
Dynamik des kapitalistischen Marktes
nicht durch dessen Abschaffung,
sondern nur durch eine entsprechende Dynamisierung der demokratischen Institutionen, Praktiken und
Traditionen gebändigt werden könnte.“(90)
„Das Bild einer liberalen und demokratischen Kultur, wie ich es skizziert
habe, ist natürlich zu schön, um wahr
zu sein. Es ist kein Bild existierender
Gesellschaften ..., weil es eine Reihe
von Problemen als gelöst unterstellt,
die in keiner existierenden Gesellschaft gelöst sind.“ (70) Das Bild ist
aber auch kein utopisches, das den
Gedanken an eine von Unterdrückung emanzipierte Gesellschaft
wagt. Wellmer versucht seine Fiktion
„ohne die Hoffnung auf eine letzte
Versöhnung zu denken“ (235). Für
ihn gilt es als eine mit Habermas abgemachte Sache, daß es nur ein
Denkfehler sein kann, „welcher die
Eindimensionalität der Marxschen
Metatheorie gleichsam seitenverkehrt
wiederholt“ (229), wenn Adorno keinen anderen Ausweg als die Utopie
sah. An die Stelle der Utopie der Versöhnung tritt der erschlichene Konsens einer Verständigung über das
Scheinbare: „Es scheint heute einen
beinahe universalen Konsens darüber
zu geben, daß der Marktmechanismus
weit überlegen ist“ (37). Oder: „Gegenüber allen alternativen politischen
Organisationsformen der Moderne ...
erscheint die amerikanische Demo-
Neuerscheinungen
kratie als weltgeschichtlicher Fortschritt.“ (87)
Politisch bleibt die Fiktion einer demokratischen Kultur folgenlos, solange die Probleme der bestehenden
Demokratie systematisch ausgeblendet werden. Lediglich in einer Anmerkung „glaubt“ Wellmer, die Änderung des Asylrechts sei nicht von
Vorteil gewesen, will sich aber „hier
nicht ... einmischen“ (75). Philosophisch - so sehr er in begriffsklärerischer Hinsicht überzeugt - argumentiert Wellmer mit unterschiedlichem
Maß.
Während seine ganze Rezeption kritischer Theorie von Marx bis Adorno
durch die Habermas'sche Kommunikationstheorie präjudiziert ist, moniert
er an der Rezeption Wittgensteins, sie
sei „in der Regel in einen Gedankenzusammenhang integriert worden, der
der Denkweise Wittgensteins fremd
ist“ (239), moniert also einen Umgang
mit Wittgenstein, den er bezüglich
Adorno gerade für denknotwendig
hält. So gesteht Wellmer sich ein,
„Konstellationen ein wenig zu lichten,
selbst um den Preis, das Gespinst dialektischer Subtilitäten in Adornos
Texten hierbei gelegentlich zu zerreißen.“ (9) Aber es geht nicht einfach
um Adorno, sondern um die Sache,
auf die dessen Denken zielte; es geht
mithin um das Gespinst einer vermeintlich kritischen Theorie, der jede
Subtilität fehlt, um die dialektischen
Konstellationen des Sozialen auszumachen.
Roger Behrens
Jean Ziegler / Uriel da Costa
Marx, wir brauchen Dich. Warum
man die Welt verändern muß
Mit einem Vorwort zur deutschen
Ausgabe, München/Zürich 1992 (Piper-Verlag), 156 S., Ln., 26.-DM.
„Ein kategorischer Imperativ prägt
dieses kleine Buch: Eine Weltordnung, die den rapide wachsenden
Reichtum einiger weniger und das
Dahinsiechen der Mehrzahl der Menschen als naturgegeben, universell gültig und notwendig setzt und in der die
fundamentalen Freiheiten, das relative
Wohlergehen, die Bürgerrechte der
industrialisierten Demokratien mit
dem Elend, dem Blut, der Ausbeutung anonymer Arbeitermassen der
dritten Welt erkauft werden, ist eine
inakzeptable Ordnung. Sie muß von
Grund auf verändert werden.“ (34)
Ein wahrhaft anspruchsvolles Motto,
das auch der Titel suggeriert, und bei
dem man auch vom bekannten Autor
einiges erwarten könnte. Daß ein Berater und Freund Rocards (31) auch
für dieses Unternehmen zu gewinnen
war, stimmt dagegen schon bedenklich. Ziegler distanziert sich zwar vorsichtig von seinem Co-Autor (32),
doch daß die SPD als die „weitaus
stärkste, dynamischste und vielfältigste sozialistische Bewegung des Kontinents“ bezeichnet wird, die nur noch
zum „Marxismus des Widerstands“
zurückfinden müßte und „das Schicksal unseres Kontinents“ (28) würde
sich zum Guten wenden, läßt nichts
Gutes erwarten.
Zunächst wird Marx gegen alle neuen
und alten Grabreden in Schutz ge-
nommen. Dann legen die Autoren ihre Marxinterpretation dar, wobei sie
sich gegen leninistische Verkürzungen
(und die seiner Epigonen) abgrenzen.
Die beiden Autoren unterteilen den
Marxismus in vier Teilbereiche. (57)
Da wären ein politischer, ein ökonomischer, ein philosophischer und
dann ein sogenannter „Marxismus
des Widerstands“. Die ersten beiden
Teile des Marxismus werden als wenig erfolgreich, archaisch und am
stärksten mißbraucht erklärt (58ff).
Die philosophische „Erscheinungsform des Marxismus“ (60) wird als
die grundlegendste und für die zukünftige Beschäftigung als die fruchtbarste (63f) bezeichnet. Anstatt nun
näher die Gedanken zum Marxismus
des Widerstands zu entwickeln, rutschen die nächsten beiden Kapitel
(„Das Versagen der Intellektuellen“
und „Das Gras wachsen hören“) in
eine flache Apologie sozialdemokratischer Politik und Geschichte ab. Da
wird Sartre mit seinem Plädoyer für
ein Nein zu den herrschenden Verhältnissen als angeblicher spiritus rector programmatischer Formeln der
PS (Parti socialiste) bemüht (71). Leon Blum kommt zur Ehre, Begründer
der Tradition zu sein, die den Marxismus des Widerstands als Ganzen
integriert hätte (ebd.). Etikettenschwindel ist es dann auch, wenn die
Autoren, wohl wieder in Anlehnung
an die Sartresche Terminologie, vom
„sozialdemokratischen
'Entwurf'„
(89) schreiben, der die Widersprüche
des Kapitalismus und der Marktwirtschaft überwinden soll.
Selbst wenn man von der sozialistischen Absicht sozialdemokratischer
Programmatik überzeugt wäre, wäre
es m. E. angebrachter gewesen, auf
die Widersprüche einer durch eine
solche Programmatik angeleiteten Politik im Kapitalismus einzugehen. Der
Spruch im besten Agitprop-Duktus
jedoch: „An die Arbeit also! Der
Kommunismus ist tot! Es lebe der
demokratische Sozialismus!“ (132)
macht aber eher blind, als daß er weiterhilft.
Im Kapitel über die dritte Welt („Einsamkeit der dritten Welt“) stellen die
Autoren sich die anspruchsvolle Frage: „Welche Strategien stehen diesen
Völkern zur Verfügung, um die Entfremdung zu durchbrechen, ihre Unabhängigkeit zu erringen, ihre Einzigartigkeit zu behaupten?“ (95) Die Autoren greifen die Idee Levi-Strauss'
auf, ob nicht vielleicht Ab- und Ausgrenzung der Weg zur Selbstfindung
wäre (116). Doch statt dies zu diskutieren, nimmt das Abfeiern des Falls
der Mauer und des vermeintlichen
Sieges der Demokratie in den ehemals
realsozialistischen Ländern viel Platz
weg und führt dann zu so pathetischen Statements wie: „Aber unter
der Asche und in den Kerkern
schwelt lautlos das Feuer. In den siegreichen Erhebungen in Europa, in
den kühnen und erfolglosen Widerstandsbewegungen in Afrika findet
sich die Hoffnung der ..-Märtyrer ...
bestätigt.“ (100) In der wirtschaftlichen Abkoppelung und Abschreibung Afrikas sehen die Autoren die
Möglichkeit des Sieges der dritten
Welt über ihre eigene Entfremdung
Neuerscheinungen
und zudem eine der Befreiung Europas (120). Was dazu zu sagen wäre,
sagt der zitierte Joseph Ki-Zerbo:
„Unsere Vergangenheit ist blind /
Unsere Gegenwart ist stumm / Und
die Zukunft ist taub.“ (119)
„Der Marxismus des Widerstands,
um den es in diesem Buch geht,
nimmt heute tagtäglich Gestalt an in
vielen Frauen und Männern ...“ (134).
Der jedoch tatsächlich gemeinte linke
und reichlich einflußlose Sozialdemokratismus ist aber vielmehr (Männer-)Geschichte, das wird aus den
vier Laudatios für Olof Palme, Bernt
Carlsson, Bruno Kreisky und Andre
Chavanne deutlich, die das Buch abschließen.
Insgesamt ist das Buch, trotz eingestreuter Brechtzitate, ein mehr als
fragwürdiger Versuch, den „brilliante(n) Hohlköpfen(n) wie Andre
Glucksmann, Bernand-Henri Levy,
Philippe Nemo“ (13) Paroli bieten zu
können.
Jonas Dörge-Weidemann
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 109114
Autor: Klaus Weber
Leserbrief
Leserbrief:
Klaus Weber
Die Unterdrückten gegen die Herrschenden
Erwiderung auf Thea Bauriedls Artikel
„Miteinander oder gegeneinander?“ in
WIDERSPRUCH Nr.24.
Kein Leser des Widerspruchs, zumindest nicht die privaten und guten,
hat je Waffen in andere Länder verschoben oder in seinem Keller ein
überdimensioniertes Waffenlager angelegt.
Thea Bauriedl fragt in ihrem Artikel, was „wir“ gegen gewalttätige Konflikte unternehmen können. Darauf könnte man viele Antworten geben,
allein, in ihrer Antwort hat das Wörtchen „wir“ im Zusammenhang mit
Waffenexport etc. nichts zu suchen. Daß aber bei ihr das psychologische/psychoanalytische und das politische Wir durcheinandergehen und
eben gerade nicht auf ein erst noch herzustellendes Wir verweisen, hat
mit ihrem ganzen Ansatz zu tun.
I. Interdisziplinarität und psychologische Systemtheorie
Bauriedl konstatiert eine „veränderte politische Lage“ (41) und ein „verändertes kollektives Bewußtsein“ (ebd.) in Europa. Sowohl die „schlimmen Greueltaten an der Zivilbevölkerung“ (ebd.) Jugoslawiens als auch
die Tatsache, daß „mitten in unserem 'zivilisiert' geglaubten Land“ (ebd.)
Leserbrief: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden
Menschen verbrannt werden, findet sie erschreckend. Sie subsumiert alle
„uns so sehr überraschenden und erschreckenden Ereignisse“ (42) unter
den Begriff der „gewalttätigen Beziehungsstrukturen“ (41). Dieser Reduktion komplexer ökonomischer, ideologischer (religiöser) und historischer Zusammenhänge auf die Beziehungsebene entsprechen dann auch
im weiteren sowohl die Analyse als auch die Möglichkeiten des Umgangs
mit den für Bauriedl so erscheinenden neuen Phänomenen wie Krieg
und Rassismus in Europa. Mit einem Konglomerat von „Überlegungen
aus der Philosophie ..., aus der Soziologie, aus der Politologie ..., aus der
Kybernetik, aus der Medizin (Immunologie) und ... der Psychoanalyse“
(42), das sie Interdisziplinarität nennt, will sie im folgenden neue Antworten auf die neuen Konstellation geben. Die Psychoanalytikerin weiß
zwar um die Arbeitsteilung (bei ihr: „Zersplitterung“) der Wissenschaften, für eine postulierte interdisziplinäre Forschung ist der Bezug auf ein
„ganzheitliches Konzept“ bei gleichzeitiger Negation der sogenannten
Zersplitterung jedoch schlecht begründet.
Bauriedl benutzt im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen das Modell der
„Immunologie“, um die richtigen, „heilsamen Eingriffe in das politische
und gesellschaftliche System“ (49) zu begründen: Damit sich der
menschliche Organismus „gesund“ (48) erhalten kann, muß unser Körper Signale aussenden und empfangen“ (ebd.) und die erhaltenen an die
richtigen Stellen weiterleiten. „Sich entwickelnde Krebszellen müssen
sofort bekämpft werden“ (49), um den „Prozeß“ Gesundheit vor „Giften“ zu schützen. Weil nun jede/r von uns Teil dieser Gesellschaft ist, in
der er/sie ebenfalls andauernd Botschaften empfängt und aussendet,
stellt die Autorin die Frage, was denn nun „näher liegt“, als das System
der Immunologie auf „intra- und interpsychische Systeme zu übertragen“
(49) und von diesen wiederum auf die Bereiche Politik und Gesellschaft.
Die mögliche Antwort, daß es näher läge, dieses biologisch-medizinische
Modell nicht auf andere Bereiche zu übertragen, weil sich beispielsweise
ein Neonazi damit genausogut seine den Organismus „deutsches Volk“
zerstörende Krebszellen „Ausländer“ erklären und deren „Bekämpfung“
rechtfertigen könnte, diese mögliche Antwort diskutiert Bauriedl erst gar
nicht.
Da aber diese Art des Umgangs (die zentralistische, -K.W.-) miteinander
nicht der menschlichen Natur entspricht, wird überall dort, wo in dem
beschriebenen Sinne Gewalt ausgeübt wird, das sozio-psycho-somatische
Weber
Immunsystem geschädigt. Es kommt zu „Krebsgeschwüren“ verschiedener Art, wie z.B. staatlichen Nachrichtendiensten und anderen Datenbanken zur „Erfassung der Bürger“, zur Produktion und Anwendung
von Waffen und allen anderen Formen der Gewalt.“1
Kein Wunder, daß Bauriedl mit dieser Art Erklärung für Nachrichtendienste und Großprojekte das erzählt, was die Lebensphilosophen Anfang des Jahrhunderts relativ unbewußt und die Nazis (zumindest der
lebensreformerische und bündische Teil) relativ klar ausdrückten: Das
„Gute“ an der Welt ist das saubere, gesunde Immunsystem sowohl des
einzelnen als auch des Volkskörpers, das durch die industriellen Gifte
verkrebst wird. Keine Frage danach, wer mit welchem Interesse an der
Erfassung von BürgerInnen und deren Gewissen beteiligt ist, welche
Kräfte in welcher Struktur (eine einfache Erklärung für manche Dinge
wäre beispielsweise die Profitlogik, eine andere die Tendenz zur Monopolisierung im Kapitalismus) die Vergiftung natürlicher Ressourcen bedingen. Und ist es wirklich eine Krankheit, wenn Öko-Institute und
internationale Umweltorganisationen Datenbanken anlegen, um umfassende Trends über die Zerstörung der Erde zu erfassen? Mit der Begrifflichkeit des „sozio-psycho-somatischen“ Immunsystems verschwinden
alle Differenzen, erstrebenswert bleibt scheinbar nur der gesunde
Mensch in gesunden Beziehungen.
Bauriedls psychologische Systemtheorie baut auf die „Parallelität der
Bewußtseinsstrukturen zwischen Individuen und Gemeinschaft“2 und
die „Einbeziehung der eigenen Person in die Betrachtung des Systems“
(ebd.). Außerdem sei von entscheidender Bedeutung, nicht nur die offensichtlichen Botschaften, sondern auch deren „unbewußte Inhalte“
(43) zu analysieren, welche zwischen Menschen im besten Falle „dialogisch“ ausgetauscht werden sollten. Am Beispiel der psychoanalytischen
Praxis - also Bauriedls klinischer Erfahrung - verdeutlicht sie, daß nicht
1 Thea Bauriedl, Wege aus der Gewalt. Analyse von Beziehungen. Freiburg (Herder)
1993.
2 Obwohl Bauriedl in ihrem Buch „Die Wiederkehr des Verdrängten“ auf über 40
Seiten der Frage nachgeht, ob man „Erkenntnisse aus der Psychoanalyse auf die
Politik übertragen“ (15) könne, kann sie keine klare Antwort darauf geben. Vielmehr
versteigt sie sich zu Aussagen wie der, daß Politik und Psychoanalyse „sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Störungen“ (13) befassen würden. Zitate aus: Thea Bauriedl, Die Wiederkehr des Verdrängten. München (Piper) 1986.
Leserbrief: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden
nur das Verhalten in Systemen entscheidend sei, sondern ebenso die
verschiedenen Bedeutungsebenen des beobachteten Verhaltens, die
jedoch ausschließlich Interpretationen des Beobachters sind:
„Um nicht „wild' zu interpretieren ist deshalb jeweils der Dialog mit den
Personen nötig, deren Verhalten interpretiert wird. Idealerweise müßten
sie immer um eine Antwort auf die Frage gebeten werden, ob sie sich bei
diesem Verhalten wirklich so fühlen, wie ich annehme. Ein Problem der
Psychoanalyse ist dabei, daß viele Menschen die Gefühle oft nicht oder
noch nicht wahrnehmen können, die ich aus meiner Erfahrung bei ihnen
annehme, und daß sie deshalb gelegentlich meine Vermutungen auch
deshalb (zunächst) ablehnen, weil sie sich selbst an den angesprochenen
Stellen nicht kennen oder derzeit nicht kennen lernen wollen (können)“
(45).
An diesem Zitat wird deutlich, wie wenig Bauriedl bewußt ist, daß in der
therapeutischen Beziehung keine Gleichrangigkeit zwischen Therapeutin
und Klient/in herrscht, in der ein herrschaftsfreier Diskurs über Wahrheit oder Falschheit von Verhalten oder Gefühlen und deren Interpretation möglich wäre. Was sich zuerst als „Problem der Psychoanalyse“
darstellt, daß nämlich die Klient/innen sich in keinem dialogischen Prozeß befinden, wird im nächsten Atemzug zum Problem eben dieser umgemodelt. Nun erscheint die Analytikerin als Wissende und damit ihre
Interpretationen als wahre und die „vielen Menschen“ können oder
wollen eben nicht wahrnehmen, was wirklich hinter ihrem Verhalten
steckt. Um dieser in der therapeutischen Beziehung real existierenden
Machtfrage aus dem Weg zu gehen, beschränkt sich Bauriedl darauf, den
Weg schlicht zum Ziel zu machen:
Mit den Antworten „Nein“ oder „Ja“ ist also in einem psychoanalytischen Gespräch meine Hypothese weder bestätigt noch widerlegt. Das
ist weniger problematisch als häufig angenommen wird. Denn nicht die
sofort verifizierte oder falsifizierte Hypothese ist in dieser Art des „Forschens“ das wichtigste Element, sondern der Prozeß der Verständigung,
an dem beide Partner teilnehmen und sich gegenseitig korrigieren. Heilsam ist nicht die „Wahrheit an sich“, sondern das Gespräch“ (45).
Diese Orientierung auf den Prozeß, den Weg und nicht das Ziel überträgt Bauriedl dann auch auf die dialogische Regelung gesellschaftlicher
Weber
Konflikte: dort gehe es ebenfalls vor allem um die „Pflege einer guten
Gesprächskultur“ (46), in der man sofort merken würde, wenn beispielsweise „militärische Phantasien überhandnehmen“ (ebd.) würden.
Diese würden sich nämlich als „Gewaltphantasien“ im Umgang miteinander äußern und somit wäre „das Prinzip des 'runden Tisches', der
prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Teilnehmer“ (47) durchbrochen.
Entscheidend an Bauriedls Systemtheorie ist, daß geredet wird, daß alles
im Fluß ist und Dialoge geführt werden auf gleicher Ebene: es geht „um
das Gespräch, den Prozeß des Suchens und Findens einer ... Lösung“
(ebd.). Die radikale Veränderung von Herrschaftsstrukturen, gar das
Denken an deren Abschaffung oder auch die Entmächtigung der Herrschenden ist nicht so sehr Bauriedls Anliegen. Sie geht davon aus, daß
„gute Politik ... gute zwischenmenschliche Beziehungen“ (47) voraussetzt. Und die guten, gewaltfreien Subjekte in diesen Beziehungen werden von denen mit „Gewaltphantasien“ getrennt, damit das Gespräch
gut bleibt, der Tisch rund und der Prozeß im Fließen. „Gute Politik“
aber zielt auf die „Auflösung von Gewalt“ (ebd.), wobei mit keiner Silbe
davon gesprochen wird, welche praktischen Folgen aus diesem hehren
Ziel abgeleitet werden können.
Das Ineinssetzen von Weg und Ziel und dazu das Verwechseln von
heute existierenden Gewaltverhältnissen mit einer gewaltfreien Gesellschaft als Ziel pazifistischer Politik durch Thea Bauriedl hat folgende
Konsequenzen: Da Bauriedl Gewalt nicht als eine den gesellschaftlichen
Verhältnissen inhärente Praxis, sondern als „Substanz“ denkt (deswegen
auch das „Auflösen“ ohne Benennung der Lösungsmittel), wird diese
enthistorisiert und mythisiert. So schreibt die Autorin in ihrem Buch
„Wege aus der Gewalt“, Freiburg (Herder) 1993, von der „unaufgearbeiteten Gewalt ... zwischen Völkern oder Volksgruppen“ (13), die jederzeit
wieder „bereitstehen“ (ebd.) könne.
II. Macht und Ideologie ...
Obwohl Bauriedl behauptet, sie wolle der Politik ihre relative Autonomie
belassen (z.B. Thea Bauriedl, Die Wiederkehr des Verdrängten. Psychoanalyse, Politik und der einzelne. München/Zürich (Piper) 1986, S.10)
und „vor allem auf die Chancen hinweisen, die ... in einem psychoanaly-
Leserbrief: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden
tischen Verständnis von politischen Zusammenhängen liegen“3, ist sie
durchweg unfähig, auf von ihr analysierte Themen (Gewalt, Sucht, Politik etc.) anders zuzugehen als mit einer rigiden Vereinnahmungsstrategie.
Die Kategorie, mit der alle menschlichen und gesellschaftlichen Formen
und Prozesse besehen und vereinnahmt werden, ist die der Zwischenmenschlichkeit, der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Kritisches Unterscheidungsvermögen, Differenzierung und Abgrenzung
fordert Bauriedl zwar, ihre Sprache produziert jedoch genau das Gegenteil. In ihrer Gleichmacherei von Täter und Opfer, von Herrschenden
und Unterdrückten, von Armen und Reichen, Therapeutin und Patientin
gibt es keine Grenzen mehr, keine strukturellen Unterschiede oder Abgrenzungen. Was Bauriedl aus ihrer Analyse ausklammert, sind Machtverhältnisse. Wie schon weiter oben am Beispiel ihrer Rede über Therapeutin und Patientin gezeigt, werden über die Konstruktion des „Dialogischen“ alle Teilnehmer eines Gespräches gleich. Weil ihr „der Respekt
für die Angst und den Schmerz ein Hauptanliegen“ ist, werden alle
Ängstlichen und Leidenden zu Gleichen gemacht. Der sprachlich konstruierte Handlungs(spiel)raum für die einzelnen Subjekte ist bei ihr
grenzenlos und gleichzeitig ungreifbar. Es gibt keine Distanz zwischen
verschiedenen Ereignissen, weil wir alle betroffen sein sollen, sind wir
auch alle gleich. Im „Widerspruch“ kommt diese Gleichmacherei so vor:
„Bei genauer Untersuchung der Botschaften können wir sehr präzise
herausfinden, ob wir den Lebenswillen in unserem Land und im ehemaligen Jugoslawien unterstützen, oder ob wir vielleicht resignierend und
schweigend mit der Gewalt einverstanden sind, die hier wie dort geschieht“ (49).
Was immer man/frau sich darunter vorstellen soll, einen „Lebenswillen“
zu unterstützen; über den Begriff der „Gewalt“ ist „hier wie dort“ alles
gleichgemacht. Ob in Jugoslawien oder in der Bundesrepublik, alle Menschen sind verantwortlich für das, was gerade geschieht. („Aus unserer
nationalsozialistischen Geschichte haben wir gelernt, daß auch Schweigen und Nichts-Tun verantwortet werden müssen“ [ebd.]). Die Ignoranz
gegenüber dem Unterschied von Tätern und Opfern hat Bauriedl schon
soweit geführt, deutsche Soldaten als „Opfer des Holocaust“ zu betrau3
Bauriedl 1993, S.178.
Weber
ern und den geplanten industriellen Massenmord an den Juden mit den
„in Kauf genommenen Nebenfolgen industrieller Umweltbelastung“4
gleichzusetzen. Wer es nicht glauben will, lese es nach:
„Aber der implizite Schlachtruf „Volk ohne Energie“ dient wie damals
der Legitimation zur Machtergreifung, jetzt nicht mehr nur gegenüber
Nachbarvölkern und gegenüber der Dritten Welt, sondern auch und
besonders gegenüber den zukünftigen Generationen. Damals verfielen
Juden, Russen, Polen, Tschechen, Franzosen, die eigenen Soldaten dem
Holocaust, weil die Mehrheit des deutschen Volkes glaubte, ein Herrenvolk zu sein“.5
Bauriedls Schreibweise arbeitet mit einer eingängigen Methode. Sie
schreibt chronisch von „wir“, was psychoanalytisch für einen Größenwahn oder aber auch für die Unerträglichkeit stehen könnte, das
„Schlimme“ in dieser Welt alleine aushalten zu müssen. Diskursanalytisch betrachtet erzeugt sie bei den LeserInnen so etwas wie eine Integration in eine imaginäre Gruppe oder Gemeinschaft. Der andauernde Appell an ein WIR erzeugt in Bauriedls Texten zur „Ausländerfeindlichkeit“
ein völkisches LeserInnensubjekt. So ist völlig klar, daß sie von sich
selbst als deutscher Frau spricht und von den Bevölkerungsmitgliedern,
die einen deutschen Paß haben, als „unser Volk“6. Über das Thema
„Spaltungen“ erklärt sie, wie Ausländerfeindlichkeit entsteht und wie
falsch WIR damit bisher umgegangen sind. Bauriedls Angst vor Spaltungen, die gewiß Ursache von Rassismen sein können, führt sie in der völligen Negation dazu, keinen Unterschied mehr machen zu können zwischen den Interessen der derzeitigen Bundesregierung und beispielsweise
4 Micha Brumlik, Zur aktuellen Diskussion um den Nationalsozialismus, in: R. Cogoy/I. Kluge/B. Meckler, Erinnerung einer Profession. Erziehungsberatung, Jugendhilfe und Nationalsozialismus, Münster (Votum) 1989. - Brumlik kritisierte auf der
Bundeskonferenz der Erziehungsberatungsstellen im Oktober 1988 Bauriedls damals
gerade erschienenes Buch „Das Leben riskieren“ als „realitätsblinde Verleugnung des
Nationalsozialismus und der Massenvernichtung“.
5 Thea Bauriedl, Das Leben riskieren. Psychoanalytische Perspektiven des politischen
Widerstands. München/Zürich (Piper) 1988. - Bauriedl hat meines Wissens nie auf
die Kritik jüdischer KollegInnen geantwortet oder sich entschuldigt. Zumindest ist in
keiner ihrer Veröffentlichungen auch nur ein Bedauern über ihre damaligen Sätze zu
finden.
6 Thea Bauriedl, Verstehen - und trotzdem nicht einverstanden sein. Interview in:
Psychologie Heute, 2/93, S.30.
Leserbrief: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden
PazifistInnen in diesem Land. So sagt sie: „Dabei könnten gerade wir ein
Land sein, das sich für Frieden und Freiheit einsetzt. Wir könnten eine
zivile Großmacht sein und eine wirkliche neue Rolle übernehmen“7. Von
der völligen Plattheit solcher Aussagen abgesehen ist die entscheidende
Funktion eines solchen Satzes, den LeserInnen eine Handlungskompetenz anzubieten (sich für etwas einsetzen, eine Rolle übernehmen), die,
wie oben angedeutet, nur über die völlige Identifikation mit Deutschland
zumindest symbolisch ausgeübt werden kann. Stuart Hall bezeichnet
diese Textfiguren als „Mechanismen der konnotativen Verdichtung“8 in
ideologischen Diskursen. Dabei werden wie in Thea Bauriedls Arbeiten
Klassen in Individuen zerlegt und diese Individuen wieder zusammengesetzt in neue Einheiten und Zusammenhänge. Bei Bauriedl funktioniert
das über die Verdichtungsformel des WIR, die jeweils mit verschiedenen
imaginierten Gemeinschaften konnotiert wird: einmal ist es die Gruppe
der Ökologen, einmal sind es WIR Linken, einmal sind es WIR Deutschen usw. Die LeserInnen müssen sich, wollen sie nicht eine permanente selbstreflexive Distanz zum Text aufrechterhalten, spontan als Teil des
„Volkes“ oder des deutschen Staates wahrnehmen. Diese entpolitisierende Sprache, die Subjekte zu völkischen Individuen macht und den
Staat personalisiert („Wenn Deutschland ein positives Selbstbild als politisches Subjekt entwickeln könnte“9), „gewinnt den Anschein einer plausiblen Erklärung nur durch einen hilflos machenden Reduktionismus“10.
Das Ineinssetzen von politischem „wir“ und allgemein menschlichem
„wir“, wie Bauriedl es als politisch-psychologische Mahnerin praktiziert,
ist trotz aller unterstellten guten Absicht nichts als kontraproduktive
Ideologie.
7
ebd., S.37.
Stuart Hall, Rasse - Klasse - Ideologie, in: Argument 122, Juli/August 1980, S.509.
9 Bauriedl 1993 (Interview), S.39.
10 Stuart Hall 1980, ebd., S.509/10.
8
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 115
AutorenInnenverzeichnis
AutorInnen
KARL-HEINZ BARTH, Leiter der
Stabstelle Recht im Amt für Abfallwirtschaft München
ALEXANDER VON PECHMANN
Dr.phil., Lehrbeauftragter an der
VHS München
ROGER BEHRENS, Student der Philosophie, Hamburg
FERDINAND ROTZINGER, Leiter
der Planungsabteilung im Amt für
Abfallwirtschaft München
MARTIN BONDELI, Dr. phil. habil.,
Philosoph, Bern/Fribourg
STEPHAN DÜNNWALD M.A., Doktorand der Völkerkunde, München
JOACHIM H. SPANGENBERG Dipl.Biologe, Mitarbeiter des Institut für
Klima, Umwelt, Energie (Wuppertal), Verantwortl. Betreuer des Kuratoriums der „Duales System
Deutschland
GmbH“, Wuppertal
WOLFGANG HABERMEYER M.A.,
Doktorand der Völkerkunde, München
ELMAR TREPTOW Dr.phil., Universitätsdozent für Philosophie, München
WOLFGANG HERRMANN Dr.phil.,
Gastprofessor und Lehrbeauftragter
für Sozialethik und Praktische
Theologie an der Uni Marburg und
Gießen, Holzappel
KLAUS WEBER Diplompsychologe,
München
PETER DEEG, Mitglied im Landesarbeitskreis Abfall im Bund Naturschutz Bayern, München
IGNAZ KNIPS, Doktorand der Philosophie, Köln
KONRAD LOTTER, Dr.phil., Lehrbeauftragter am Institut für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der Uni München
In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 116
Impressum
Impressum
WIDERSPRUCH
Münchner Zeitschrift für Philosophie
Erscheinungsweise halbjährlich
14.Jahrgang (1994)
Inhaber
MÜNCHNER GESELLSCHAFT FÜR DIALEKTISCHE
PHILOSOPHIE
Tengstr.14, 80798 München
Tel. (089) 2720437
PgiroA München (BLZ 70010080) Kto-Nr. 42640-804
Redaktion
Günter Butzer, Wolfgang Habermeyer, Konrad Lotter (verantwortlich), Alexander von Pechmann, Elmar Treptow, Udo Wieschebrink
Titelgestaltung
Wolf-Maria Willinger
Anzeigen
Anschrift der Redaktion
Es gilt die Anzeigenliste vom 1.5.1989
Satz & Druck
Drucken & Binden
Schellingstr.23, 80799 München
ISSN 0722-8104
Auflage 1500 Exemplare
Preis
Einzelheft: 8.- DM; Abonnement: 7.50 DM (zuzüglich Versand)
Doppelnummer: 12.- DM; Abonnement: 11.- DM (zuzüglich Versand)
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung
der Redaktion wieder.
Für unaufgeforderte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Nachdruck von Beiträgen aus WIDERSPRUCH ist nur nach Rücksprache und
mit Genehmigung der Redaktion möglich.
Zugehörige Unterlagen
Herunterladen