In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994) Zitat Chico: "Der Müllmann ist da." Groucho: "Sag ihm, wir brauchen nichts." Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994) INHALTSVERZEICHNIS Artikel Zum THEMA: Philosophie des Mülls 7 Wolfgang Habermeyer / Konrad Lotter: Philosophie des Mülls - 12 Thesen 11 Wolfgang Herrmann: Müll, Gewalt, Bewusstsein. 17 Roger Behrens: Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls 23 Alexander von Pechmann: Zum Begriff des Mülls. Versuch der systematischen Bestimmung und historischen Einordnung des Müllproblems der Gegenwart 31 Joachim H. Spangenberg: Mensch und Müll 51 Ferdinand Rotzinger: Ist Müll ein Abfallproblem? 57 Karl-Heinz Barth: Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst 65 Konrad Lotter: Calvinos Mülltonne Bücher zum Thema 71 Egon Becker / Peter Wehling: Risiko Wissenschaft Alexander von Pechmann 73 Gernot Böhme: Am Ende des Baconschen Zeitalters Ignaz Knips 74 Vilem Flusser: Vom Stand der Dinge Ignaz Knips 77 Al Gore: Wege zum Gleichgewicht Elmar Treptow 78 Volker Grassmuck / Christian Unverzagt: Das Müll-System Konrad Lotter 80 Frank Hoffmann / Theo Rombach: Die Recycling-Lüge Konrad Lotter 83 Neuerscheinungen Leserbrief Gottfried Hösel: Unser Abfall aller Zeiten Ferdinand Rotzinger 84 Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation Martin Bondeli 85 Lothar Schäfer: Das Bacon-Projekt Alexander von Pechmann 88 Ernst U. von Weizsäcker (Hg): Weniger Abfall - Gute Entsorgung Peter Deeg 92 Hermann Amborn (Hg): Unbequeme Ethik Stephan Dünnwald 93 Robert Kurz et al: Rosemaries Baby Wolfgang Habermeyer 96 George Leaman: Heidegger im Kontext Konrad Lotter 99 Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz Wolfgang Habermeyer 101 Albrecht Wellmer: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne Roger Behrens 105 Jean Ziegler / Uriel da Costa: Marx, wir brauchen Dich Jonas Dörge-Weidemann 107 Klaus Weber: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden Erwiderung auf Thea Bauriedl 109 AutorInnenverzeichnis 115 Impressum 116 In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 7-10 AutorenInnen: Redaktion Zum Thema Zum Thema Philosophie des Mülls Müll als Thema der Philosophie? Statt der hehren „Arbeit am Begriff“ nun die elende „Arbeit im Dreck“? Sic tempora mutantur. Zwischen die Reiche der Freiheit und der Natur wachsen die Berge aus Müll. Die Abfälle unserer Zivilisation vergiften die Erde, verschmutzen das Wasser und verunreinigen die Luft. Der Müll schiebt sich zwischen Mensch und Natur und macht die Zukunftshoffnung auf ihre Versöhnung zum Märchen aus alter Zeit. Kein Mensch weiß, wie die Milliarden Tonnen vorhandenen und künftigen Mülls je zu ent-sorgen sind. Mit dem Müll setzt gegenwärtig eine neue Dimension der ÖkologieDiskussion ein. Die ökologische Kritik am bestehenden Wirtschaftssystem begann mit der Erfahrung der Endlichkeit der Natur, d.h. der Endlichkeit des Erdöls und anderer Ressourcen. Es folgte die Wahrnehmung der Zerstörung der Natur, des Waldsterbens, der Strahlenbelastung, des Ozonlochs. Diese beide Richtungen der Kritik überlagerten und ergänzten sich zwar, stellten vor allem aber auch Gegensätze dar. Die eine Richtung ging von den Voraussetzungen, die andere von den Folgen der Produktion aus. Obwohl beide die „Grenzen des Wachstums“ diagnostizierten, wurde im einen Fall das Wirtschaftswachstum als Ausplünderung des Planeten, als Vernichtung endlicher Rohstoffe kritisiert, deren Entstehen Jahrmillionen gedauert hatte, im anderen Fall als Eingriff in die Naturkreisläufe, der den Lebensraum der Pflanzen, Tiere und Menschen zerstört. zum Thema Mit dem Müll beginnt eine dritte Richtung der ökologischen Kritik. Neu daran ist nicht nur die zunehmende Überforderung der Gesellschaft und des Staats, mit den Abfällen der Produktion und Komsumtion fertig zu werden. Neu daran ist vor allem, daß sie die beiden anderen Richtungen in sich vereinigt und auf eine neue Stufe hebt. Denn Müll ist beides: er ist aufgebrauchte, vernutzte Natur und zugleich Zerstörung der Natur als Lebenswelt. Verschleiß des natürlichen Reichtums an Rohstoffen und Energie und Verschleiß des natürlichen Lebensraums sind die Kehrseiten desselben wirtschaftlichen Wachstumsprozesses, die in der Zunahme des Mülls ihren sichtbaren Ausdruck haben. Die Potenzierung von Mülls ist zugleich die De-Potenzierung von Natur. Auch unter ideologischen Gesichtspunkten weist der Müll in eine neue Richtung. Solange dem Wachstum nur durch die Endlichkeit der Natur Grenzen gesetzt schienen, verblieb die Diskussion in den die Moderne kennzeichnenden, anthropozentristischen Bahnen. Die Sorge galt ausschließlich dem Menschen, dessen Wohlergehen und Zukunft durch die Endlichkeit der Ressourcen bedroht schien. Mit der Verlagerung des Schwerpunkts auf die Naturzerstörung (als „Lebenswelt“ oder „Schöpfung“) machte die anthropozentristische zunehmend einer ökozentristischen Perspektive Platz. Die Natur wurde nicht nur als Heimat des Menschen, sondern allen Lebens verstanden, das in ihren vielfältigen Vernetzungen nur einer holistischen Denkweise erschlossen werden konnte. Für viele war und ist die ökozentristische Perspektive bis heute schlüssig und akzeptabel. Richtig aber ist sie wohl nur als Negation der anthropozentristischen Perspektive. Denn sie setzt dem einen falschen Extrem nur ein anderes entgegen: dem Positivismus der instrumentellverfügenden Vernunft nur die Metaphysik einer selbsttätigen und selbstzweckhaften Natur. Der Anthropozentrismus ordnete die Natur dem Menschen unter und negierte die Eigenart und Fremdheit der Natur indem er sie dem Menschen assimilierte. Der Ökozentrismus ordnet den Menschen der Natur unter und negiert die Eigenart und Fremdheit des Menschen, indem er ihn in natürliche, „kosmische Kreisläufe“ zu re- zum Thema integrieren versucht. Wie der Mensch aber Teil der Natur ist, so steht er, indem er arbeitet und seinen Stoffwechsel mit der Natur regelt, der Natur auch gegenüber. Er bewegt sich innerhalb der natürlichen Zirkularität und sprengt diese Zirkularität zugleich. Für diese Zwischenstellung ist der Müll der sinnlich-stoffliche Ausdruck: er stellt den Endpunkt der linearen Produktionsprozesse dar und durchbricht die Zirkularität der Naturprozesse. Fast ließe der Müll sich als „anthropologische Konstante“ begreifen: der Mensch beginnt sich vom Tier zu unterscheiden, wo er aus der Zirkularität der Natur heraustritt und Müll erzeugt. Aber mit dieser Definition des Menschen als „das Tier, das Müll erzeugt“, ist das Wesen des Menschen nur unzureichend erfaßt. Entscheidend ist die geschichtliche Dimension, in der die Möglichkeit der (quantitativen und qualitativen) Müllproduktion in bestimmten Produktionssystemen aktualisiert wird. Eine neue Qualität entsteht, wo die Zeit, die die Produktionsabfälle benötigen, um durch Verwesung, Verrottung, Zerfall etc. wieder in die natürlichen Kreisläufe einzugehen, im Verhältnis zur Lebensdauer des Menschen unverhältnismäßig lang wird. An dieser Grenze, die mit der Erzeugung von chemischen und atomaren Abfällen überschritten wird, wird Abfall im eigentlichen Sinne zu Müll, zu nicht mehr abbaubaren und wieder-verwendbaren Stoffen. Das Müll beginnt, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu überlagern. * In ihren 12 Thesen zur Philosophie des Mülls gehen Wolfgang Habermeyer und Konrad Lotter von einem Begriff des guten Lebens aus, der sich nicht mehr (wie in der Antike) an der sozialen Gemeinschaft der Polis oder (wie in der Neuzeit) an Reichtum und wirtschaftlichem Wachstum, sondern am Frieden des Menschen mit der Natur orientiert. Auf dieser Grundlage wird das Anwachsen des Mülls als Symptom einer gestörten Beziehung des Menschen zur Natur und, darüber hinaus, als Symptom eines mißlingenden Lebens begriffen. 9 zum Thema Als Stellungnahme zu diesen Thesen erläutert Wolfgang Herrmann den Sinn und die Bedeutung der religiösen Reinigungsriten, wie sie insbesondere das Alte Testament vorschreibt. Nachdem die Menschen das rechte, religiöse Maß verloren haben, verrennen sie sich, so die Hauptthese, in falsche Extreme. Einerseits produzieren sie immer mehr Schmutz, Gewalt und Müll, andererseits nimmt das Bedürfnis nach Hygiene und Sauberkeit wahnhafte Züge an. Müll und Reinheitswahn werden gleichermaßen als Ausgeburten der Gewalthaltigkeit der herrschenden Rationalität begriffen. Roger Behrens spannt einen Bogen von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls. Für Walter Benjamin hat „Abfall“ noch die positive Bedeutung einer Spur. In der Phantasie und in den Händen von Kindern oder Künstlern gewinnt er seinen ursprünglichen Gebrauchswert zurück. Für Adorno hingegen ist alle Kultur nach Auschwitz „Müll“. Den systematischen Ort des Mülls zwischen menschlicher und natürlicher Reproduktion bestimmt Alexander v. Pechmann. Sein Beitrag zeichnet die Prozesse nach, in denen sich das menschliche Reproduktionssystem vom Naturzyklus abkoppelt und seine eigenen Zyklen erschafft. Joachim Spangenberg sieht in der „Vermüllung“ der Natur ein Grundprinzip der menschlichen Arbeit, das er physikalisch als Maximierung der Entropie beschreibt. Auf dieser Grundlage entwickelt er Optionen und Perspektiven der „Entmüllung“. Ferdinand Rotzinger kritisiert die von der gegenwärtigen Umweltpolitik vorgegebene Zielhierarchie von Abfallvermeidung, -verwertung und entsorgung. Da die Vermeidung dem Prinzip des Wirtschaftswachstums, die Verwertung (weitgehend) den Naturgesetzen widerspricht, bleibt letztlich nur die Entsorgung (Verbrennung, Deponie), die in zunehmendem Maße die Lebensräume einschränkt und die Lebensqualität vermindert. zum Thema Karl-Heinz Barth schließlich zeichnet in seinem „Lehrstück grüner Punkt“ die Verdrehung einer ökologischen Idee in ihr direktes Gegenteil nach. Was 1990 als Verordnung über die Vermeidung von Abfällen begonnen hat, entpuppt sich 1993 als profitträchtige Entsorgungsindustrie, die im Interesse ihres eigenen Wachstums einer Ausdehnung von Abfällen in die Hände arbeitet. Im Rezensionsteil werden Bücher zum Thema und philosophische Neuerscheinungen besprochen. Der Leserbrief von Klaus Weber zu Thea Bauriedls Artikel „Miteinander oder Gegeneinander?“ in Nr.24 schließt das Heft ab. Die Redaktion 11 In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 11-16 Autor: Wolfgang Habermeyer / Konrad Lotter Artikel Wolfgang Habermeyer / Konrad Lotter Philosophie des Mülls 12 Thesen 1) In der Gegenwart orientiert sich der Begriff des guten Lebens am Frieden des Menschen mit der Natur. Der antike Begriff des guten Lebens konzentrierte sich auf die soziale Gemeinschaft. Als zóon politikón, als gesellschaftliches Wesen, konnte der Mensch seine wahre Natur erst in der Gesellschaft entwickeln. Am Leben der polis nahm er, als freier Bürger, in demokratischer Rede und Entscheidung teil. Die moderne Gesellschaft war dagegen nicht mehr auf Autarkie und Selbstgenügsamkeit, sondern auf Reichtum und Expansion gerichtet. Als homo faber oder homo oeconomicus produzierte der Mensch Waren. Seine Vorstellungen vom guten Leben gründeten im Konsum bzw. in der Anhäufung von Reichtum als potentiellem Konsum. Gegenwärtig schließlich orientiert sich der Begriff des guten Lebens am Frieden mit der Natur. Da der Mensch selbst Natur ist, schlägt jede Gewalt gegen die äußere Natur in eine Gewalt gegen die menschliche Natur um. Ein menschenwürdiges Leben scheint nur in einer Natur möglich, die nicht zum 12 Thesen bloßen Mittel degradiert, sondern auch um ihrer selbst willen anerkannt wird. 2) Müll ist das Symptom einer gestörten Beziehung des Menschen zur Natur und damit eines mißlingenden Lebens. Geringe Bevölkerung, Vorrang der Landwirtschaft, idyllische Formen des Handwerks und des Handels sorgten dafür, daß der Müll in der Antike nicht zum Problem wurde. Exponentielles Wachstum der Bevölkerung, industrielle Revolution und Welthandel hatten den Müll in der Moderne zwar zu einem unübersehbaren Faktum gemacht. Die Natur aber schien in unbegrenzten Dimensionen zur Verfügung zu stehen, nicht nur als Lieferantin von Wasser, Luft, Energien, Bodenschätzen etc., sondern auch als Halde für den anfallenden Schmutz und Abfall. Erst in der Gegenwart erscheint der Müll als Symptom einer gestörten Beziehung des Menschen zur Natur und damit als Symptom eines mißlingenden Lebens. Das unveränderte Industriesystems und sein verselbständigtes Wachstum gerät in einen immer schmerzlicheren Widerspruch zu den Vorstellungen eines menschenwürdiges Lebens. 3) Der Müll hat als Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts und damit des Lebens eine universelle Bedeutung bekommen. Zum Symptom eines mißlingenden Lebens ist der Müll durch seine Universalität geworden. Er ist nicht mehr das, was in eine Tonne geworfen, von der Müllabfuhr abgeholt und auf eine Weise beseitigt wird, die seine Tabuisierung erlaubt. Zum einen ist der Müll allgegenwärtig, in der Luft, im Wasser und im Boden: als Ruß, als Giftstoffe, als Strahlung etc. Fortwährend sind unsere Sinne mit der Aufnahme und Verarbeitung von Reizen (Gestank, Lärm, Hautreizungen, Aufnahmen von Giftstoffen durch die Nahrung) beschäftigt, die in der verschmutzten Umwelt ihren Ursprung haben. Zum anderen führt der Müll zu Krankheiten (Allergien, Schilddrüsenkrebs, Hautkrankheiten), zum Aussterben von MikroOrganismen, Pflanzen und Tieren. Nur eine Wissenschaft, die über ein- Habermeyer/Lotter fache Kausalbeziehungen hinausgeht und die Natur in ihren Gesamtzusammenhängen und Vernetzungen begreift, erfaßt auch, inwieweit der Müll das ganzen ökologischen Gleichgewicht stört und das Fortbestehen des Lebens in Frage stellt. 4) Müll ist der Endpunkt im Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, eine Totes, das zugleich eine zerstörerische Aktivität entwickelt. Letztlich beruht das menschliche Leben auf einem durch Arbeit vermittelten Stoffwechsel mit der Natur. Solange der Mensch in der Form des Atmens, des Essens, Trinkens etc. nur seine einfachen, körperlichen Bedürfnisse befriedigt, bleibt er in ökologische Kreisläufen eingebunden. Es entsteht zwar Abfall (Reste, verschmutztes Wasser, Kot etc.), im eigentlichen Sinne aber kein Müll. Sobald der Mensch anfängt, seine Bedürfnisse auszuweiten und zu verfeinern, beginnt er, die Kreisläufe des Stoffwechsels zu durchbrechen. Nicht sofort, aber mit der Entwicklung der Produktion immer offensichtlicher. Einerseits entnimmt der Mensch der Natur Dinge (wie Bodenschätze, Energien etc.), die sie nicht oder nicht so schnell reproduzieren kann, wie sie ihr entnommen werden. Andererseits gibt er ihr Dinge (wie vernutzte Bodenschätze, chemische und atomare Abfälle) zurück, die sie nicht oder nicht so schnell in ihre Kreisläufe zurückführen kann, wie sie ihr aufgebürdet werden. Müll ist also der Endpunkt eines linearen Prozesses. Er ist der Endpunkt eines Prozesses, in dem die Natur ihre Potenzen, in den Stoffwechsel mit dem Menschen einzugehen und Leben zu erzeugen und zu erhalten einbüßt. Müll ist somit etwas (für überschaubare, menschliche Zeiträume) Endgültiges, Absolutes und Totes, ein Stoff, der alle produktiven Möglichkeiten verloren hat. Zugleich ist Müll aber auch Anfang. Er ist ein Totes, das eine höchst zerstörerische Aktivität entwickelt, das Lebendige sich assimiliert und in einen Strudel der Vernichtung hineinreißt. 12 Thesen 5) Industrielle Produktion ist eine (durch die Herstellung von Gebrauchswerten vermittelte) Produktion von Müll. Verbreitet ist die Auffassung, Müll sei nur das Akzidentelle der Produktion und Konsumtion. Er entstehe aus Zufall, Willkür oder Unachtsamkeit und könne bei sorgfältiger Planung, bei bewußtem, sparsamem Umgang oder Verzicht auf luxuriöse Verpackung vermieden werden. Industrielle Produktion bringe 1) gewollte Gebrauchswerte und 2) ungewollte Nebenprodukte (wie Abgase, Abwässer, vernutzte Maschinen) hervor. Tatsache jedoch ist, daß Müll wesentlich und substantiell zur industriellen Produktion gehört bzw. daß die industrielle Produktion geradezu als Verwandlung von Natur in Müll definiert werden könnte. Differenziert werden könnte hier allenfalls zwischen drei Formen des Mülls: erstens dem Müll, der als ungewolltes Nebenprodukt bei der Produktion von Gebrauchswerten anfällt (z.B. Verschleiß von Energie); zweitens dem Müll den die produzierten Gebrauchswerte darstellen, die sich auf dem Markt nicht verkaufen lassen und wieder „eingestampft“ werden; drittens dem Müll, den die Gebrauchswerte selbst nach dem Ablauf ihrer Gebrauchs-Zeit darstellen. Gebrauchswerte sind also selbst potentieller Müll. Der Umschlag der einen in den anderen ist eine Frage der Zeit, wobei schlechte Qualität, wechselnde Mode, technische Innovation etc. dazu beitragen, daß die Gebrauchs-Zeit schrumpft und der Umschlag beschleunigt wird. Fast realistisch erscheint der Witz, der einem Ski-Fabrikanten die Worte in den Mund legt: „Die Herstellung eines Paar Ski dauert nur noch eine Stunde und das beste ist, wenn sie abgeschlossen ist, sind sie technisch bereits überholt.“ Habermeyer/Lotter 6) Der Einsatz von Energie erzeugt Müll in Form von Wärme, der die Erdatmosphäre aufheizt. Die Gleichsetzung von industrieller Produktion und Müllproduktion (die über die Zwischenstufe des Gebrauchswert vermittelt ist) wird auch durch den Einsatz bzw. den Verschleiß von Energie bestätigt. Jede Produktion beruht auf dem Verschleiß und damit der Dissipation von Energie. „Dissipation“ heißt, daß die an Kohle, Öl, Strom, Bewegung etc. gebundene Energie in ungebundene, vagierende Energie (sog. „Niedertemperaturwärme) verwandelt wird. Erstens fließt die Energie innerhalb geschlossener Systeme immer nur in diese eine Richtung, von hohem Niveau in niederes Niveau. Zweitens ist die dissipierte Energie nicht mehr verfügbar, d.h. nicht mehr in brauchbare Energie zurückverwandelbar. Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (bzw. seiner Übertragung auf die Ökonomie, wie sie erstmals Nicolas Georgescu-Roegen vorgenommen hat) könnte Müll daher allgemein als Dissipation von Energie im Sinne der Entropie oder als übergang von Ordnung in Chaos definiert werden. Die Erwärmung der Erdatmosphäre als Energie-Müll stellt also den zweiten Endpunkt einer linearen Entwicklung im Stoffwechsel des Menschen mit der Natur dar. In ihrer Zunahme und in der Zunahme der stofflichen Rückständen der industriellen Produktion tritt uns der Fortschritt entgegen, den die Entropie, das „Grundgesetz vom Niedergang“, inzwischen gemacht hat. 7) Die Umbenennung von Müll in „Wertstoff“ ist Ideologie im Interesse eines ungebrochenen, naiven Konsumverhaltens. Die Umbenennung von Müll in „Wertstoff“, von Müllabfuhr in „Wertstoffsammlung“ oder „Abfallwirtschaft“ ist kein bloßer Euphemismus. In ihr verbirgt sich insofern auch Ideologie, als ein wahres Moment zu einem Ganzen und Absoluten gemacht wird. Richtig ist, daß nicht alles, was weggeworfen wird, aus diesem Grunde schon Müll ist. Es enthält (wie Altpapier, Alteisen, Abwässer, Bauschutt) noch 12 Thesen Gebrauchswerte, die recycelt, d.h. als „Sekundärrohstoff“ in die Produktionen zurückgeführt werden können. Falsch ist jedoch die Annahme, die durch die Unbenennung supponiert wird, daß sich die ganze industrielle Produktion eines schönen Tages in Zyklen organisieren ließe. Solche Vorstellungen sind dazu angetan, dem verschreckten Konsumenten das böse Gewissen zu nehmen und seine frühere Naivität wiederzugeben. „Recyceln“ heißt nur, daß die Verwandlung von Natur in Müll langsamer vonstatten geht, nicht, daß der lineare Prozeß dieser Verwandlung durchbrochen wäre. - Verschiedene Autofirmen machen zur Zeit mit der Recycelbarkeit ihrer Produkte Werbung. In einer Anzeige heißt es: „Der neue Saab 900. 1.410 kg schwer. Davon sind 1.269 kg recycelbar.“ Keine Rede, wo die restlichen 141 kg bleiben; keine Rede, wie oft recycelt werden kann und welcher Qualitätsschwund dabei in Kauf genommen werden muß; keine Rede, wieviel Abgase das Auto während seiner Lebensfahrleistung in die Luft bläst; keine Rede auch, wieviel Müll schon bei seiner Herstellung angefallen ist. 8) Die Grenze zwischen Abfall und Müll hat eine geschichtliche Dimension. Müllbeseitigung, traditionell eine Aufgabe der Gemeinden, wird zunehmend von der Privatwirtschaft wahrgenommen („Grüner Punkt“). Damit kommt in den Blick, daß die Grenze zwischen Abfall und Müll, also zwischen dem, was noch Recycelbares und dem, was nichts Recycelbares mehr enthält, unscharf ist. Sie ist keine Frage des bloßen Stoffs, sondern vor allem auch eine Frage des Profits. Müll ist also weniger das, was keinen Gebrauchswert mehr enthält, als das, was das Recyceln, die Rückverwandlung in Gebrauchswert, nicht mehr lohnt, weil der Einsatz von Kapital, Technik und Energie keinen ökonomischen Gewinn mehr verspricht. Damit bekommt der Begriff des Mülls auch eine geschichtliche Dimension. Möglich, daß eine spätere, verbilligte (z.B. Solar-)Energie die Grenze verschiebt, unmöglich jedoch, daß sie sie aufhebt. Habermeyer/Lotter 9) Alle Müllbeseitigung ist letztlich Endlagerung. Fortschritte können nur in der räumlichen Konzentration bestehen. Die Existenz von Kläranlagen und Filtersystemen, von neuen Verbrennungstechniken und biogenetischen Abbauverfahren etc. verschleiert die Tatsache, daß es letztlich nur eine Art der Müllbeseitigung gibt, nämlich die Endlagerung. Auf der Deponie versammelt sich schließlich alles, was keinen stofflichen oder ökonomischen Gebrauchswert mehr besitzt. Fortschritte der Müllbeseitigung können letztlich nur dadurch erzielt werden, daß der Müll räumlich konzentriert wird, also z.B. nicht mehr in die Luft geblasen, sondern in Filtern aufgefangen oder durch Verbrennung verdichtet wird. Müll ist damit nicht vermieden, aber man weiß, wo er ist und behält ihn auf diese Weise besser unter Kontrolle. Allerdings: für wahrscheinlich die meisten und für sehr bedrohliche Formen des Mülls (Abgase, Kohlendioxid, Niedertemperaturwärme etc.) gibt es bis heute keine Möglichkeiten der räumlichen Konzentration. Fraglich ist, ob solche Möglichkeiten technisch überhaupt je zu bewältigen sind. 10) Die gegenwärtige Müll-Diskussion schreibt das ökonomische Wachstum fest. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Müll-Produktion werden nicht in Frage gestellt. Zur Zeit wird das Müllproblem vor allem unter drei Aspekten diskutiert. Unter ökonomischem Aspekt: wie durch Verteuerung Müll vermieden oder wie die Müllbeseitigung finanziell geregelt werden kann. Unter technischem Aspekt: wie die Müllbeseitigung „logistischer“ oder technisch-effizienter geregelt werden kann. Unter juristischem Aspekt: wie die Verantwortung und damit die Haftung unter den Marktteilnehmern verteilt und definiert werden kann. Vorausgesetzt und als Sachzwang akzeptiert bleiben dabei die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das ökonomische Wachstum festschreiben. Als theoretische und praktische Herausforderung gilt nicht der einfache Zusammenhang von ökonomischem Wachstum und Müllwachstum. Als theoretische und praktische Herausforderung gilt stattdessen, wie das ökonomische 12 Thesen Wachstum unter größtmöglicher Müllvermeidung weitergehen kann. Wie sich aber die Luftverschmutzung trotz Katalysatoren potenziert, weil die Verminderung der Abgase des einzelnen Autos durch die Vermehrung der Autos kompensiert wird, so wird sich auch der Müll insgesamt potenzieren. Jede Verminderung des Mülls bei der Produktion der einzelnen Ware wird durch die Ausweitung der Warenproduktion im Prozeß des ökonomischen Wachstums insgesamt bedeutungslos gemacht. Die Müllberge werden sich also weiterhin ausdehnen, der Lebensraum des Menschen wird weiterhin schwinden. 11) Die ökologische Marktwirtschaft beruht insofern auf einem Widerspruch, als der Staat aus dem kapitalistischen Wachstum, das den Müll produziert, zugleich die Steuern bezieht, deren Höhe den Spielraum absteckt, der ihm zur ökologischen Regulierung und damit zur Müllvermeidung oder -beseitigung zur Verfügung steht. Die ökologische Marktwirtschaft versucht, den Wirtschaftsprozeß staatlich zu regulieren. Durch die Erhebung von Ökosteuern für Energieverbrauch oder CO2-Emission oder, wofür u.a. Al Gore plädiert, durch Subventionierung von Ersatzstoffen oder Ersatztechnologien soll das kapitalistische Wachstum ökologisch verträglich gemacht werden (so wie die soziale Marktwirtschaft das kapitalistische Wachstum sozial verträglich machen sollte). Seine Steuern, deren Umfang den Rahmen für die Maßnahmen der Regulierung abstecken, bezieht der Staat aber aus genau jenem Wachtum, das er zu regulieren beabsichtigt. Das ökologische Ziel der Naturverträglichkeit (Müllvermeidung, Müllrecyceln) wird also durch das ökonomische Ziel des Wachstums (mit verstärkter Müllproduktion) gefördert wie gehemmt. Beide Ziele können nur gemeinsam, in Koexistenz, verfolgt werden, obwohl sie sich gegenseitig ausschließen. Wie aufgrund eines beschleunigten Wachstums die „Altlasten“ des bisherigen Wachstums (wenn auch nur teilweise) aufgefangen werden, so wird immer neuer Müll produziert, dessen „Eigenleben“ naturwissenschaftlich noch gar nicht erforscht ist. Habermeyer/Lotter 12) Ein gutes Leben ist weder auf der bestehenden Grundlage des verselbständigten ökonomischen Wachstums, noch auf der Wieder-Eingliederung des Menschen in „kosmische Kreisläufe“ zu verwirklichen. Es bedarf neuer Organisationsformen der Gesellschaft. Was gegenwärtig praktiziert wird, ist eine Art von Müll-Pragmatismus. In der liberalen Demokratie beruht das gute Leben auf der Freiheit des Konsums, die durch das ökonomische Wachstum ermöglicht wird. Daran wird nicht gerüttelt; die ökologische Marktwirtschaft versucht nur, den Prozeß der wachstumsbedingten Zerstörung zu bremsen und seinen Endpunkt hinauszuzögern. Als Alternative hat sich eine Art Müll-Metaphysik herausgebildet, die das gute Leben als Reintegration des Menschen in natürliche, „kosmische Kreisläufe“ definiert. Die Verantwortung für die Schöpfung und die zukünftigen Generationen ersetzt die pragmatische Zielhierarchie von Müll-Vermeidung, Verwertung und Entsorgung durch das ausschließliche Ziel der Vermeidung. An Hinweisen, daß dieses Ziel auch unter Zwang, d.h. unter Ausschaltung liberaler Freiheiten durchgesetzt werden muß, fehlt es nicht. - Wer die genannten Extreme des Pragmatismus und der Metaphysik, der verantwortungslosen Freiheit und der diktierten Verantwortung vermeiden will, kommt in Zugzwang. Wird die bestehende Form des Wirtschaftswachstums als die letzte Ursache des Müllwachstums anerkannt, dann eröffnen sich (hypothetisch) zwei Wege. Entweder wird gezeigt, wie ein qualitativ verändertes Wachstum ohne die lebensgefährliche Zunahme des Mülls möglich ist. Oder es wird gezeigt, wie dynamische Gesellschaften in stationäre, wachsende Ökonomien in schrumpfende übergeführt werden können bzw. wie diese Überführung ohne soziale Revolten und politisches Diktat abgewickelt werden kann. In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 17-22 Autor: Wolfgang Hermann Artikel Wolfgang Hermann Müll, Gewalt, Bewusstsein. Zwei bewußtseinsgeschichtliche Bemerkungen Erstens. Die Welt in den Schmutz ziehen: Müll Die Geschichte des Mülls beginnt nicht erst in der „modernen“, auf Reichtum und Expansion gerichteten Gesellschaft1, sondern durchaus viel früher, in der antiken Welt. Das stetige, krebsartige Wachstum des Mülls und die darin angelegte tendenzielle Vernichtung der Welt durch die Beschleunigung der Entropie korreliert mit dem Wachstum der Geldmenge sowie der Zunahme zerstörerischer Potentiale in den Gesellschaften und Staaten. Letztere zeigt sich vor allem im Ausbau des Militärwesens und dessen wachsenden Fähigkeiten zur Destruktion. Die aufeinander bezogenen Wachstumsbereiche - Geldmenge, Militärpotential, Müll - lassen sich durch exponentielle Kurven2 veranschaulichen, die zeigen, daß die Gegenwart von einer atemberaubenden Beschleunigung dieser destruktiven Tendenzen gekennzeichnet ist. Der lange Zeit zunächst nur sehr langsame, flache Anstieg dieser exponential sich vollziehenden Entwicklungen verführt zu der Annahme, die Ursachen der „modernen“ Probleme seien im Zeitraum etwa der letzten Jahrhunderte zu finden, d.h. im Zeitalter des Kapitalismus und seiner zunehmenden Beschleunigungsvorgänge (z.B. im Bereich technischer Innovationen, 1 siehe W. Habermeyer/K. Lotter, Philosophie des Mülls, 1.These in diesem Heft. Müll. Gewalt, Bewusstsein _________________________________________________________________ sozialer Bewegungen usw.) und seien mit seiner Überwindung zu korrigieren. Das immer noch ungebremste, ebenfalls exponentielle Bevölkerungswachstum, d.h. die Vermehrung der Menschen als einer biologischen Spezies auf Kosten aller anderen, kann nur von einer fundamentalen Dynamik her verstanden werden, deren Folge die Dynamik der Zerstörung der Biosphäre durch die Menschen ist. Müll ist der Indikator dieser Zerstörung. Einführung des Geldes und Entwicklung des Militärwesens sind Merkmale patriarchaler Gesellschaftsformationen und zeigen die Durchsetzung des Patriarchats an. Geldwirtschaft und Militär sind das Rückgrat der Staaten; und Staaten sind bisher nur als patriarchale aufgetreten, - rational strukturiert, hierarchisch organisiert, männlich dominiert. Geld ist das Abstraktum der materiellen Werte und der Macht, über sie zu verfügen, bis heute symbolisiert im Gold als dem illusionären Garanten des gesellschaftlichen Vermögens. Die Verwandlung der Welt in käufliche, dem Geld gleich-gültige Waren hat ihre zunehmende Verschmutzung, Vermüllung zur Folge. 2 Hermann Militärische Gewalt ist die potentielle und immer wieder aktuelle Vernichtung gesellschaftlichen und natürlichen Reichtums. Abziehende Truppen hinterlassen Tod und Zerstörung; und schon ihr Unterhalt hat gesellschaftliches Vermögen verschlungen. Insofern könnte das gänzlich unproduktive, lediglich Ressourcen vernichtende Militär als „sozialer Müll“ verstanden werden. Geldwesen und Militär folgen einer spezifischen Rationalität. In seiner detaillierten Studie „Geld und Geist - Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike“ (Frankfurt 1977) hat Rudolf Wolfgang Müller analysiert, wie die Einführung des Geldwesens in den sich zunehmend patriarchal formierenden antiken Gesellschaften in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung des bürgerlichen Geistes steht, d.h. „moderner“ Rationalität, dem bürgerlichen Identitätsbewußtsein, der Differenz von Subjekt und Objekt. Geld als Abstraktum gesellschaftlicher Kommunikation und Macht korreliert ihrem Geist, ist dessen Verdinglichung. Am Heraklesmythos, insbesondere der Augias-Episode, habe ich den Zusammenhang von Müll und Gewalt zu zeigen versucht (W. Herrmann, Mammon, Schmutz und Sünde - Die Kehrseite des Lebens, Stuttgart 1991). Herakles, Kultheros der aggressiven Dorer, zieht raubend, mordend und vergewaltigend durch das Land (die Tätigkeit aller patriarchalen „Helden“, seien es die mythischen Vorzeithelden, die mittelalterlichen Ritter und Kreuzfahrer, die Konquistadoren oder ihre späteren Nachfahren). Die Reinigung des Augiasstalles unterscheidet sich der Struktur nach nicht von der Aufgabe eines gegenwärtigen Abfallingenieurs. Der Mythos repräsentiert die geschichtliche Dimension des bürgerlichen Bewußtseins. Er zeigt : Müll ist keine dem gesellschaftlichen Bewußtsein nur äußerliche, gleichgültige Erscheinung, sondern Teil seiner Struktur. Die Geschichte des Mülls ist auch die der Rationalität. Oder umgekehrt: Die Geschichte des bürgerlichen (aufgeklärten, kritischen, liberalen usw.) Bewußtseins bildet sich in den wachsenden Mengen und Erscheinungsformen des Mülls ab. Sie beginnt in der Antike und ist Ausdruck zunehmender Destruktivität der Gewaltverhältnisse. Das Chaotische des Mülls demonstriert die Kehrseite jener Rationalität, die ihn hervorbringt. Müll ist ein erkenntnistheoretisches Thema. Müll. Gewalt, Bewusstsein Müll als privatum, d.h. Beraubung der Natur, als abgetrenntes und verlorenes Vermögen des Lebens, ist das getreue Gegenbild des sich als individuiert und damit „privat“ verstehenden rationalen bürgerlichen Geistes. Eine Bewältigung des Müllproblems setzt also eine grundlegende Veränderung unserer gesamten geschichtlich ausgeprägten Bewußtseinsformen voraus. Die Marxsche Dialektik von Sein und Bewußtsein ist neu und vertieft zu bestimmen. Zweitens. Die Sehnsucht nach Erlösung: Reinheit Reinheitswahn ist beileibe kein der Gesellschaft äußerliches Phänomen, ist mehr als nur Ausdruck irregeleiteter, fanatisierter Teilgruppen oder Individuen. Reinheitswahn gehört konstitutiv zum herrschenden, allgemein die Lebensvollzüge bestimmenden und die Einstellungen prägenden Bewußtsein der Menschen. Dabei ist Reinheit ein dem Heiligen benachbarter Begriff; und das Streben nach Reinheit ist Ausdruck der Erlösungssehnsucht, der Sehnsucht nach Vollkommenheit und Glück. Schmutz und Reinheit, Chaos und Kosmos, die Ware und der Müll, Geist und Gewalt, - eins ist ohne das andere nicht zu denken. Wie aber wird aus der Sehnsucht nach dem Heiligen, nach Reinheit, ein Wahn, der sich in Orgien von Gewalt austobt, - in fanatischer Ketzerverfolgung, im Haß gegen Minderheiten, im Rassismus aller Spielarten? In Auschwitz wurden Menschen zu „Müll“ gemacht: im Namen einer Reinheit (von Volk, Blut, Rasse), die andere Menschen in Stalingrad als „Menschenmaterial“ verschliß, - auch das eine Form von „Müll“. Apartheid, „ethnische Säuberungen“, völkischer Nationalismus demonstrieren die ungeheure Gewalt des Reinheitswahns in den christianisierten Gesellschaften, also den Gesellschaften abendländischer Rationalität. Ihnen wohnt eine immer wieder entfesselte Bereitschaft zur Aggression inne, - als Wüten der Inquisition, als conquista und Kolonialismus, als Imperialismus und Nationalismus, - die das Ausmaß von Aggressivität in Hermann vergleichbaren nichtchristlichen Kulturen, beispielweise Ostasiens, mühelos in den Schatten stellt.3 Zu den ideologischen Ursachen gehört das christliche Sündenverständnis. „Sünde“ als gottfeindliche Macht, als Todesverfallenheit und Lebensfeindlichkeit, wurde in der christlichen Theologie (in augustinischer Tradition) als eigenmächtiges Begehren definiert und diese Gier von der Sexualmoral her illustriert. Verhängnisvoll wirkte sich die von der christlichen Frömmigkeit und Theologie übernommene spätantike Leib- und Materiefeindlichkeit aus, die ihre Pointe in der Abwertung und Unterdrückung des Weiblichen fand. Das weibliche Geschlecht als Eingangstor zur Hölle... Lust und Sinnlichkeit konnten fast ausschließlich nur noch negativ verstanden werden; eine zum Kontroll- und Machtmittel der Hierarchie degenerierte Askese hielt die Gläubigen im Verein mit der Höllenangst im Zaum. Sexualität war - von der unumgänglichen Notwendigkeit der Zeugung möglichst vieler Kinder abgesehen - vom Teufel; Aggressivität aber konnte entfaltet werden. Die eigentliche Sexualisierung des Sündenbegriffs wurde durch die Erbsündenlehre vorgenommen: Durch den Liebesakt der Zeugung würde die Sünde von Geschlecht zu Geschlecht unweigerlich vererbt; die Quelle großen menschlichen Glücks sei die Ursache des Verhängnisses. Dieses Sündenverständnis war blind für die Prozesse der Gewalt, die mit dem Geldwesen, dem Militär, der Rationalität angelegt sind. Um diese Blindheit zu verstehen, sind einige religionsgeschichtliche Hinweise zum Symbol der Reinheit nötig. Reinheit ist in den Systemen der Religion in aller Regel ein defensives Konzept. Das meint: Alles Unreine steckt an, befleckt, stigmatisiert. Man muß es also möglichst meiden oder muß - im unvermeidlichen Berührungsfall, wie z.B. bei sexuellen Vorgängen, im Kontakt mit Krankheit oder mit Tod - entsprechende karthartische Rituale (Lustrationen) vollziehen, die den Zustand der Reinheit wiederherstellen. 3 Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973), dt. TB Reinbek 1977, hat den Begriff der Nekrophilie zur Kennzeichnung dieser Aggressivität gewählt. Müll. Gewalt, Bewusstsein Gut zugänglich ist das alttestamentliche Regelwerk, das die Reinheitsgebote umfaßt (vor allem im Buch Leviticus, 11-16). Aus seiner Weiterentwicklung ist die Reinheitspraxis des orthodoxen Judentums entstanden, die übrigens alles andere als ein zwanghaftes, „gesetzliches“ Verhalten der Menschen zur Folge hat, wie es das vulgäre christliche Vorurteil wissen will. Die religionsgeschichtlichen Voraussetzungen der Reinheitsgebote können hier nicht erörtert werden.4 Nur soviel: Die Beachtung von „erlaubten“ und „nicht erlaubten“ Bereichen des Lebens (Ernährung, Gesundheit, Sexualität und Tod) bedeutet eine materielle Konkretheit des Gotteswillens, einen religiösen Materialismus, wie ihn das Christentum weithin nicht kennt. Was im archaischen Konzept des Alten Testamentes „Sünde“ genannt wird, also Gottesferne und Lebensfeindschaft, erhält hier neben der moralischen Dimension, die sich in subjektiven, willentlich vollzogenen Taten äußert, eine transmoralische Dimension. Die mit der moralischen Dimension gegebene Gewalt, z.B. eines Diebstahls oder Totschlages, beruht auf aggressiven Triebregungen von Individuen oder Gruppen und gilt ethisch als prinzipiell beherrschbar oder doch zähmbar. Die durch Unreinheit gegebene Gewalt, z.B. durch die sexuelle Berührung, durch die Geburt oder durch die unaufhebbare Tatsache des Todes, beruht dagegen auf naturgegebenen Sachverhalten (freilich in religiöser Interpretation von „Natur“) und ist prinzipiell unaufhebbar, jedenfalls in diesem defensiven Konzept. Der durch Befleckung entstandene „Makel“, eine objektive, transmoralische „Schuld“, muß stets neu durch Reinigungsrituale entsühnt werden.5 Das christliche Sündenverständnis hat sich weitgehend von der transmoralischen Dimension gelöst und definiert fast ausschließlich moralische Schuld als Sünde. Die mit dem naturbezogenen Leben selbst gegebenen Probleme (Nahrung, Sexualität, Geburt und Tod) wurden mehr und mehr übersehen oder moralisiert, wie vor allem die Sexualität. Wesentli4 Vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu (1966), dt. Berlin 1985. 5 Hierzu Fernando Belo, Das Markusevangelium materialistisch gelesen (1974), dt. Stuttgart 1980, S.59-83 (Die Symbolordnung des Alten Israel); Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II (1960), dt. Freiburg/München 1971, S. 33-56 (Der Makel). Hermann che Fragen menschlicher Existenz wurden damit tendenziell unsichtbar gemacht und dem allgemeinen Diskurs entzogen. Die ökologische Krise - sinnfällig greifbar als Müll - trifft deshalb Theologie und christliche Frömmigkeit fast unvorbereitet, weil die Sündenlehre auf moralische Fragen verengt wurde und keine Kategorien zum Verständnis des Naturumgangs entwikkelt sind, wie sie das archaische Konzept der Reinheit und des Makels sowie die jüdische Frömmigkeit immerhin kennen. Dadurch, daß dem Menschen durch dieses Konzept in Form von Tabus Grenzen gesetzt sind, z.B. bestimmte Pflanzen und Tiere oder auch Teile von Tieren (Blut, Innereien) als „nicht erlaubt“ anzusehen, ist ein Respekt vor der Schöpfung, eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer) gewahrt, die der christianisierten Moralkultur, der alle Lebewesen gleich-gültig sind, weithin abhanden geraten ist. In der neutestamentlichen Zeit war die Auslegung der Reinheitsgebote allerdings noch offen. Sie wurde erst in den Jahrhunderten der Entstehung des Talmuds vollendet. Der Jude Jesus vertrat, wie eine Fülle von neutestamentlichen Texten belegt, ein revolutionäres, nämlich offensives Konzept der Reinheit. Das Unreine ist nicht zu meiden - etwa Leprakranke, Besessene, Kollaborateure mit der (heidnischen) römischen Besatzungsmacht, Prostituierte, selbst Tote -, sondern durch Zuwendung erneut zu integrieren und dadurch zu heilen. Jesus nimmt Kontakt auf, berührt, mißachtet Tabu-Grenzen und demonstriert so, daß Reinheit keineswegs defensiv verstanden werden muß, daß vom ihm vielmehr eine „ansteckende“ Reinheit ausgeht, die alle Vermeidungs- und Abgrenzungskonzepte überflüssig macht. Diese „ansteckende Reinheit“ war übertragbar und wurde in der Urkirche praktiziert. Das Ritual der Taufe hatte durchaus den Sinn, dieses lebenspraktische Konzept für die Gläubigen zu etablieren. Die überkommenen Grenzen zwischen dem Gottesvolk und der heidnischen Welt, zwischen heilig (rein) und profan (unrein) wurden als überwindbar erfahren, wie vor allem Paulus demonstrierte und durchsetzte. Der Satz „dem Reinen ist alles rein“ (Titus 1,15) hatte für das wohlgeordnete religiöse und soziale Gefüge der antiken Welt eine revolutionäre Kraft. Das Christentum hat dieses Konzept jedoch nicht durchgehalten, sondern hat ein neues, sehr komplexes Symbolsystem defensiver und diskrimi- Müll. Gewalt, Bewusstsein nierender Reinheit entwickelt. Seine moralischen Grundpfeiler sind vor allem die aus spätantiker Frömmigkeit übernommenen Themen der Keuschheit und der Jungfräulichkeit, also Formen sexueller Sublimierung bzw. - in der Regel eher - Unterdrückung. Ideologische Rechtfertigung fand dieses System in Begriff der „reinen Lehre“, der dogmatischen Orthodoxie. Dieses System ist in der Lage, jederzeit ungeheure aggressive Energien freizusetzen: als Inquisition und Ketzerverfolgung um der „reinen Lehre“ willen, als moralische Kontrolle der Gläubigen, besonders der Frauen, als terroristische Wut gegen alle „Ungläubigen“ in Pogromen, Kreuzzügen und Eroberungskriegen. Grundlage dieser aggressiven Energien sind die Standards patriarchaler Gesellschaften: Ehre, hierarchische Unterordnung, Geld und Militär. Die Geschichte der Ketzerverfolgung zeigt bei genauerer Analyse unmißverständlich, daß es neben der „offiziellen“, kirchlichen Begründung für die Verfolgung stets noch eine uneingestandene, „inoffizielle“ Begründung gab: den Verstoß gegen die undiskutierbaren, in der Regel unbewußten Standards patriarchaler Verfassung. Indem „Sünde“ überwiegend moralisch und noch dazu sexualisiert verstanden wurde, konnte die Dynamik der Ausplünderung der Welt und ihre Verwandlung in einen Müllhaufen nicht erkannt, geschweige denn als destruktive Gewalt benannt werden. Für das Naturverhältnis der Menschen waren die christianisierten Gesellschaften sprach- und bewußtlos geworden. Daran hat auch die tendenziell nachchristliche Bewußtseinsgeschichte seit der Aufklärung nichts geändert. Daß „Sünde“ primär Gewalt ist und sich als Vergewaltigung äußert, war nicht formuliert und konnte deshalb auch die Ethik nicht bestimmen. „Reinheit“ wurde überwiegend als moralisiertes Thema erlebt, das sich als Reinheitswahn und in Vorurteilsstrukturen umsetzt: Rassismus, Antijudaismus, Minderheitenhetze sind die brutale Konsequenz. „Ethnische Säuberungen“, faschistische Menschenvernichtung, Apartheid können sich als Ausdrucksformen des Reinheitswahns immer wieder als Massenbewegungen durchsetzen. Müll und Reinheitswahn sind siamesische Zwillinge, Ausgeburten des gewalthaltigen Geistes der herrschenden Rationalität. In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 23-30 Autor: Roger Behrens Artikel Roger Behrens Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls Zur Wiederaufbereitung einer Allegorie I. „Kinder nämlich sind auf besondere Art geneigt, jedwede Arbeitsstätte aufzusuchen, wo sichtbare Betätigung an den Dingen vor sich geht. Unwiderstehlich fühlen sie sich vom Abfall angezogen, der sei es beim Bauen, bei Garten- oder Tischlerarbeit, beim Schneidern oder wo sonst immer entsteht. In diesen Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein zukehrt.“1 Die Welt der Kinder, der Walter Benjamin diese einfühlsame Beschreibung gibt, droht zur Vergangenheit zu werden: zwar ist noch so manchem Kind das gefahrenlose Spiel mit dem Abfall aus der Produktionswelt der Erwachsenen vergönnt, doch mehr und mehr wird diese spielerische Aneignung der Dingwelt zum Spiel mit dem Tod. Seitdem Kinderspielplätze auf dioxinverseuchten Böden gebaut und die Wiesen von radioaktiven Regen Tschernobyls verstrahlt sind, seitdem verschiedene Kunststoff-Farben, die auch die Spielzeugwelt bunt machen, sich als cadmiumhaltig und damit krebserregend erwiesen haben, seitdem kann den Kindern nicht einfach die Welt der Erwachsenen, samt ihres Abfalls, zum Spielen überlassen werden. Abfall hat bei Benjamin noch die positive Bedeutung einer Spur; er kann, wenn er in die geschickten Hände des Kindes gerät und von seiner Phan1 W. Benjamin, „Alte vergessene Kinderbücher“, in: ders., Gesammelte Schriften III, Frankfurt/Main 1991, S.16. Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls tasie durchdrungen wird, einen Gebrauchswert zurückerhalten, den er im Akt der Produktion als Reststoff schon verloren gehabt zu haben schien. Mit der Phantasie des Dialektikers bewaffnet, kann Benjamin es den Kindern gleichtun und sich ebenfalls dem Abfall zuwenden: die Allegorie des Abfalls wird ihm zum dialektischen Bild: als „Abfall der Geschichte“ notiert er im Passagen-Werk ein Fragment, aus dem hervorgeht, wie „in der Analyse des kleinen Einzelmoments [der] Kristall des Totalgeschehens zu entdecken sei“, von „Montage der Geschichte“ ist dabei die Rede2. Ein Ergebnis dieser Montage ist das Passagen-Werk selbst - Benjamin hinterläßt der Nachwelt diese Arbeit als „dialektische Feerie“, als Märchen3. Denn das Märchen selbst ist „Abfallprodukt ... im Entstehungs- und Verfallsprozeß der Sage“4. Er nimmt den Abfall der Geschichte, die trümmerhaften Formen von Vergangenheit und Gegenwart, und montiert sie zum aufblitzenden Bild der Zukunft; aus dem Abfall liest er wie aus dem Kaffeesatz: daß der Abfall sich dabei dem Tausch und somit der Verwertung entzieht, macht ihn zum Speicher für einen Vorgriff auf ein Gesellschaftsbild, das dem Prinzip der Verwertung fern liegt. Am konkretesten hat Benjamin diesen Gedanken wohl im Ursprung des deutschen Trauerspiels an dem Bild der Ruine dargelegt5. Benjamin verortet hier die Ruine sowohl geschichtsphilosophisch („Mit ihr hat sinnlich die Geschichte in den Schauplatz sich verzogen“6), erkenntnistheoretisch („Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge“7) und ästhetisch („... trümmerhafte Formen des geretteten Kunstwerks...“8). Die Ruinen sind nicht bloß „Emblem der Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit der kapitalistischen Kultur ..., sondern auch .. Emblem ihrer Destruktivität“9. Diese Destruktivität deutet heute nicht mehr auf die Befreiung vom Kapitalismus zugunsten einer neuen Epoche, sondern auf die Destruktion einer jeden Möglichkeit weiterer Geschichte. Dieses ist 2 W. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd.V.1., a.a.O., S.575. vgl. Susan Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das PassagenWerk, Frankfurt/Main 1993, S.401ff. 4 W. Benjamin, „Alte vergessene Kinderbücher“, a.a.O., S.17. 5 vgl. W. Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.1., S.353ff. 6 ebd., S.353. 7 ebd., S.354. 8 ebd., S.358. 9 Buck-Morss, Dialektik des Sehens, a.a.O., S.204. 3 Behrens der Unterschied zwischen einer Schloßruine oder den Trümmern eines antiken Tempels und dem explodierten Kraftwerk; dieses ist mithin der Unterschied zwischen Abfall und Müll. Das Attribut, das dem Abfall zukommt, ist der Ver- und schließlich Zerfall - das Unbrauchbare wird durch diese „Logik des Zerfalls“ (Adorno) wieder dem Werden zugeführt; nicht ein Kreislauf ist damit gemeint, sondern der Zerfall hinterläßt an den Dingen Spuren, die von gänzlich Neuem zeugen. Dem Müll hingegen kommt die Eigenschaft des Nicht-mehr-zerfallens zu; seine Destruktivität konstruiert nicht die Idee des Neuen, sondern potenziert die Gewalt der Destruktion. Müll hat etwas Bewegungs- und Geschichtsloses: der Giftmüll zerfällt höchstens in eine neue Gefahrenstufe des Gifts, die Zerfallszeiten radioaktiven Mülls haben für mehr als ein Menschenleben den Charakter des Ewigen, die Plastikverpackung bleibt immerwährendes Zeugnis unserer Kultur. Das Verfallsdatum auf den Nahrungsmittelprodukten gibt ein für alle Male an, an welchem Tag der Gegenstand seine Dinglichkeit verläßt, um für den Rest aller Zeiten Müll zu sein: die Objektwelt steht damit nicht in unterschiedlichsten Stadien von Gebrauchsmöglichkeiten dem Menschen gegenüber, eben bis zum Abfall, für den die Kinder noch Verwendung finden, sondern in einem kruden Dualismus - einem „dualen System“ eben - von nur einer Verbrauchsmöglichkeit; alles was diese Möglichkeit übersteigt, ist Müll. Den Objekten kommt also nicht mehr neben dem Tauschwert ein Gebrauchswert, sondern ein Verbrauchswert zu10. Auch ist Abfall eine Rarität: von vergangenen Zeiten sind seine Reste kaum noch erhalten, die paläontologischen Knochenabfälle sind regelrechte Schätze der Wissenschaft. Zwar wissen wir von den unhygienischen Zuständen vom Kot durchmatschter Straßen im Mittelalter, von dem Schmutz in den Arbeitervierteln um die Jahrhundertwende, doch haben diese Zeiten ihren Abfall nicht hinterlassen. Der Müll wird dementgegen für alle kommenden Zeiten seine Zeichen setzen: eine Rarität wird das werden, was noch nicht Müll ist. Die kommenden Schätze nicht nur für die Wissenschaft - werden der Abfall im Müll sein, das was 10 vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.2, München 1988, S.44. Das beste Beispiel ist das Auto: der Gebrauchswert - Fortbewegung und Transport - des Autos ist im Verhältnis für die dafür aufgewendete Zeit der Produktion geradezu irrational (vgl. Ivan Illich, Die sogenannte Energiekrise, Reinbek 1974, S.26f.). Gleichzeitig wird zum Wertkriterium des Autos heute buchstäblich der Verbrauch gemacht. Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls doch noch einmal verwertbar ist. Doch schon jetzt haben die kapitalistischen Weltmarktgesetzte entschieden, daß dieser Umgang mit dem Abfall im Müll kein Kinderspiel sein wird, wie Benjamin es beschreibt, sondern Kinderarbeit, die die imperialistischen Länder mit ihrem Müll verteilen, aufzeigbar an den von uns oftmals mit falscher Freude über Kreativität bestaunten Konservenblechkoffern oder Gummireifenschuhen aus afrikanischen Ländern. Der Unterschied zwischen Müll und Abfall kann sogar in den derzeit beliebten Epochenbegriffen von Moderne und Postmoderne gefaßt werden: die Moderne als jenes Zeitalter mit positivem Verwertungsbezug zum Müll, in dem man sogar anfing im 18. Jahrhundert künstliche Ruinen zu bauen; die Postmoderne dann nach einem Vorschlag von Burghart Schmidt datiert auf den Abriß einer von den ehemaligen Mietern selbst zerstörten Betonwohnruinen im Jahre 1972.11 Sammeln und Verwenden, das gehört zur Welt der Abfälle; Abfälle soll man „nicht inventarisieren sondern ... auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden“12. In einer Zeit, in der Müll nur noch mit Schutzanzügen aufgelesen werden kann, ist Inventarisierung, das heißt: Endlagerung der Zwang. Der Repräsentationskraft des Abfalls steht somit die reine Präsenz des Mülls gegenüber. II. Dieser Unterschied zwischen Abfall und Müll ist auch für die Philosophie virulent: das, was im abstrakten Sinn mit Müll bezeichnet wird - von der Kunststoffverpackung bis zu verbrauchten Brennelementen -, berührt zweifellos Grundfragen der Philosophie, maßgeblich das Problem der Naturbeherrschung, oder: um es altmodischer auszudrücken, das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Und doch hat sich die Philosophie den Müll nicht zum nennenswerten Thema gemacht: auch hier wirkt, 11 vgl. Burghart Schmidt, Postmoderne - Strategien des Vergessens, Darmstadt und Neuwied 1986, S.8; Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, Stuttgart 1988, S.9. „Die Moderne Architektur starb in St. Louis/Missouri am 15.Juli 1972 um 15.32 Uhr,“ so Jencks, mit der Sprengung der Pruitt-Igoe-Siedlung. „Zweifellos hätte man die Ruinen erhalten, sie unter Denkmalschutz stellen sollen...“(ebd.) Das Problem heute ist keines mehr von Denkmalschutz, sondern vielmehr der gebotene Schutz vor giftigen Bausubstanzen, weshalb ein Abriß von Ruinen oftmals gar nicht möglich ist (In Hamburg-St. Pauli steht ein nichtabreißbares Hochhaus: um es niederzureißen, müßte der asbestverseuchte Bau vollständig mit einer Kunststoffhülle überzogen werden). 12 W. Benjamin, Passagen-Werk, a.a.O., S.574. Behrens was Günther Anders in den 50er Jahren schon „Apokalypse-Blindheit“ nannte13. Verhärtet wird diese Blindheit paradoxerweise dadurch, daß die akademische Philosophie sich gerade in den letzten Jahren den Symptomen der Müllproduktion des Kapitalismus nicht länger entziehen konnte und unter dem Stichwort „ökologische Ethik“ einen Bereich abzirkelte. Diese Ethik ist aber eine Ethik des äußersten Symptoms: sie spekuliert über die zerstörten Wälder aus Beispiel und reine Möglichkeit und entwirft eine Moral für den Umgang mit dem kranken und noch gesunden Baum. Nur selten reichen diese Spekulationen für eine Ethik der inneren Symptome hin, also eine Ethik des Mülls, beziehungsweise eine Ethik der Ursachen, was bedeuten würde, eine Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln. Das hat wohl auch damit zu tun, daß unter dem Stichwort der „ökologischen Ethik“ weniger die ökologischen und gar nicht die sozialen Probleme benannt werden, sondern allenfalls die ethischen. Die Richtung dieser Philosophie ist präventiv, die ökologische Katastrophe der Wennfall - der Müll aber, mit dem wir es heute zu tun haben, ist schon die Katastrophe, in Gang gesetzt durch eine Maschine der Warenzirkulation. Dabei wird auffällig, daß es die Philosophie keineswegs versäumt hat, auf die Industrie zu reagieren, die den Müll hervorgebracht hat: unzählige Publikationen widmen sich der Informations-, Medien- und Computertechnologie. Aber hier interessiert nicht das sichtbar-konkrete Resultat, die physische Bedrohung, die zum Beispiel dadurch entsteht, daß es noch keine Möglichkeit gibt, Computerschrott zu entsorgen, sondern das Interesse gilt der Unsichtbarkeit, der virtuellen Realität oder den elektronischen Daten14. Die Philosophie fühlt sich nicht so recht zuständig für den Müll (was anscheinend konstitutiv zum Müll gehört: daß niemand sich für ihn zuständig fühlt)15: im Zuge der wissenschaftlichen Arbeitsteilung ist das Müllproblem an die Soziologie abgetreten worden, an die Ökologie, die Sozialgeschichtsschreibung, die Umweltpädagogik, die Technologiefol13 vgl. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.1, München 1988, S.235ff. Man müßte dem hinzufügen: wenn es Untersuchungen zum Thema Müll gibt, dann auch wieder nur im Interesse an der Form der Unsichtbarkeit, etwa der Radioaktivität. 15 In ökonomischen Begriffen heißt das, daß Müll kein Eigentum darstellt. Im Zeitalter des weltweiten Industriekapitalismus rückt hinter die Frage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln also noch eine zweite: die danach, wem die Destruktionsmittel gehören. 14 Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls genabschätzung vielleicht noch im radikalsten Fall. Eine Philosophie, gleich ob dem System oder der Kontingenz verschrieben, die zum Zentraltopos das Prinzip des Werdens hat, in dem alle Formen des Ver- und Zerfalls aufgehoben sind, hat wahrscheinlich auch gar nicht die logische Apparatur, um sie einem Phänomen zuzuwenden, das konstitutiv vom Prinzip der Unvergänglichkeit bestimmt ist. Der Müll ist die adäquate Allegorie der „Dialektik im Stillstand“ - nichts paßt auf ihn besser als Benjamins Satz: „Die Überwindung des Begriffs 'Fortschritt' und des Begriffs der 'Verfallszeit' sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache“16. III. Und doch kann festgestellt werden, daß der Müll seine Spuren auch in der geistigen Welt längst hinterlassen hat. Noch aus den Tagen, wo der Müll harmloser Abfall war, hat er sich einen allegorischen Wert bewahrt. Kurt Schwitters konnte aus Abfall noch Collagen komponieren und Marcel Duchamp Ausrangiertes zur Kunst erklären, der Abfall war als Fundstück noch gebrauchsfähig. Auch in der Literatur, Benjamin sehr verwandt, finden sich Allegorien des Abfalls, etwa bei Kafka: er entwirft „das Bild der heraufziehenden Gesellschaft“ nicht unmittelbar, sondern, wie Adorno festhält, er „montiert es aus Abfallsprodukten“17. Abfall ist ästhetisch gesehen - um Kants berühmten Satz aus der Kritik der Urteilskraft umzuwandeln - wertmäßig ohne Wert: an ihm läßt sich ein Bild von Schönheit noch konstruieren, auch wenn es bloß dessen Negatives, die Vergänglichkeit ist, das was einmal schön war, der Zerfall. Der Müll schließt demgegenüber eine Ästhetik oder Ästhetisierung aus, wenngleich er am einfachsten dadurch vergessen und verharmlost wird, wenn man ihn ästhetisiert; Müll wird zu dem - wieder in Anlehnung an einen Kantischen Satz -, was ohne Begriff mißfällt. In der Kunst hatte das seine Protagonisten im Punk und Trash der Musik und Literatur, im Bereich des Films wären die Splattermovies zu nennen. Es wurde daraus eine regelrechte Kunst des Mülls, samt einer dazugehörigen Urteilskraft der Geschmacklosigkeit. Filme wie „Soilent Green“ oder „Blade Runner“ gewöhnen uns heute schon an eine Zukunft, in der die Menschheit in ihrem eigenen Müll erstickt ist; hinzu kommt eine Unzahl von Science 16 W. Benjamin, Das Passagen-Werk, a.a.O., S.575. Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders., Prismen, Frankfurt/Main 1987, S.258. 17 Behrens Fiction Filmen im Stile von Star Trek, die schon mit einer Erlösungszeit nach dem Zeitalter des Mülls operieren18. Aber diese Antiästhetik des Mülls braucht gar keine Science Fiction: jüngst ist in den USA eine Welle der Geschmacklosigkeit, eine Verherrlichung der Barbarei und des Mülls, zu verzeichnen, die selbst schon wieder eine ganze Industrie von Comicfiguren und Fernsehshows hervorgebracht hat. Die hierbei inszenierte Antiästhetik des Mülls operiert mit unserem anästhetischen Verständnis vom Müll: im Kinofilm ist er nicht riechbar, der Gift- und radioaktive Müll ist sinnlich nicht faßbar, unseren Hausmüll bringen wir in Tonnen und Schächten aus der Wahrnehmbarkeit, und selbst auf dem Computerbildschirm werden Daten symbolisch in einer Mülltonne zum Verschwinden gebracht. Kommt es da noch von ungefähr, wenn auch die philosophische Ästhetik den Menschen langsam auf eine Anästhetik vorbereitet?19 Günther Anders hat im Zusammenhang mit der atomaren Drohung vor einer „Solennifizierung“, also einer „Verfeierlichung durch Ästhetisierung“ gewarnt, die es sich leistet, „die Wahrheit in ihrer ganzen Furchtbarkeit auszusagen. Das kann sie sich deshalb leisten, weil sie das Furchtbare in die Sprache des Ästhetischen übersetzt, das heißt: weil sie das Horrende als etwas durch seine Größe ... Erhabenes darstellt... Die Darstellungen des Höllensturzes passen ins Barock, nicht in unser Zeitalter, und die (massenhaft existierenden) Darstellungen der Katastrophe gehören nicht an die Wand gehängt, als Ausschmückung unserer Wohnungen...“20 Diese Solennifizierung droht auch dem Problem des Mülls: wo die Begriffe der Schönheit nicht mehr hinreichen, soll der Müll wenigstens seine Erhabenheit erhalten, der Müll wird schließlich sogar vergöttert, zur negativen Religion des Industriekapitalismus. Schließlich hat der Müll ja durchaus etwas Göttliches, sagen wir im Sinne einer Spinozistischen Substanz in Hinblick auf seine Unvergänglichkeit. Allegorisch ließen sich die Müllberge schon als jene Berge deuten, auf denen der kommende 18 „Raumschiff Enterprise“ ist im 24.Jahrhundert situiert, gespickt mit Botschaften, die immer wieder auf die Fehler unserer Zeit deuten und von einer großen Katastrophe zu Beginn des zweiten Jahrtausend reden. Diese Katastrophe wird als überwunden dargestellt, ohne das gesagt wird, wie das geschah. 19 vgl. Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik, in: ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S.9ff. 20 G. Anders, Die atomare Drohung, München 1993, S.128. Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls Moses seine Gesetzestafeln empfangen wird. Erstes Gebot: Du darfst nicht wegwerfen. Um die Groteske zu verlängern: im Englischen hat diese Vergötterung des Mülls schon auf jeder Pfandflasche ihren Begriff gefunden, wenn dort das Wort „redemption-value“ in das Glas eingelassen ist: Erlösungs- oder gar Versöhnungswert des Mülls. Zu Recht hat Adorno daraus schon das geschichtsphilosophische Telos abgeleitet: „Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Autofriedhof stattfinden.“21 Eine Religion des Mülls braucht schließlich nicht nur das moralische Gesetz in sich, sondern auch den bestirnten Himmel, in dem der neue Gott zu wohnen hat. Günther Anders hat dem einen luziden Aphorismus gewidmet: „Das industrielle Problem von morgen wird nicht lauten: 'Wie produzieren wir die von uns gewünschten Produkte?', sondern: 'Wie produzieren wir Installationen, mit deren Hilfe wir die unerwünschten Produktabfälle loswerden?' Und es wäre denkbar, daß wir auf die Erzeugnisse gewisser Produkte werden verzichten müssen, weil wir unfähig sein werden, deren Abfälle zu bewältigen. Schon heute ist die Eliminierung des tödlichen Atommülls (sofern diese als Eliminierung gelten darf) ebenso kostspielig wie die Errichtung von Reaktoren, und schon morgen wird man überhaupt nicht mehr wissen, wohin damit. Das fehlt noch gerade - dieser Vorschlag ist ja bereits in Betracht gezogen worden - daß wir den Dreck ins All schießen: daß wir den Weltraum also deshalb erobert haben, um ihn zur Jauchegrube für die Erde machen zu können. Eine nette Variante der Säkularisierung des Himmels wäre das freilich.“22 Erst in dieser religiösen Sicht auf den Müll läßt sich eine Ästhetik des Mülls jenseits von Schönheit und Erhabenheit entfalten: indem sie nahtlos sowohl von den alten Religionen und dem dazugehörigen Abfall zehrt. Die Brücke, die jetzt geschlagen wird, mag etwas konstruiert klingen; aber sind denn nicht die berühmtesten Ruinen die von Kirchen und Klöstern, also religiösen Bauten gewesen - man denke etwa an Caspar David Friedrichs Bilder? Gleichzeitig ist es auch kein neues Bild, von der Industriereligion zu sprechen und dabei die Fabriken mit ihren kirchturmartigen Schornsteinen zu den neuen Gotteshäusern zu allegorisieren. Warum also nicht eine stillgelegte Fabrik, oder ein zerstörtes Atomkraft- 21 22 Th.W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, a.a.O., S.282. G. Anders, Philosophische Stenogramme, München 1993, S.93f. Behrens werk zur Ruine erheben? Bilder dieser Art finden sich in den - von viel Religiösität durchsetzten - Filmen Andrej Tarkowskijs23. Diese Ästhetik ist aber nicht das, was Hartmut Böhme sich gerne wünscht: „radikale Herausforderungen an das kulturelle Selbstverständnis der Industriegesellschaften und deren Verhältnis zur 'Irrationalität' und vor allem zur Natur“24. Hier gleichsam eine ästhetische Kraft im Sinne einer Herausforderung ausmachen zu wollen, wäre das, was Anders mit Solennifizierung oder auch Auratisierung25 meint. Herausfordern läßt sich die kapitalistische Müllproduktion aber nicht durch eine Wahrnehmbarmachung durch die Kunst, sondern nur indem die Kunst als unmißverständliche ästhetische Anklage fungiert, die schließlich eine praktische Herausforderung provoziert. Statt einer Ästhetisierung des Mülls bedarf es also einer Vermüllung der Ästhetik; darauf mag auch Adornos Satz aus der Negativen Dialektik gezielt haben: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“26 23 vgl. Hartmut Böhme, Ruinen - Landschaften. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Allegorie in den späten Filmen von Andrej Tarkowskij, in: ders., Natur und Subjekt, Frankfurt/Main 1988, S.334ff. 24 ebd., S.335. 25 vgl. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.2, München 1988, S.44f. 26 Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1982, S.359 In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 31-50 Autor: Alexander von Pechmann Artikel Alexander Pechmann von Der Begriff des „Mülls“. Versuch der systematischen Bestimmung und historischen Einordnung des Müllproblems der Gegenwart „Müll“ bezeichnet, was schlecht wegkommt. Den einen ist er der unappetitliche Inhalt überquellender Mülltonnen, der unlieb an den Konsum vergangener Tage erinnert; den anderen entlarven die wuchernden Müllhalden den Menschen als den gefährlichsten Feind der Natur. Während jene der Müllabfuhr erwartungsfroh entgegensehen, stemmen diese sich ihrer Ankunft erbittert entgegen. Für die Freunde kultureller Freuden wie für die Liebhaber intakter Umwelten bezeichnet „Müll“ nichts als ein Ärgernis. Der Müll-Platz scheint sich ortlos zwischen allen Örtern, immer am falschen, zu befinden. Er soll weg, und immer ist er da. Weil er keinen Ort hat, heißt er „Ab-Ort“; weil er der Fall ist, der kein Fall ist, nennt man ihn „Ab-Fall“. Aber das Nichtige und Ausgeschlossene strahlt seine eigene Faszination aus. Es schließt das Ausschließende auf: die Schrottplätze bieten Künstlern eine unerschöpfliche Quelle der Anregung, Archäologen entschlüsseln die verborgenen Informationsgehalte alter Müllgruben, und Agenten entlocken den Mülltonnen auch die intimsten Geheimnisse. Also muß „Müll“ doch etwas bezeichnen, ein „dazwischen“ zwischen säuberlich Getrenntem: den lustvollen Erscheinungen der Zivilisation und dem schönen Schein der Natur. Das gleiche Schicksal erleidet der Müll als Gegenstand der Wissenschaften. Den Naturwissenschaftlern ist er zu unrein und chaotisch, seine Zum Begriff des Mülls Verbindungen nicht analysier- und seine Abläufe nicht modellierbar. Für Ökonomen ist er das schlechthin Nutzlose: unproduktive Kosten, und den Juristen eine Sache, dessen Besitz der Besitzer flieht1. Dem Arzt ist „Müll“ die Quelle von Krankheiten, Giftküche und Infektionsherd in einem, und den Ethikern das Abbild des Schlechten, das nicht sein soll und doch immer da ist. Der Müll scheint in keiner Wissenschaft Heimat zu haben; er geistert auch hier ortlos umher - und ist doch keine Utopie. Im folgenden möchte ich mich dem „Phänomen Müll“ nähern. Dem Versuch der Definition folgt eine Skizze der Müllproduktion und beseitigung in unterschiedlichen Produktionsweisen, um das „Müllproblem“ der Gegenwart historisch zu bestimmen zu können. A) Müll als Exkrement des menschlichen Reproduktionssystems Unter „Müll“ verstehe ich im folgenden allgemein die Exkremente der menschlichen Reproduktion. Diese Definition faßt die Wortbedeutung in einem weiten Sinn. Was unter gewissen Gesichtspunkten in „Abfall“, „Abgase“, „Abprodukte“, „Abwasser“, „Abwärme“, „Kot“, „Schrott“, o.ä. unterschieden wird, wird hier unter der Definition „Exkremente der menschlichen Reproduktion“ zusammengefaßt. a) Unter dem „menschlichen Reproduktionssystem“ soll der Prozeß von Produktion und Konsumtion verstanden werden, durch den der Mensch (Individuum wie Gattung) sich reproduziert und sich dadurch erhält. b) „Exkremente“ sollen Dinge bezeichnen, die das System der menschlichen Reproduktion ausscheidet. Daß Dinge als Exkremente ausgeschieden werden, bedeutet, daß sie eine Funktion, die sie in diesem System hatten, verloren haben; aufgrund ihres Funktionsverlusts werden sie als funktionslos ausgeschieden und damit der Umwelt des Systems, der Natur, zugeführt. c) Alle Dinge, die Funktionen für die menschliche Reproduktion haben, werden aus dem System wieder ausgeschieden; d.h. sie verlieren ihre Funktion als Funktionsträger und werden daher zu Müll. Sie variieren gemäß ihrer Beschaffenheit und Funktionalität nur hinsichtlich der Dauer, in der sie im menschlichen Reproduktionssystem verbleiben. 1 Das Abfallgesetz von 1986 definiert in §1: „Abfälle ... sind bewegliche Sachen, deren sich der Besitzer entledigen will oder deren geordnete Entsorgung zur Wahrung des Wohls der Allgemeinheit, insbesondere des Schutzes der Umwelt, geboten ist.“ Pechmann d) Der Prozeß, den die Dinge als Funktionsträger im menschlichen Reproduktionssystem durchlaufen, besitzt eine gerichtet-lineare Struktur. Da sie während der und durch die Funktionsausübung ihre Funktion verlieren, werden sie als Müll ausgeschieden und müssen durch neue Funktionsträger ersetzt werden. Das System der menschlichen Reproduktion ist daher offen und erhält sich nur, indem Dinge a) von außen aus der Natur als Funktionsträger aufgenommen werden, b) im System ihre Reproduktionsfunktion erfüllen und 3) am Ende als funktionslos aus dem System in die Natur ausgeschieden werden. Müll als Exkrement der menschlichen Reproduktion weist dieser also die Systemeigenschaft der Offenheit und dem Funktionsablauf die Eigenschaft der gerichteten Linearität zu2. 1. Doppelcharakter der Arbeit: Gebrauchswertproduktion und Müllerzeugung Betrachten wir auf der Grundlage dieser Definition zunächst die Art der Erzeugung des Mülls. - Im Unterschied zu anderen Reproduktionsweisen ist die menschliche zweckgerichtet: der Mensch reproduziert sich nicht, indem er vorhandene Dinge als Lebensmittel findet und verzehrt, sondern indem er sie seinen Bedürfnissen gemäß produziert und konsumiert. Er gestaltet durch seine zweckgerichtete Tätigkeit die vorgefundenen Dinge zu Gebrauchswerten um und befriedigt durch deren Konsumtion seine Bedürfnisse. Diese Intentionalität richtet den Funktionsablauf zu einem unumkehrbar-linearen Prozeß, der mit der Konsumtion der Produkte endet; sie zeichnet das menschliche Reproduktionssystem aus. Diese Art zweckgerichteter Tätigkeit kann nicht stattfinden, ohne in das vorhandene Natursystem einzugreifen und es zu zerstören3. Um die vorgefundenen Dinge in funktionale Gebrauchswerte zu verwandeln, muß der Mensch unter Aufwendung von Energie in das Natursystem 2 Zwar spricht man ökonomisch vom Zirkulationsprozeß der Waren; aber sie zirkulieren nicht. Sie werden produziert, verbraucht und danach ausgeschieden. Ihr Prozeß ist ein linearer und gerichteter Funktionsablauf. 3 In Bezug auf die sozio-kulturelle Evolution bemerkt Niklas Luhmann, daß die Gesellschaft nicht auf diese Zerstörung „reagieren muß und daß sie uns anders gar nicht dorthin gebracht hätte, wo wir uns befinden. Die Landwirtschaft beginnt mit der Vernichtung von allem, was vorher da wuchs.“ (N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1988, S.42.) Zum Begriff des Mülls eingreifen und die nützlichen Eigenschaften des vorhandenen Rohmaterials von den nutzlosen trennen und isolieren. Durch diesen selektiven Eingriff entstehen einerseits nützliche Gebrauchswerte, die als Funktionsträger im System der menschlichen Reproduktion fungieren, andererseits nutzloser Müll, der aus dem System ausgeschieden wird4. Dieser Vorgang der Verwandlung des gegebenen Rohmaterials in einen Gebrauchswert wiederholt sich im Produktionsverlauf, bis er im Endverbrauch seine Gebrauchsfunktion verloren hat und schließlich als Müll aus dem Reproduktionssystem ausgeschieden wird5. Aufgrund der Offenheit des menschlichen Reproduktionssystems, das die Funktionsträger seiner Umwelt, der Natur, entnimmt, sind die zweckgerichtete Produktion und Konsumtion von Gebrauchswerten sowie die Erzeugung von Müll als Exkrementen der Produktion und 4 Volker Grassmuck und Christian Unverzagt kritisieren, daß „der Endzustand eines Produkts nach der Phase seiner Verwendung ... in den gängigen ökonomischen, technischen, philosophischen Diskursen nicht vor(kommt). Nur als Verschwundenes, Vergessenes, als Negativ.“ (V. Grassmuck, Chr. Unverzagt, Das Müll-System, Frankfurt/Main 1991, S.67.) 5 Diesen Vorgang des Gebrauchswertsverlusts bringt Elmar Altvater mit dem „Entropie“-Begriff in Verbindung: „Ein Auto oder ein Computer sind jeweils ein hochorganisiertes, geordnetes Ensemble von Stoffen. Viel Intelligenz, Energie und Material waren notwendig, um das auf die Befriedigung eines Bedürfnisses intelligent angeordnete Ensemble von Materialien herzustellen. Dabei ist in der Umwelt von Auto und Computer die Entropie gestiegen. In der Anordnung als Auto oder Computer haben die Stoffe niedrige Entropie als vorher, eben weil dazu Energiezufuhr notwendig war, die der Umwelt irgendwo, irgendwie entnommen worden ist... Die Entropie der Umwelt ist bei der Produktion des jeweiligen Gebrauchswerts (Auto bzw. Computer), bei der komplexen Anordnung von Material, gestiegen und sie steigt beim Gebrauch durch Abnutzung (Material) und Energieverbrauch, bis schließlich nur noch Müll zurückbleibt: als Abfall in der Lithosphäre, als Abluft in der Atmosphäre, als Abwasser in der Hydrosphäre.“ (E. Altvater, Die Zukunft des Marktes, Münster 1991, SS.253f.) Mir scheint diese Analogie zwei verschiedene Ebenen zu verbinden. Ob ein Gegenstand Gebrauchswert oder Müll ist, hängt davon ab, ob und wie er menschliche Bedürfnisse befriedigt, aber nicht von der „Intelligenz seiner Anordnung“. Der zweite Satz der Thermodynamik gibt eine Antwort auf die Frage, ob sich kinetische Energie in potentielle Energie restlos rückverwandeln läßt. Er gibt jedoch keine Antwort darauf, ob der entropieerzeugende Aufwand zur Herstellung und zum Gebrauch von Produkten entropieärmere Strukturen schafft. Was dem Menschen als ein System von hoher Ordnung erscheint, muß es keineswegs im Sinne der Thermodynamik sein. „Müll“ und „Entropiezunahme“ haben verschiedene Bezugssysteme. Pechmann Konsumtion die zwei Seiten ein und derselben Art der menschlichen Reproduktion. Das eine geschieht nicht ohne das andere. Dem intendierten Produkt als Gebrauchswert im System entspricht das nichtintendierte Produkt, das als Müll ausgeschieden wird6. Zweckverwirklichung und Müllerzeugung sind daher untrennbare Bestandteile des menschlichen Reproduktionsprozesses7. 2. Müllbeseitigung als „Naturgabe“ Wenden wir uns der anderen Seite des Mülls, seiner Beseitigung, zu. Da der Müll durch den Ausschluß aus dem menschlichen Reproduktionssystem als natürliches Ding in den irdischen Stoffwechselaustausch eingeht, vollzieht sich seine Beseitigung als ein natürlicher, nichtintendierter Vorgang. Durch diesen werden die anthropogenen Strukturen mechanisch, chemisch und biotisch abgebaut und die Bestandteile gehen wieder in 6 Diesen Doppelaspekt der Arbeit hat Robert Spaemann auf die menschlichen Handlungen überhaupt erweitert: „Es liegt im Wesen menschlicher Handlungen, daß sie Nebenwirkungen hervorbringen. Dieser Satz ist die Kehrseite des anderen, daß Handeln auf Zwecke gerichtet ist.. Nur durch solche Selektion (zwischen Zweck und Nebenfolge) wird Handeln überhaupt möglich, und nur durch sie wird es von 'blinden' Naturereignissen unterscheidbar.“ (R. Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: D. Birnbacher (Hg), Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980, S180f.) - Mir erscheint es dem Wesen menschlicher Handlungen angemessener zu sein, von der Müllerzeugung als einem notwendigen Element der Arbeit auszugehen, statt sie als eine vermeidbare Folge zu betrachten. Denn diese Auffassung impliziert, der Mensch könne sich zweckgerichtet die Natur aneignen, ohne Müll zu erzeugen. Demgegenüber ließe sich der Mensch geradezu als das Wesen definieren, das Müll erzeugt. Die Tiere erzeugen keinen Müll, weil sie in der Natur keine Zwecke verfolgen; die Götter und Engel nicht, weil, wie man hört, sie ihre Zwecke ohne Arbeit verwirklichen können und sich selbst genug sind. 7 Marx' Kritik der politischen Ökonomie hat den Müll-Aspekt der Arbeit außer Acht gelassen. Daß die Arbeitsprodukte nicht nur Bedürfnisse befriedigen, sondern letztlich in der Mülltonne landen, diese ungewollte Seite der Reproduktion ist ausgeblendet. Im „Kapital“ beschreibt Marx die Arbeit als Tätigkeit des Menschen, die „durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes bewirkt. Das Produkt der Arbeit sei ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff, indem die Arbeit sich mit ihrem Gegenstand verbunden habe... Im gelungenen Produkt (sei) die Vermittlung seiner Gebrauchseigenschaften durch vergangene Arbeit ausgelöscht.“ (195ff). Diese Charakterisierung der Arbeit stimmt allerdings nur unter der Bedingung, daß die Theorie von dem nutzlosen Müll, den die Arbeit notwendig erzeugt, abstrahiert. Zum Begriff des Mülls den allgemeinen Stoffwechselzyklus des Erdsystems8 ein. Der Müll wird dadurch in einen Teil des Natursystems rückverwandelt, der erneut als Rohstoff ins menschliche Reproduktionssystem aufgenommen werden kann. In Bezug auf das menschliche Reproduktionssystem läßt sich diese Art der Müllbeseitigung als „Gabe der Natur“ bezeichnen, die das System in Anspruch nimmt. „Die Natur“ bzw. der irdische Stoffwechselprozeß übernimmt kostenlos und ohne menschliche Intentionalität die effektive Auflösung der Exkremente der menschlichen Reproduktion. Die funktionslosen Ausscheidungen des Systems verschwinden nicht in fernen Örtern oder im Allgemeinen, sondern werden in natürliche Rohstoffe rückverwandelt. Die Natur läßt hinterrücks die anthropogenen Strukturen verschwinden und präsentiert vorne wieder den schönen Schein unbefleckter Natur9. Ohne die Selbstverständlichkeit dieser Gratisgabe 8 Dieser irdische Stoffwechselzyklus besteht aus zwei ineinander verzahnten Kreisläufen, dem anorganischen und dem organischen. Der anorganische Kreislauf verbindet die drei Elemente Erde, Wasser und Luft und gestaltet die Litho-, Hydro- und Atmosphäre laufend um. Die stofflichen „Medien“ dieses Umschlagsprozesses sind, wie wir heute annehmen, Kohlen-, Wasser- und Stickstoff sowie andere Elemente und ihre Verbindungen. Der organische Kreislauf besteht im fortwährenden Aufund Abbau organischer Stoffe. Während die Pflanzen die anorganischen Stoffe in organische umbilden (Produzenten), zersetzt die Welt der Mikroorganismen (Destruenten) diese wieder in ihre anorganischen Bestandteile. Die Tiere und Menschen nehmen an diesem Kreislauf (als Konsumenten) teil, indem sie die organischen Stoffe in arteigene Stoffe umwandeln und ausscheiden. Der irdische Zyklus wird durch die Energiezufuhr der Sonne inganggehalten. Dabei entfallen von der jährlichen Sonnenenergie (5020 kcal/a) auf den 'kleinen' organischen Kreislauf nur ca. 0,2%; den Rest absorbiert der anorganische Kreislauf. Die Biomasse (Land und Meer) beträgt ca. 2412t. Auf die Biomasse der Pflanzen entfallen ca. 98% der organischen Substanz, nur 2% auf die Tiere und Mikroorganismen. Gegenwärtig werden ca. 10% der Biomasse jährlich neu erzeugt, sodaß der BioZyklus ca. 100 Jahre beträgt. Der Aufbau der Biomasse durch die Photosynthese der Pflanzen und ihr Abbau durch die Verbrennung der Mikroorganismen hält sich im Gleichgewicht. Aus der Zeit geringerer Intensität der Abbauprozesse im Karbon und Tertiär stammen Kohle und Erdöl als Ablagerungen der organischen Stoffe. (Quelle: A. Bauer/H. Paucke, Natur- und Produktionskreisläufe, in: DZfPh 8/1980, S.905ff). 9 Der für diese Umwandlung geprägte Ausdruck der „Selbstreinigungskraft der Natur“ vermittelt das anthropomorphe und zugleich misanthrope Bild, die Natur wasche sich vom anthropogenen Unrat rein. Die Natur vollzieht jedoch keine rituellen Handlungen. Passender erscheint mir der Ausdruck der „Regenerationsfähigkeit der Natur“, der sich auf die Kreisläufigkeit und die Wiedereingliederung der anthropogenen Stoffe in den natürlichen Stoffwechsel bezieht. Pechmann der Müllbeseitigung ist es kaum denkbar, daß das menschliche Reproduktionssystem sich dauerhaft hätte erhalten können10. 3. Der Müll als „konkrete Einheit“ von Mensch und Natur Fassen wir beide Seiten, die Müllerzeugung durch das menschliche Reproduktionssystem und die Müllbeseitigung durch den irdischen Stoffwechselzyklus, als Vorgänge eines übergeordneten Gesamtsystems auf, so ist das beide übergreifende Ganze und beide Systeme Vermittelnde der naturgesetzliche Energie- und Stofffluß. Der Aufbau von anthropogenen Strukturen, die der Mensch durch die Produktion und die Konsumtion bewirkt, sowie der Abbau dieser Strukturen durch den irdischen Stoffwechselzyklus unterliegen beide denselben Naturgesetzen, nach denen sich materielle Veränderungen vollziehen. Weder der intentionallineare Prozeßablauf im menschlichen Reproduktionssystem noch der zyklische Ablauf des Erdsystems widersprechen den allgemeinen Naturgesetzen11. Sie sind das gemeinsame Dritte, das die Prozeßabläufe beider Systeme vergleichbar macht. Der Müll als Exkrement der menschlichen Reproduktion bildet die besondere Art der Vermittlung beider Systeme. In ihm ist die Einheit von Mensch und Natur konkret: zum einen ist er als ausgeschiedenes Exkrement das funktionslose Resultat der zweckgerichteten Prozesse menschlicher Produktion und Konsumtion; zum anderen ist er Bestandteil des irdischen Stoffwechselzyklus. Der Müll stellt die Nahtstelle zwischen der Linearität des Prozeßablaufs im menschlichen Reproduktionssystem und 10 siehe Anmerkung 3. In Bezug auf das Verfahren der menschlichen Produktion schreibt Marx: „Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d.h. nur die Formen der Stoffe ändern.“ Er zitiert den italienischen Ökonomen Pietro Verri: „Alle Erscheinungen des Weltalls, seien sie hervorgerufen von der Hand des Menschen oder durch die Gesetze der Physik, sind nicht tatsächliche Neuschöpfungen, sondern lediglich eine Umformung des Stoffes. Zusammensetzen und Trennen sind die einzigen Elemente, die der menschliche Geist immer wieder bei der Analyse der Vorstellung der Reproduktion findet“ (MEW 23, 57f.). Wird jedoch in ökologischen Systemtheorien von der besonderen Art, mit der der Mensch verbindet und trennt, abstrahiert und natürliche und menschliche Prozesse nur als Energie- und Stoffflüsse gefaßt, werden, wie Engelbert Schramm kritisiert, „gesellschaftliche Sachverhalte physikalistisch verkürzt.“ (E. Schramm, Die Rolle der theoretischen Ökologie bei der Erforschung der sozial konstituierten Natur, in: Dialektik 9, Köln 1984, S.141.) 11 Zum Begriff des Mülls der Zyklizität der irdischer Prozeßabläufe dar, er bildet den neuralgischen Umschlagplatz zwischen den beiden Systemen12. Würden wir unterschiedslos die menschliche Tätigkeit bloß als Teil des natürlichen Stoffwechsels auffassen, so wäre „Müll“ kein Thema; faßten wir umgekehrt alles bloß als Funktion menschlicher Reproduktion, als Gegenstand der Nützlichkeit, auf, so wäre ebenfalls „Müll“ kein Thema. „Müll“ wird nur zum sinnvollen Begriff, wenn er weder als das eine noch als das andere, sondern als beides in einem gefaßt wird. Als Produkt menschlicher Tätigkeit gehört er einerseits dem menschlichen Reproduktionssystem an, ohne ihm, als ausgeschlossenes Exkrement, anzugehören; als ausgeschlossenes Exkrement gehört er dem irdischen Stoffwechselzyklus an, ohne ihm, als Produkt menschlicher Tätigkeit, anzugehören. Der Müll stellt als widersprüchliche Einheit zwischen Mensch und Natur die Grenze dar, die beide Systeme voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet13. Schließen wir den Versuch der Begriffsbestimmung mit dem Hinweis ab, daß diese „dialektische Einheit“ des Mülls das bisherige Ordnungssystem der Wissenschaften sprengt. Er hat weder in den Humanwissenschaften Platz, deren Gegenstand die kulturellen Leistungen sind, in denen der Mensch sich als Urheber und Zweck erkennt, da er gerade die Privation dieser Leistungen darstellt. Noch hat er in den Naturwissenschaften seinen Ort, da er anthropogene Strukturen besitzt und nicht die Natur als solche vorstellt. Er unterläuft das System der Wissenschaften. - Wenn 12 Volker Grassmuck und Christian Unverzagt beschreiben die Müll-Beseitigung salopp-treffend: „Seitenwechsel im Schlagabtausch zwischen Mensch und Natur“ (Das Müll-System, a.a.O., S.310). - Die Art, in der das Endglied des linearen Prozeßablaufs der menschlichen Produktionsweise in den natürlichen Zyklus umschlägt, hängt von der Menge und der Beschaffenheit der anthropogenen Stoffe ab. Sie läßt sich als „ungeregelt, offen bis chaotisch“ beschreiben (A. Bauer/H. Paucke, Naturund Produktionskreisläufe, a.a.O., S.911). - Die junge Chaos-Forschung hält sich derzeit noch mit netten Spielchen auf, statt sich an Modellierungen der chaotischen Abläufe zu versuchen, die auf den Müllplätzen beim Aufeinandertreffen fremder Stoffe stattfinden. 13 Der „Müll“, läßt sich sagen, bildet die reale „Naturalisierung des Menschen“ und „Humanisierung der Natur“. Er stellt die zwangsläufige Natürlichkeit der menschlichen Produktionen vor, und er zeigt den Umfang und die Art der Verwandlung der Natur durch den Menschen. Was von Marx als eine positive Menschheitsutopie gefaßt wurde, ist heute eher als eine Schreckensvision vorstellbar (s. dazu E. Altvater, Die Zukunft des Marktes, a.a.O., S.247ff.). Pechmann der Müll zum gesellschaftlichen Problem und damit zum Wissenschaftsthema wird, kann dies darauf hindeuten, daß mit ihm das bisherige Wissenschaftssystem selbst zum Problem wird14. B) Geschichtliche Arten der Müllerzeugung Im folgenden gehe ich davon aus, daß die Erzeugung von Müll ein zwar nichtintendierter, aber notwendiger Bestandteil der menschlichen Reproduktion ist15, daß aber die Art der Müllerzeugung und der Grad seiner Beseitigung durch die Natur davon abhängt, wie die Gesellschaften sich reproduzieren. Diesen Arten der Müllerzeugung möchte ich anhand von vier historischen Produktionsweisen nachgehen: dem Jagen und Sammeln, dem Ackerbau und der Viehzucht, dem Gewerbe sowie der Industrie. 1. Jäger- und Sammlergesellschaften Ca. 98% der Menschheitsgeschichte war der Müll weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht ein gesellschaftliches Problem. Die menschliche Reproduktion vollzog sich durch die Konsumtion gesammelter Pflanzen und gejagter Tiere. Die Natur war hier „das Vorrathshaus, worin der Mensch ... fertige Naturproducte zum Consum vorfindet“16; das Nahrungsangebot beschränkte die Bevölkerungszahl und -dichte. Die Herstellung von Arbeitsgeräten war auf die Bearbeitung von Steinen und Lehm, von Pflanzen- und Tiermaterial beschränkt; diese Geräte kehrten nach ihrem Verbrauch als Müll in den allgemeinen Stoffwechselprozeß zurück. Dieser auf die Jagd konzentrierten Tätigkeit entsprach offenbar auch die rituelle Praxis. Wenn wir die überlieferten Tierdarstellungen nicht nur als magische Jagdrituale, sondern auch als Kultbilder deuten, so können wir daraus schließen, daß für die Jäger durch das Töten und den Verzehr des „heiligen Tieres“ ein Legitimationsdruck entstand. So gesehen, wäre die Rückführung der Exkremente der Produktion und Konsumtion in den 14 vgl. dazu Egon Becker, Peter Wehling, Risiko Wissenschaft. Ökologische Perspektiven in Wissenschaft und Hochschule, Frankfurt/Main 1993. 15 In seiner Darstellung der Müll- und Abfalltechnik (Düsseldorf 1985) läßt H.-H. Habeck-Tropfke das „Zeitalter des Mülls“ mit der Entstehung des Menschen beginnen. 16 Marx, MEGA II.31.1., S.58 Zum Begriff des Mülls Naturkreislauf als Opfer, als Wiedergutmachung eines entstandenen Schadens, interpretiert worden.17 2. Die Agrargesellschaften und die antike Metropole a) Die Art der Produktion und Konsumtion änderte sich mit der sog. „neolithischen Revolution“. Ackerbau und Viehzucht bestimmten das System menschlicher Reproduktion bis zur Industrialisierung. Die Bearbeitung des Bodens, der zielgerichtete Anbau von Pflanzen und die Tierhaltung erhöhten die Arbeitsproduktivität, vermehrten das Nahrungsangebot und damit die Zahl der Menschen. Neben die Pflanzenund Tierzüchtung sowie die Erfindung neuer Arbeitsgeräte trat die bewußte Rückführung der Exkremente und damit die Wiederverwendung des Mülls als ein wesentliches Element der Reproduktion. Das der Natur entzogene Material wurde nach seiner Verarbeitung und seinem Verzehr zurückgeführt und zur erneuten Bedingung der Produktion. Diese Art der agrarischen Kreislaufwirtschaft war in ihrem Ablauf und in ihrer Dynamik vom irdischen Jahreszeitenzyklus abhängig und in diesen integriert. Auch in den Agrargesellschaften stand offenbar das Opferritual im Zentrum. Die Nutzung der Naturressourcen wurde als ein Akt der Naturzerstörung interpretiert, der nur durch ein oft kompliziertes System der Rückführung der entnommenen Güter als Opfergaben gerechtfertigt und kompensiert werden konnte. Wir können daraus schließen, daß auch hier der Ausschluß der Exkremente aus dem menschlichen Reproduktionssystem zugleich als Rückgabe an die als göttlich verehrte Natur interpretiert wurde18. 17 Dieser Deutung entsprechen diverse Funde von Bärenknochen, die in Gestalt des Bärenskeletts angeordnet waren. Diese Anordnungspraxis läßt den Schluß zu, daß man glaubte, das Tier werde 'reinkarniert', d.h. in seinem Fleische wiederauferstehen. (s. H.. Döbler, Vom Wildbeutertum zum frühen Ackerbau, in: Panorama der Weltgeschichte, Bd.2, Gütersloh 1987, S.54.) 18 In seiner Arbeit über das Umweltverhalten im Altertum beschreibt Karl-Wilhelm Weeber zusammenfassend das archaische Umweltbewußtsein: „Schon der Pflug, der sich in den Boden eingrub, riß die Erde auf und verwundete sie damit gleichsam eine 'Versündigung' an der Unversehrtheit der Mutter Erde, die man durch mancherlei Opfer und Rituale zu kompensieren bemüht war“ (K.-W. Weeber, Smog über Attika, Zürich 1990, S. 71). - Zu den Methoden der ökologischen Selbstregulierung in archaischen Gesellschaften: vgl. N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O., S.68ff. Pechmann b) Auf der Grundlage der Agrarwirtschaft entstanden die antiken Metropolen, die sich das agrarische Mehrprodukt aneigneten und konsumierten, und die einen neuen Reproduktionszyklus ausbildeten. Die Städte Babylon, Theben, Mohendscho-Daro, Athen oder Rom entwickelten einen urbanen Reproduktionszyklus mit eigener Dynamik, der sich vom natürlichen Kreislauf löste: die Metropolen setzten die Konsumtion des agrarischen Mehrprodukts in die Produktion von „Herrschaft“ um. Es entstand ein urbaner Komplex von neuen Bedürfnissen und Gütern: die zentrale Verwaltung, Kontrolle und Planung des agrarischen Mehrprodukts brachte die Schrift, das Rechen- und Geldwesen sowie die Institutionen der Tribut- bzw. Steuerpflicht und mit ihnen eine Schicht von Bürokraten hervor; die Nahrungsmittelnachfrage ließ zentral organisierte Technologien der Bodenbewirtschaftung und des Transports, Flußregulierungssysteme und Verkehrswege entstehen sowie die Fronpflicht, Sklaverei und den Handel; das Bedürfnis nach Sicherung und Erweiterung des Territoriums militärisches Wissen und das Heer; und schließlich erzeugte das Legitimationsbedürfnis der Herrschaftszentren neue Arten der religiös-kulturellen Repräsentation und mit ihnen die Klasse der Priester und der Handwerker. Dieses urbane Reproduktionssystem war in seiner Dynamik nicht mehr in natürliche Kreisläufe eingebunden, sondern durch die interne Struktur der Erhaltung und Erweiterung politischer Macht bestimmt. War das Dorf Zubehör des Bodens, so wurde nun der Boden Zubehör der Stadt. Die Abfolge von Produktion und Konsumtion erhielt damit eine lineare Struktur: die Städte eigneten sich das Agrarprodukt an und konsumierten es zum Zweck der Herrschaft; die Exkremente der Konsumtion kehrten nicht mehr in die natürlichen Kreisläufe zurück, sondern blieben in der Stadt - und wurden zum Müllproblem. Je dynamischer die Zentren waren, desto mehr Produkte und Menschen brauchten und verbrauchten sie, desto mehr Müll erzeugten sie. Die antike Zivilisation durchzieht daher nicht nur das Verlangen nach den agrarischen Mehrprodukten der Zentren (und ihr ständige Eroberungsdrang) am Beginn, sondern auch das ungelöste Müllproblem am Ende der Nahrungskette. Babylon, mit ca. 250 000 Einwohnern die erste Metropole, wurde nicht nur auf der Exploitation des Landes, sondern buchstäblich Zum Begriff des Mülls auf der eigenen Scheiße erbaut19. Zwar entstanden hier neben Wasserzulaufsystemen auch Abwasserkanäle; aber die urbane Wachstumsdynamik sprengte alle Regulierungsversuche. - Die Stadt Rom besaß seit dem 6 Jhrt.v.Chr. die cloaca maxima, die damit „das älteste heute noch in Gebrauch befindliche Bauwerk ist“20. Da die umliegenden Felder und der Tiber die anfallenden Müllmassen der Millionenstadt bald nicht mehr aufnehmen konnten, wurden am Stadtrand in den Armenvierteln offene Gruben bzw. tiefe Gewölbe zur „Endlagerung“ des Mülls angelegt, die diese Aufgabe aber nie erfüllten. Schließlich untergrub der Aufwand, den die Metropole zur Reproduktion ihrer Weltherrschaft betrieb, die Bedingungen ihrer Herrschaft. Das römische Imperium verwandelte Ackerbauern in Soldaten- und Sklavenheere, vernichtete den mediterranen Waldbestand, plünderte die Bodenfruchtbarkeit und verwandelte die Städte in „offene Kloaken“ (Lewis Mumford)21. Das Resultat des urbanen Reproduktionssystems war die Verwüstung des Herrschaftsgebiets. Nach dem Kollaps des antiken Weltreiches trat wieder die einfache agrarische Kreislaufwirtschaft an dessen Stelle. Betrachten wir die Formen, in denen in der Antike die Exkremente der urbanen Reproduktion zum Thema wurden, so sind sie offensichtlich weder unter dem religiösen Aspekt der Rückgabe an die Natur noch unter dem ökonomischen Aspekt der Wiederverwendung interpretiert worden. Der Dominanz der Stadt über das Land entsprach das „natürliche Recht“ des Stadtbürgers auf den Besitz des Bodens und der Sklaven sowie auf die Aneignung des Landprodukts. Diese Kolonialisierung des Landes wurde als zivilisatorische Leistung der Stadtkultur verstanden. Das nichtintendierte Resultat dieser Aneignung, der Müll, hingegen wur19 „(Babylons) Bewohner (mußten) ihren Geruchssinn nur entsprechend urbanisieren, um nach der Devise 'Tritt sich fest' handeln zu können. Man baute die Türschwellen der Häuser einfach Generation für Generation ein Stückchen höher, während die alten in dem von den Bewohnern hinterlassenen Abfall und dem der folgenden Generationen verschwanden. So ging das alte Babylon permanent in einem neuen unter - bis es sich schließlich doch unter die Erde gewachsen hatte.“ (V. Grassmuck, Chr. Unverzagt, Das Müll-System, a.a.O., S.45) 20 ebd., S.44. 21 In diesen Kontext gehört die These von A. Kobart, den Untergang des römischen Imperiums mit der Ermattung und dem Aussterben der Oberschicht durch ihre Vergiftung mit Blei zu erklären. (s. K.-W. Weeber, Smog über Attika, S.171-190). Es wäre dies ein eindruckvoller Fall, in dem die unbeabsichtigten Nebenfolgen zum Kollaps des Reproduktionssystems führten. Pechmann de als „nutzlos“, „störend“ wahrgenommen und als ein bloß Negatives verdrängt22. Es fehlten der antiken Stadtkultur offenbar die Kategorien, um das wachsende Müllproblem und seine Ursachen angemessen beschreiben zu können. Zwar mehrten sich in der Spätantike die Stimmen, die die Praxis der Verwüstung und Vermüllung der Natur nicht mehr verdrängten, sondern aussprachen; aber ihre Kritik orientierte sich nur an ästhetischen und ethischen Maßstäben. Horaz etwa bedauerte die Verschandelung der Landschaft, Seneca und Plinius kritisierten den Verfall der Sitten und die „naturwidrige“ Lebensweise23. Die antike Stadtkultur war offenbar strukturell unfähig, auf die Kehrseite ihres eigenen Herrschaftssystems zu reagieren, nämlich daß sie durch die Dynamik ihres Reproduktionszyklus die Grundlagen ihrer Reproduktion, die Agrarwirtschaft, verwüstete und zerstörte und damit schließlich selbst kollabierte. 3. Die mittelalterliche Gewerbewirtschaft Das Mittelalter hatte kein Müllproblem. Allenfalls ein ästhetisches. Der städtische Abfall wurde in Gruben oder auf die Straße gekippt, wo sich seiner die Rennsau, der „schizhusfeger“ oder der Abdecker annahm. Mit der Zunahme des städtischen Gewerbes im Mittelalter entstanden qualitativ neue Abfallprobleme, die jedoch im Rahmen der kommunalen und zünftigen Verwaltung gelöst wurden. Die städtischen Zünfte und Gilden überwachten und kontrollierten die Beschaffung, Verwendung und Beseitigung chemischer Stoffe als Arbeitsmittel zur Metallverarbeitung, Glas- oder Textilherstellung24. Die folgenreichsten Nebenwirkungen 22 Wolfgang Hermann ist dieser antiken Sichtweise anhand des Mythos der „Reinigung des Augiasstalls“ nachgegangen. Dort erscheint der Viehmist nicht mehr als wiederverwertbarer Dünger, sondern als „Schmutz“, an dem der Stall zu ersticken droht, und von dem er gereinigt werden muß. Heraklit löste das „Müllproblem“, indem er den Stall vom Schmutz reinigte und das reine Wasser verschmutzte. „Die Lösung des Herakles war jedoch eine Scheinlösung... Schmutz kann auf diese Weise niemals beseitigt werden; er kann nur an einen anderen Ort gebracht werden... Es gibt keine Orte, an denen Schmutz 'fort' wäre.“ (W.Herrmann, Mammon, Schmutz und Sünde. Die Kehrseite des Lebens, Stuttgart 1991, S.66) 23 siehe K.-W.Weeber, Smog über Attika, a.a.O., S.63ff, 155ff. 24 Die Verwendung von Chemikalien war im Mittelalter weniger ein ökologisches, als ein ideologisches Problem. Die „chemischen Handwerker“ (Köhler, Färber, Ärzte, Schmiede etc.) wurden kirchlicherseits im Bund mit teuflischen Naturmächten gesehen. Diese Sichtweise erhöhte nur die Wachsamkeit, Kontrolle und den Zwang zur zünftiger Organisation der Gewerbe. Zum Begriff des Mülls entstanden durch die Erzverhüttung und Metallverarbeitung (Gießerei), deren Brennholzverwendung zum Abbau des Waldbestandes in Mitteleuropa führte. Im Ganzen jedoch waren sowohl die städtische als auch die agrarische Produktion und Konsumtion durch die umfassende feudal-ständische Ordnung in einem Maße beschränkt, die deren Exkremente nicht zum Problem werden ließ25. 4. Die industrielle Produktion Die Art, in der der Mensch sich in der Moderne reproduziert, ist nicht mehr durch die Vorgänge der Aufnahme, der Veredelung und des Genusses naturgegebener Güter und Stoffe bestimmt, sondern durch die technische Herstellung der Stoffe und Güter. An die Stelle der Produktivität der Natur und die Dynamik ihrer Kreisläufe tritt die Produktivität der Arbeit und die Dynamik des industriellen Prozesses26. Die Landwirtschaft und das Gewerbe werden durch ein umfassendes technologisches System ersetzt, das die Vorgänge der Produktion, des Transports und der Konsumtion zu einem kommunizierenden Gesamtsystem, dem Weltmarkt, vernetzt. Nicht mehr die Natur, sondern die Technik bestimmt die Masse und Dauer, die stoffliche Zusammensetzung und den Energieeinsatz der Produktion. Dieser Art der technisch-industriellen Produktion, die sich zeitlich und stofflich von den Naturschranken losgelöst hat, entsprechen die Exkremente, die das moderne Reproduktionssystem ausscheidet. Der Industriemüll wird quantitativ und qualitativ zum Problem, weil die Geschwindigkeit, die Masse und Art seiner Erzeugung mit den natürlichen Abbaukapazitäten und seiner Wiedereingliederung in den irdischen Stoffwechselzyklus konfligieren. Die Technogenität des industriellen Mülls tritt in Gegensatz zur Reproduktionsweise der Natur. 25 Max Weber sieht in der zünftigen Organisation der mittelalterlichen Stadt den entscheidenden Unterschied zur antiken Stadt, die auf „kriegerischen Erwerbsinteressen“ beruhte (M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, München 1923, S.284). Hier war der Krieger Bürger, dort der Gewerbetreibende. Hier herrschte die Stadt über das Land, dort war die Stadt neben dem Land. 26 In der Wirtschaftslehre drückt sich dieser Wechsel im Übergang von den Physiokraten zur Arbeitswertlehre aus. Für jene war die Landwirtschaft wertbildend, für diese jede Art gebrauchswertbildender Arbeit. Diese Konzentration auf die gebrauchswertbildende Arbeit verursacht, daß die Wirtschaftslehren bis heute nur auf einen quantitativ geringen Teil der Produktion focussiert sind und die Müllerzeugung schlicht ignorieren. (vgl. dazu den Beitrag von Joachim H. Spangenberg in diesem Heft.) Pechmann a) der Wissenschaftscharakter der industriellen Produktion Die Zweckmäßigkeit des Produktionsablaufs durch die Technik, die ihn regelt und kontrolliert, ist nicht möglich ohne eine spezifische Art des Wissens, das die Gesetzmäßigkeit der Produkteigenschaften und der Wirkungen der Stoffe ideell repräsentiert. Dieses Wissen gründet nicht auf Erfahrung (wenngleich diese weiterhin nützlich bleibt), sondern beruht auf der Abstraktion von der Erfahrung und auf der experimentellen Analyse; es besteht in der allgemein-mathematischen Modellierung von mechanischen, chemischen und organischen Prozessen27. Zwar setzt die moderne Reproduktion immer an einem je gegebenen „Stand der Technik“ an, aber sie verändert ihn fortwährend, indem sie neue wissenschaftsbasierte verallgemeinerbare Techniken zur Stoff- und Güterproduktion entwickelt. Der take-off der Produktion beginnt nicht wie früher im Frühling, sondern mit einem neuen wissenschaftlichen Modell, das die ideelle Grundlage der industriellen Produktionstechnik bildet; diese ist „vergegenständlichte Wissenskraft“ (Marx). Damit setzt sich die Wissenschaft zum Ausgangpunkt der technisch-industriellen Produktion und macht diese von jener abhängig28. Wissenschaftliche Innovationen lassen 27 Die erfahrungsfreie Qualität dieses Mensch-Natur-Verhältnisses veranschaulicht Bacons „Haus Salomons“, das „Labor“ als Tempel der Moderne: hermetisch von allen Störungen der Umwelt abgeschirmt, durch Sicherheitszonen, Alarmanlagen und Sperrtüren abgetrennt, durch künstliches Licht erhellt, haben zu ihm und seinen Gerätschaften Zutritt nur die Priester der Moderne, die Wissenschaftler. Unter der Inschrift „verum est factum“ unterziehen sie dort nach festen und strengen Ritualen Teile der Natur dem Verhör: mit den geheiligten Instrumenten der Wissenschaft sezieren und traktieren, kombinieren und synthetisieren sie in der lautlosen Tempelstille; sie beobachten und berechnen; berechnen und beobachten. Von Zeit zu Zeit wird der erwartungsvollen Öffentlichkeit dann das Ergebnis verkündet: „es wird kommen das neue Zeitalter der Mechanik, der Chemie, der Elektrizität, der Atome, der Chips und der Gene!“ Mit großem Staunen und voll Bewunderung vernimmt es das Volk - und macht sich daran, die Prophezeiungen in die Tat umzusetzen. 28 Diese These von der Abhängigkeit der industriellen Produktion von der Wissenschaft soll anhand der „Dampfmaschine“ erläutert werden, mit der das „industrielle Zeitalter“ beginnt. Karl Marx und Max Weber sehen beide die Dampfmaschine, die sog. „philosophical machine“, am Anfang der Entwicklung; sie erst stelle die Bedingung für eine rationelle und berechenbare Produktion dar. Webers Ansatz verfehlt jedoch den entscheidenden Gesichtspunkt. Er sieht in der Dampfmaschine die technische Lösung des Bergbauproblems, wie Wasser mit Feuer sich heben läßt. „Der Gedanke der modernen Dampfmaschine entspringt dem Stollenbau des Bergwerks.“ (M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, a.a.O., S.173, auch S.154f.) Für Marx Zum Begriff des Mülls die vorhandenen Verfahren und Produkte veralten, erzeugen neue Bedürfnisse und befriedigen diese zugleich durch ihre industrielle Anwendung29. Der jeweilige Stand der Wissenschaft bzw. der technologischen Anwendung prägt daher die Qualität und die Quantität des industriellen Mülls. b) Der universelle Charakter Das moderne Reproduktionssystem hat nicht mehr die Erhaltung der Jägersippe, des Dorfes oder der Stadt als Zentrum, sondern ist prinzipiell universell. Es reproduziert sich, indem es die naturgegebenen und traditionellen Schranken abbaut und sich erweitert. Im Prinzip sind alle Mendagegen steht die Dampfmaschine am Beginn der industriellen Produktion, weil sie die zur Massenproduktion nötige Energie von den bisherigen natürlichen Schranken befreit. Mit Watts Konstruktion sei der erste Motor gefunden worden, der seine Bewegungskraft selbst erzeugt und ganz unter der menschlichen Kontrolle steht. Die Dampfmaschine sei daher die „Mutter der Industriestädte“. Marx hebt nun hervor, daß sich das „große Genie Watts“ darin zeige, daß dieser seine Konstruktion „nicht als eine Erfindung zu besondren Zwecken, sondern als allgemeinen Agenten der großen Industrie“ geschildert habe (MEW 23, S.298). Wie sein Landsmann Adam Smith der Vater der modernen politischen Ökonomie wäre James Watt der Vater der modernen Industrie. Offen bleibt bei Marx jedoch die Frage, ob Watts Erfindung ein wissenschaftliches Modell zugrundelag, sodaß ohne die allgemein-mathematische Modellierung des Wärme-Kraft-Mechanismus, die Dampfmaschine nicht hätte gebaut werden können, oder ob sie das Resultat eines konkreten Erfahrungswissens war (vgl. zu der Frage: J.D. Bernal, Wissenschaft. Science in History, Bd. 2, Reinbek 1970, S.537ff). Watt mag an dem Schnittpunkt stehen, wo die mathematische Naturwissenschaft und die Ingenieurskunst zusammentrafen. Betrachten wir die weitere Entwicklung der sog. „Primärtechnologien“, erst den Elektromotor, dann die Atomkraftwerke, so wären diese ohne mathematische Modellierung in der Elektrodynamik und der Quantentheorie weder entstanden noch technologisch anwendbar und kontrollierbar. 29 Der Zyklus des modernen Reproduktionsprozeß ist daher weniger durch die Abfolge von Kapitalakkumulation und -krise als durch die „Kondratjeffschen Wellen“ von wissenschaftlichen Basisinnovationen bestimmt, bzw. drücken Wachstumskrisen des Kapitals zunehmend den Mangel an Basisinnovationen aus. - Es wäre lohnend, die zeitverzögerte Geschichte des Müllplatzes Erde mit den Etappen der Basisinnovationen zu erzählen: den Schwefel- und Kohlenstoffwolken der kohlebasierten Energieindustrie folgte die Bereicherung der Atmosphäre mit radioaktiver Strahlung, dieser eine äußerst umfangreiche Palette von Stoffen aus den Giftküchen der Petro-Chemie. Bald wird auf den Deponien auch der gentechnische Bio-Müll zu finden sein. Alle diese Schichten überlagern sich zu einem undurchdringlichen MüllGanzen. Pechmann schen als Produzenten und Konsumenten30 sowie alle natürlichen Dinge als Gegenstände der Produktion und Konsumtion ins System einbezogen; und es reproduziert sich, indem es wächst und sich laufend neue Bereiche erschließt31. Die Entstehung neuer Bedürfnisse durch die wissenschaftlich-technischen Innovationen32, die Herstellung von Massenprodukten durch die industrielle Produktionsweise sowie die Vermehrung der Weltbevölkerung33 durch das Wachstum der Produktion, des Transports und der Kommunikation sind Ausdruck des universellen Charakters des modernen Reproduktionssystems. Der Zugang aller zum Weltmarkt und die Allgemeinheit der Menschenrechte bilden die ökonomischen und politischen Teilhaberechte an diesem System; die Globalität der Umweltprobleme, die (Zer-)Störung der globalen Stoffwechselkreisläufe durch die Exkremente des Systems, bildet die externe Folge des universellen Systems. c) Der industrielle Müll Betrachten wir die Kehrseite der modernen Reproduktion: den industriellen Müll. Er ist das nichtintendierte Resultat der industriellen Produktion und entspricht ihr quantitativ und qualitativ. Mit der wachsen- 30 Max Weber hat zurecht als Vorbedingung der industriellen Produktion den Vorgang der „Demokratisierung des Luxus und der Befriedigung des Luxusbedürfnisses breiterer Massen“ genannt (M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, a.a.O., S.156). 31 zu den Faktoren der Selbstverstärkung des Systems siehe: Lothar Mayer, Ein System siegt sich zu Tode. Der Kapitalismus frißt seine Kinder, Oberursel 1992 (Rezension von G. Nagl in Widerspruch Nr.23). 32 Die menschliche Seele nennt Aristoteles „in gewisser Weise alles“. Doch dieses „alles“ verwirklicht erst die wissenschaftlich-technische Produktion, für die es keine absolute Grenze der Bedürfnisvielfalt gibt, und die nur vom Stand der Technik abhängt. 33 Die weltweite Bevölkerungszahl steigt in Relation zur Dynamik und zum Umfang des modernen Reproduktionssystems und bildet ihrerseits die Voraussetzung zur Erweiterung der Produktion und Konsumtion. 1800, 10 Jahre nach Watts Bau der Dampfmaschine, zeigt sich „ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit... Die Vermehrungsrate der Menschheit steigt in kurzer Frist von kleinen Bruchteilen eines Prozentes auf 2%, in manchen Gebieten auf 4%“. (W. Braunbek, Die unheimliche Wachstumsformel, München 1973, 69f.) Das Bevölkerungswachstum steigt seither in Abhängigkeit zur Globalisierung und Verwissenschaftlichung des Reproduktionssystems über-exponentiell. Zum Begriff des Mülls den Umwandlung von Energieträgern in Arbeit durch Verbrennung34 entstehen Ab-Wärme und Ab-Stoffe; durch die mechanische und chemische Verarbeitung der Rohstoffe entsteht Produktionsmüll und durch die Produktvernutzung Konsumtionsmüll. Für den modernen Reproduktionsprozeß besteht die Regel, daß dessen Exkremente umso unnatürlicher sind, je intelligenter die Produktion und die Produkte sind. Die auf der wissenschaftlichen Modellierung basierenden, tech nogenen Produkte treten als Müll in Gegensatz zu den natürlichen Abläufen. Sie vollziehen als Müll eine eigenartige Metamorphose: aus begehrten „hochwertigen Produkten“ verwandeln sie sich in Müllgestalt in „toxische Zeitbomben“35. Durch den Ausschluß aus dem System und die Integration in den natürlichen Stoffwechsel wird der industrielle Müll nicht mehr abgebaut, sondern wandelt sich in ein stoffliches Gemisch chaotischer Prozeßabläufe um. Die präzis kontrollierten Produkte werden als Exkremente des Systems zu unkontrollierbaren Irrläufern, die die Zirkularität der Naturprozesse gefährden. Diese Kollision der Struktur und Dynamik des technisch-industriellen Produktionsprozesses mit denen des natürlichen Stoffwechsels erscheint 34 Die Moderne fußt geradezu auf dem magischen Ritual des Verbrennens: das Verbrannte verschwindet. Sowie die Menschheit sich vom Diabolischem reinigte, indem die Besessenen der vernichtenden Kraft des Feuers übergeben wurden und ihre Asche in alle Winde zerstreut wurde, so verfahren auch die modernen Verbrennungsanlagen. Doch, sowie die Verbrannten in veränderter Gestalt als Märtyrer wiederkehrten, so tauchen die Schornsteinemittenten mit der Unaustilgbarkeit alles Bösen spukhaft verändert als „saurer Regen“, Klimawechsel, Treibhauseffekt etc. wieder auf. Die Müllverbrennungsanlagen gründen auf dem magischen Selbstbetrug des Empirismus: was man nicht wahrnehmen kann, existiert nicht. 35 Legt man die Chemie des Kohlenstoffs und seine Fähigkeit zur Ketten- und Ringbildung zugrunde, so ergibt die Anzahl der möglichen Eiweißsorten eine Zahl, die die Gesamtheit aller Elementarteilchen im Weltall übertrifft. Nimmt man Chlor, Fluor und Schwermetalle hinzu, so ist die Anzahl der Verbindungen praktisch unendlich. Während die Natur mit einer relativ geringen Anzahl von Verbindungen auskommt, die sie in einem Zeitraum von Milliarden Jahren auf ihre Umweltverträglichkeit und Abbaubarkeit „getestet“ hat, werden in jedem Jahr Tausende neuer, immer komplexerer Kohlenstoff-Verbindungen technisch hergestellt und der Umwelt ausgesetzt. Die natürliche Evolution verfolgt offenbar eine gänzlich anders angelegte Strategie des Strukturaufbaus als die wissenschaftlich-technischen Verfahren der Produkterzeugung. Pechmann als wachsendes „Müllproblem“36. Es besteht entweder in der Nichtabbaubarkeit der Menge wie Art der ausgeschiedenen Produkte („Müllberge“) oder in der zunehmenden Veränderung der natürlichen Stoffwechselprozesse („ökologischer Kollaps“) bis hin zur Zerstörung des globalen Kreislaufsystems („Klimakatastrophe“)37. Der industrielle Müll ist nicht mehr nur das Exkrement der Industriegesellschaften, sondern ihr Problem. Sein Wachstum untergräbt die Bedingungen ihrer Existenz; das System droht an den Exkrementen seiner Reproduktion zu ersticken. 5. Die reflexive Moderne (zyklische Reproduktion) Will das moderne Reproduktionssystem nicht an seinen Exkrementen kollabieren, bedarf es der Reflexion auf das Müllproblem. Der Müll wird zum gesellschaftlichen Problem und bedarf der Aufnahme und der Bearbeitung im System. Mit der gegenwärtigen „Müllkrise“ ist eine zusätzliche Technologie entstanden, die die Exkremente der Produktion und Konsumtion in Rohstoffe der Produktion rückverwandelt. Das menschliche Reproduktionssystem übernimmt damit die Funktion der Rückverwandlung von Müll in Rohstoffe, die bislang die Natur gratis übernom- 36 Hier wird das Problem selbst zum Problem; denn man weiß in den wenigsten Fällen, und in diesen auch nur post festum, wie die Bestandteile des industriellen Mülls in und mit der Umwelt reagieren, und welche chemische Verbindungen dabei entstehen. (s. näheres: W. Klöpffer, Grundlagen und Grenzen der Einzelstoffbewertung unter Umweltgesichtspunkten, in: M. Held (Hg), Leitbilder der Chemiepolitik. Stoffökologische Perspektiven der Industriegesellschaft, Frankfurt/Main 1991, S.1933.) 37 Der 'Club of Rome' schreibt in seinem jüngsten Bericht: „Man hatte bis vor kurzem angenommen, daß eine wohlwollende Natur die Abfallprodukte der menschlichen Gesellschaft in der Luft, im Boden und in den Flüssen und Meeren für immer absorbieren und neutralisieren würde. Diese Annahme läßt sich jedoch nicht länger aufrechterhalten: Wir scheinen eine kritische Schwelle überschritten zu haben, jenseits derer die Folgen menschlicher Einwirkung die Umwelt ernsthaft zu schädigen drohen, mit möglicherweise irreversiblen Folgen“ (Die Globale Revolution, Hamburg 1991, S.26). Er nennt vier Schadensarten globalen Ausmaßes: die Ausbreitung toxischer Substanzen in der Umwelt, die Säuerung von Seen und Wäldern durch Schadstoffe; die Verseuchung der oberen Schichten der Atmosphäre durch Fluorkohlenwasserstoffe (FCKW) sowie den sog. Treibhauseffekt, den er als den bei weitem bedrohlichsten Umweltschaden bezeichnet. Dieser Aufzählung fehlen die vielen lokalen und regionalen Mülldeponien und Altlasten, die sich ihrerseits zu einer globalen Bedrohung vernetzen. Zum Begriff des Mülls men hatte und nun diesen Dienst versagt38. Das System vollzieht den transzendenten Sprung von der einfachen Linearität des Produktionsund Konsumtionsprozesses in die selbstbezügliche Zirkularität. Auf der Basis neuer mechanischer, chemischer und thermodynamischer Technologien entsteht eine Wiederaufbereitungsindustrie, die die verbrauchten Rohstoffe technisch-industriell erneuert und den Müll wieder in Rohstoffe der Produktion rückverwandelt39. Durch diese Reflexion kommt das moderne Reproduktionssystem zum Begriff seiner selbst: es reproduziert sich, indem es sich von den naturgegebenen Reproduktionsbedingungen abschließt, die anthropogenen Endstoffe selbst abbaut und sich damit die Ausgangsstoffe der Produktion selbst erzeugt. Durch den umfassenden Einsatz von Sortier-, Lagerund Aufbereitungstechnologien entstehen Steuerungs- und Kontrollsysteme, die die funktionale Umwandlung Rohstoff-Produkt-Müll-Rohstoff zu konstanten Energie- und Stoffflüssen stabilisieren sollen40. Mit der Verringerung des Energieeinsatzes durch die Verbesserung des Wirkungsgrades der Maschinen, mit Rohstoffeinsparungen durch dessen effektivere und intelligentere Nutzung sowie durch thermisches und stoffliches Recycling soll das Industriesystem technisch optimiert werden41. Dieses zyklisch-reflexive System verwandelt die Reproduktionsbedingungen in ein wissenschaftlich modelliertes, technisch geregeltes und funktional abgeschlossenes Produktionssystem um und setzt damit sich selbst als Urheber seiner eigenen Bedingungen42. 38 Hinter dieser Übernahme der Müllbeseitigung durch die Gesellschaft verbirgt sich die alte Vorstellung: der Mensch könne es besser als die „unvollkommene Natur“. 39 siehe nähere Daten über die Entwicklung der Wiederaufbereitungsindustrie: Entsorgungswirtschaft - schrumpfende Anzahl von Unternehmen in einem weltweit wachsenden Markt, in: Die Mitbestimmung 2/94, Düsseldorf 1994, S.24ff. 40 Harald Wollny, Abschied vom Müll. Perspektiven für Abfallvermeidung und eine ökologische Stoffflußwirtschaft, Göttingen 1992. 41 Zu diesen Stabilisierungsmaßnahmen zählen auch die Schritte zur Beschränkung der „unvernünftigen Bevölkerungsexplosion“, die den Erfolg dieser Bemühungen gefährden (siehe: Club of Rome, Die Globale Revolution, a.a.O., S.92ff.). 42 S. Moscovicis Versuch über die menschliche Geschichte der Natur (Frankfurt 1982) und G. Ropohls Die unvollkommene Technik (Frankfurt/Main 1985) geben gute Beschreibungen der reflexiven Moderne. G. Ropohl beschreibt und fordert eine „ökotechnische Ergänzung“ durch eine „umfassende Ökosystemtechnik“. Diese werde „auf die durchgängige Technisierung der Natur hinauslaufen“, die „die Natur Pechmann a) Die Spirale und der „Sondermüll“ Die Kehrseite des reflexiv-modernen Reproduktionssystems ist die Erzeugung des reflexiven Mülls, des sog. „Sondermülls“. Da die systemintendierte Rückverwandlung der technogenen Stoffe in Rohstoffe ohne einen (gegen unendlich gehenden) Energieverbrauch nicht möglich ist, ist das technische Recycling de facto ein Downcycling43. Der intendierte Sprung von der einfachen in die reflexive Moderne mißlingt; das Reproduktionssystem bildet eine Spirale aus, in der die Technogenität der Stoffe nicht abgebaut, sondern angereichert wird. Das Ende der Spirale ist der auf den Begriff gebrachte Müll: die absolute Differenz von Produkt und Natur, die ökologische Katastrophe44. allseitig domestiziert“. Diese „Hege und Pflege (bedeute) gewissermaßen das Ende der Natur“ (133). 43 Frank Hoffmann und Theo Rombach, Die Recycling-Lüge, Stuttgart 1993, insb. S.7-17. 44 Da nichts absolut ist, ist auch hier die Differenz relativ. Aber es versagt angesichts der Zeitdimensionen beider Systeme die Vorstellungskraft. Das unweigerliche Ende des atomaren „Brennstoffkreislaufs“ ist u.a. Plutonium. 10-9 g ist für den einzelnen und die Menge von einer Orangengröße für die Biosphäre tödlich. Die Masse des Plutonium-Mülls bis zum Jahr 2000 wird auf 100 t geschätzt - genaues weiß man nicht! Da Plutonium über einen Zeitraum von einer halben Million Jahren toxisch bleibt, gibt es nur drei Möglichkeiten seiner „Ent-Sorgung“: entweder es geht in den natürlichen Stoffwechsel ein, dann hat die Menschheit ausgesorgt; oder es wird aus dem irdischen Stoffwechsel ent-fernt, dann übernehmen Raketen die Müllabfuhr; oder es wird unterirdisch „endgelagert“, dann bedarf es Lagerstätten ohne Austausch mit ihrer Umgebung. - Schließen wir die beiden ersten Möglichkeiten wegen ihrer Gefährlichkeit aus, so bleibt nur die Beseitigung des atomaren Mülls in „Endlagerstätten“. Diese Art seiner Beseitigung bestünde darin, daß wir heute wissen, daß er im Zeitraum von einer halben Million Jahre nicht in den natürlichen Stoffwechsel eingeht. Ein solches Zukunftswissen - und damit die atomare Müllbeseitigung - ist aus drei Gründen unmöglich: erstens ist der Stofffluß zwischen Litho-, Hydro-, Atmo- und Biosphäre und deren Wechselwirkungen heute weitgehend unerforscht; zweitens sind die Wechselwirkungen zwischen Plutonium und Mantelschutz während eines Zeitraums von Jahrhunderttausenden noch nicht getestet worden; und drittens beruhen die Aussagen der Atomtheorie auf Wahrscheinlichkeiten über den Aufenthaltsort atomarer Teilchen. Exakte Aussagen über den Aufenthaltsort der Plutoniumatome und insbesondere der Alpha-Teilchen während eines Zeitraums von 5 Jahrhunderttausenden zu treffen, verbietet die Theorie selbst. Den Ort jenseits der Örter, den Ab-Ort, gibt es nicht! Da eine tatsächliche Müllbeseitigung unmöglich ist, bleibt nur eine symbolische. Das Beste wäre, das Plutonium umzuetikettieren: statt nach Pluto, dem Todesgott, nen- Zum Begriff des Mülls 6. Zukunftsszenarien Die weitere Entwicklung des globalen „Müllproblems“ läßt sich nur als mögliches Szenario beschreiben. Seine Lösung setzt voraus, daß das moderne Reproduktionssystem die Ressourcen freisetzt, die zur effektiven Bearbeitung der von ihm erzeugten Folgen benötigt werden. Zur Zeit zeichnen sich zwei mögliche Lösungswege des globalen Müllproblems ab: die High-Tech-Strategie und der Ausstieg aus dem modernen Reproduktionssystem. a) Die High-Tech-Strategie Der eine Weg besteht in dem erneuten Versuch, nach den internen Regeln des modernen Reproduktionssystems die energetische und stoffliche Offenheit des Systems mit wissenschaftsbasierten Technologien zu schließen. Er stützt sich zum einen auf der Nutzung der Kernbindungskräfte als Energieträger und erzeugt die systemerhaltende Energie durch die Kernfusion. Da die Fusionstechnologie auf den unbegrenzten Energievorrat des Wassers zurückgreifen kann und der Fusionsabfall relativ „umweltverträglicher“ als der chemische Verbrennungs- und der atomare Spaltabfall sein wird, könnte der Fusionsreaktor die „Primärtechnologie der Zukunft“ darstellen45. Er basiert zum anderen auf der industriellen Nutzung der biotischen Prozesse durch deren technische Nachahmung. Durch den Einsatz biotechnisch präparierter „Stoffwechselmaschinen“ soll die Art der Produktivität der Natur zur Erzeugung von industriellen Rohstoffen und Gebrauchsgütern genutzt und zugleich ihre Integration als biologisch abbaubarer Müll in die natürlichen Kreisläufe garantiert werden46. Diese High-Tech-Strategie besteht in der qualitativ neuen wissenschaftlich-technischen Imitation sowohl der solaren als auch der irdischen Zyklen und in ihrer Nutzung im Rahmen der industriellen Massenproduktion. Über die nichtintendierten Nebenfolgen dieser Produktionsweinen wir es z.B. nach der Göttin der Morgenröte Eosium, oder besser: Lethesium, nach dem Vergessen - und erzählen den Enkeln nichts davon. 45 siehe Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, Kernfusion - Stand und Perspektiven, Garching 1993. 46 zu den Anwendungsbereichen der Biotechnologie: M. Catenhusen, H. Neumeister, Chancen und Risiken der Gentechnologie, München 1987, S.40-193. Pechmann se, den Fusions- und den Bio-Müll, lassen sich gegenwärtig nur Vermutungen anstellen47. b) Der Ausstieg aus dem Industriesystem Die andere, entgegengesetzte Option bietet der Ausstieg. Er zielt darauf, die Organisation der Produktions- und Konsumtionsprozesse nicht auf deren wissenschaftlich-technische Steuerbarkeit zu gründen, sondern auf die alten Erfahrungen zurückzugreifen, daß die irdische Energiequelle die Sonne ist, und daß die Natur selbst produktiv, aber auch verletzlich ist. Auf der Basis der verfügbaren Sonnenenergie und unter Berücksichtigung des „ökologischen Gleichgewichts“ werden Produktions- und Konsumtionsformen angestrebt, die in Übereinstimmung mit der Dynamik und der Struktur der natürlichen Stoffwechselkreisläufe stehen, und deren Exkremente in diese Kreisläufe wieder rückführbar sind. Dieser Lösungsweg setzt allerdings die Selbstdistanzierung des modernen Reproduktionssystems von sich und seine Selbstbeurteilung als eines kontingenten und veränderbaren Faktums voraus. Dies erscheint systemimmanent als unmöglich48. Näher liegt, diese Option als ein Zukunftsszenario zu interpretieren, das keiner intendierten Strategie folgt, sondern das das nichtintendierte Resultat künftiger globaler Katastrophen vorwegnimmt. 47 Trotz des hypothetischen Charakters der Aussagen über den künftigen High-TechMüll spricht nichts gegen die Akzeptanz der folgenden Regel: „Der 'Zyklus von Verund Entsorgung' ist kein Zyklus, sondern eine endlose Kette von Entsorgungen. Jede 'Sanierung' (sanus = gesund, heil) schafft neue Sachverhalte, die saniert werden müssen. Das scheint ein Grundgesetz der Abfallwissenschaft zu sein.“ (V. Grassmuck, Chr. Unverzagt, Das Müll-System, a.a.O., S.197) 48 Pessimistisch formuliert Lothar Mayer: „Seine Steuerungs- und Rückkopplungsmechanismen machen den Kapitalismus im Wettbewerb mit anderen gesellschaftlichen Systemen haushoch überlegen. Er wird seinen Siegeszug fortsetzen, bis er von dem einzigen verbleibenden Protagonisten verschlungen wird: sich selbst.“ (L. Mayer, Ein System siegt sich zu Tode, a.a.O., S.40) In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 51-56 Autor: Joachim H. Spangenberg Artikel Joachim H. Spangenberg Mensch und Müll 1. Die Geschichte des Mülls Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte ihres Mülls - und umgekehrt. Unser Wissen über zahlreiche Frühphasen der Menschheit, bauend nicht auf Traditionen, sondern auf gefundenen Relikten, gründet sich auf die Analyse von Müllfunden. Ohne Pfeilspitzen, Knochenreste, Pfahlbauten etc. wäre unser Bild der menschlichen Vorvergangenheit wesentlich detailärmer. Unsere Lesweise der Menschheitsgeschichte ist also zu nicht geringen Teilen eine Anthropologie des Mülls. Schon hier zeigt sich ein Charakteristikum des Mülls: Nicht der dissipativ verstreute Müll von Einzelpersonen, sondern die Überreste von Siedlungen sind es, die interessante Funde bergen. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte und ersten Urbanisierungsprozessen ballt sich auch der Müll, bis seine schiere Existenz in Rom zu einer unabweislichen Determinante des Städtebaus wird. Erste großmaßstäbliche Entsorgungssysteme entstehen. Nicht der Müll, wohl aber sein geballtes Auftreten ist ein Zivilisationsproblem. Dies bestätigt sich in den nachfolgenden Jahrhunderten, in denen der Müll vorwiegend in städtischen Agglomerationen geschichts- Mensch und Müll trächtig wird: Wie hätte sich wohl der 30-jährige Krieg entwickelt, wäre nicht ein Drittel der Bevölkerung Zentraleuropas der durch die vermüllungsbedingte mangelnde Hygiene ermöglichten Pestepidemie zum Opfer gefallen? Der eigentliche Aufschwung des Mülls aber beginnt mit dem Zeitalter der Industrialisierung. Je größer das Produktionsvolumen, desto größer wird der Müllausstoß, das Wachstum der Halden hätte ebenso oder sogar besser als Fortschrittssymbol dienen können wie das Rauchen der Schornsteine. Noch heute sehen ganze Landstriche um den Nukleus des Industriezeitalters, die Region um Stratford upon Lyme so aus, als hätte hier der Müll seine Schlacht gegen die Zivilisation gewonnen und das Territorium endgültig in Besitz genommen. Mit wachsender Produktion entsteht auch mehr Infrastruktur, mehr Straßen, mehr Gebäude, mehr Eisenbahnen. All diese Strukturen benötigen eine permanente Unterhaltung, müssen gepflegt, renoviert und restauriert werden, sonst fallen sie der allmählichen Vermüllung zum Opfer. Die Innenstädte von Liverpool und Bukarest, die Bronx in New York, die flußnahen Elendssiedlungen Jakartas oder die Favelas von Rio de Janeiro legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Der Müll, das Tabuisierte, das zu Ent-Sorgende, ist der wahre Spiegel unserer Gesellschaft, zeigt ihre Produkte ohne den schönen Schein und entzieht sich der Umleitung zur Selbstreflexivität, die die Kreislaufwirtschaft zu organisieren vorgibt, wächst weiter als Alptraum der Wachstumsgesellschaft, wächst sich aus zur Hauptdeterminante wirtschaftlicher (Standort-)Entscheidungen. Spangenberg 2. Der entropische Charakter des Mülls Die Müllwerdung der Materie stellt die sprunghafte Erreichung eines quasi-stationären Entropiemaximums dar, das seinerseits einer weiteren, langsamen Maximierungsdynamik unterliegt: Die Verpackung wird zum Abfall, der sich langsam zersetzt, seine Bestandteile in Luft, Wasser und Boden dissipiert. Vermüllung ist ein Grundprinzip menschlichen Handelns; was der Mensch in die Hand nimmt, verwandelt sich direkt oder indirekt in Müll. Da aber der Übergang von der Produktform zur Müllform eines Gegenstandes als Entropiemaximierung verstanden werden kann, handelt es sich um einen quasi naturgesetzlich ablaufenden Prozeß mit eigener Dynamik, der nur durch aktive Gegenmaßnahmen unter Energieeinsatz (der seinerseits wiederum Müll erzeugt) zeitweilig aufgehalten oder umgekehrt werden kann - eine Sisyphusarbeit. Betrachten wir den menschlichen Umgang mit der Materie, können wir zwei Hauptgruppen unterscheiden: a) Ca. ein Zehntel der Materie wird zu geformten, strukturierten, d.h. niederentropischen Produkten umgewandelt, die am Ende ihrer Nutzungszeit ebenfalls zu Müll werden. Bezeichnet man als Lebenszeit eines Stoffs die Phase von der Entnahme aus seiner natürlichen Umgebung bis zu dem Zeitpunkt, an dem er völlig in den biogeochemischen Zyklus reintegriert ist, ohne Spuren seiner menschlichen Berührtheit zu hinterlassen, dann gilt für Produkte: Nutzungszeit + Müllzeit = Lebenszeit. b) Ca. neun Zehntel der vom Menschen bewegten Materie gehen den Weg Natur -> (Inwertsetzung) -> Rohstoff -> (Förderung) -> Müll (was an dieser Stelle auch die Produktionsabfälle von Vor- und Zwischenprodukten einschließen soll). Erst diese Entropiemaximierung für die überwiegende Menge der genutzten Materie ermöglicht es, dem verbleibenden Rest eine niederentropische Nutzung zuzugestehen: Der Weg zum Produkt ist mit Müll gepflastert. Hier gilt Müllzeit = Lebenszeit. Mensch und Müll 3. Der ökonomische Charakter des Mülls Jeder Produktionsprozeß beginnt mit einem intellektuellen Akt: dem des Erkennens der Verwertbarkeit von Natur (bzw. des betrachteten Naturausschnitts), gefolgt von ihrer Inwertsetzung, die sich nicht auf einen Wert eo ipso, sondern vielmehr auf die bei Erschließung und Ausbeutung anfallenden Kosten bezieht. Diese Kosten sind der Preis der Müllproduktion: Halden, Aushub, Bergematerial sind der Beginn fast jeder Produktionskette und haben - ein Charakteristikum der Müllproduktion einen negativen Preis. Rohstoffgewinnung als Basis der industriellen Produktion stellt sich somit teilweise als ein Nullsummenspiel dar, bei dem der positive Preis der gewonnenen Produkte der Reflex auf den negativen Preis des produzierten Mülls ist, auch wenn der letztere in der Vergangenheit meist nicht bezahlt wurde. Die resultierenden „offenen Rechnungen“ werden wir jedoch in Zukunft begleichen müssen, werden für Altlastensanierung, Grundwasserdekontaminierung etc. zweistellige Milliardenbeträge aufwenden müssen. Berücksichtigt man zudem die quantitative Dominanz der Müllproduktion gegenüber der Produktproduktion sowie die letztendliche Müllwerdungstendenz von Vor-, Zwischen- und Endprodukten, so ist es durchaus gerechtfertigt, industriellen Produktionsprozeß als einen Vermüllungsprozeß zu charakterisieren. Dehnt man diese Betrachtungsweise auf die gesamte Produktionskette aus, zeigt sich sehr schnell, daß unsere klassische Wirtschaftstheorie auf einen quantitativ marginalen Bestandteil der Produktion fokussiert ist, nämlich auf die Produkte mit positivem Preis. Hier mag eine der subjektiven Schwierigkeiten begründet liegen, die sich heute in der ökonomisch äußerst zweifelhaften Umgangsweise mit dem Müll niederschlagen. Zu untersuchen, inwieweit diese tendenzielle Unfähigkeit die Müllproduktion als konstitutives Element jeder - also auch der eigenen - Tätigkeit in den Blick zu nehmen, Resultat einer geschlechtsspezifischen Rollenaneignung unserer fast rein männlichen Entscheidungs-Eliten ist, Folge der kindlichen Freistellung von Ordnungs- und Aufräumfunktionen und der so entzogenen Möglichkeit, die chaotischen Folgen geplan- Spangenberg ten Handelns, die unvermeidliche Müll-Resultante, prägend zu erfahren, mag an dieser Stelle Berufeneren überlassen bleiben. Im Ergebnis ist Produktion heute quantitativ überwiegend Müllproduktion, Wertschöpfung tendenziell eher Wert-Erschöpfung. 4. Die Evolution des Mülls Quantitativ sind also Müll das unerwünschte Haupt-, Produkte aber das erwünschte Nebenergebnis industrieller Produktionstätigkeit. Selbstverständlich hat der unterschiedliche Grad der Wünschbarkeit zu Optimierungsprozessen geführt, z.B. zu einem verringerten Energieeinsatz pro Produkteinheit (bei steigendem Flächenverbrauch, auch eine Form der Vermüllung). Die Steigerung der Ressourcenproduktivität, d.h. die Verringerung der Müllmenge pro Produkteinheit, ist jedoch bisher in industriellen Wachstumsökonomien stets durch die Zunahme der Gesamtproduktion weit überkompensiert worden, so daß die Müllmengen einem stetigen Wachstum unterlagen. Müll ist so das Zerrbild der Evolution der Produktion, ihr immer existierender aber lange verdrängter Januskopf. Steigende Müllmengen machen in der modernen Industriegesellschaft steigende Entsorgungsanstrengungen notwendig; nicht die Quellen, wie noch Meadows und die Autoren von Global 2000 vermuteten, sondern die Senken werden zum begrenzenden Faktor der Produktion. Dabei ändert sich nicht nur die Menge, sondern auch die ökotoxikologische Charakteristik des Mülls (auch insofern ist er ein Spiegelbild der Produktion): Das Aufkommen an Sonderabfällen wächst weit überproportional, verglichen mit der gesamten Abfallproduktionsmenge. So kam der Müll in die Schlagzeilen: Ein immanenter Entropie-Maximierungsprozeß bewirkt eine dissipative Verteilung toxischer Chemikalien in alle Ecken der Welt. DDT in Pinguin-Eiern, Dioxin in der Muttermilch, solche Schlagworte beunruhigten die Öffentlichkeit und brachten den (Sonder-)Müll in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Mensch und Müll So reflektiert der Müll nur das Prinzip unserer Produktionsweise - wenn ökologische Kriterien nicht bereits beim Produktdesign greifen, kann das Abfallmanagement höchstens zur Schadensbegrenzung dienen. Lineare Produktplanungen vom Rohstoff bis zum Endprodukt, die den Verbleib des Produkts nach seiner Nutzungsphase nicht berücksichtigten, führten dazu, daß die Mehrzahl unserer Produkte, aber auch die damit verbundenen Produktionsstrukturen, ökologischen Kriterien keinesfalls gerecht werden. Folge dieses Produktdesigns ist es dann, daß heute der Preis für Verpackungskunststoffe (Granulat) zu drei Vierteln aus Entsorgungskosten besteht, und nur noch zu einem Viertel aus Herstellungskosten - aber zu null Prozent aus eigentlichen Stoff-Kosten. Die Analyse von Größenentwicklung und Zusammensetzung unserer Müllberge ist vielleicht der beste Indikator dafür, welche Fortschritte in einer Gesellschaft Konsum und Produktion auf dem Wege hin zur Nachhaltigkeit erreicht haben. Allerdings sollte man Indikatoren nicht mit Steuerungsinstrumenten verwechseln; die Umgestaltung von Produktionsprozessen über die Abfallwirtschaftspolitik erzielen zu wollen, ist eine Art des rektalen Managements, die hohe Effizienzverluste erwarten läßt. Besser wäre es, Produktionskettenveränderungen nicht über indirekte Rückwirkungen, sondern über ihre Eingangsgrößen herbeizuführen, d.h. über ein aktive Gestaltung der Preise. Dazu bietet sich an, den Eigenwert der zu fördernden Rohstoffe (einschließlich EnergieRohstoffe) über Stoffsteuern oder Abgaben preislich spürbar zu machen. Ohne eine derartige preisliche Belastung der Förderungsmengen gibt es keinen unvermeidbaren Anreiz zur Verringerung des Materialverbrauchs: Effizientere Extraktionstechnologien lassen die Gewinnungskosten und damit den Wert von Rohstoffen sinken, Überangebot auf den Weltmärkten drückt die Preise, so daß heute die Rohstoffkosten nur in Ausnahmefällen in der Kostenstruktur eines Unternehmens eine Rolle spielen, die eine Steigerung der Stoffnutzungseffizienz als relevante betriebliche Optimierungsstrategie erscheinen lassen. Spangenberg 5. Optionen der Entmüllung Wie kurz dargestellt, ist die Anhäufung der Müllberge ein vierdimensionales Problem: Die immensen produzierten Müllvolumina häufen sich überproportional schnell zu Müllbergen an, da der Zugang pro Zeiteinheit dort über dem Abgang pro Zeiteinheit liegt. In Analogie zum Bevölkerungswachstum könnte man sagen: Die Geburtenrate ist deutlich höher als die Sterberate. Eine erste zur Zeit diskutierte Lösungsvariante könnte darin liegen, die Müllzeit zu verkürzen, also die Sterberate zu erhöhen, indem Produkte hergestellt werden, die biologisch, chemisch, durch Licht etc. abbaubar sind. Derartige degradierbare Produkte, häufig hergestellt aus nachwachsenden Rohstoffen, müßten jedoch in Substanzen zerfallen, die direkt wieder Bestandteil der biogeochemischen Rohstoffkreisläufe sind, ohne unerwünschte Reststoffe zu hinterlassen, und müßten darüber hinaus bei Herstellung, Distribution, Gebrauch und Redistribution ebenfalls keine nicht unmittelbar remineralisierbaren Substanzen erzeugen. Es ist offensichtlich, daß diese Forderung zumindest für sämtliche Prozesse der mineralischen Rohstoffgewinnung nicht erfüllbar ist. Da jedoch derartige Stoffe und Mineralien einen Großteil unserer Produktionsabfälle ausmachen und auch nicht vollständig durch nachwachsende Rohstoffe ersetzbar sind (die absolut begrenzte Ressource Boden wird weitgehend zur Lebensmittelproduktion benötigt), kann der Einfluß dieser Strategie letztlich nur gering bleiben. Im Produktsektor, wo die Gleichung Nutzungszeit + Müllzeit = Lebenszeit gilt, könnte durch eine Verlängerung der Nutzungsdauer bei als gegeben angenommener Lebenszeit die Müllzeit verringert und somit das Abfallvolumen reduziert werden, auch da infolge längerer Nutzungsdauer das Produktionsvolumen insgesamt reduziert werden dürfte. Eine an die Lebenszeit anschließende Müllzeit bliebe jedoch trotzdem, bevor die Produkte ihr Lebensende erreicht haben. Auch ist diese Strategie nur auf Mensch und Müll den begrenzten Anteil des Mülls anwendbar, der überhaupt die Produktphase durchläuft. Da also der Zeitfaktor nur einen recht eng umrissenen Beitrag zur Abfallmengenreduzierung leisten kann, bleibt als zweite Option, direkt am Mengenfaktor anzusetzen. Dann erweist sich die zweite genannte Option als ein Unterfall einer Mengenreduzierungsstrategie. Soll die anfallende Abfallmenge aber insgesamt dramatisch verringert werden, so gibt es zwei grundsätzliche Alternativen: einerseits könnte, bei Beibehaltung der heutigen Produktionsformen, ein drastischer Konsum- und Wohlstandsverzicht (ca. 90%) die gewünschte Müllmengenreduzierung bewirken. Alternativ bietet sich die Strategie einer gesteigerten Produktionseffizienz bei Stoffen, Energie und Boden an, d.h. eine Revolutionierung der Ressourceneffizienz, die derjenigen der Arbeitseffizienz in den letzten 150 Jahren vergleichbar wäre. Diese Reduzierung der Geburtenrate wäre am ehesten die Lösung des Müllproblems. Auch eine um den Faktor 10 reduzierte Müllmengenproduktion ist nur dann ohne sich auftürmende Müllberge langfristig durchzuhalten, wenn jährlich von den Abfällen mindestens 10% der heutigen Produktionsmenge in die biogeochemischen Rohstoffkreisläufe zurückkehren. Obwohl es illusorisch ist, die Mehrheit unserer Produktionsprozesse auf nachwachsende Rohstoffe umzustellen, bleibt hier doch eine Herausforderung an jede gestaltende Stoffpolitik bestehen. Quantität wie Qualität der Produktion müssen drastisch umgestellt werden, will man dem Müllmonster sein Wachstumselixier entziehen. Daß dafür andere Produktionsstrukturen notwendig sind, sowie insbesondere andere Konsum- und Verbrauchsgewohnheiten, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Insofern stellen die vorgenannten Überlegungen nicht die Lösung des Problems dar, sondern bloß einen Aspekt einer Gesamtlösung, zu dem die Beträge anderer Disziplinen essentiell sind. In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 57-64 Autor: Ferdinand Rotzinger Artikel Ferdinand Rotzinger Ist Müll ein Abfallproblem? In der Diskussion der letzten Jahrzehnte hat der „Umweltschutz“ eine Dimension erhalten, die ihm früher nicht zugebilligt wurde. Äußeres Zeichen hiervon sind Funktionen und Ämter, die es zuvor nicht gab: Umweltminister (auf Bundes- und Landesebene), Landesämter für Umweltschutz, Umweltschutzbeauftragte, Umweltschutzreferate und vieles mehr. Außerdem gab es 1992 eine Welt-Umwelt-Konferenz, deren schieres Stattfinden wenn nicht auf den Willen zur Lösung so doch immerhin auf die Wahrnehmung eines Problems hindeutet. Anstoßgeber war im Jahr 1972 der „Club of Rome“, der eigentlich zum ersten Mal das Thema „Nutzung der Umwelt“ zu einem Problemthema gemacht hatte. Seinerzeit noch als Exotenveranstaltung belächelt, erhielt das Thema aktuelle Brisanz durch die sogenannte Ölkrise des Jahres 1973. In der damaligen Diskussion war plötzlich die Angst vor der Endlichkeit der Ressource Erdöl das beherrschende Thema. Autofreie Sonntage (übrigens eine ausgesprochen angenehme Einrichtung) sollten die Welt-Erdölvorräte strecken helfen. Dieses etwas hilflose Mittel hat die Diskussion aber verhältnismäßig rasch auf das Thema der Endlichkeit aller natürlichen Ressourcen gelenkt. Plötzlich wurde auch in der öffentlichen Diskussion klarer, daß der (Ver-)Nutzung von Rohstoffen und Energie Grenzen gesetzt sind. Es war das erste Mal, daß eine breite Diskussion um die Grenzen des Ist Müll ein Abfallproblem? Wachstums einsetzte. Sie beschränkte sich zunächst auf die klassischen Energieträger Erdöl, Erdgas, Uran und auf die klassischen Rohstoffressourcen. Dieser Diskussion lag noch ein ausgesprochen anthropozentristisches Weltbild zugrunde: Die Welt und ihre Entwicklung wird (nur) betrachtet unter dem Gesichtspunkt, ob und inwiefern sie dem Menschen nützt. Auch die nächste Phase dieses Diskussionsprozesses hatte die Nutzung der natürlichen Güter durch den Menschen vorrangig im Auge; es sind aber immerhin Wirkungszusammenhänge diskutiert und akzeptiert worden, die dazu nicht in unmittelbarem Zusammenhang standen: Naturschutz zum Beispiel wurde auch propagiert und teilweise betrieben unter dem Aspekt, daß ein dem Menschen nutzbarer Naturhaushalt nur dann zur Verfügung stehen kann, wenn die erforderlichen Vernetzungen das Gleichgewicht der Natur intakt halten, also z.B. daß das Amphibienbiotop letztlich auch für die landwirtschaftliche Produktion nützlich und vielleicht sogar erforderlich ist. Zwischenzeitlich werden auch in praxi ökozentristische Leitbilder zumindest für diskussionswürdig gehalten. Diese Bemerkungen müssen aber mit sehr viel Fragezeichen versehen werden, sind doch die praktischen Folgerungen hieraus marginal. Dies mag folgendes Beispiel verdeutlichen. Das Bundesnaturschutzgesetz und die Naturschutzgesetze der Länder postulieren Ziele, die für sich genommen auf eine Beendigung des Krieges des Menschen gegen die Natur hinauslaufen; das Instrumentarium zur Umsetzung dieser Ziele fällt schon wesentlich dürftiger aus. Eine Sparte wird aber aus dem Friedensschluß mit der Natur völlig herausgenommen: die Landwirtschaft. Mit einer sogenannten gesetzlichen Fiktion wird bestimmt, daß die „ordnungsgemäße Landwirtschaft den Zielen des Naturschutzes dient“. Diese Fiktion sagt wider besseres Wissen, daß das massenhafte Einbringen von Herbiziden, Pestiziden und Düngemitteln Maßnahmen seien, die z.B. den Naturhaushalt verbessern. Damit wird die konventionelle Rotzinger Landwirtschaft, einer der größten Boden- und Wasserverschmutzer per definitionem zum Naturschützer erhoben. Die jeweils vorgesehenen Ausnahmeregelungen stellen aber auch sicher, daß in Phasen der Konkurrenz von Ökologie und Ökonomie letzterer der Vorrang gegeben wird, also der vorgesehene Friede mit der Natur lediglich ein Waffenstillstand in Zeiten ökonomischer Erholungsphasen darstellt. Der Müll hat in dieser skizzierten Diskussionsentwicklung zunächst keine bzw. eine verhältnismäßig rudimentäre Rolle gespielt. Betrachtet man die Entwicklung der Müllmengen und setzt sie in Relation zu der Einwohnerentwicklung (vgl. Schaubild für München am Ende des Artikels) so stellt man zunächst ab Mitte der 50er Jahre ein exponentielles Wachstum fast. Ursachen hierfür waren vor allem die wirtschaftliche Entwicklung („Wirtschaftswunder“) mit einer überproportionalen Steigerung der Warenproduktion sowie die grundlegende Änderung auf der Distributionsebene (zentrale Produktion - dezentraler Konsum), was zu einem ungeheueren Bedarf an Verpackungen führte. So sind z.B. 50 Vol.% des Hausmülls zur Zeit Verpackungsabfälle. Dieser Umstand führte zu einem erhöhten Bedarf an Anlagen: Deponien und, seit den 60er Jahren, Verbrennungsanlagen. Letztlich war es kein Geheimnis, daß solche Anlagen auch Emittenten von Unangenehmem waren, seien es Schadstoffe oder, was sinnlich wahrnehmbar war, Gerüche. So wurde die Angelegenheit zunächst anrüchig. Sehr bald war dann die Emissionsproblematik von Schadstoffen in den Mittelpunkt des öffentlichen Bewußtseins gerückt. Damit wird aber lediglich ein Teilaspekt der Problematik erfaßt. Letztlich geht es um die Frage, ob eine Produktionsweise, die auf Wachstum und damit auf eine immer stärkere Vernutzung der endlichen natürlichen Ressourcen aus sein muß, sich nicht selbst „das Wasser abgräbt“, d.h. ihre Grundlage beseitigt. Das Unbehagen an Abfallbeseitigungsanla- Ist Müll ein Abfallproblem? gen spiegelt auch das Unbehagen angesichts der ungehemmter Inanspruchnahme der Rohstoffe wider. Die Postulate, die aus dieser Diskussion entstanden sind, lassen sich in der Zielhierarchie - Abfallvermeidung - Abfallverwertung - Abfallentsorgung zusammenfassen. Damit, so machen die politisch Verantwortlichen glauben, aber auch viele Umweltbewegte, sei die Problematik in den Griff zu bekommen. Es lohnt sich, diese Behandlungsstrategien näher zu untersuchen und vor allem ihre Tauglichkeit im Hinblick auf die oben erwähnte Ressourcenproblematik zu prüfen. 1) Abfallvermeidung Dieser Begriff wird gängigerweise so verstanden, daß durch organisatorische, rechtliche oder sonstige Maßnahmen die Menge der Stoffe verringert wird, die in den nachfolgenden Stufen zu „behandeln“ sind. Nachdem aber die Lebensdauer eines jeden Produkts endlich ist, mithin alles nach Lebensdauer-Ende zu Abfall wird, kann eine wirkliche Abfallvermeidung nur darin bestehen, daß ein Produkt gar nicht erst entsteht. Damit gerät dieses Ziel in Widerspruch zur herrschenden Produktionsweise, die ja Wirtschaftswachstum voraussetzt, d.h. die Erweiterung des Umfangs der Warenproduktion. Dieser Umstand kommt sinnfällig auch in einem gesetzlich niedergelegten Zielkonflikt zum Ausdruck: Während das Bundesabfallgesetz ebenso wie die Länderabfallgesetze die Abfallvermeidung (und damit die Reduzierung der Warenproduktion) als oberstes Ziel staatlichen und öffentlichen Handelns festlegen, verpflichtet das Stabilitätsgesetz jede Bundesregierung, für ein angemessenes Wirt- Rotzinger schaftswachstum und damit eine Steigerung der Warenproduktion zu sorgen. Ein unlösbarer Widerspruch. Auch hier zeigt sich im übrigen, daß zwar hehre Ziele gesetzlich locker postuliert, die dafür notwendigen Instrumente aber nicht bereitgestellt werden. Selbst die Verordnung, die die Bezeichnung „Vermeidung“ im Titel trägt („Verordnung zur Vermeidung von Verpackungsabfällen“), ist in Wahrheit ein Instrument, mit dem die Verwertung von Abfällen bewerkstelligt werden soll. (Die neuesten Änderungsentwürfe setzen im übrigen weitgehend werkstoffliche - rohstoffliche - energetische Verwertung gleich und öffnen damit die Wege zur Verbrennung.) Auch die etwas hilflose Diskussion um die Abfallvermeidung im privaten Bereich (Mehrweg contra Einweg, verpackungsarmer Einkauf, „Jute statt Plastik“ etc.) zeigt, daß nach wie vor die Problematik in der Konsumtionsebene statt in der Produktions- bzw. Distributionsebene gesehen wird. Auch bei den Umweltverbänden wird so getan, als ob bei der Abfallvermeidung etwas „Überflüssiges“ weggelassen würde, mithin diese Strategie nicht mit Konsumverzicht verbunden wäre. Ich bin der Auffassung, daß Strategien der Abfallvermeidung solche der Produktionseinschränkung sein müssen, dies hat notwendigerweise den Verzicht auf den Konsum von Produkten zur Folge, was nicht unbedingt mit einer Einschränkung des Lebensstandards verbunden ist. 2) Abfallverwertung Unter Abfallverwertung versteht man gemeinhin, daß ein gebrauchtes Produkt, das für seinen eigentlichen Einsatzzweck unbrauchbar geworden ist, durch werkstoffliche oder ggf. auch chemische Umwandlung der Einsatzstoffe für einen neuen Einsatzzweck genutzt werden kann. Ist Müll ein Abfallproblem? Allen bekannten Verwertungsmethoden gemeinsam ist, daß unbrauchbare Reststoffe entstehen, daß bei den gewonnenen Produkten Primärrohstoffe zugegeben werden müssen (es sei denn man nimmt eine wesentliche Produktverschlechterung in Kauf) und schließlich sind relativ aufwendige Systeme erforderlich, die eine saubere Sekundärrohstoffgewinnung ermöglichen. Die von verschiedener Seite euphorisch propagierte Kreislaufwirtschaft kann deswegen nie ein wirklicher Kreislauf in dem Sinne sein, daß es irgendwann möglich sein wird, Primärrohstoffe vollständig durch Sekundärrohstoffe zu ersetzen. Ein Beispiel beim Papier-Recycling mag dies verdeutlichen. Bei der Neuproduktion kann maximal 70% Altpapier eingesetzt werden. Entweder muß also - bei einer unterstellten 100%igen Altpapiererfassung die Neupapierproduktion um 30% gesteigert werden (pro Umlaufzyklus) oder bei gleichbleibender Produktion können allenfalls 70% des Altpapiers verwertet werden. Von einem vollständigen „Kreislauf“ kann daher nicht die Rede sein. Allerdings ist damit eine Verringerung der Rohstoffinanspruchnahme verbunden. Ob damit insgesamt eine Ressourceneinsparung verbunden ist, bleibt zweifelhaft. Die Systeme zur Erfassung von Sekundärprodukten sind in der Regel sehr energieaufwendig; es müßte daher die zusätzliche Energieressourcenentnahme gegengerechnet werden. Ein weiteres Beispiel soll die ökologische Fragwürdigkeit der stofflichen Verwertung unterstreichen. Das bei vielen Bürgern (aus „Umweltbewußtsein“) beliebte Sammeln von Joghurtbechern, zum Zwecke der stofflichen Verwertung erfordert einen wegen des niedrigen Schüttgewichts (im Verhältnis etwa zur Papier- oder Glassammlung) extrem hohen Aufwand an Einsammlungs- und Transportkosten. Darüberhinaus entsteht ein Sortieraufwand, der wie folgt skizziert werden soll: Ein Joghurtbecher wiegt ca. 5 g, 1 Tonne Joghurtbecher sind demnach 200.000 Stück. Unterstellt man (bei der dem derzeitigen Stand der Technik entsprechenden händischen Sortierung) 5 Sekunden Arbeitszeit für 1 Becher, so sind das 275 Stunden, d.h. bei unterstellten Arbeitskosten von 50.- DM in der Stunde = 13.750.- DM. Damit wird auch deutlich, daß Rotzinger ein solches „Sekundärprodukt“ nur mit massiver Subvention auf dem Markt bestehen kann. Schließlich hat die stoffliche Verwertung auch eine Alibifunktion zu erfüllen. Der Bürger, der seine Einwegprodukte nur brav sammelt und zum Container trägt, hat damit seinen Umweltbeitrag geleistet; sein Gewissen ist rein. Die Industrie freut sich gleich zweifach. Sie kann ihre Produkte weiterhin absetzen und dabei auf das wunderbar funktionierende Recycling verweisen; bei der Einsammlung, Sortierung, Verwertung und Vermarktung verdient sie gleich nochmals. Also, alles klar!? 3) Abfallentsorgung Unter Abfallentsorgung wird heute die Endlagerung gebrauchter Produkte ohne oder mit einer vorangehenden Vorbehandlung verstanden. Historisch bestand die Problemlösung in der ungeordneten Einbringung der Abfälle in die Umweltmedien. Man verbrannte, man warf ins Wasser oder einfach irgendwohin. Das Problem war bis Ende des 19.Jahrhunderts ein individuelles; jeder machte mit seinem Abfall das, was er für richtig hielt oder was für ihn am bequemsten war. Damit war eine großflächige Verteilung der Abfallstoffe in Boden, Wasser und Luft verbunden. Zum Beispiel gibt es in München erst seit 1897 eine organisierte und den Einzelnen verpflichtende „Hausunratabfuhr“. Die unorganisierte Entsorgung war nur solange tragbar, als die Qualität der Abfallstoffe noch durch weitgehende Schadstoff-Freiheit bestimmt war und die Quantität sich noch in stadthygieneverträglichen Grenzen hielt. Gerade letzterer Gesichtspunkt war ausschlaggebend für die Einführung einer kollektiven Entsorgung. In den Städten stank es nämlich bestialisch und die Abfälle in den Straßen waren, wenn nicht Ursache, so doch beschleunigende Faktoren für die Ausbreitung von Ungeziefer, Ratten und damit von Seuchen. Ist Müll ein Abfallproblem? Heute hat neben der Stadthygiene bei der Abfallentsorgung vor allem der Gesichtspunkt der Minimierung des Eintrags von Schadstoffen in Boden, Wasser und Luft Bedeutung. Die Bemühungen richten sich zum einen darauf, durch eine „Behandlung“ der Abfälle diese zu separieren in einerseits hochkontaminierte massen- und volumenmäßig kleine Anteile und andererseits weitgehend schadstoff-entfrachtete größere Anteile. Zum anderen wird versucht, für diese Bestandteile je nach Gefährdungspotential adäquate technische Lösungen zu finden, um sie für geologische Zeiträume möglichst gefahrlos für die Umweltmedien endzulagern. Daß dieser Umgang mit Abfall wenig mit Kreislaufwirtschaft im Sinne von Ressourcen-Ersparnis zu tun hat, sondern mehr mit einem Schadstoffkreislauf, mag die folgende Betrachtung verdeutlichen. Der sogenannte „Siedlungsabfall“ nimmt nach den derzeit gültigen Rechtsnormen (wovon die Praxis aber teilweise noch weit entfernt ist) folgenden Weg: Abfälle, die nicht vermieden oder stofflich verwertet werden können, werden „thermisch vorbehandelt“, d.h. verbrannt. Dabei entstehen neben CO2 und Wasser Reststoffe unterschiedlichster Art. Die festen Restprodukte aus der Abgasreinigung (staubförmig, mit Wasser gebunden) müssen ggf. nach einer weiteren Behandlung in einer Hochsicherheits-(Untertage-)Deponie endgelagert werden, oder sie werden zur Stabilisierung von unterirdischen Hohlräumen (z.B. aufgelassenen Kaligruben) als Versatzmaterial „verwendet“. Die Aschen aus der Müllverbrennung (Schlacke) können je nach Schadstoffinhalten und Baustoffqualitäten entweder (nach einer Aufbereitung, bei der abzulagernde Reststoffe entstehen) als Baustoffe wieder eingesetzt werden, wobei naturgemäß ein mehr oder weniger eingebundenes Schadstoffpotential in die Umwelt eingebracht wird, oder sie wird auf einer speziell vorbereiteten Deponie abgelagert. Bei der Deponierung der Schlacke entstehen insbesondere in der Einbauphase - Sickerwässer, die entweder direkt in die Kläranlage eingeleitet werden können oder wegen ihres Schadstoffgehaltes vorher nochmals aufwendig vorbehandelt werden müssen. Immer entstehen dabei feste Restprodukte (Klärschlamm oder Sickerwasserkonzentrat), die ihrerseits wieder weiterverarbeitet werden müssen. Rotzinger Der Klärschlamm wird z.B. verbrannt, dabei entstehen z.B. wieder Schlacken, die wieder abgelagert werden, wobei wieder belastete Sickerwässer entstehen usw. usw. Aus dieser schematischen Darstellung wird deutlich, daß bei der Abfallentsorgung anstatt eines Wirtschaftskreislaufs ein Reststoffkreislauf entsteht. Die technische „Bewältigung“ des Abfallproblems führt also dazu, daß mit immer größerem technischen Aufwand mit immer größeren Mengen hochkontaminierter Materialien umgegangen werden muß. Gleichzeitig müssen immer mehr Teile der Erdoberfläche ober- oder unterirdisch in Anspruch genommen werden. Aus alledem läßt sich entnehmen, daß die Bewältigungsziele Vermeidung, Verwertung und Entsorgung nicht nur in einer quantitativen Hierarchie zueinander stehen, sondern daß zwischen Vermeidung einerseits und Verwertung und Entsorgung andererseits ein tiefer qualitativer Unterschied besteht. Während die Abfallbehandlungsformen an der tatsächlichen Existenz des Abfalls ansetzen, stellen wirksame Strategien der Abfallvermeidung die herrschende Produktionsweise überhaupt in Frage, da sie von einer Reduzierung der Warenproduktion ausgehen. So gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, daß in naher Zukunft das Problem an der Wurzel gepackt wird, als gering einzuschätzen; die gesellschaftlichen Mechanismen der entwickelten Länder werden eher immer „perfektere“ Behandlungsstrategien entwickeln. Die Entwicklung der letzten Jahre bestätigt das. Schlussbemerkung Die vorstehend skizzierten Gedanken sind weder besonders originell, noch sind darin Erkenntnisse enthalten, die in dem Sinne neu sind, daß sie bisher keiner gedacht hat. Die Vorstellung, daß die Menschen, vor allem aber die hochindustrialisierten Volkswirtschaften hemmungslos die endlichen Rohstoff- und Ist Müll ein Abfallproblem? Energieressourcen ausbeuten, die Erdoberfläche Stück für Stück zu einem Endlager für Abfälle machen, die Umweltmedien Boden, Wasser und Luft so mit Schadstoffen anreichern, daß die Erde auf lange Sicht unbewohnbar und „unlebbar“ wird, diese Vorstellung ist gleichzusetzen mit dem geplanten Suizid der Menschheit als ganzer. Es ist erstaunlich, mit welcher Gelassenheit dies betrieben oder hingenommen wird. Voraussichtlich wird noch ein beschleunigender Effekt dadurch eintreten, daß die sogenannten Länder der Dritten Welt ein Wirtschaftsentwicklungsniveau anstreben, welches dem der „entwickelten“ Länder der ersten und zweiten Welt gleichkommt. Und damit schnappt die Falle zu. Das berechtigte Bedürfnis der Menschen dieser Länder, einen Lebensstandard anzustreben, der mit dem unsrigen vergleichbar ist, wird schließlich den Niedergang und Untergang der Menschheit beschleunigen. Der Müll ist nur der Indikator für dieses Problem em. In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 65-70 Autor: Karl-Heinz Barth Artikel Karl-Heinz Barth Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst 1.Dezember 1991 Die „Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen (Verpackungsverordnung - VerpackVO)“ tritt in Kraft. Ziel ist es, überflüssige Verpackungen zu vermeiden und damit den Anfall von Müll zu bremsen. Oktober 1993 Der neue Aufsichtsrat der „Duales System Deutschland Gesellschaft für Abfallvermeidung und Sekundärrohstoffgewinnung mbH“ (DSD) konstituiert sich; die sog. „Entsorger“, das sind die Privatfirmen, die im Auftrag von DSD die Entsorgung der Verpackungsmaterialien durchführen, belegen erstmals drei Aufsichtsratssitze. Die Firmen, die von der Entsorgung der Gesellschaft von ihren Abfällen oder neudeutsch, von ihren Wertstoffen leben, bestimmen die Politik einer Gesellschaft, die laut ihrem Firmenschild für Abfallvermeidung zuständig ist. Wenn die Vereinigung Münchner Brauerei den Aufsichtsrat der Anonymen Alkoholiker übernähmen, würde niemand glauben, dies sei politisch gewollt - oder zumindest von der Politik in Kauf genommen. Wenn die Entsorger Müllvermeidung betreiben, ist dies politisch gewollt, oder!? Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst DSD - ein Lehrbeispiel für den Umgang der Politik mit dem Bürger oder für den Umgang der Wirtschaft mit der Politik ? 1. Am besagten 1.Dezember 1991 trat also die „Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen“ in Kraft. Sollte nicht schon die Überschrift der Verordnung eine Leerformel sein, dann trat eine Verordnung in Kraft, die zum Ziel hatte: die Vermeidung von Verpackungen. Eine durchaus lobenswerte Zielsetzung, die sich vom dafür zuständigen Bundesminister für Umwelt, Naturschutz (und Reaktorsicherheit) auch trefflich als abfall- und umweltpolitische Großtat verkaufen ließ. In der Tat: Die Verordnung geht den angesichts des Mangels an Deponie- und Verbrennungskapazitäten einzig gangbaren Weg und setzt dieselben Prioritäten, wie es auch die modernen Abfallgesetze tun: * oberste Priorität genießt die Vermeidung überflüssiger Verpackungen, * die unvermeidbaren, aus hygienischen oder logistischen Gründen nötigen Verpackungen müssen wiederverwendet oder wiederverwertet werden, und * erst die Reste, die dann noch übrigbleiben, dürfen der normalen Entsorgungsschiene zugeführt, also deponiert oder verbrannt werden. Diese Reihenfolge ist in sich schlüssig vor dem Ziel der Schonung knapper Deponie- und Verbrennungskapazitäten. Schlüssig ist ebenfalls, daß die sog. „thermische Verwertung“ (eine euphemistische Umschreibung der Tatsache, daß Papier und Plastik gut brennen und dabei auch Wärme entsteht) nicht als Verwertung im Sinne der Verordnung angesehen wird, sondern als - erst auf der letzten Stufe mögliche - Abfallentsorgung mit all ihren negativen Auswirkungen auf die Umwelt. Barth 2. Der Weg, auf dem diese Ziele erreicht werden sollten, sollte ein marktwirtschaftlicher und kein dirigistischer sein und wurde (und wird) als Einstieg in die Kreislaufwirtschaft gefeiert: Verpackungen sollten nicht par ordre du mufti verboten werden, sondern der Vertreiber der Verpackung soll verpflichtet sein, diese zurückzunehmen. Der dadurch entstehende finanzielle und logistische Aufwand, dem keinerlei Erlös gegenüberstünde, so die Logik, würde schon dazu führen, daß nur Verpackungen, die sich rechnen, verwendet würden und Überflüssiges verschwinden würde - Verursacherprinzip pur. 3. Marktwirtschaftlich genauso logisch (und wenn schon nicht abgesprochen, so doch vorhersehbar) wie dieses System war jedoch die Reaktion der (Markt-)Wirtschaft: Sie wehrte sich heftig gegen diesen der Gewinnerzielung abträglichen neuen Kostenfaktor. Und sie behauptete, sie könne die Leistung „Rücknahme der Verpackungen“ nicht erbringen (vor allem die überaus zahlreichen Tante-Emma-Läden seien damit gänzlich überfordert, letztendlich sei die Versorgung der Bevölkerung in Gefahr). 4. Und so entstand ein Kompromiß, der die scharfe Waffe „Rücknahmepflicht“ schon ein bißchen stumpfer machte (ob dieser Kompromiß nicht schon beim Entwurf der Verordnung einkalkuliert oder gar verabredet war, jedoch aus PR-taktischen Gründen zurückgestellt worden war, gehört zum Kapitel „wie die Politik mit dem Bürger umgeht“): Der Vertreiber sollte sich von der Rücknahmepflicht dadurch befreien können, daß er sich an einem (noch zu schaffenden System) beteiligte, das „eine regelmäßige Abholung gebrauchter Verkaufsverpackungen beim Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst Endverbraucher oder in dessen Nähe in ausreichender Weise gewährleistet und gewisse (näher definierte) Anforderungen erfüllt.“ War ursprünglich die Rücknahmepflicht beim einzelnen Vertreiber auf solche Verpackungen begrenzt, die er selbst gewöhnlich verwendet (Tante Emma muß keine Farbdosen zurücknehmen), so war dem „System“ nun schon etwas mehr gestattet (es muß ja schließlich aufgebaut werden): für die verschiedenen „Fraktionen“ wurden gewisse Quoten festgesetzt, die das System zu erfassen, zu sortieren und zu verwerten hat. Zum 1.7.1995 sollte dieses System 80% der gebrauchten Verpackungen erfassen und 80% bzw. 90% davon sortieren und verwerten. Trotzdem: Die Empörung der Wirtschaft war weiter groß und vorhersehbar. Hatte vielleicht Bundesumweltminister Töpfer wieder nur einmal die Rolle des „Schloßgespenstes“ (Süddeutsche Zeitung) spielen und mit den Zähnen klappern dürfen? Nein: Die Wirtschaft sei nunmehr gefordert und sie werde es schon richten. 5. Und die Wirtschaft nahm die Aufforderung ernst: Sie gründete die „Duales System Deutschland Gesellschaft für Abfallvermeidung und Sekundärrohstoffgewinnung mbH“. Gesellschafter dieser Firma waren der Handel, die Verpackungs- und die Markenartikel-Industrie. Durchaus folgerichtig: Die Verursacher des Abfalls müssen nun für dessen Beseitigung sorgen. Sie können ihn aber auch modern und arbeitsteilig beseitigen lassen, durch DSD, und die Kosten dafür tragen (daß diese Kosten - und etliches mehr? - über den berühmten „Grünen Punkt“ an den Verbraucher weitergegeben werden, ändert zumindest an der Richtigkeit des Systems nichts). Barth Oder ist es aber nicht hier vielleicht schon passiert, daß den Verursachern des Abfalls, pardon der Wertstoffe, wie den mittelalterlichen Sündern die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich mittels Ablaßzahlung von ihrer Sünde zu befreien? (Wenn dem so wäre, wäre es besonders infam, daß die Kosten dafür auch noch die Leibeigenen bezahlen). 6. Diese Gesellschaft braucht nun aber noch, damit alles seine Ordnung hat, eine staatliche Anerkennung. Es ist ja nicht so gedacht, daß sich jeder Händler selbst entsorgen lassen könnte, sozusagen im vielzitierten freien Spiel der Kräfte, sondern von der Verpackungsverordnung gefordert ist ein „System“, das die Entsorgung garantiert. Gefordert ist, könnte man meinen, ein Ansprechpartner für die Politik (die Geschäftsführung dieser Gesellschaft wird wohl deswegen auch gleich mit Ansprechpartnern aus der Politik besetzt). Diese „Freistellung“ genannte staatliche Anerkennung ist nun wiederum an gewisse Voraussetzungen gebunden, die zum einen jeder anständige Gewerbetreibende erfüllen muß und die zum andern besonders in der Verpackungsverordnung gefordert sind; z.B. die Erfüllung der schon erwähnten Quoten oder auch die Flächendeckung, was auch heißt, daß alle Verpackungen und nicht etwa nur die besonders leicht verwertbaren wie Papier oder Glas gesammelt werden müssen. Oder daß die von der Verordnung vorgesehene Art der Verwertung garantiert wird und die Verpackungen nicht etwa verbrannt oder ins Ausland verschifft werden. Und wiederum leuchtet jedem vernünftigen Menschen ein, daß eine solche Gesellschaft nicht heute gegründet und morgen hundertprozentig funktionieren kann. Die Eigentümer dieser Gesellschaft sehen es natürlich ebenso und daher kommt es, daß die dafür zuständigen Umweltminister der Bundesländer mit größten Bedenken diese sog. „Freistellungen“ erteilen und selbstverständlich unter schärfsten Auflagen, die aber Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst dann doch in der Praxis das Entsorgerleben gegenüber den Anforderungen in der Verordnung wieder etwas erleichtern. * Als kleines Zwischenergebnis darf festgehalten werden, daß * eine streng am Verursacherprinzip orientierte Verordnung zur Vermeidung von Abfällen geschaffen wurde, * das Leben mit dieser Verordnung den Verursachern der Verpackungen dadurch erheblich erleichtert wurde, daß sie deren Auswirkungen durch Zwischenschalten einer Gesellschaft erheblich abmildern können und * diese Gesellschaft wiederum die (für den Anfang?) noch einigermaßen strengen Anforderungen etwas erleichtert bekommt. * (Ohne der Geschichte vorgreifen zu wollen, eine Anmerkung zu den Kontrollen der immer noch relativ harschen Anforderungen an diese Gesellschaft: Als besagte Gesellschaft in heftigste Turbulenzen gerät und die Medien davon voll sind, erklärt ein offizieller Vertreter eines für die Kontrollen zuständigen Umweltministeriums auf die Frage nach Konsequenzen, die sein Haus als Reaktion auf diese Turbulenzen gegenüber unserer Gesellschaft zu ziehen trachte, diese Vorgänge seien noch nicht an sein Haus herangetragen worden). * Kleiner Exkurs ins Grundsätzliche: Fällt es eigentlich auf, daß unsere Geschichte schon gar nicht mehr von der „Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen“ handelt, sondern nur noch von der „Recycling-Gesellschaft“ (Süddeutsche Zeitung) DSD? 7. Nach der Grundsatzentscheidung, die Verantwortung für den Vollzug des Gesetzes in die Hand der Betroffenen zu legen, ergaben sich - rein theoretisch und rein marktwirtschaftlich - zwei Lösungsansätze: * Die Gesellschaft entsorgt quasi als verlängerter Arm der Vertreiber brav und teuer und führt damit dazu, daß sie sich immer überflüssiger macht, weil sich der Handel von einem lästigen Kostenfaktor befreien möchte, oder Barth * die Gesellschaft wird selbständig und innovativ und entdeckt in der Entsorgung selbst wieder eine lohnende Aufgabe, die einen neuen Markt bietet. 8. Erst einmal organisiert sich die besagte Gesellschaft namens DSD selbst. Sie ist verantwortlich, aber im Grunde eine Briefkastenfirma. Sie läßt durch Privatfirmen die Entsorgung durchführen, kassiert dafür Lizenzgebühren von den Herstellern der Verpackungen und soll für die Beseitigung (es ist bewußt hier nicht mehr die Rede von Verwertung) der Rohstoffe/Wertstoffe sorgen. Die Konditionen, zu denen diese Firma abschließt, sind durchaus anständig, und die Finanzkontrolle der Firma nicht besonders stringent. Dies hat - streng marktwirtschaftlich immer noch streng logisch - zur Folge, daß sich viele Entsorgungsfirmen, kleine und große und viele Gemeinden als eigentlich Verantwortliche für die Beseitigung des Abfalls unter die Fittiche dieser Firma begeben und auch einen Teil des Kuchens haben wollen. 9. Der Firma wiederum geht es blendend; sogar so blendend, daß sie überrollt wird von zurückgegebenen Verpackungen und bald nicht mehr weiß, wohin damit. (Es handelt sich dabei um Kunststoffverpackungen, deren Verwertbarkeit schon immer stark bezweifelt wurde). Und so kommt es, daß besagte Firma im Sommer 1993 mitteilt, sie könne nun leider ihren Aufgaben für den Bereich der Kunststoffverpackungen nur mehr sehr beschränkt nachkommen, die Deutschen hätten einfach zuviel davon zurückgegeben. (Zur Erinnerung: so war es gedacht von der Verordnung). Der Müll, die Marktwirtschaft und das Schloßgespenst Nachdem daraufhin das Schloßgespenst tobt, sammelt die Firma doch wieder alles. Doch kurz darauf kommt sie nun in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten: Die Lizenznehmer (das sind die Mit-Eigentümer) zahlen leider nicht und deshalb habe sich leider ein Loch von einer Milliarde aufgetan. Man brauche Geld, um den Konkurs abzuwenden, und außerdem bessere Verträge: Ansonsten sei das System gescheitert und der Handel müsse zurücknehmen: Zurück auf Los im großen Monopoly. Das Schloßgespenst tobt wieder und verschreckt kommt die Rettung: Die privaten Entsorger (an denen sich - weitsichtig, wie sie sind - schon längst die großen Stromgiganten wie RWE beteiligt haben) zeigen ihre Verantwortung für das Große Ganze und retten mittels einer Finanzspritze von ca. 600 Millionen DM das System. (Daß sich das nur die Großen leisten können und etliche Kleine dabei auf der Strecke bleiben, ist wiederum marktwirtschaftlich logisch). Der Preis dafür ist auch nur symbolisch: Die Entsorger dürfen in den Aufsichtsrat ihres Auftraggebers (was wiederum marktwirtschaftlich nicht ganz logisch ist). 10. Die kleine Geschichte hat zum (vorläufigen) Ende, daß die Firmen, die vom Anfall der Verpackungen und gerade nicht von dessen Vermeidung leben, ein Viertel der Aufsichtsratssitze der Firma besetzen, die für die Vermeidung der Verpackungen sorgen soll. Die Münchner Brauer sind mit einem Viertel im Aufsichtsrat der Anonymen Alkoholiker! Nachklapp Da Deponieraum sehr knapp ist (siehe oben) hat das Schloßgespenst noch einmal mit den Zähnen geklappert. Es hat eine „Technische Anleitung“ erlassen, nach der nur noch deponiert werden darf, was auf 5% seines ursprünglichen Volumens geschrumpft ist. Barth Rein technisch geht das (angeblich) nur mit Müllverbrennung. Also müssen neue Müllverbrennungsanlagen gebaut werden. Diese wiederum müssen - da teuer - Material zum Verbrennen haben. Und was brennt gut? Plastik und Papier. Und da bei der Verbrennung Wärme entsteht, wird das verbrannte Material verwertet. Also spricht, diesmal rein logisch, nichts gegen die thermische Verwertung (siehe oben). Und deswegen muß - rein logisch, zum letzten Mal die Verbrennung auch erlaubt werden, vom Schloßgespenst in der Verpackungsverordnung. 11. Wer baut Müllverbrennungsanlagen? RWE! Wer macht Umweltpolitik? In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 71-72 Autor: Konrad Lotter Artikel Konrad Lotter Calvinos Mülltonne Die Müllbeseitigung als Ritus existentieller Erneuerung In Paris heißt die Mülltonne „poubelle“, benannt nach Monsieur Poubelle, dem Präfekt des Departments Seine, der ihren Gebrauch im Jahre 1884 verordnete. Auch Italo Calvino, der italienische Schriftsteller, der seine letzten Jahre in Paris lebte, benutzte die poubelle, um seinen Müll aus dem kleinen Einfamilienhaus hinauszuschaffen, das er bewohnte. Und diese Benutzung, diese Beseitigung der Hausabfälle, bereitete ihm, wie jetzt in einer autobiografischen Skizze aus dem Nachlaß zu lesen ist, nichts weniger als „Befriedigung“ (vgl. „Die Mülltonne und andere Geschichten“, München 1994, Hanser Verlag). „Die einzige Hausarbeit, die ich mit einer gewissen Kompetenz und Befriedigung verrichte, ist das Hinausschaffen des Mülls. Der Vorgang teilt sich in mehrere Phasen: Abholung des Mülleimers aus der Küche und seine Entleerung in die größere Tonne, die in der Garage steht, sodann Transport besagter Tonne auf den Gehweg vor dem Haus, wo sie von den Müllmännern abgeholt und ihrerseits in den Müllwagen entleert werden wird.“ Auf die Frage, wohin der Müll nun kommt, nachdem ihn die Müllmänner abgeholt haben, gibt Calvino keine Antwort. Auch nicht auf die Fra- Calvinos Mülltonne ge nach dem Zusammenhang von Ökonomie und Müll oder nach der Grenze von Recyceln und Entsorgen. Dafür beantwortet er eine Frage, die vor ihm wahrscheinlich noch nicht einmal jemand gestellt hat, auf die Frage nämlich, worin die Befriedigung besteht, die das Hinausschaffen des Mülls gewährt. In seiner Antwort verweist Calvino auf das Rituelle dieser Handlung: auf den Ritus der Reinigung, der den Ritus des Beendigens und des Neubeginnens in sich schließt. Das ungeschriebene Gesetz, dem das Ritual der Müllbeseitigung gehorcht, verlangt nämlich, „daß die Ausscheidung der Abfälle des Tages mit dem Ende desselben zusammenfällt und daß man sich schlafen legt, nachdem man die möglichen Quellen schlechter Gerüche von sich entfernt hat, kaum sind die abendlichen Gäste gegangen, werden die Fenster geöffnet, die Gläser gespült und die Aschenbecher geleert; ... und das tun wir nicht nur aus natürlichem Hygienebedürfnis, sondern auch, damit wir morgens beim Aufwachen einen neuen Tag beginnen können, ohne uns noch mit dem abplagen zu müssen, was wir am Abend zuvor für immer von uns haben abfallen lassen.“ Calvino vergleicht die Befriedigung, die das Hinausschaffen des Mülls gewährt, mit der Befriedigung der Defäkation, d.h. des Stuhlgangs. Die Entleerung des Darms vermittelt das Gefühl, der Körper enthalte nun nichts Fremdes mehr, also nichts, was dem Menschen nicht selbst zugehörte. Es wird eine Scheidung vollzogen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Nur in der Entäußerung des Fremden erhält man das Eigene und wehe dem Verstopften oder dem Geizhals, der sich von nichts zu trennen vermag und am Ende im eigenen Kot erstickt. Alltägliche Erfahrungen werden zu existentiellen Erfahrung. Aus dem gewöhnlichen Hausmüll wird seelischer Müll, aus der Reinigung des Wohnzimmers die Reinigung des „Seins“. Nur indem wir uns fortwährend von den Schlacken unseres abgelebten Lebens trennen, können wir das erhalten, was unsere Substanz und unser eigentliches Sein ausmacht. Der existentielle Ritus der Reinigung besteht so in der Notwendigkeit „mich von einem Teil dessen, was mein war, zu trennen, die Hülle oder Konrad Lotter Larve oder ausgedrückte Zitrone des gelebten Lebens abzuwerfen, um meine Substanz zurückzubehalten und mich am nächsten Morgen wieder vollständig (ohne Reste) mit dem identifizieren zu können, was ich bin und habe. Nur wenn und indem ich es wegwerfe, kann ich sicher sein, daß etwas von mir noch nicht weggeworfen worden ist und vielleicht nie weggeworfen werden muß.“ Müllproduktion wird gleichgesetzt mit Bewegung, mit Leben, mit Entwicklung hin zum eigentlichen „Sein“. An die Stelle des objektiven oder geschichtsphilosophischen Gegensatzes von Aneignung und Entfremdung tritt der subjektive, existenz-philosophische Gegensatz von Eigenoder Eigentlichwerden und Wegwerfen. Solange ich wegwerfe bin ich. Solange ich Abfall produziere, bin ich selbst noch kein Abfall. Die Autobiografie des Menschen wird zur fortwährenden Müllabfuhr, zur fortwährenden Absonderung von Dingen, Gedanken, Beziehungen, Anliegen etc., die fremd geworden sind und nicht (oder nicht mehr) Teil der eigenen Existenz darstellen. Subjektiv würde eine Welt, in der nichts weggeworfen wird und daher keine Erneuerung stattfindet, zum „Inferno“. Soweit hat Calvino recht. Wie steht es aber mit der objektiven Welt? Wird sie nicht umgekehrt gerade dadurch zum „Inferno“, daß der Mensch alles wegwirft und die Erneuerung einen selbstläufigen Charakter annimmt? Wird nicht die Welt selbst zu „poubelle“ der falschen Selbstverwirklichung des homo oeconomicus? (Für den Hinweis auf Italo Calvino danke ich Wolfgang Herrmann.) In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 73-92 Bücher zum Thema Rezensionen Besprechungen Bücher zum Thema Egon Becker / Peter Wehling Risiko Wissenschaft. Hochschule und Wissenschaft in der ökologischen Krise Frankfurt/Main 1993 (Campus), 172 S., 39.- DM. Die Bildungspolitik und die Hochschule sind wieder in die Schlagzeilen geraten. Durch Einsparungen der Fördermittel und durch Effizienzsteigerungen der Berufsausbildung versucht der Staat seine Finanzkrise zu beheben. Die Studentenschaft, die Hauptbetroffenen der Sanierung, protestieren und streiken. Egon Becker und Peter Wehling, Mitarbeiter am „Institut für sozial-ökologische Forschung“ in Frankfurt/Main, kritisieren, daß diese finanzpolitische Diskussion nur an den Symptomen der Hochschulkrise kuriert. Die Hochschulen gehörten vielmehr selbst zu den Ursachen einer Krise, die durch ihre Effizienzreform überwunden werden soll. Sie nennen sie die „Krise des gesellschaftlichen Naturverhältnisses“, die durch die Wissenschaften selbst mitinitiiert ist und die der Überprüfung ihrer eigenen Gefährdungspotentiale bedürfe. Den Kern des „Risikos Wissenschaft“ stellt für die Autoren die Herausbildung eines „scientific-industrialbureaucratic complex“ dar, in dem sich ein technizistisch-konstruktives Weltverständnis durchgesetzt habe (39). Dieser Komplex habe längst auch die kognitiven Grundlagen solcher Wissenschaften erfaßt, aus denen heraus sich die Spitzen- und Zukunftstechnologien entwickeln. Sie nennen diesen Komplex den aktiven und stabilen „Transformationskern“, der die weltweiten Modernisierungsund Veränderungsschübe bewirke. „Naturzerstörung, Produktion von Großrisiken, globale Gefährdungslagen und gewaltige Destruktionspotentiale kennzeichnen den unter Selbsteinwirkung expandierenden Transformationskern“ (40f). Nach Ansicht der Autoren drohen gegenüber diesem Kern die Geistesund Sozialwissenschaften zu Elementen eines „Entsorgungs- und Ver- drängungsapparates“ zu degradieren. Sie würden entweder durch Methodentransfer oder Anpassungsleistungen in diesen tragenden Kern integriert, oder sie verbleiben als „kulturelle Hülle“, deren vermeintliche Autonomie darin besteht, den Kern nicht zu tangieren. Diese institutionalisierte Trennung von Kern und Hülle verwehre den Wissenschaften die Selbstreflexivität; die Reflexionspotentiale werden ins Abseits gedrängt. Unter der Ägide der technisch orientierten Naturwissenschaften sei eine Neukonzeption von Einheit der Wissenschaften entstanden, die ihr Integrationszentrum nicht mehr im Humboldtschen Ideal von Bildung finde, sondern aus der technischpraktischen Verschmelzung der Wissenschaften hervorgehe. Becker und Wehling sind denn auch skeptisch gegenüber wissenschaftssoziologischen Konzepten, die - wie Habermas - in den Wissenschaften Potentiale herrschaftsfreier Kommunikation vermuten; sie gehörten selbst den kolonialisierenden Mächten an, vor denen sie geschützt werden sollen. In ähnlicher Weise hat für sie die These von Ulrich Beck, die Wissenschaften aktivierten im Zuge der Modernisierung selbst Energien der Selbstbeherrschung und -begrenzung, „Züge einer Selbstbeschwichtigung“ (54). Es sei die neue Qualität der Wissenschaft, daß sie in ihrer Verbindung mit technischer Anwendung und industrieller Nutzung zum aktiven Kern einer zur Selbstreflexion unfähigen Risikoproduktion geworden ist. Angesichts der Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse sehen Becker und Wehling die Aufgabe der Wissenschafts- und Hochschulreform, ein sog. „Überlebenswissen“ zu erzeugen. Ökologie und Umweltschutz dürften nicht mehr bloß als externe Zielvorgaben an die Wissenschaften verstanden werden, sondern machten die Reflexion der eigenen Wissenschaftspraxis und neue Arbeits- und Kooperationsformen erforderlich. Diese müßten neben und außerhalb der institutionalisierten Formen von Forschung und Lehre entstehen. „Einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können sich durch die Reflexion auf die Überlebensbedingungen der Gattung aus ihren organisatorisch-institutionellen, fachlich-disziplinären und politischfraktionellen Bindungen herauslösen.“ (77) So entstünden „ökologische Allianzen“, die in der Bearbeitung der gemeinsamen Überlebensproblematik ihre Einheit haben. Zu einer solchen ökologischen Reform von Bildung und Wissenschaft sehen die Autoren Ansätze: Wissenschaftsläden, eigenständige Forschungsinstitute, ökologische Allianzen, die quer zu den universitären Statusgruppen liegen. Naheliegenderweise stellen die Autoren fest, daß solche Reformbestrebungen eher und leichter in den Bereichen der kulturellen Hülle stattfinden, daß jedoch im wissenschaftlichindustriell-bürokratischen Kernbereich solche Allianzen weit schwerer durchzusetzen sind. Bücher zum Thema So bedenkenswert die These der Autoren ist, daß die Wissenschaften im Zuge der Modernisierung ihren Ort autonomer Reflexion verloren haben und selbst die Probleme produzieren, die durch sie gelöst werden sollen, ihre eigenen Reformvorschläge bleiben blaß. Sicher wird die Entschärfung des konstatierten Risikos Wissenschaft nicht durch ein neues Besoldungsgefüge und mehr ökologische Forschungsförderung gelingen. Ihre Vorschläge zur Veränderung der Studieninhalte und angebote bleiben allgemein und nur Postulate. Es wird notwendig sein, diese Perspektiven der Wissenschaft inhaltlich und organisatorisch zu konkretisieren. Alexander von Pechmann Gernot Böhme Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung Frankfurt/ Main 1993 (Suhrkamp), 494 S., br., 29.80 DM. Francis Bacons „Novum Organon“ (1620) hat, so die von Gernot Böhme verzeichnete Entwicklungslinie, die neuzeitliche und moderne Wissenschaftsentwicklung bis heute in programmatischer Weise beeinflußt. Das so umrissene Baconsche Zeitalter ist bestimmbar durch die Grundüberzeugung, wissenschaftlich-technischer Fortschritt sei zugleich humaner Fortschritt, verbunden mit Zielvorstellungen einer Entwicklung der menschlichen Gattung. Bacons Anre- gungen zu einer induktiven Verfahrensweise der Naturwissenschaften leitete Wissenschaft als Forschung ein. So wurde die ältere Vorstellung eines abgeschlossenen Feldes von Wissen verlassen. Bacons Utopie „Nova Atlantis“ (1627) entwirft einen wissenschaftlich und technisch durchgebildeten Staat, dem die modernen Gesellschaften mit ihrer Wissenschaftsorganisation und ihrem Spezialistentum entsprechen. Eine moderne Wechselseitigkeit von Grundlagenforschung und Technik entspricht der von Bacon geforderten Nutzanwendung der Wissenschaften. Böhme sieht in der westlichen Forschungspolitik der sechziger und siebziger Jahre und in den Erwartungen eines wissenschaftlichen Sozialismus die Höhepunkte einer Verwirklichung des Baconschen Programms. Heute, so Böhme, sei in den Industriegesellschaften dieses Programm verwirklicht, ohne daß sich die mit ihm verbundenen Hoffnungen erfüllt hätten. Vor allem die Kriegstechnologien und ihre Folgen sowie die fortschreitende Umweltzerstörung haben die Nützlichkeit der Wissenschaften suspekt werden lassen und regen zum Umdenken an. Böhme macht Vorschläge, wie das Baconsche Zeitalter an seinem Ende zu verlassen sei. Er geht aus vom Faktum Wissenschaft, denn Wissenschaft und Technik gehören zur condition humaine. Dennoch läßt sich eine Veränderung des Konzepts einer Naturbeherrschung und der Manipulationsnotwendigkeit vorstellen. Auch wird angeregt, die naturwissenschaft- liche Forschung weitgehend aus einer bis heute vorherrschenden Zielorientierung und Nützlichkeitserwartung zu entlassen. Im Sinne einer Vermittlung von naturwissenschaftlicher und humanistischer Bildung solle die Befreiung aus einem nutzenorientierten Wissenstyp angestrebt werden. Wissen, so Böhme, solle wieder Freude machen und zur Weisheit betragen. Wissen, Wissenschaft, Technik, Methode, Programm, Paradigma, Interesse, Fortschritt, Mensch, Natur, Epoche, Ende: In Böhmes Buch werden die Ausdrücke alltagssprachlich verwendet, teils soziologisch und teils wissenschaftstheoretisch terminologiert. So führt Böhme zur Epochenbestimmung das früher von ihm im Feld des Starnberger Institutes mitentwickelte Konzept einer „Finalisierung der Wissenschaft“ an, einer gesellschaftlichen Nutzanwendung herausgebildeter und verfestigter Paradigmata. Keineswegs aber kann das besagte Baconsche Zeitalter paradigmentheoretisch in einem engeren, strukturgeschichtlichen Sinne begriffen werden. Der Epochenbegriff ist in dem Zusammenhang zu weit angesetzt. Bacon hat in seiner Auffassung von Forschung nicht an Gesetze im Sinne mathematisch formulierter Aussagen über den Verlauf eines Geschehens gedacht und nicht an eine Erkenntnis von Natur durch sie mitkonstituierenden Modellen. Er überließ noch einer Metaphysik die Aufsuchung der Formen der Dinge in den Erscheinungen. Derartige Verständnisschwierigkeiten könnten damit zusammenhängen, daß in Böhmes Buch größtenteils früher verstreut veröffentlichte Aufsätze zu geschlossenen Blöcken (Transzendentale Wissenschaftstheorie, Theoriegeleitete Wissenschaftsgeschichte, Kognitive Wissenschaftssoziologie) geordnet sind, die vor allem durch die Leser in Beziehung zu der übergeordneten Epochenkennzeichung zu setzen sind, eine Aufgabe, die die Lektüre wiederum anregend macht. Im Kapitel über „Transzendentale Wissenschaftstheorie“ etwa bleibt von Autorenseite aus undeutlich, ob es methodisch um die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit des Gegenstandes von Forschung und Technik geht oder um den Ansatz zu einer handlungstheoretischen Modifikation transzendentalen Argumentierens. Es ist ein Unterschied, zu erklären, unter welchen Bedingungen etwas so ist wie es ist, oder anzugeben, unter welchen Bedingungen es auch anders sein oder werden könnte. In Böhmes Buch geht es entschieden um Möglichkeiten zu Veränderungen und Eingriffen. Ein Aufsatz, der hierzu thematisch paßt („Der normative Rahmen wissenschaftlichtechnischen Handelns“) findet sich im Kapitel „Kognitive Wissenschaftssoziologie“. Die Leser haben so die Aufgabe, wenn sie ihn nicht schon haben, sich über die Versatzstücke des Buches einen Eindruck über eine zeitgenössische Rezeption von Transzendentalphilosophie zu verschaffen. Unentscheidbar bleibt jedoch, inwieweit Böhme eine pessimistische Bestandsaufnahme mit optimistischen Ausblicken vermittelt, und wie das zu begründen ist. Gerade Bücher zum Thema begründen ist. Gerade die Geschichte einer Verwirklichung des Baconschen Programms dürfte Anlaß zu der Frage geben, inwieweit der Verlauf programmatisch geleiteter Forschung voraussagbar ist und unter welchen Voraussetzungen eine Wissenschaftsforschung selbst einflußreich ist. Sofern sich hier die Kennzeichnung eines Zeitalters noch innerhalb des Zeitalters ansiedeln muß und zugleich ein Anfang und ein Ende unterschieden werden, ergibt sich eine grundlegende Schwierigkeit, die mit den vorgelegten „Studien zur Wissenschaftsentwicklung“ nicht begreifbar wird. Die Betrachtungen gehören der besagten Epoche noch an, ein Ende ließe sich allenfalls vorhersagen. Böhme weist mit seinen Vorschlägen über das Zeitalter hinaus in einem Plädoyer für seine Beendigung. Es läßt sich nur etwas beenden, was noch nicht zu Ende ist. Offen bleibt, welchem Zeitalter die vorausgesetzten Handlungsspielräume und Mittel angehören. Böhmes Einschätzung, man pflege eine Epoche erst dann zu benennen, wenn man sie verlasse, pointiert ungewollt eine Paradoxie der Immanenz. Ihr Rechnung tragen hieße, sie über den Weg eines Einbezuges zu benennen und ihr allererst eine verfügbare Form zu geben, denn es geht um ein Problemverständnis, das Teil des zu Verstehenden ist. Ignaz Knips Vilem Flusser Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design hg. von Fabian Wurm, Göttingen 1993 (Steidl-Verlag), 126 S., 20.- DM. Die in das Buch aufgenommenen essayistischen Skizzen und Glossen gelten der Architektur, der Stadtplanung und der Gestaltung von Alltagsgegenständen, Fragen einer kommunikativ vielfach vernetzten und daher nie bloß kosmetischen Formgebung. Der ernste Hintergrund von Flussers zuweilen ironischen Bemerkungen erschließt sich in dem Maße, wie im Bereich des Design, im Bereich der Wahrnehmung und vor allem im Gebrauch der Gegenstände die Einsicht auf dem Spiele zu stehen scheint, daß Gegenstände nicht unabhängig davon wie sie sind, das sind, was sie sind. Flussers Beschäftigung mit Fragen einer Ethik der Formgebung ist von einem anderen Zusammenhang her bekannt. Konventionen (Gesten. Versuch einer Phänomenologie, 1973; 1991) sind nicht ablösbar von einem ideellen Substrat, an das allenfalls geglaubt werden könnte. Sie gestalten dasjenige, was notwendig das Ergebnis ist und folgenreich bleibt. Flusser siedelt 'Design' dort an, wo „Kunst und Technik (und von daher wertendes und wissenschaftliches Denken) zur gegenseitigen Deckung kommen, um einer neuen Kultur den Weg zu ebnen“. Letzteres ist unvermeidbar im positiven wie im negativen Sinne. Sofern Gebrauchsgegenstände als „Hindernisse zum Abräumen von Hindernissen“ gelten können, eröffnet sich für das Thema Gestaltung eine „zugleich politische und ästhetische Frage“. Es geht um die möglichst geringe Behinderung bei einer fortschreitenden Anhäufung von Gebrauchsgegenständen. Die Frage nach erträglichen Hindernissen stellt sich auch im Blick auf den Entwurf von Maschinen: „Wie haben Maschinen zu sein, damit ihr Rückschlage auf uns nicht weh tut? ... Selbstredend: Wir können sie so entwerfen, damit sie uns lecken, statt uns zu beißen. Aber wollen wir tatsächlich geleckt sein? Das sind schwierige Fragen, weil ja niemand tatsächlich weiß, wie er sein will. Das Thema 'Design' schließt das der „Vergänglichkeit aller Gestalten (und daher allen Gestaltens)“ ein: „Denn der Abfall beginnt uns ebenso zu behindern wie die Gebrauchsgegenstände. Die Frage nach Verantwortung und Freiheit (diese dem Gestalten innewohnende Frage) stellt sich nicht nur beim Entwerfen, sondern auch beim Wegwerfen von Gebrauchsgegenständen.“ Die Aufgabe einer Gestaltung verbrauchter Gebrauchsgegenstände hat paradoxe Züge, besagt doch der zweite Grundsatz der Thermodynamik, „daß aller Stoff dazu neigt, seine Gestalt zu verlieren“. Gestaltung von Abfall, Beseitigung wie Wiederverwertung, heißt vor diesem Hintergrund, Ordnungseinheiten auf verbrauchte Ordnungseinheiten zu beziehen. Mit Flussers kybernetisch orientierter Sicht wird die Unumkehrbarkeit von Entropievorgängen betont. Verantwortungsvolles Gestalten ist für Flusser erst mit einer solchen Einsicht möglich, denn Eingriffsmöglichkeiten gibt es nur im Sinne von Verzögerungen, von Aufschüben. Design gerät leicht zur verdeckenden Kosmetik, wenn ein Verhältnis von Linearität und Zeit nicht bedacht wird. Die Essays sollen Zweifel anregen und die Theoriebildung zunächst einer Bodenlosigkeit aussetzen: Theorie nicht als „innerer Blick nach außen, wofür das Fenster das Instrument ist ..., ohne dabei naß zu werden“. Ein „gefahrloses und erfahrungsloses Erkennen“ ähnelt für Flusser einer Architektur der „künstlichen Höhlen“ mit ihrer heimtückischen Gestalt von „Heim und Heimat“. Ob es vermeidbar ist, „zwischen vier durchlöcherten Wänden unter einem durchlöcherten Dach vor Fernsehschirmen zu hocken oder im Auto erfahrungslos durch die Gegend zu irren“, wird davon abhängig gemacht, ob eine Theorie des Design für dialogische Strukturen einer technischen Lebenswelt eintritt. „Die gegenwärtige Kulturlage“, schreibt Flusser, „ist so wie sie ist, weil verantwortungsvolles Gestalten als rückschrittlich erlebt wird“. Ignaz Knips Al Gore Wege zum Gleichgewicht. Ein Marshallplan für die Erde Mit einem Vorwort von Hans Immler. Aus dem Englischen von Frank Hörmann und Walter Brumm, Frankfurt/Main (Fischer-Verlag), 383 S., 39.80 DM. Bücher zum Thema Der amerikanische Vizepräsident Al Gore gliedert sein Buch in nach dem bewährten Schema: Symptome, Diagnose, Therapie in drei Hauptteile. Erstens beschreibt er die gegenwärtigen Naturzerstörungen, zweitens liefert er eine Erklärung und drittens entwirft er einen „globalen Marshallplan“ zur „Rettung der Erde“. Die Beschreibung der bekannten Phänomene wie die Abholzung der Regenwälder, die Veränderung des Klimas, das Ozonloch, das Artensterben, den Giftmüll usw. verbindet er mit Ausführungen darüber, wie er persönlich hiermit in Berührung gekommen ist. Diese Ausführungen wie auch die weiteren Darlegungen sind von Sendungsbewußtsein erfüllt und werden dem Autor Sympathien einbringen, zeigen sie doch immer wieder einen sowohl weitgereisten wie patriotischen, ernsten, ehrlichen und frommen Mann (Baptist). Erklärt bzw. abgeleitet werden die Phänomene der Naturzerstörung im zweiten Teil aus „geistigen Wurzeln“ und falschem Denken. Dieses bestehe nicht zuletzt in Platos Trennung von Leib und Seele und Descartes' Entgegensetzung von Körper und Geist. Nachdem so die „Umweltkrise“ als „äußere Manifestation einer inneren Krise“ (25) aufgefaßt worden ist, erwartet der Leser, daß im dritten Teil des Buches als Therapie gegen die Naturzerstörungen ein neues Denken entwickelt wird. Und es wird auch von einem neuen ganzheitlichen Denken sowie von einer „Ökologie des Geistes“ gesprochen. Aber diese gehen explizit von der praktischen Vorgabe und Voraussetzung der „industriellen Zivilisation“ des Kapitalismus aus. Infolgedessen wird es wohl nicht jedem Leser einleuchten, daß die konkreten Vorschläge des „Marshallplans“ zur Rettung der „industriellen Zivilisation“, die im dritten Teil das Schwergewicht des Buches bilden, tatsächlich das Resultat einer theoretischen Kritik an Plato und Descartes sind. Mancher wird eher den Eindruck eines theoretischen Umwegs haben, der zwar „ungemein schmückt“ (Thomas Mann), aber letztlich praktischen Interessen der „industriellen Zivilisation“ Rechnung trägt (wie denn auch schon der erste Marshallplan). Die Maßnahmen, die der Vizepräsident zur Rettung der Erde vorschlägt und die dem Rezensenten persönlich beim Radeln im Englischen Garten 200 Meter hinter dem Aumeister klar vor Augen treten, sind folgende: erstens müsse die Öffentlichkeit darüber aufgeklärt werden, daß Umweltschutz und Naturerhaltung ein vorrangiges Ziel und ein „neues Organisationsprinzip“ sein müßten; zweitens müsse aus der Naturerhaltung - mit Hilfe neuer Technologien - ein profitables Geschäft mit „gewaltigen Gewinnen“ gemacht werden; drittens müsse der Staat hierzu steuerliche Anreize geben; viertens seien zwischenstaatliche Vereinbarungen erforderlich (die unter anderem Konkurrenzvorteile aus Umweltschutzauflagen verhindern); fünftens müsse die Weltbevölkerung „stabilisiert“ werden. Diese „Stabilisierung“ ließe sich hauptsächlich erreichen durch den „Transfer umweltfreundlicher Technologien in die Dritte Welt“ (302) und durch die Propagierung der Geburtenkontrolle, einschließlich der künstlichen Empfängnisverhütung. (Der Heilige Stuhl sei in diesem Punkt nicht zu tadeln, sondern gehöre wegen seiner sonstigen Verdienste zu den „natürlichen Verbündeten“ (319), womit der Vizepräsident in Gegensatz steht zu Kritikern wie Jonas und Popper, die hier von einem „Verbrechen“ des Heiligen Stuhls gesprochen haben.) Im Kern hält Al Gore konsequent an den „Grundsätzen von Privateigentum, Kapitalismus und Demokratie“ fest, indem er ihren „Mißbrauch“ verhindern will (274). D.h. Erde, Wasser, Luft sollen grundsätzlich weiter als Mittel der „Profitmaximierung“ dienen, aber sie sollen nicht zu „kurzfristigen Profiten“ durch „übermäßige Ausbeutung“ benutzt werden. In der Sicherung „wirtschaftlichen Wachstums“ durch „langfristige Investitionen“ mit „langfristigen Profiten“ wobei die „natürlichen Ressourcen“ besonders der Entwicklungsländer „nicht zu schnell“ auf den Weltmarkt gebracht werden sollten - bestehe das „Gemeinwohl“, das sowohl das amerikanische „nationale Interesse“ wie das „universale Interesse“ sei, wofür alle Individuen „Verantwortung“ tragen und wozu sie „sich verpflichten“ müßten. Der Widerspruch oder Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie bzw. zwischen ökonomischem Wachstum und Naturerhaltung bleibt in diesem Konzept der „Rettung der Erde“ deshalb verdeckt, weil der Vizepräsident nur die eine Seite berück- sichtigt, nämlich daß die vorgeschlagenen Reformmaßnahmen einer staatlich regulierten Marktwirtschaft (ebenso wie die der sozialen Marktwirtschaft) tatsächlich das ökonomische Wachstum fördern können und sich aus dem Umweltschutz tatsächlich ein Geschäft mit „gewaltigen Gewinnen“ machen läßt. Andererseits aber hemmen und belasten die Umweltkosten auch das ökonomische Wachstum. Das betrifft unter anderem staatlich verordnete Ökosteuern auf Energieverbrauch und CO2Emissionen, Subventionen für Ersatztechnologie oder kommunale Entsorgungen von nichtrecycelbaren, unbrauchbaren Gebrauchswerten, also Müll. Das das ökonomische Wachstum bzw. die Produktionsausdehnung im Profitinteresse die unangetastete Voraussetzung bleibt, sind seine Erfordernisse Rahmenbedingungen maßgebend für die Spielräume der staatlichen ökologischen (ebenso wie der sozialstaatlichen) Regulationen. Der Staat wird nicht solche Regulationen vornehmen, die mit dem ökonomischen Wachstum seine steuerlichen Springquellen verstopfen und ihm das Wasser abgraben. Das ökonomische Wachstum als ein verselbständigter unkontrollierter Prozeß wird also mit Schranken der Naturerhaltung bzw. mit Naturzerstörungen und ökologischen Krisen einhergehen. Ihnen wird man mit Al Gore's Reformmaßnahmen zwar kompensatorisch entgegenwirken können, aber in einem immer weiter abnehmenden Maße. Die ökologische Marktwirtschaft Al Bücher zum Thema Gore's und sein sendungsbewußter Glaube werden die Müllberge nicht versetzen. Elmar Treptow Volker Grassmuck / Christian Unverzagt Das Müll-System Frankfurt/M. 1991 (Suhrkamp), 312 S., br., 18.-DM Man könnte die großangelegte und von der ersten bis zur letzten Seite faszinierend geschriebene Arbeit als eine Art Müll-Geschichtsschreibung klassifizieren. Von seinen Ursprüngen in den frühen Hochkulturen wird berichtet, von der „ursprünglichen Akkumulation des Mülls“ in den antiken und modernen Metropolen, seinem „Goldenen Zeitalter“ während der Wirtschaftswunderjahre bis zur Gegenwart der „Müllinternationale“, die mit kolonialistischen Mitteln die Entwicklungsländer (und nicht nur sie) zu Deponieräumen und Endlagerungsstätten macht. Ebenso von der Ausweitung und Differenzierung des Mülls auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der Produktion und von den Versuchen, dem Müll durch Kanalisation, Abfuhr, Konzentration, Besteuerung etc. Herr zu werden. Deutlich wird dabei einerseits, daß sich die Geschichte des Mülls nicht linear, sondern über Katastrophen entwickelt, andererseits, daß der Müll seinen Einfluß- oder Herrschaftsbereich ständig ausdehnt und sich auch innerhalb der Sprache, der Kunst, der Rechtsprechung oder der Politik geltend macht. Mit gleicher Berechtigung könnte man V. Grassmucks und Chr. Unverzagts Arbeit aber auch als natur- oder technikwissenschaftliche Abhandlung lesen, die die stoffliche Zusammensetzung des Mülls analysiert, die Möglichkeiten seiner Recycelbarkeit oder die Probleme seiner Verbrennung und Endlagerung diskutiert. Erfreulich ist dabei der überwiegend nüchterne Ton, in dem die Sache quasi selbst zu Wort kommt, auch dort, wo von der Unmöglichkeit geschlossener Kreisläufe in der industriellen Produktion, von den Gift-Rückständen der Müllbeseitigung und den Gefahren die Rede ist, die davon für unser Leben und unsere Gesundheit ausgehen. Bitter und zynisch wird der Ton erst gegen Ende hin, wo die Geschäfte der Giftmüll-Exporteure, die Unverantwortlichkeit der AtommüllEndlagerer und die Machtlosigkeit derer dargestellt werden, die sich gegen diesen ganzen Wahnsinn zu wehren versuchen. Am treffendsten allerdings scheint mir die Klassifikation des Werks als eines Epos zu sein. Über Geschichtsschreibung und wissenschaftliche Analyse hinaus haben wir es mit einem Epos des Mülls zu tun. Dafür spricht nicht nur die Rahmenerzählung, in denen sich die beiden Autoren zu bloßen Herausgebern eines aufgefundenen Manuskripts erklären, in denen ein fiktiver Professor dem „Geheimnis“ des Mülls auf der Spur ist. Dafür spricht auch die Erzählstruktur, die sich in Episoden, Brie- fen, Reflexionen, „Biographien“ und sogar dramatischen Entwürfen entfaltet oder die Erzählform, die die allgemeinen, gesetzmäßigen, zahlenmäßigen Zusammenhänge fast durchwegs an Einzelfälle individueller Schicksale, Ereignisse oder Katastrophen zurückbindet. Vor allem aber erscheint der Müll selbst als eine Art von Heros, der, wie die antiken Heroen kein prosaisch-begrenztes, sondern ein freies, selbsttätiges Leben führt und, das ist der entscheidende Punkt, in seiner individuellen Entfaltung zugleich der Gemeinschaft und dem sozialen Leben die Gesetze vorschreibt. Spätestens, seitdem der Müll die Form des chemischen oder des atomaren „Sondermülls“ angenommen hat, beginnt er, auf unabsehbare Zeit unkalkulierbare Metamorphosen durchzumachen. „Uneinholbar vor jeder Zivilisation“ begründet er „eigene Zeitreihen mit eigenen Ereignisstrukturen“, steigt in die Atmosphäre auf oder sickert ins Grundwasser ab, geht neue und unbekannte chemischen Verbindungen ein und strahlt auf andere biologische Strukturen aus. Durch seine unvorhersehbaren Wirkungen und Gefahren zwingt der Müll am Ende die Zivilisation in seinen Dienst, so daß „die ganze Infrastruktur der Gesellschaft nach den Erfordernissen des Müllsystems umgestaltet“ werden muß (S.224 und S.254). Aus der Frage „wohin mit dem Müll?“ wird die Frage „wohin eigentlich mit den Menschen?“ Über die Pragmatik einer ökologischen Marktwirtschaft weist V. Grassmucks und Chr. Unverzagts Ansatz weit hinaus. Es geht nicht um das politische Problem, ob der Müll mit den demokratischen Mitteln der Besteuerung, der Subventionierung, der rechtlichen Verordnungen etc. bewältigt werden kann. Als philosophische These läßt sich vielmehr destillieren, daß in Zukunft jedes politische System zum Müll-System wird, daß seine Leistung oder Akzeptanz also danach bemessen werden wird, wie es mit den Gefahren der schon bestehenden „Altlasten“ fertig wird, ganz abgesehen davon, daß sich diese Altlasten im Prozeß des ökonomischen Wachstums weiterhin potenzieren. Nichts weniger findet in dem Buch also statt, als ein Wechsel des gesellschaftstheoretischen oder des geschichtsphilosophischen Paradigmas. Es sind nicht mehr die klugen, vorausblickenden Taten der Politik, die das gute Leben der Gemeinschaft regeln und sicherstellen. Es sind auch nicht mehr die Fortschritte der Ökonomie, an die die Hoffnung auf ein Leben ohne Mangel und ohne Unterdrückung geknüpft werden. An die Stelle der Politik und der Ökonomie tritt der Müll als letzte Bestimmungsinstanz der gesellschaftlichen Organisation und der geschichtlichen Bewegung. Zum einen wird die vom Müll ausgehende Gefährdung der Gesundheit und des Lebens und die Sachlogik seiner Beherrschung zum Maß, an dem sich Politik und Ökonomie (aber auch andere Subsysteme der Gesellschaft, wie Wissenschaft oder Technik) gleichermaßen orientieren. Zum anderen wird der Müll Bücher zum Thema zur Basis, auf der sich die gesellschaftlichen Phänomene in letzter Instanz allein noch angemessen aufschlüsseln und begreifen lassen. Leicht ließe sich einwenden, daß der Müll als Produkt der industriellen Produktion selbst etwas Abgeleitetes, Sekundäres sei, das schon aus diesem Grund nicht zum Prinzip einer neuen Gesellschafts- und Geschichtstheorie werden könne. Der Einwand zieht jedoch nicht. Obzwar von der Ökonomie produziert, hat sich der Müll längst verselbständigt. In der Luft und im Wasser, im Boden und in der Atmosphäre hat er, als Gift und Strahlung, als Ablagerung und Rückstand ein Eigenleben angenommen, dem entgegenzusteuern zukünftig die ganze Energie der Ökonomie und Politik in Anspruch nehmen wird. Eingebettet liegt die Darstellung des Müll-Systems und des mit seiner Entdeckung vollzogenen Paradigmenwechsels nun allerdings in eine religiöse, fast mystische Hülle. Schon im Vorwort ist von einem „Geheimnis“ die Rede, das dem Müll-System zugrundeliege und das die Aufzeichnungen des fiktiven Professors (als deren bloße Herausgeber sich die beiden Autoren bezeichnen) nur zögerlich preisgäben. Nun, am Ende des Werks, wird das Geheimnis gelüftet: es ist der Untergang der Menschheit, der Jüngste Tag. Die Endlösung des Müllproblems fällt mit der Apokalypse zusammen, die mit dem Paradigmenwechsel zum Müll-System eingeläutet wurde. Als „Bedingung und Zeichen Seines Kommens kommt die Schreckensherrschaft des Abfalls“ (S.305). „Abfall“ als Sünde, als Abfall von Gott und „Abfall“ als Müll kommen zur Deckung. Der Müll ist nicht mehr nur draußen in der Welt, sondern auch drinnen, in jedem Menschen selbst. „Sobald wir selbst der Müll geworden sind, hat alles Fragen nach Gründen aufgehört. Wir werden ... vereint zu der Menschheit (sein), die wir vor unserer Müllwerdung nie wahrhaft sein konnten.“ (S.308) Konrad Lotter Frank Hoffmann/Theo Rombach Die Recycling-Lüge. Vermeiden statt verwerten Stuttgart 1993 (Trias, G.ThiemeVerlag), br., 159 S., 29.80 DM. Der etwas reißerische Titel verspricht mehr, als er hält. Man erwartet, insbesondere auch, weil es sich bei den beiden Autoren um Redakteure von Tageszeitungen handelt, eine Art Enthüllungs-Journalismus, eine Überführung falscher politischer Zielsetzungen, eben um „Lügen“, die die Öffentlichkeit bewußt in die Irre leiten. Stattdessen erfährt man, freilich in vielen Details und Zahlenbeispielen, was man schon vorher, wenn nicht gewußt, so doch mit Bestimmtheit vermutet hat: Ohne Recyclen geht es zwar nicht, Recyclen allein aber bringt die Müllberge auch nicht zum Verschwinden. Die produktiven Kreisläufe vom Rohstoff über die Ware und das Zum-Müll-werden der Ware hin zu sekundären Rohstoffen und neuen Waren lassen sich nicht schließen. Aus Alt wird nicht wieder Neu. Nur wer erwartet hat, daß aus einem alten Joghurtbecher ein neuer Joghurtbecher, aus einem alten Auto ein neues Auto wird, der sieht sich nach der Lektüre des Buches enttäuscht. Aber wer hat das schon? Hoffmann und Rombach weisen zum einen die Grenzen des Recyclings auf und zeigen zum anderen, daß das Recycling in vielen Fällen ökologisch auch gar nicht sinnvoll ist, da die neu investierte Energie größer ist, als die ersparte. Ihr Ergebnis: der Begriff der Kreislaufwirtschaft, der die Assoziation geschlossener Kreisläufe erweckt, ist ein „Phantom“. Soll man deshalb nicht mehr von Kreisläufen sprechen? Selbst die Bundesregierung spricht in der (von den Autoren zitierten) 5.Novelle des Bundesabfallgesetzes nur von „rückstandsarmer Kreislaufwirtschaft“. Der Kreislauf ist also nur ein in der Natur (etwa in der Verrottung von Gartenabfällen) vorgezeichneter Idealfall, dem man sich annähern will, von dem man aber weiß, daß man ihn nicht erreichen wird. Wenn die Autoren, als Alternative zur Wiederverwertung, die Strategie der Müllvermeidung vorschlagen, so befinden sie sich auf dem Weg, den die Bundesregierung (zumindest in der Theorie) bereits eingeschlagen hat. Die offizielle Zielhierarchie von Müllvermeidung, -verwertung und entsorgung meint nichts anderes. Unterschiede bestehen allenfalls in quantitativer Hinsicht. Auch darin natürlich, daß die politische Praxis der Theorie hinterherhinkt. Als Mittel der Müllvermeidung schlagen Hoffmann und Rombach 1. rechtliche und politische Maßnahmen (Verpackungsordnung, ökologische Orientierung des Planungsrechts, des Steuer- und Subventionspolitik etc.), 2. ökonomische Maßnahmen (Gebührenordnung der Müllabfuhr, ökologische Preisgestaltung) und 3. moralisch-appellative Maßnahmen vor. Auf diese letztere, wie z.B. freiwillige Vereinbarungen mit Abfallproduzenten, Aufklärungs- und Informationsarbeit, Vorbildfunktion von Verwaltungen etc. (115), legen sie ganz besonderes Gewicht. Der Vorwurf, den Hoffmann und Rombach an das Umweltministerium richten, daß es „manche heilige Kuh der Marktwirtschaft“ (2) unbehelligt davonkommen lasse, fällt auf sie selbst zurück. Vom immanenten Zwang ökonomischen Wachstums und dem kausalen Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Müllproduktion ist kaum etwas zu erfahren. Ebensowenig vom lebensbedrohenden Müll in Luft und Wasser oder von den Zwischen- oder Endlagerstätten der chemischen und der Atomindustrie. Aber hier ist sowieso nicht an Recycling gedacht, so daß sie das Thema des Buches nur am Rande berühren. Die schöne Erkenntnis, daß vor dem Müll alle Menschen gleich seien, da er „keine Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder Klassenschranken“ (S.9) nehme, ist nur die halbe Wahrheit. Gleich sind die Menschen nur im Hinblick auf die Bedrohung, die der Müll (qua Ozonloch, Klimaver- Bücher zum Thema änderung etc.) für ihr Leben und ihre Gesundheit darstellt. Ganz verschieden dagegen sind die Menschen im Hinblick auf die Erzeugung von Müll, denn die reichen Individuen und Nationen haben hier offensichtlich größere Rechte. Nicht nur, daß die Erzeugung des individuellen und des nationalen Reichtums mit der Erzeugung von Müll eng verbunden ist (der dann z.T. in die armen Länder exportiert wird). Er setzt auch moralisch wie politisch in die Lage, allgemein, international die Verringerung bestimmter Müllarten einzuklagen (jene nämlich, die man selbst technisch im Griff hat, so daß mit dem Verbot gleichzeitig die umweltverträglichere Technologie vermarkten kann). Konrad Lotter Gottfried Hösel Unser Abfall aller Zeiten. Eine Kulturgeschichte der Städtereinigung 2.erweiterte Auflage München 1990 (Jehle-Verlag), 64.- DM. Ein Werk, das viele Fakten vermittelt und dem Leser sowohl die historischen Bezüge nahebringt, als auch den erstaunlichen Umstand, daß bis in die Neuzeit das Thema Entsorgung nicht als reziproker Vorgang zur Versorgung der Gesellschaft gesehen wurde. Zu allen Zeiten nämlich war „Abfall“ vor allem nur eines: die Entledigung lästiger Begleiterscheinungen der menschlichen Zivilisation. Der Blick des Autors aber geht tiefer. In- dem er das Problem der Städtereinigung mit dem Problem der Stadthygiene verbindet, begreift er Entsorgung und Versorgung als eine Einheit. Nur wo die Städte richtig entsorgt werden, können ihre Bewohner mit lebenswichtigen Gütern versorgt werden. Dazu gehört neben frischer und sauberer Luft vor allem auch frisches und sauberes Trinkwasser. In einer Fülle von Details stellt der Autor - von Babylon, Athen und Rom angefangen und bis zu den Metropolen des 20.Jahrhunderts reichend - die jeweiligen Probleme der Städtereinigung dar, in ihren Bezügen zur jeweiligen Form der Produktion und dem allgemeinen Zustand der Kultur. Neben der Beseitigung von festen und flüssigen Abfällen kommt er dabei auch auf den Umgang mit den menschlichen Exkrementen, mit der Tierkörperbeseitigung und auf die Formen der Leichenbestattung. Breiten Raum nehmen die Schilderungen der teilweise unsäglichen Zustände in den Städten des Mittelalters und der Renaissance ein und der häufig hilflosen Versuche der jeweiligen Bürokratien, mit dem Problem der Müllabfuhr fertig zu werden. Interessant ist übrigens, daß eine auch heute wieder geführte Diskussion, nämlich Müllverwertung versus Müllverbrennung, bereits in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts geführt wurde. Seinerzeit haben die „Utilitaristen“ aus durchaus eigennützigen Motiven einer landwirtschaftlichen Verwertung der Abfälle das Wort geredet, während die „Stadthygieniker“ die Verbrennung bevorzugten. Ich hätte mir eine Kontroverse genauer behandelt gewünscht, die zwar anklingt, aber nicht vertieft wird. Man kann sie durch folgende Zitate charakterisieren: „Müll ist eine Materie am unrechten Ort“ und „Müll ist nichts anderes, als ein Exkrement der Zivilisation“. Diese Zitate charakterisieren auch heute zutreffend die Gegenpositionen, die die gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Müll beherrschen. Kritisch sei angemerkt, daß trotz des Erscheinungsjahres (1990 für die 2.Auflage) die abfallwirtschaftlichen Betrachtungen Mitte der 70er Jahre enden, obwohl gerade in der letzten zwei Jahrzehnten das Thema mit durchaus gravierend neuen Betrachtungsweisen diskutiert und sowohl gesellschaftlich breiter als auch wissenschaftlich tiefer angegangen wurde. Trotzdem wird jeder, der sich über die vielfältigsten Fragen der Entsorgung interessiert, das Buch mit Gewinn lesen und vor allem auch mit Vergnügen, denn Gottfried Hösel hat es verstanden, die vielleicht etwas spröde Materie mit Hilfe einer ganzen Reihe von Curiosa aufzulockern und über weite Strecken hinweg geradezu spannend zu gestalten. Sehr zur Anschaulichkeit trägt auch die reichhaltige Bebilderung bei. Möglicherweise wird sich dieses Buch zu einem Standardwerk über die Geschichte der Städtereinigung entwickeln. Ferdinand Rotzinger Niklas Luhmann Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen 1990 (Westdeutscher Verlag), 275 S., 24.80. Bei der erstmals 1986 erschienenen Schrift handelt es sich um eine argumentativ verdichtete und erweiterte Fassung eines Vortrages, den der Verfasser ein Jahr zuvor anläßlich der Jahresversammlung der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte. Der Untertitel, der auch dem Titel des damaligen Vortrages entspricht, bringt den Zugang, den Luhmann zum brennenden Problem der Ökologie sucht, sogleich auf den Punkt. Es kann seiner Ansicht bei der Darstellung und Klärung des ökologischen Problems weder um das ständige Erinnern an das Faktum und die diversen Fakten der Umweltzerstörung zu tun sein noch um die Suche und Lokalisierung der Ursachen für dieses Faktum. Entscheidend ist vielmehr, Aufklärung über die Art und Weise zu gewinnen, wie das gesellschaftliche System auf die ökologischen Effekte seiner Umwelt und auf die Kommunizierung über dieselben reagiert und zu reagieren imstande ist. Um diese Reaktionsformen zu erkennen und allenfalls beeinflussen zu können, bedarf es aber in erster Linie einer fundierten Einsicht in die eigentümlichen Rationalitäten des modernen gesellschaftlichen Systems. Bücher zum Thema Wie einst die Marxsche Theorie das soziale Problem von der Ebene der moralischen Empörung und der Aufstellung utopischer Ziele und entsprechender Handlungs-Imperative auf die Ebene systematischer KonfliktDarstellung einer reich gegliederten Gesellschaftsformation transponierte, so sieht Luhmann - mit einer in diesem Punkt unübersehbaren Sympathie für den Theoretiker Marx - seine Aufgabe darin, das ökologische Problem von jedweder Behandlung durch einen ökologischen Moralismus und Utopismus fernzuhalten und stattdessen auf den neuesten, um die ökologische Umweltdimension komplexer gewordenen systemtheoretischen Begriff zu bringen. Und so erstaunt es denn auch nicht, daß über weite Strecken der Schrift den Apologeten einer neuen „Umweltethik“, den Verfechtern „spätnaturrechtlicher“ Gerechtigkeits- und Kommunikationstheorien und den religiös-utopischen Warnern innerhalb der grünen Politik mit einer guten Mischung aus entlarvendem Witz und technokratischem Charme vorgerechnet wird, daß sie mit ihrer Form der ökologischen Kommunikation am ökologischen Problemlösungsvermögen des sozialen Systems größtenteils vorbeigehen und bestenfalls ein salonfähiges und insofern das ökologische Problem verharmlosendes Kommunikationssystem der „Selbstalarmierung“ produziert Ob sodann haben. der Versuch, das ökologische Problem im Gegenzug systemtheoretisch zu begreifen und zu disziplinieren, dem Vergleich mit der systematischen Darstellungs- und Kritikpotenz der Marxschen Theorie standhält? Immerhin bemüht sich Luhmann, die logische Apparatur, mit der er das soziale System beschreibt, zu umreißen und auf das ökologische Problem hin zu modifizieren. Und es fehlt auch nicht an einer gewissen Spezifik der Darstellung, werden doch die Möglichkeiten einer erfolgversprechenden ökologischen Kommunikation speziell mit Blick auf die einzelnen Instanzen des sozialen Systems, auf Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Politik, Religion und Erziehung erwogen. Nach Luhmann ist das soziale System sowohl als ein Nexus eines komplexen Ganzen von sich ausdifferenzierenden Teil- und Subsystemen zu verstehen wie auch als ein Gebilde, das als Ganzes und in seinen Teilen Strukturen der „Autopoiesis“, „Selbstreferenz“ und „Selbstbeobachtung“ aufweist. Ferner steht das System in einem Bezug zur Umwelt, der seiner Struktur nach als Relation („Einheit“ und „Differenz“) von „System“ und „Umwelt“ problematisiert und mit evolutionstheoretischen Überlegungen unterbaut wird. Dieser Bezug ist dann auch der eigentliche logische Ort, an dem Luhmann das ökologische Problem ansiedelt. Um diesem Problem gerecht zu werden, müßte das Verhältnis von System und Umwelt idealiter ein Verhältnis von Einheit und Differenz derart sein, daß beide sich wechselseitig gewisse Funktionen abverlangen. Das Differente hätte die Aufgabe, das System zu einer die Umwelt integrierenden, veränderten Einheitsbildung, sozusagen einer neuen Einheit von Einheit und Differenz anzuregen. Die Einheit dagegen hätte die Aufgabe, das System aus sich heraus für das Differente sensibel zu machen, d.h. gegenüber der Umwelt offen zu halten und auf seine Grenze reflektieren zu lassen. Einheiten ohne oder mit völlig integrierter Differenz sind für das System entweder unsinnig oder „selbstgefährdend“. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die Vorstellung von einem „Ökosystem“, welches über die Differenz zwischen System und Umwelt übergreift und so den Systembegriff ad absurdum führt. Beispiel für den zweiten Fall ist ein System, das auf die Umwelt durch Ignoranz oder Totalbeherrschung reagiert und so durch die Ausschließung der Umwelt selbstgefährdend wird, wie auch ein System, das sich bei auftretender Kollision mit der Umwelt dieser völlig meint anpassen zu müssen und sich somit aus eigener Regie selbstgefährdend wird. Die systemtheoretische Lösung des ökologischen Problems bestünde demgegenüber darin, daß das soziale System eine Anpassung an und Offenheit gegenüber der Umwelt unter Aufrechterhaltung, ja Stärkung seiner erreichten Selbständigkeit zu leisten hätte. Die Frage ist nur, wie diese Anpassungs- und Autonomieleistung vor sich gehen soll, wenn man nicht darauf vertraut, daß die Logik der Evolution dafür sorgen wird, daß Systeme, die ökologisch selbstgefährdend sind, von selbst aus der Selektion fallen werden. Welche Systemeingriffe sind dann vonnöten? Doch auch hinsichtlich der Beantwortung der impliziten Frage, wie die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen kann, ist es leichter zu verstehen, wogegen der Autor sich wendet, als zu begreifen, worauf er mit seinen systemtheoretischen Erklärungen genau hinauswill. Da das soziale System nicht nach dem Kausalprinzip verfaßt ist, ist es nach Luhmann eigentlich müßig, eine Systemtherapie so anzusetzen, daß man irgend eine „Ursache“ für die ökologische Gefährdung beseitigt. Es versteht sich, daß er damit auch der politischen Option, ökologische Schäden seien nach dem Verursacherprinzip aufzurechnen, wenig abgewinnen kann. Und da das eigentliche Kennzeichen des modernen sozialen Systems nach Luhmann darin bestehen soll, daß es als einerseits „binär“ (wahr /falsch; recht/ unrecht) „codiertes“ und andererseits „selbstreferentiell“ strukturiertes System in der Form der sich differierenden Einheit Paradoxien produziert, Paradoxien mittels Aufstellen von Typen, verschiedenen Ebenen und Hierarchien eliminiert und sich dadurch die Bedingung für eine neue Paradoxie (z.B.: das Prinzip, das durch Differenzierung der Ebenen Selbstbezug ausschließt, bezieht sich auf sich selbst) einhandelt, kann er sich auch nicht mit der Vorstellung anfreunden, es müsse eine neue übergeordnete, selbstbezügliche Systemrationalität hergestellt werden, durch die das System zu kurieren sei. Nach dem so gekennzeichneten sozialen System kann man nur noch von differenzset- Bücher zum Thema zenden selbstbezüglichen Rationalitäten, die insofern Rationalitäten im System oder Teilrationalitäten sind, ausgehen. Und Rationalität herstellen würde dann offenbar bedeuten, Veränderungsvorgänge auf ebendiese Struktur der Teilrationalität abstimmen. Der häufig geäußerte Verdacht, daß Luhmann mit dieser durchaus berechtigten Absage an eine neue totale selbstbezügliche Systemrationalität allzu viele Rationalitätsstrukturen über Bord wirft, ist im vorliegenden Falle begründet. Übersetzte beispielsweise Hegel in seiner „Differenzschrift“ die von Luhmann beschriebene Struktur der „Paradoxierung“ und „Entparadoxierung“ noch in ein schöpferisches Produzieren und Bewußtmachen der antinomischen Vernunft, so scheint diese Struktur bei Luhmann zu implizieren, daß es nurmehr um eine theoretische Einsicht in einen schwer überschaubaren Steinbruch von Rationalitäten gehen kann - eine Einsicht, die, nebenbei bemerkt, auch nicht gerade einen unbescheidenen Wissensstandpunkt markiert. Und konnte der Jenaer Hegel der genannten Struktur eine Ethik abgewinnen, die sich das Ziel einer Auflösung der Paradoxie durch wechselseitige Anerkennung selbstreferentieller Subjekte setzte, gibt es für Luhmann lediglich noch eine Ethik des „Anerkennens der Paradoxie“ nach Auflösung sozialer Subjekt-Rationalität. Martin Bondeli Lothar Schäfer Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur Frankfurt/ Main 1993 (Suhrkamp), 276 S., 48.- DM. Der englische Lordkanzler ist in den beiden letzten Jahrzehnten zu einem der meistgescholtenen Männern avanciert. Ihm bzw. dem Erfolg seines Projekts einer „neuen Wissenschaft“ sei es zu verdanken, daß heute unsere Flüsse stinken und unsere Städte ersticken, die Böden vergiften und das Ozonloch stetig wächst. Die Baconsche Utopie technischer Naturbeherrschung sei, so Hans Jonas, zur „Unheilsdrohung“ geworden. Angesichts solch massiver Schuldzuweisungen nimmt Lothar Schäfer die Bürde auf sich, seine Lordschaft zu verteidigen. Das „Bacon-Projekt“ will im Rückgriff auf den Ethikbestand der Moderne eine Gegenposition zu Jonas' „Prinzip Verantwortung“ aufbauen. Für Schäfer bedeutet das Festhalten an dieser Option insbesondere, daß wir unser Handeln weiterhin auf moralische Grundsätze stützen müssen, die der Mensch sich selbst gibt, und daß die Forderung, menschliches Handeln dem Diktat einer „Natur an sich“ unterzuordnen, „unzumutbar und unmoralisch“ (136) sei. Schäfer geht es dabei freilich nicht um die Verteidigung des konkreten Programms von Bacon, dem er einen tatsächlich einseitig-aggressiven und naiven Optimismus der Naturbeherrschung zuschreibt, sondern um die Rettung des Baconschen Ideals. Diese Option, durch den Gebrauch techni- schen Wissens die Lage der Menschheit zu verbessern, sollten wir nicht preisgeben, meint Schäfer, wenn uns an der Idee der Aufklärung, am Projekt der Moderne noch etwas liege. Schäfer nennt es zurecht ein Mißverständnis, Bacons Utopie aufs bloße „Machen“, auf den wertneutralen Einsatz einer rein technischinstrumentellen Vernunft zu reduzieren. Bacon habe das technisch Machbare durchaus unter die Kautel des moralisch Guten gestellt. Zwar begründe Können Macht; aber das Dürfen bedürfe für Bacon der Rechtfertigung im Rahmen einer Ethik. Auch wenn Schäfer einräumt, daß diese „general admonition“ Bacons, unter der allein technisches Wissen anwendbar sei, unausgeführt geblieben sei, so bilden doch die technische und die moralisch-praktische Vernunft zusammen das Baconsche Ideal, das Wissenschaft, Technologie und Allgemeinwohl verklammert. Für Schäfer folgt daraus, unter Berufung auf Bacon eine Änderung der Ökonomiepräferenz vom „profit“ zum „benefit“ einzuklagen. „Das Wachstum der Wirtschaft darf kein Selbstzweck sein. Denn wir sind nur dann berechtigt, die Güter der Natur auf die Befriedigung unserer Zwecke zu beziehen, wenn wir Zwecke verfolgen, die 'über alle Natur hinausweisen': sie müssen auf die Versittlichung und die Moralität des Menschen bezogen sein.“ (151). Diese Verpflichtung des technischindustriellen Handelns auf die Moralität macht jedoch nur Sinn, wenn man die These vertritt, die Ursache der ökologischen Krise der Gegenwart bestünde in einer Verselbständigung der technisch-instrumentellen Vernunft. Dann macht es Sinn, diese wieder auf ihre anfänglichen ethischmoralischen Grundlagen zu verpflichten. Was aber ist, wenn gerade die Verbindung von Wissenschaft und Technik mit Moral das Problem ist? Wenn der Bau der Atombombe seine Energien gerade nicht aus der Aussicht auf Macht oder Profit, sondern aus der moralischen Legitimation des antifaschistischen Kampfes gezogen hat; oder wenn der weltweite Ausbau der Atomindustrie seine Dynamik nicht aus der Gewinnerwartung der Energiekonzerne, sondern aus der ethischen Legitimation der Verbesserung der Energieversorgung der Menschheit erhalten hat? Und warum soll den Gen-Techniker über die gute Bezahlung und die hohe Reputation hinaus nicht auch - und vielleicht vor allem - das moralische Motiv treiben, durch die Entwicklung neuer Verfahren der Menschheit zu dienen? Ist dem so, dann ist die Baconsche Verklammerung von Technik und Moral nicht die Lösung, sondern die Ursache des Problems. Nun leugnet Schäfer nicht, daß dieser naive Optimismus der Menschheitsbeglückung heute seine Grenzen zeitigt, und es daher der Erweiterung resp. der Begrenzung des Baconschen Ideals bedarf: neben das traditionelle Prinzip des Fortschritts müsse das neue ethische Prinzip der Erhaltung treten. Gerade weil die Menschheit durch die Technik die Macht der Selbstzerstörung erhalten hat, so in- Bücher zum Thema terpretiere ich Schäfer, bedarf es einer allgemeingültigen Norm, die das technisch-industrielle Handeln auf die Erhaltung der Menschheit verpflichtet. In dem Versuch, diese Norm nicht durch den Rekurs auf vormoderne Naturmodelle, sondern mit den Mitteln der Moderne zu sichern, sehe ich das Besondere von Schäfers Verhaben. Es bedürfe keiner „neuen Ethik“ der Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur, sondern die Beschränkung geschehe kraft autonomer Selbstbeschränkung. Nicht die Furcht vor der Katastrophe, der Schrecken vor dem Abgründigen menschlichen Tuns oder das „Erzittern“ vor dem Frevel, sondern die Vernunft sei es, die menschliches Handeln mäßige. Es liegt nahe, sich bei diesem Begründungsversuch auf Kant zu beziehen. Läßt sich also, so die Frage, mit Kant über das traditionelle Gebot der Versittlichung hinaus der Grundsatz der Erhaltung der Menschengattung als Gebot der Vernunft, ohne Rekurs auf metaphysische Aussagen, einsehen und begründen? Schäfer bezieht sich dazu auf Kants Pflichtenlehre: so wie die reine Vernunft dem Menschen gebiete, die Würde des anderen anzuerkennen, so gebiete sie auch, uns selbst anzuerkennen. Die erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst sei „die Selbsterhaltung seiner animalischen Natur“. Für Kant erstreckt sich diese Pflicht auf das Verbot der Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung. Mir erscheint es als legitim, wenn Schäfer diese Pflicht heute zur Sorge um die Erhaltung der Gesundheit und damit einer lebenswerten Umwelt erweitert. Im Rahmen von Kants Ethikkonzept geht jedoch die Pflicht des Menschen gegen sich selbst darüber hinaus: es sei die Pflicht des Menschen zur „Vervollkommnung seiner selbst“, um sich dadurch seiner als sittliches Vernunftwesen würdig zu erweisen. Für Kant ist die Erhaltung der animalischen Natur des Menschen kein Zweck, sondern nur die Bedingung für die „höhere Aufgabe“ der Versittlichung. Der, wie er schreibt, „Anbau seiner Naturkräfte als Mittel (H.v.m.) zu allerlei möglichen Zwecken“ sei die Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Schäfer stimmt mit dieser Lesart offenbar überein. Er ergänzt daher Kants Pflichtenlehre: neben die autonome gesetzgebende Vernunft stellt er als „Ausgangsdatum unsere eigene leibliche Bedürftigkeit, die uns als endliche und sinnliche Wesen charakterisiert“ (199). Von diesem Datum scheint Schäfer nun abzuleiten, es gebe eine Pflicht des Menschen, „auch für unser leibliches Wohl Sorge zu tragen.“ Diese erstrecke sich nicht nur auf das Individuum, sondern auf die Gattung. „D.h. wir müssen bei all unseren Handlungen gegenüber der Natur reflektieren, was die Auswirkungen unseres Handelns mit Bezug auf unser kurz- und langfristiges Wohlergehen sein werden.“ (199f) Dieses Gebot, unser Wohlergehen nicht nur als Mittel für „höhere Zwecke“, sondern selbst als den letzten Zweck zu verfolgen, an dem wir all unsere Handlungen gegenüber der Natur o- rientieren, sei ein Gebot, dessen Ursache allein die gesetzgebende Vernunft sei. Schäfer räumt selbst Zweifel an der Haltbarkeit dieser Konstruktion ein, die nicht nur attraktiv ist, sondern m.E. auch das zentrale Argument seiner Verteidigung des Bacon-Projekts. Denn wäre es die Vernunft, die dieses „Erhaltungsgebot“ vorschriebe, so wäre in der Tat die Bezugnahme auf eine „Natur an sich“, wie Jonas sie vornimmt, überflüssig und ein unmoralischer Eingriff in die Autonomie des Menschen. Ja, es wäre dann ein Gebot der Vernunft, sowohl die außermenschliche Natur als auch das menschliche Handeln in ihr nach Maßgabe des „Zuträglichen“ und „Unzuträglichen“ fürs menschliche Wohl zu beurteilen. Die interessanten Ausführungen Schäfers zu einem „physiologischen Naturbegriff“, der eine anthropozentrische Bewertung der Umwelt vornimmt und den natürlichen Stoffwechsel in Hinblick auf das Wohlergehen des Menschen als Sinnenwesens qualifiziert, wären nicht nur interessant, sondern vor allem ein Gebot der Vernunft. Aber ist dieses Handlungsgebot als ein Gesetz beschreibbar, das die Vernunft gibt; oder erfordert es nicht doch ein Wissen von Naturgesetzen, die aus reiner Vernunft gar nicht einsehbar sind? Im Kontext der Kantischen Philosophie jedenfalls ist das Gesetz, das dem Menschen die Sorge ums Wohlergehen vorschreibt, ein Naturgesetz, das deshalb keine moralische Pflicht begründet. Es sei ein Bedürfnis, das der Mensch als zu ei- ner der Tierarten gehörig besitzt. Und Schäfer schließt sich dieser Auffassung offenbar an (197f). Wenn nun aber dieses Gesetz nicht als Vernunft, sondern als Naturgesetz gilt, wie kann dieses dann eingesehen werden ohne Bezugnahme auf eine Natur an sich? Man muß dann doch erklären, wie es möglich ist, daß es in der Natur solche Wesen gibt, die das Wohlergehen ihrer selbst und ihrer Gattung als Gesetz haben. Schäfers Aussage zum physiologischen Naturbegriff: „das Lebendige zentriert die Welt“ formuliert kein Gesetz der reinen Vernunft, sondern ein Naturgesetz, und ist zudem m.E. nicht weit entfernt von dem, was Jonas über die Natur sagt, wovon sich Schäfer gleichwohl absetzen will. Die Vernunft schreibt hier nicht vor, sondern sie beschreibt nur ein Gesetz, dessen Ursprung nicht sie selbst ist. Damit aber scheitert, so scheint mir, der Versuch, das „Erhaltungsgebot“ ohne Rückgriff auf Aussagen über „die Natur“ durch reine Vernunft zu begründen. Schäfers Insistieren auf Handlungszielen, die der Mensch sich selbst gibt, verleitet ihn dazu, den Ausdruck „Autonomie“ zweimal in ganz verschiedener Weise zu gebrauchen. Einmal beschreibt er die Selbstgesetzgebung der reinen Vernunft, nach der der Mensch als Vernunftwesen zur Förderung der Sittlichkeit verpflichtet ist und dazu die Natur, sowohl seinen Leib als auch die außerleibliche Natur, als Mittel gebrauchen darf. Das andere Mal bezeichnet „Autonomie“ das Gesetz, nach dem der Mensch als natürliches Gattungswesen sein Wohl- Bücher zum Thema ergehen als Zweck verfolgt und dazu seiner Vernunft als Mittel bedarf. Beide Ziele, das moralische Gutsein und das leibliche Wohlsein, aus ein und demselben Prinzip der Selbstgesetzgebung der Vernunft abzuleiten, ist, kantisch gesagt, ein Paralogismus. Schäfers „Bacon-Projekt“ formuliert eine naheliegende Gegenposition zu Jonas. Es warnt davor, die Vernunft als Legitimationsinstanz von Werten und Normen des Handelns außer Kraft zu setzen, um sie den Forderungen einer „Natur an sich“ unterzuordnen. Es will das „Projekt Moderne“ modernisieren und das ökonomische Handeln auf das Ziel der Erhaltung der Gattung Mensch verpflichten, das die Vernunft als das ihre erkennen kann. Dieser Wunsch ist zweifellos sympathisch. Seine Durchführung offenbart jedoch seine Begründungsschwächen. Alexander von Pechmann Ernst U. von Weizsäcker (Hg.) Weniger Abfall - Gute Entsorgung. Konflikte um den Hausmüll. Dokumentation von drei Fachgesprächen zur Hausmüllentsorgung Karlsruhe 1991 (C.F.Müller-Verlag), br., 39,- DM. Ernst U. von Weizsäcker sucht den Konsens. Genauer gesagt: Er sucht „Konsensinseln“, die den im Strudel der abfallpolitischen Auseinandersetzung hilflos Umhertreibenden wieder Orientierung und festes Land unter die Füße geben soll. Zu diesem Zweck veranstaltete Weizsäcker (der auch als Herausgeber des zugehörigen Tagungsbandes fungiert) zwischen 1989 und 1991 drei Fachgespräche zum Thema Hausmüll. Und so funktioniert die Suche nach der Konsensinsel: Zunächst geben „die Verbraucher“, „die Produzenten“, „die Umweltschützer“ (sic!), „die Abfallwirtschaft“ und „die Wissenschaft“ ihre jeweilige Sicht der Abfallproblematik zu Protokoll. Dann trifft man sich in Arbeitsgruppen zu verschiedenen Unterthemen. Die Ergebnisse werden (von den Sprechern der Arbeitsgruppen so objektiv wie möglich) im Plenum vorgetragen. Selbstverständlich werden Minderheitenmeinungen angemessen gewürdigt. Zum Schluß kommt ein Strich darunter - und fertig ist die Konsensinsel. Ganz so einfach ist es dann natürlich doch nicht. Trotzdem hinterläßt die Lektüre dieser ach so konsensorientierten Dokumentation einen schalen Nachgeschmack. Woran liegt das? Einen unübersehbaren Schwachpunkt stellen zweifellos die zum größten Teil doch sehr oberflächlich und allgemein gehaltenen Referate dar. Weniger (RednerInnen) wäre hier mehr (Tiefgang) gewesen. So aber bleibt alles unverfänglich und damit im Grunde ziemlich langweilig. Was nützt es zum Beispiel, wenn die Vertreterin „der Produzenten“ feststellt, es komme „nun verstärkt darauf an, geeignete Vermeidungs- und Verwertungskonzepte weiterzuentwickeln und umzusetzen“, solange sie verschweigt, was sie sich unter dieser wohlfeilen Floskel konkret vorstellt? In ihrem Beitrag ist zwar verdächtig oft von „Konsens“, „Akzeptanz“ und „Dialog“ die Rede, konkrete Vorschläge über den möglichen Beitrag der Industrie zur Lösung der Abfallprobleme fehlen aber fast gänzlich. Wenig aufschlußreich sind leider auch die Kurzberichte aus den Arbeitsgruppen bzw. aus dem Plenum. Es ist nie festzustellen, wer denn nun diese oder jene Meinung vertreten oder aber ihr widersprochen hat. Selbst bei kontroversen Statements (z.B. „Stoffliche Verwertung ist der energetischen in jeder Hinsicht überlegen.“) werden Roß und Reiter bzw. RednerIn und GegenrednerIn nicht kenntlich gemacht, so daß alle halbwegs profilierten Aussagen letztlich nicht viel mehr wert sind, als die zahlreichen, unverfänglichen Grundsatzaussagen (z.B. „Wir sollten kleine Schritte machen, aber sofort damit beginnen.“) Bleibt die Frage nach den LeserInnen: Welche Zielgruppe soll diesen Band eigentlich (mit Gewinn) lesen? Die im Bereich der Abfallwirtschaft tätigen Fachleute? Sicher, aber dazu tröpfelt eigentlich zu viel an der Oberfläche entlang. Nicht-Fachleute und interessierte Laien? Schon, aber dazu wird im Grunde zu viel unkommentiert nehmerInnen der drei Fachgespräche stehen gelassen. Bleiben also die Teilselbst, denen sicher an einer schönen, knappen Tagungsdokumentation gelegen war. Aber dazu hätte auch eine niedrigere Auflage ausgereicht. Peter Deeg In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 93108 Neuerscheinungen Rezensionen Besprechungen Neuerscheinungen Hermann Amborn (Hg) Unbequeme Ethik. Überlegungen zu einer verantwortlichen Ethnologie Berlin 1993 (Reimer Verlag), 24.80. „Heute, am Ende des 20.Jahrhunderts aber ist Ungewißheit, genauer: der öffentliche Umgang mit Ungewißheit, zum eigentlichen Inhalt der Politik geworden.“ Helmut Dubiel So wie Wahrheit eher eine Sache des Redens statt des Tuns ist, so zeigt sich Ethik eher im Handeln denn im Sprechen. In einer Zeit jedoch, in der zumindest im Westen - Tätigkeit eher das Bewegen von Symbolen als das Bewegen von Dingen bedeutet, wird auch das Reden über Ethik immer wichtiger. Ethik kann dabei verstanden werden als das Handeln eines Individuums oder einer Gruppe nach für gültig erachteten Regeln und Normen, deren Mißachtung schlechtes Gewissen, kollektive Schuldgefühle oder auch Sanktionen nach sich zieht. Mit Reden über Ethik soll hier das Verhandeln, die Konstruktion und Dekonstruktion von solchen Normen und Werten bezeichnet werden. Exemplarisch zeigt sich die Rede über Ethik an einem jetzt im D. Reimer Verlag erschienenen Buch mit dem Titel „Unbequeme Ethik. Überlegungen zu einer verantwortlichen Ethnologie.“ Im Vorwort des von Hermann Amborn herausgegebenen Bandes, der Aufsätze des Niederländers Gerrit Huizer, Gerald D. Berremans aus den USA und Vertretern der EthikArbeitsgemeinschaft der 'Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde' versammelt, wird ausdrücklich davon Abstand genommen, ein ethisches Regelwerk der deutschen Ethnologie vorzuschreiben (die Verbotsschilder, die sich dennoch in die Texte eingeschlichen haben, sollten wir denn auch als wohl unvermeidliche Begleiterscheinung mit Nachsicht behandeln). Die ethnologischen Ethiker wollen ihre Aufgabe weiter verstan- den wissen: als Reflexion einer Ethnologie, der die alte Selbstgewißheit abhanden gekommen ist, und als Suche nach gewissen Richtlinien in diesem Zustand der Anstoß und Grundlage zu dieser DisUngewißheit. kussion scheint das Bewußtsein zu bilden, daß der Ethnologie eine neue und gewichtige Verantwortung zuwächst, auf die sie in keiner Weise vorbereitet ist. Die enorme wirtschaftliche Verflechtung, vielleicht noch mehr die kommunikative Vernetzung der Welt und die zunehmende Mobilität ihrer Bewohner (Tourismus „hier“, Flucht und Migration „dort“), haben nicht die herrschaftliche Schichtung in „Erste“ und „Dritte Welt“, wohl aber die Möglichkeit einer faktischen und ideellen Grenzziehung zwischen dem „hier“ und dem „dort“ gründlich aufgeweicht. Die Ethnologie, für die diese Trennungslinien - da konstitutiv für das Fach - vielleicht noch wichtiger waren als für den Rest der westlichen Gesellschaft und ihre Intelligentsia, sieht sich bei deren Schwinden zugleich dem Gewinn gesellschaftlicher Relevanz und dem Verlust ihres theoretischen Fundaments ausgesetzt. Das heißt, daß die Ethnologie vor einer zugleich ethischen und epistemologischen Herausforderung steht: Wie kann eine Wissenschaft, die bislang Leute der „Dritten Welt“ in ethnologische Gegenstände der „Ersten“ transformierte, und dies Hand in Hand mit einem Unterdrückungsund Ausbeutungsprozeß der „Dritten“ durch die „Erste“, sich neu kon- stituieren unter Verzicht auf dieses obsolete ständische Modell? Der Zeitpunkt des Handelns scheint für die Ethnologie wieder gekommen - und damit für ihre Theoretiker die Zeit -, ethnologischen Taten bzw. ethnologischer Untätigkeit gedanklich Grundlegendes beizusteuern. Dieser Aufgabe gehen die Autoren dieses Bandes anhand unterschiedlicher Thematiken nach: Gerrit Huizer fordert statt Entwicklung und Untersuchung marginalisierter Minderheiten die Untersuchung und Entwicklung heimischer Manager und Macher. Gerald Berreman kritisiert die Verwässerung ethischer Richtlinien durch amerikanische Ethnologen, die durch allzuviel Ethik ihre Geldgeber verprellt sehen. Volker Harms thematisiert die Probleme, die der eigentlich schöne Vorsatz, 'Betroffene' in die Durchführung ethnologischer Ausstellungen einzubeziehen, mit sich bringen kann. Roland Drubig und Henning Hermann begutachten die Gründe für die fatale Neigung von Ethnologen und anderen Geisteswissenschaftlern (sie betonen, daß dieser Hang ein vorwiegend männlicher ist), sich in kritischen Zeiten in die vermeintlich sicheren Arme der Soziobiologie zu werfen. Anette Hornbacher - die im übrigen einzige Autorin des Bandes - kritisiert den eurozentrischen Herrschaftsanspruch, der sich hinter K. O. Apels Entwurf eines vernünftig argumentierenden Diskurses als Grundlage interkultureller Verständigung verbirgt. Neuerscheinungen Wolfgang Habermeyer warnt mit Hans Jonas übereifrige Entwicklungsethnologen vor den unkalkulierbaren Folgen ihres guten Willens und am Beispiel von H. G. Gadamers Hermeneutik vor einer ebenso voreiligen Übertragung europäischer Erkenntniswünsche auf Leute mit anderen Auffassungen. Hermann Amborn schließlich skizziert Gründe und Notwendigkeiten für eine Rückkehr der Ethik in deutsch-ethnologische Gefilde und endet interessanterweise bei der Diskussion verschiedener amerikanischer Theorien. Bei aller Unterschiedlichkeit lassen sich einige gemeinsame, und meines Erachtens genuin westlich motivierte, Gedanken hervorheben. Da ist zunächst eine tiefgreifende Skepsis und Besorgnis gegenüber dem technisch rationellen Fortschritt des Westens, der zunehmend globalere Auswirkungen zeitigt. Dies und die damit verbundene Möglichkeit einer globalen Katastrophe motiviert die Texte Hornbachers und Habermeyers. Drubig und Hermann ist hingegen das ebenfalls Aufklärung und Moderne verbundene Thema der Machbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt, das sich in der Soziobiologie noch ungebrochen behauptet, zentraler Gegenstand der Kritik. Auch Huizer beschäftigt dieses Motiv, das bei den Machthabern der neuen Weltordnung liiert ist mit dem introvertierten Spiritualismus des New Age. Kulturkritik, seit Jahren im Hintergrund der Diskussionen jüngerer EthnologInnen, entfaltet sich hier als ethnologische Spielart rationaler Vernunftkritik. Damit verknüpft ist das zweite Leitmotiv der Texte: die Position der Ethnologie im Spannungsfeld ökonomischer und politischer Einflußsphären. Hier kollidieren der Anspruch der Ethnologie, die Interessen der von ihr Untersuchten der „Dritten Welt“ gegenüber den Macht- und Geldhabern der „Ersten Welt“ zu wahren, mit dem Anspruch, sich einen gebührenden Anteil an Macht und Geld zu sichern. Ein Interessenskonflikt, der einmal mehr betont, daß die Ethnologie nicht nur erkenntnistheoretisch zwischen dem „hier“ und dem „dort“ siedelt. Dieser Situation kann - außer mit Appellen an die EthnologInnen, ihren Appetit zu zügeln - vielleicht darin begegnet werden, daß sich das ethnologische Erkenntnisinteresse von Leuten „hier“ bezahlen läßt und sich für Leute „dort“ engagiert (vgl. Amborn) eine Position, die Entwicklungs- und Aktionsethnologie gemeinsam haben -, oder daß sich das ethnologische Erkennen an der Kritik der Leute schärft, die sie bezahlen (vgl. Huizer). Der heikle Punkt beider Ansätze liegt darin, daß sie in jedem Fall eine gewisse Dummheit bei den Leuten voraussetzen, die zahlen. Der Widerstreit von Interessen prägt auch den dritten Bereich möglichen ethnologischen Handelns, den der Kommunikation und Vermittlung zwischen Kulturen. Volker Harms schildert einen Fall der versuchten Beteiligung von 'Betroffenen' an einer Ausstellung, die daran gescheitert ist, daß der verantwortliche Wissenschaftler des Museums vor allem die Kultur, die 'Betroffenen' jedoch auch ihre Interessen in der Ausstellung repräsentiert sehen Die Vermittlung von gegenseitigen wollten. Ansprüchen im Kontext durchaus herrschaftlicher Verhältnisse wird von den Autoren generell als problematisch eingeschätzt, und zwar auf erkenntnistheoretischer wie auf praktischer Ebene, die dazu vorgetragenen Überlegungen sind jedoch nicht unbedingt überwältigend. Recht dunkel wird hier zum Teil die Aktionsethnologie beschworen, der von Amborn vage „Handlungskompetenz“ attestiert wird, eine Handlungskompetenz, die für den Großteil der hier publizierenden Autoren jedoch jenseits der eigenen Erfahrung liegen dürfte. Ein wichtiger Bereich eigener Erfahrung hingegen, die Praxis von Forschung und akademischer Vermittlung ethnologischen Wissens, bleibt trotz großen Renovierungsbedarfs künftigen Veröffentlichungen vorbehalten. Auch die Frage, wie sich „Handlungskompetenz“ beweisen ließe angesichts der Situation von Marginalisierten und Flüchtlingen in der eigenen Gesellschaft, wird von den Autoren nicht aufgegriffen. Zu denken gibt schließlich folgendes: Die Autoren haben sich löblich darauf beschränkt, zunächst mal zu schauen, was daheim ethisch im Argen liegt. Irgendwie scheint damit jedoch auch der Verzicht gekoppelt zu sein, die Kritik von Philosophen, Ethnologen und 'Betroffenen' der „Dritten Welt“ in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. Es hätte sich vielleicht sonst zeigen können, daß der 'rationale Diskurs' nicht als einschränkende Kategorie, aber als Mittel der Verständigung doch recht weit trägt, oder daß in der Ethnologie eine andere Hermeneutik gefragt wäre als die Gadamersche, die sich ja doch nur mit Texten plagt. Die Autoren haben erkannt, daß sich die Ethnologie nicht auf nunmehr vergangenes Festland alter Gewißheiten zurückziehen kann, sondern sich der gegenwärtigen und wohl auch künftigen Ungewißheit zu verantworten hat. Sich dieser Verantwortung zu stellen, kann, bei allen Unzulänglichkeiten einzelner Artikel, den Autoren anerkannt werden. Den Band schließt eine kleine, von Holger Jendral kommentierte und zusammengestellte Bibliographie ab. Sie signalisiert, daß weiter gedacht werden soll. Stephan Dünnwald Robert Kurz et al. Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993 (Edition Krisis im Verlag Horlemann), Pb, 264 S., 24.- DM. Wen trifft es? Das ist die Frage nach der Lektüre dieses Bandes. „Demokratisches Erwachen“, „Früchtchen des Zorns“ oder „Volk im Stimmbruch“ sind u.a. die rhetorischthematischen Überschriften im Buch aus dem Kreis um die Nürnberger 'Krisis'-Redaktion. Im ersten und gleichzeitig umfangreichsten Artikel „Die Demokratie frißt ihre Kinder“ Neuerscheinungen wird die analytische Basis für die folgenden Artikel bereitet. Das Buch der fränkischen Fraktion von Kapitalismuskritikern empfiehlt sich allen Menschen, denen angesichts des aufkommenden neonazistischen Terrors die moralinsauren Aufrufe der staatstragenden Bedenkenträger zum „Widerstand“ höchst suspekt vorkommen. In diesem Buch wird ihnen erklärt, warum dieser Widerstand in Anführungszeichen nur die Austreibung des Teufels mittels des Beelzebubs ist; oder anders formuliert, warum das berechnende und instrumentelle Hochhalten bestimmter moderner Tugenden gegenüber dem öffentlichen Rückfall in die Barbarei selbst in den Strukturzwängen des Übels verhaften bleibt. Wer sich darüber erkundigen will, wie die Kritik der instrumentellen Vernunft der kritischen Theorie übertragen wird auf die momentane ökonomische Situation, der ist bei diesem Buch an der richtigen Adresse. „Die Demokratie sei also gefährdet durch das Vorzivilisatorische, das 'an sich' in den Seelen schlummere; und wieder wähnt sich das demokratische Bewußtsein aus dem Schneider. Die neuen Rechtsradikalen müssen eine Art zivilisationsgenetischer Unfall sein, der atavistische Regungen durchbrechen läßt. ... Die Heuchelei ist perfekt, weil der selber repressive Herrschaftscharakter von Demokratie und westlicher Rationalität im gesamten geistigen und politischen Spektrum hochgradig tabuisiert ist. Die unbezweifelbaren emanzipatorischen und positiven Elemente der westli- chen Demokratie in ihrem Aufstiegsprozeß werden ideologisch von ihrer dunklen, negativen Kehrseite abgetrennt. Der Vergleichsmaßstab darf immer nur die stets von neuem zu überwindende Vergangenheit sein, niemals jedoch eine mögliche Zukunft über die westliche Rationalität hinaus“ (13f). Wer dem Automatismus des sich selbst verwertenden Werts der Warengesellschaft zustimmt, der bringt sich selbst um das fundammentale Argument gegen den neu aufflammenden Neonazismus. Die instrumentelle Rationalität des Kapitalismus und die Realität des Rückfalls in die Barbarei gehören zusammen; so die zentrale These des Buchs. Die „Pestparty des spekulativen Kasino-Kapitalismus“ und der „Fasching der Yuppie-Welle“ haben in den 80er Jahren das Ende dieser Rationalität nur mühsam kaschieren können. Mit dem Hinausgelangen aus den Fesseln der westlichen Rationalität, das als Ziel alle Autoren des Buches vereint, ist selbstverständlich nicht der Aufbruch ins Irrationale gemeint, wenngleich uns, den Subjekten der 'vollendeten Warengesellschaft', die „Aufhebung des sozialökonomischen Kerns der Demokratie“ (86) als irreale Utopie erscheinen mag. Zu erkennen, daß Moderne, Nationalsozialismus, parlamentarische Demokratie und der jüngste europaweite Rechtsruck auf der Ebene der Warengesellschaft bzw. auf der historischen Entwicklungslinie des Kapitalismus strukturell zusammengehören, ist eine Sache. Zu erkennen, daß aufgrund des durchgesetzten Weltmarktes eine durchgängige faschistische Ideologie nicht mehr hegemoniefähig sein kann, ist die schon weniger leicht - und daher in dem Artikel ausführlich thematisierte - zu akzeptierende Angelegenheit. Der aufgrund einer nicht durchsetzungsfähigen Wahnidee erschlagene Mensch ist trotzdem real tot. Was heißt also heute Realpolitik? Es ist nunmal ein Sachzwang der Verhältnisse, daß zur Verhinderung von Mord auch der radikalste Kritiker dieser Verhältnisse pseudoliberale Kreide fressen, sprich mit den Beinahe-Tätern gemeinsame Sache gegen die tatsächlichen Täter machen muß. Würden diese 'unsere' Verhältnisse die jungfräuliche Unschuldigkeit der Praxis erlauben, wären sie nicht so menschenverachtend wie sie sind. Es gehört zum 'Wesen' des Nürnberger Ansatzes, daß die momentane Krise des Kapitalismus als Verfallskrise interpretiert wird: Untergang in die vollendete Barbarei oder Aufhebung des Kapitalismus sind die einzig möglichen Alternativen. An wen also richtet sich dieser Ansatz? An die paar wenigen verbliebenen Revolutionäre im Land? Wohl kaum, dafür müßte man keine Bücher schreiben; um die zu erreichen täte es eine Zwölf-MarkTelefonkarte auch. Nein, gemeint ist sicher die womöglich gar nicht so geringe Zahl derer, denen diese unsere Verhältnisse nicht passen und die zunächst nach einer theoretischen Aufklärung suchen. Richtig ist es, am real drohenden Untergang das Bewußtsein zu schärfen. Der schiere Automatismus der Katastrophe wird aber leicht zum Stolperstein, denn so konkret läßt sie sich nämlich nicht prognostizieren. „Das Ziel ist schon erreicht, universeller kann die Warenform nicht mehr werden, ebensowenig wie die Subjekte noch partikularer werden können.“ (43) Hier irren die Meister m.E., das geht sehr wohl, wenngleich daran nichts aber auch gar nichts wünschenswertes ist: die Gentechnologie z.B steckt noch in ihren Kinderschuhen und wenn sie in nicht sehr ferner Zeit diesen entwachsen sein wird, wird sich gezeigt haben, ob der Kapitalismus noch einen internen Ausweg, sprich eine abermalige Steigerung der Unmenschlichkeit zustande gebracht haben wird. Die Vorhersage zielt also letztlich auf das Bewußtsein der nochnicht Revolutionäre. Aber gerade sie hoffen doch aus berechtigtem Eigeninteresse auf den Weiterbestand des status quo ohne offensichtliche und totale Barbarei. Soll daher der Widerstand (und diesmal ohne Anführungszeichen) gegen die Unmenschlichkeit nicht seinerseits wieder in die Dialektik von Opposition und ökonomischer Entwicklungspotenz eingemeindet werden - wie weiland die Arbeiterbewegung in ihrem Widerstand gegen (und damit auch für) den Kapitalismus -, dann muß in der notwendigen Agitation die Möglichkeit des 'normalen' Fortbestands der Verhältnisse miteingerechnet werden. Getreu dem alten 68er Motto ist ja bereits die Phantasie an der Macht. Wen also trifft dieses Buch? Der Übergang von der Warengesellschaft zur wahren Gesellschaft hat den über Neuerscheinungen sich selbst aufgeklärten Appell zur Voraussetzung; von der erst noch zu erarbeitenden gemeinsamen Praxis ganz zu schweigen. Wolfgang Habermeyer George Leaman Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen Hamburg-Berlin 1993 (ArgumentVerlag), br., 161 S., 15.50 DM. Wir haben es mit keinem Versuch zu tun, Heidegger im Rahmen der Philosophiegeschichte neu zu interpretieren. Auch nicht mit dem Versuch, die politische Biographie Heideggers über V. Far¡as oder H. Ott hinaus fortzusetzen, obwohl dazu eine gewisse Affinität besteht. Der „Kontext“, in den Heidegger gestellt wird, ist weder die Philosophie noch die Geschichte, sondern die Institution der Philosophie. Leaman stellt die deutsche Universitätsphilosophie dar: ihren Zustand im Jahre 1933, ihre Entwicklung bis 1945 und ihre politischeideologische Aufgabe während der NS-Zeit. Sein Ausgangspunkt und das Kernstück seines Buches sind somit die 214 Philosophen, die 1933 an den 23 deutschen Universitäten lehren. Genannt werden ihren Arbeitsgebiete und ihre Hauptwerke, vor allem aber ihre politischen Entwicklungen, ihr Engagement für oder gegen den Nationalsozialismus und ihre „Schicksale“. Insbesondere geht aus den vielen Kurzlebensläufen hervor, wer (und warum) emigriert ist, wer (und auf welche Weise) sich an das Nazi-Regime angepaßt hat und auch, wie sich viele NS-Philosophen über 1945 hinübergerettet haben. Ergänzt ist die Darstellung durch eine Auflistung der Aufrufe und Erklärungen von Hochschullehrern zugunsten des Nazi-Regimes und ihrer Unterzeichner aus dem Fachbereich Philosophie. Aufgelistet sind auch die gesetzlichen Grundlagen, aufgrund derer insbesondere jüdische Philosophen aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Leamans Interesse gilt vor allem den Fakten. Dem entspricht die Form seiner Darstellung: das Verzeichnis und die Tabelle. Und was er aus den verschiedensten Archiven an Fakten und Informationen zusammengetragen hat, ist bewundernswert und bahnt jedem weiteren Studium der NSPhilosophie den Weg. Allerdings, und das ist die Kehrseite, haben FaktenSammlungen und Statistik ihre eigene Logik. Einerseits nämlich stellt sich die Frage, ob die Einschränkung auf die Universität (gerade in der Philosophie) als Grundlage der Faktenerhebung berechtigt ist. Weder Bloch, Benjamin, Lukács etc. kommen in Leamans Erhebung vor (da sie keine Universitätsstellung innehatten), noch die Schüler Rosenzweigs, Buber und andere jüdische Philosophen (die nicht an Universitäten, sondern im Frankfurter „Lehrhaus“ u.a. unterrichteten). Trotzdem waren sie 1933 öffentlich, in Zeitungen, Vorträgen etc. präsent und standen mit der Universitätsphilosophie in vielfacher Vermittlung. Andererseits werden Fakten-Sammlungen, die auf (numerische) Vollständigkeit hin angelegt sind, dann auch auf diese Vollständigkeit geprüft, und dabei fällt auf, daß sich verschiedene Philosophen wie z.B. Christoph Steding (der „shooting star“ der nationalsozialistischen Kulturphilosophie), dessen Karriere erst während des „Dritten Reichs“ begonnen hat, nicht unter den angeführten 214 Philosophen befinden. Beeinträchtigt wird die spannende, durch ihre Details oft überraschende Lektüre leider auch durch eine Reihe von Ungenauigkeiten und Widersprüchen. Etwa, wenn Adorno, der gerade erst Privatdozent ist, zu den neun „Professoren“ (11) gerechnet wird, die bei der Machtübernahme der Nazis sozialistischen oder sozialdemokratischen Organisationen nahestanden. Oder, wenn es einmal heißt, 1933 sei „mit Ausnahme des Marxismus keine einzige philosophische Schule aus den deutschen Universitäten verbannt“ worden (11), ein paar Seiten später dagegen, es seien „zwei philosophische Schulen praktisch verboten oder zur Auflösung gezwungen“ worden (19), nämlich das Frankfurter Institut für Sozialforschung und der Neopositivismus. (Auch hier bleibt die Tradition der jüdischen Philosophie, die freilich nur am Rande mit den Universitäten in Verbindung stand, außen vor). Um einen bloßen Druckfehler handelt es sich wohl, wenn das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.April 1933 auf das Jahr 1937 umdatiert wird (101) etc. Welche Rolle spielte nun Heidegger innerhalb dieses Rahmens universitärer Philosophie? Die vorherrschende Ansicht will, daß es nach der Machtübernahme keine Philosophie mehr gegeben habe, weil die wirklichen Philosophen in die (äußere oder innere) Emigration gegangen, die anderen aber zu gleichgeschalteten „Ideologen“ verkommen seien. Leaman setzt dagegen erstens, daß es eine eigene NS-Philosophie gegeben habe, mit dem Ziel, die Weltanschauung der NSDAP auszuarbeiten und mit einer kohärenten politischen Theorie zu verbinden, zweitens, daß es verschiedene, miteinander konkurrierende Ansätze dazu gegeben habe und drittens, daß Heidegger innerhalb dieser konkurrierenden Rechtfertigungsversuche interpretiert werden müsse. Damit ist das Koordinatensystem, in das Heidegger üblicherweise hineingestellt wird, von Grund auf verändert. Es sind nicht mehr die großen Philosophen, die Vorsokratiker, Platon und Nietzsche, sondern die philosophischen Buhlereien um die Gunst des Führers und die ideologische Vorherrschaft, die zwischen dem Amt Rosenberg und den NSRektoren der Universitäten Königsberg (Hans Heyse), Erlangen (Eugen Herrigel), Heidelberg (Ernst Krieck) u.a. stattgefunden haben. Sicher ist, daß Heidegger Rosenbergs biologische Begründung des Rassismus abgelehnt hat. Ebenso stand er im Gegensatz zu Heyse, Herrigel, Krieck, Baeumler u.a., die ihren Rassismus aus der Metaphysik Platons, aus der Anthropologie oder der Pä- Neuerscheinungen dagogik abgeleitet haben. Übereinstimmung aber bestand in der Absicht, den Führungsanspruch Deutschlands zu begründen. Was von den Heidegger-Apologeten als „Opfer“ oder gar als „Widerstand“ ausgelegt wurde, nämlich sein Streit mit Rosenberg und anderen NS-Größen, das entpuppt sich in Leamans Darstellung als das, was er wohl wirklich war: als inner-nazistischen Streit um die „bessere“ Begründung deutschen Herrentums, um die ideologische Vorherrschaft und den Anspruch „den Führer zu führen“. Der biologische Rassismus wird von Heidegger nur durch einen geistigen, philosophischen Rassismus ersetzt, der durch die Überlegenheit der deutschen Sprache begründet wird. Aufgrund ihres eigenen Genius' und ihrer engen Verwandtschaft mit dem Griechischen könne nur eine aus dem Deutschen entwickelte Philosophie mit den metaphysischen Irrtümern Platons aufräumen und die Welt vor dem „Nihilismus“ erretten. Wirkliches Denken ist nur auf deutsch möglich, und Franzosen und andere Nationen sprechen, wenn sie zu denken anfangen, deutsch. So bleibt, nach Leamans Deutung, das „eigentliche Sein“ letztlich die Sache der Deutschen (140). In dem Versuch, ihm zum Durchbruch zu verhelfen, bestand nach Heideggers über 1945 hinaus beibehaltener Ansicht die „innere Wahrheit und Größe“ des Nationalsozialismus. Konrad Lotter Gerhard Schweppenhäuser Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie Hamburg 1993 (Argument-Verlag), 292 S., 29.- DM. „Praxis wird aufgeschoben und kann nicht warten; daran krankt auch Theorie“ (Adorno, Negative Dialektik) Wer nichts weiß von Adorno, der weiß immerhin seinen Satz, daß es „kein richtiges Leben im falschen“ geben kann. Diejenigen, die sich intensiver mit Adorno auseinandergesetzt haben, wissen, daß damit nicht gemeint war, alles sich herausnehmen zu können, weil eh nichts geht. Adorno hat keine Moralphilosophie oder Ethik geschrieben; er wollte noch, starb aber zu früh. Der Terminus 'Ethik' war Adorno jedenfalls suspekt: er lehnte ihn, weil zu adenauerischrestaurativ, zu „aufgeweicht“ und „unverbindlich“, explizit ab. (Umso unverständlicher ist es, daß das Buch „Ethik nach Auschwitz“ heißt). Gerhard Schweppenhäuser maßt sich nicht an, Adornos Werk in seinem Sinne zu ergänzen. Er will nur „einen bislang kaum erschlossenen Aspekt seiner Philosophie systematisch untersuchen.“ (9) Das ist ihm gelungen. Es ist ein wichtiges Buch geworden. Adornos negative Moralphilosophie ist Kritik an der Moral, nicht um eine Gegenmoral aus dem Nichts zu zaubern; wirkliche Kritik an der Moral heißt, sie mit ihrem eigenen Anspruch zu konfrontieren: Ist Moral moralisch? (Adorno '57 nach Schweppenhäuser, 179. Im folgenden mit 'Ad.i.Schw.' abgekürzt) Schweppenhäuser in seiner systematischen Spurensuche zu folgen bedeutet, eine Reise durch die fast komplette Geschichte der Moralphilosophie anzutreten. Er präpariert Adornos eigenen Ansatz in dessen kritischer Rezeption der Klassiker heraus: Sokrates, Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Marx und Nietzsche sind die Fixsterne, deren Erbe Adorno kritisch aufbewahren möchte. Dokument dafür sind die beiden Vorlesungen über Moralphilosophie, die Adorno in den Jahren 1956/57 und 1963 an der Frankfurter Universität gehalten hat, sowie die nicht explizit zum Thema ausgewiesenen Stellen im gesamten Werk Adornos, speziell in der Minima Moralia, der Dialektik der Aufklärung und in der Negativen Dialektik. Den zwingend notwendigen Zusammenhang von Freiheit und Moralität sieht Adorno nach Schweppenhäuser zum erstenmal bei Aristoteles verortet. Das 'richtige Leben' setzt Freiheit voraus. „Ein vom Tyrannen bevormundeter Bürger und ein Sklave, der per definitionem unfrei ist, sind ebenso vom tugendhaften Handeln abgetrennt wie ein äußerlich Freier, dessen Fähigkeit zu vernunftgemäßem Handeln aber durch irrationale Charakterzüge deformiert ist. Adorno sieht hierin eine Antizipation der Einheit von Freiheit und Willen, die bei Kant die Grundlage der Moralität bildet.“ (38) Dieser Einheit bei Kant und der kritischen Auseinandersetzung von Adorno mit ihr gilt der größte Teil des Buches. „Auf ihrer äußersten Spitze hat die Kantische Moralphilosophie einen prägnanten Widerspruch erreicht: Kant sucht auf der einen Seite nach der Begründung des Sittengesetzes und seinen notwendigen Bedingungen, und nachdem er alle heteronome, kausale Abhängigkeit ausgeschlossen hat, ist die Begründung des Sittengesetzes die Freiheit. Aber man kann diese Freiheit ihrerseits nirgends vorfinden. Wenn es sie aber nicht gäbe, gäbe es auch kein Sittengesetz. Der Denkfehler ist leicht nachzuweisen. Aber wenn man sich damit begnügen würde, würde man das Großartigste an Kants Philosophie versäumen.“ (Ad. i. Schw. 89) Denn, und dies ist ein typisch adornitisches Argument der Ideologiekritik, das Schweppenhäuser an dieser Stelle herausarbeitet: „der methodische Widerspruch verweist auf eine Aporie, die nicht aus inkonsequentem Denken resultiert, sondern authentischer Ausdruck der aporetischen Struktur des Sachverhalts selber ist.“ (89) Das Kantische Moment der Freiheit ist daher gesellschaftlich geprägt: Aufbruch und Beschränkung zugleich. Kants Insistenz auf der Idee verwirklichter Freiheit wird nach Schweppenhäuser zur normativen Basis kritischer Theorie, die den Gedanken der Freiheit und Autonomie gegen einen Gesellschaftszustand wendet, der alles zu „heteronom bestimmten Mitteln für einen einzigen Zweck macht ...: der Kapitallogik der Verwertung des Werts.“ (95) Daß Adorno kein kritikloser Hegelianer gewesen ist, ist hinlänglich bekannt. In diesem Zusammenhang zeigt sich dieser Umstand darin, daß Adorno mit Hegel gegen Kant zwar Neuerscheinungen einerseits betont, daß das einzelne Individuum aus eigener Kraft die Realität kaum verändern kann, die ihm heteronom entgegen tritt (140), also die Verwirklichung des richtigen Lebens qua individuellem Streben verstellt ist, er aber andererseits gegen Hegel das Individuum wiederum stärken will gegen die vermittelte Vorherrschaft des falschen gesellschaftlichen Allgemeinen. „Das unauflösbare Substrat von Moralphilosophie ist der einzelne. Das verleiht moralphilosophischer Reflexion nach ihrer Hegelschen Destruktion neue Dignität. Gleichwohl findet sich bei Adorno keine Apologie des Individuums, die ja voraussetzen würde, daß Individualität zu ihrem Recht gekommen sei.“ (142) Kant und Hegel behalten solange gegeneinander Recht, bis die Realität des gesellschaftlichen Seins eine andere geworden ist. Verändert aber hat sich nichts. Noch immer gilt Adornos Diktum: „Längst handelt es sich nicht mehr um bloßen Verkauf des Lebendigen. Unterm Apriori der Verkäuflichkeit hat das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding gemacht, zur Equipierung. Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewußt in den Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so viel von sich an das Ich als Betriebsmittel ab, daß es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst.“ (Ad.i.Schw.151) (Dabei konnte Adorno vom Wahn der Fitness-Studios noch keine Ahnung haben.) All dies zugrundegelegt, hat Adornos Werk daher nach Schweppenhäuser (174) zwei zentrale Themen: (1) die Reflexion auf die Möglichkeit eines richtigen Lebens heute und (2) der „neue kategorische Imperativ“. Zu 1 ist festzustellen, daß Adorno nicht wie die ganze Armada heutiger konservativer Ethikapostel eine Veränderung des gesellschaftlichen Zustands mittels aufgestellter und eingehaltener Moralphilosophie erhofft. Moral ist Impuls: „keine Folter, keine Konzentrationslager“, nicht Produkt der Rationalisierung. Ratio und Impuls würden als jeweils einzelne ins Leere laufen. „Erst im Zusammenwirken des auf Veränderung drängenden Impulses und der theoretischen Besinnung auf die Hindernisse, die seiner Umsetzung gebieterisch im Wege stehen und eine moralisch geleitete Praxis des isolierten Individuums blockieren, sieht Adorno die Chance von Moralität.“ (184) Was bleibt, ist stellvertretendes Leben. „Man sollte soweit es nur irgend möglich ist, so leben, wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen, gleichsam durch die eigene Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht, versuchen, die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige wäre. Dieses Bestreben ist notwendig zum Scheitern und zum Widerspruch verurteilt, aber es bleibt nichts anderes übrig, als diesen Widerspruch bis zum bitteren Ende durchzumachen. Die wichtigste Form, die das heute hat, ist der Widerstand“ (Ad.i.Schw. 191f): (2) Damit ist auch das zentrale Stichwort zum neuen kategorischen Impe- rativ gefallen: Widerstand, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Widerstand ist das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen, er kann nicht theoretisch deduziert und erzeugt werden. Er tritt praktisch hinzu, als Parteinahme „für das 'Leibhafte', hier also für die 'Unmittelbarkeit' gequälter und gemordeter Individuen“ (187). Mit den Aporien leben und Widerstand leisten, ist also die Botschaft Adornos; Moral ist immer eine Zumutung. Adorno relativ umstandslos in die Traditionslinie von Marx zu stellen, wird auf immer eine nicht entscheidbare Option bleiben, die die einen wie selbstverständlich voraussetzen und die anderen ebenso vehement ablehnen. Darüber zu streiten halte ich für sinnlos; ein souveräner Umgang damit wäre stattdessen angezeigt. Was hat uns Adorno heute in Anbetracht der uns heute bedrängenden Fragen noch zu sagen, wenn man sich auf seine Theorie einläßt? Das Diktum, daß es kein richtiges Leben im falschen gibt, ist nun an die 30 Jahre alt. Ebenso seine Aussage, daß, wenn eine die Gesellschaft als Totalität verändernde Praxis nicht möglich ist, die Zeit zum Nachdenken, zur Theorieproduktion genutzt werden muß. Abgesehen davon, daß in der deutschen Linken in den letzten 30 Jahren nicht so wahnsinnig viel und/oder produktiv nachgedacht worden ist, - wie lange soll die Auszeit noch dauern? Würden wir uns damit abfinden, daß niemals mehr etwas zu machen ist, dann wären wir am Ende der Geschichte angelangt. Aber das wäre nun wiederum auch nicht korrekt adornitisch gedacht. Also was? Schweppenhäusers Buch krankt leider daran, daß er sich selbst nicht recht darüber im klaren ist, für wen er eigentlich das Buch schreibt. Für die Adornoexperten dürfte es zu redundant sein, für die Adorno-Beginners ist es zu schwierig geschrieben, zuwenig klar durchstrukturiert und zuwenig zwingend an heutigen Problemlagen angeschlossen. Aber gerade dazu ist es wichtig. Wichtig als Ausgangspunkt eines neu herzustellenden Selbstverständnisses unter Linken; und damit geradezu ein Treppenwitz der Geschichte: der Theoretiker des Nichts-geht-mehr als gemeinsamer Bezugspunkt um endlich wieder aktiv zu werden. Alle andere Beschäftigung mit ihm wäre rein philologisch und damit inadäquat. Wäre es Gerhard Schweppenhäuser in seinem Buch öfter gelungen, so befreit wie folgt zu schreiben, es wäre ein noch besseres Buch geworden. Zur Minima Moralia: „Sie wollen den Zerfall des Individuums notieren, um dem Individuum die Kraft vor Augen zu führen, die sich aus der Einsicht in diesen Zerfall ergeben kann. Das Individuum im Sinne einer letzten irreduziblen Gegebenheit erweist sich als Trug, wenn in ihm selbst die Gesellschaft und ihr historisch-ökonomisch vermitteltes Bewegungsgesetz als seine eigentliche verborgene Substanz aufgewiesen werden kann. Diese Entdeckung aber befreit das Individuum auch, indem es ihm seine Unfreiheit zeigt - nämlich von der Zumutung, aus eigener Kraft moralisch Neuerscheinungen handeln zu müssen, während ihm das in Wahrheit nicht unmittelbar möglich ist. Das einzusehen heißt nicht, das Individuum geschichtsphilosophisch „jenseits von Gut und Böse“ anzusiedeln und ihm den Freibrief zur Willkür auszustellen. Es bedeutet vielmehr, dem Individuum durch die schonungslose Offenlegung seiner Unfreiheit die Freiheit in Erinnerung zu rufen, die ihm die Moralphilosophie als Eigenschaft zuspricht, während sie doch erst herzustellen wäre. Die theoretische Freiheit zur Einsicht in die eigene Unfreiheit und die moralische Kraft zur Einsicht in die Beschränktheit der Kraft zum moralischen Handeln wachsen uns aber erst in dem Moment zu, in dem der ideologische Schleier zerrissen ist, der uns Autonomie als zweifelsfreie Gegebenheit vorgaukelt.“ (152) Wolfgang Habermeyer Albrecht Wellmer Endspiele, Die unversöhnliche Moderne Essays und Vorträge, Frankfurt/Main 1993 (Suhrkamp), 332 S., br., 24.80 DM. Die Aufsatzsammlung ist ihrem Titel nach wörtlich zu nehmen. In Anspielung auf Becketts „Endspiel“ möchte Albrecht Wellmer seine Essays und Vorträge aus den letzten 15 Jahren in der „postmetaphysischen Moderne“ situiert wissen: Endspiele „innerhalb ... (und) mit der Metaphysik“, die, wo sie „philosophisch gespielt“ werden, „nur um Plural gedacht werden“ können (9). Dieser Plural bezieht sich zunächst auf die Bandbreite der Themen, von der Kommunitarismusdebatte über Aspekte der Philosophien Adornos, Wittgensteins, Jonas' und Arendts, bis hin zu architekturtheoretischen Fragen und einem Aufsatz zu „Terrorismus und Gesellschaftskritik“. Es scheint der unhintergehbare Anspruch dieses Buches zu sein, für ein Philosophieren zu plädieren, das sich einmischt, das die „Bereitschaft zur Anpassung“ nicht mitmacht, sondern „jene Tugenden“ verteidigt, „ohne welche eine demokratisch verfaßte Republik zum autoritären Staat verkommen muß.“ (301) Und doch wird Wellmer in keinem der versammelten Aufsätze diesem Anspruch gerecht - mithin hätte deshalb der Verzicht auf so manche Floskel aus dem Repertoire des Kritischen der philosophischen Ernsthaftigkeit der Texte mehr gedient. So offen Wellmer sich zu den postmodernpluralen Spielmöglichkeiten mit der Moderne bekennt, so sehr scheut er scheinbar die Überschreitung der verordneten Fachgrenzen philosophischen Denkens. „Daß die systembedrohenden Widersprüche und Krisen des Kapitalismus nicht mehr primär auf der Ebene des ökonomischen Systems zu suchen sind, sondern daß sie vor allem Probleme der Legitimation, der Motivation und der Administration betreffen“ (292), ist allein mit dem Argument, diese Ansicht entspricht den „Entwicklungen der Kritischen Theorie“ unbegründet. Die Kritik an Marx, daß dessen Demokratie- Konzeption „am Ende unter der Wucht der Kapitalanalyse begraben“ worden sei (85), bleibt unhinterfragt in dem Punkt, ob Marx eventuell aus guten Gründen eine Kritik der politischen Ökonomie dem Programm einer demokratischen Sittlichkeit voranstellte. Wellmer verabschiedet die Möglichkeit dieser Frage damit, daß er jede Form von Kapitalismuskritik als „externes Problem“ (71) betrachtet. Ihm geht es allein um die Begründung einer „demokratischen Sittlichkeit“ im Sinne der Kommunitarismusdebatte. Was er im Rahmen dieser Debatte durchaus überzeugend an unterschiedlichen Freiheitsmodellen und Naturrechtskonzeptionen diskutiert, bleibt in Hinblick auf eine kritische Theorie allerdings bloß ein Freischein für einen Diskurs politischer Philosophie, ohne wirklich politisch zu werden. Wellmers Engagement innerhalb der Kommunitarismusdebatte gibt Anlaß zu der Nachfrage, ob bei diesem Rehabilitierungsversuch des Gemeinschaftsbegriffs für die „Linke“, zu der Wellmer sich zählt, wirklich ein gegenwärtiges Zentralproblem kritischer Theorie getroffen ist, oder ob diese Debatte nicht vielmehr einer Ausweichstrategie und einer theoretische Flucht vor den praktischen Problemen der Gegenwart gleichkommt. Ist es nicht ein Zurück zur vormarxschen Rezeptur des liberalen Bürgertums, das wirklich noch glauben mochte, die ökonomischen und die politischen Zügel durch die bloße Proklamation demokratischer Freiheiten in den Griff zu bekommen? Heute ist es wahrlich bloß „behauptet, daß die Dynamik des kapitalistischen Marktes nicht durch dessen Abschaffung, sondern nur durch eine entsprechende Dynamisierung der demokratischen Institutionen, Praktiken und Traditionen gebändigt werden könnte.“(90) „Das Bild einer liberalen und demokratischen Kultur, wie ich es skizziert habe, ist natürlich zu schön, um wahr zu sein. Es ist kein Bild existierender Gesellschaften ..., weil es eine Reihe von Problemen als gelöst unterstellt, die in keiner existierenden Gesellschaft gelöst sind.“ (70) Das Bild ist aber auch kein utopisches, das den Gedanken an eine von Unterdrückung emanzipierte Gesellschaft wagt. Wellmer versucht seine Fiktion „ohne die Hoffnung auf eine letzte Versöhnung zu denken“ (235). Für ihn gilt es als eine mit Habermas abgemachte Sache, daß es nur ein Denkfehler sein kann, „welcher die Eindimensionalität der Marxschen Metatheorie gleichsam seitenverkehrt wiederholt“ (229), wenn Adorno keinen anderen Ausweg als die Utopie sah. An die Stelle der Utopie der Versöhnung tritt der erschlichene Konsens einer Verständigung über das Scheinbare: „Es scheint heute einen beinahe universalen Konsens darüber zu geben, daß der Marktmechanismus weit überlegen ist“ (37). Oder: „Gegenüber allen alternativen politischen Organisationsformen der Moderne ... erscheint die amerikanische Demo- Neuerscheinungen kratie als weltgeschichtlicher Fortschritt.“ (87) Politisch bleibt die Fiktion einer demokratischen Kultur folgenlos, solange die Probleme der bestehenden Demokratie systematisch ausgeblendet werden. Lediglich in einer Anmerkung „glaubt“ Wellmer, die Änderung des Asylrechts sei nicht von Vorteil gewesen, will sich aber „hier nicht ... einmischen“ (75). Philosophisch - so sehr er in begriffsklärerischer Hinsicht überzeugt - argumentiert Wellmer mit unterschiedlichem Maß. Während seine ganze Rezeption kritischer Theorie von Marx bis Adorno durch die Habermas'sche Kommunikationstheorie präjudiziert ist, moniert er an der Rezeption Wittgensteins, sie sei „in der Regel in einen Gedankenzusammenhang integriert worden, der der Denkweise Wittgensteins fremd ist“ (239), moniert also einen Umgang mit Wittgenstein, den er bezüglich Adorno gerade für denknotwendig hält. So gesteht Wellmer sich ein, „Konstellationen ein wenig zu lichten, selbst um den Preis, das Gespinst dialektischer Subtilitäten in Adornos Texten hierbei gelegentlich zu zerreißen.“ (9) Aber es geht nicht einfach um Adorno, sondern um die Sache, auf die dessen Denken zielte; es geht mithin um das Gespinst einer vermeintlich kritischen Theorie, der jede Subtilität fehlt, um die dialektischen Konstellationen des Sozialen auszumachen. Roger Behrens Jean Ziegler / Uriel da Costa Marx, wir brauchen Dich. Warum man die Welt verändern muß Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, München/Zürich 1992 (Piper-Verlag), 156 S., Ln., 26.-DM. „Ein kategorischer Imperativ prägt dieses kleine Buch: Eine Weltordnung, die den rapide wachsenden Reichtum einiger weniger und das Dahinsiechen der Mehrzahl der Menschen als naturgegeben, universell gültig und notwendig setzt und in der die fundamentalen Freiheiten, das relative Wohlergehen, die Bürgerrechte der industrialisierten Demokratien mit dem Elend, dem Blut, der Ausbeutung anonymer Arbeitermassen der dritten Welt erkauft werden, ist eine inakzeptable Ordnung. Sie muß von Grund auf verändert werden.“ (34) Ein wahrhaft anspruchsvolles Motto, das auch der Titel suggeriert, und bei dem man auch vom bekannten Autor einiges erwarten könnte. Daß ein Berater und Freund Rocards (31) auch für dieses Unternehmen zu gewinnen war, stimmt dagegen schon bedenklich. Ziegler distanziert sich zwar vorsichtig von seinem Co-Autor (32), doch daß die SPD als die „weitaus stärkste, dynamischste und vielfältigste sozialistische Bewegung des Kontinents“ bezeichnet wird, die nur noch zum „Marxismus des Widerstands“ zurückfinden müßte und „das Schicksal unseres Kontinents“ (28) würde sich zum Guten wenden, läßt nichts Gutes erwarten. Zunächst wird Marx gegen alle neuen und alten Grabreden in Schutz ge- nommen. Dann legen die Autoren ihre Marxinterpretation dar, wobei sie sich gegen leninistische Verkürzungen (und die seiner Epigonen) abgrenzen. Die beiden Autoren unterteilen den Marxismus in vier Teilbereiche. (57) Da wären ein politischer, ein ökonomischer, ein philosophischer und dann ein sogenannter „Marxismus des Widerstands“. Die ersten beiden Teile des Marxismus werden als wenig erfolgreich, archaisch und am stärksten mißbraucht erklärt (58ff). Die philosophische „Erscheinungsform des Marxismus“ (60) wird als die grundlegendste und für die zukünftige Beschäftigung als die fruchtbarste (63f) bezeichnet. Anstatt nun näher die Gedanken zum Marxismus des Widerstands zu entwickeln, rutschen die nächsten beiden Kapitel („Das Versagen der Intellektuellen“ und „Das Gras wachsen hören“) in eine flache Apologie sozialdemokratischer Politik und Geschichte ab. Da wird Sartre mit seinem Plädoyer für ein Nein zu den herrschenden Verhältnissen als angeblicher spiritus rector programmatischer Formeln der PS (Parti socialiste) bemüht (71). Leon Blum kommt zur Ehre, Begründer der Tradition zu sein, die den Marxismus des Widerstands als Ganzen integriert hätte (ebd.). Etikettenschwindel ist es dann auch, wenn die Autoren, wohl wieder in Anlehnung an die Sartresche Terminologie, vom „sozialdemokratischen 'Entwurf'„ (89) schreiben, der die Widersprüche des Kapitalismus und der Marktwirtschaft überwinden soll. Selbst wenn man von der sozialistischen Absicht sozialdemokratischer Programmatik überzeugt wäre, wäre es m. E. angebrachter gewesen, auf die Widersprüche einer durch eine solche Programmatik angeleiteten Politik im Kapitalismus einzugehen. Der Spruch im besten Agitprop-Duktus jedoch: „An die Arbeit also! Der Kommunismus ist tot! Es lebe der demokratische Sozialismus!“ (132) macht aber eher blind, als daß er weiterhilft. Im Kapitel über die dritte Welt („Einsamkeit der dritten Welt“) stellen die Autoren sich die anspruchsvolle Frage: „Welche Strategien stehen diesen Völkern zur Verfügung, um die Entfremdung zu durchbrechen, ihre Unabhängigkeit zu erringen, ihre Einzigartigkeit zu behaupten?“ (95) Die Autoren greifen die Idee Levi-Strauss' auf, ob nicht vielleicht Ab- und Ausgrenzung der Weg zur Selbstfindung wäre (116). Doch statt dies zu diskutieren, nimmt das Abfeiern des Falls der Mauer und des vermeintlichen Sieges der Demokratie in den ehemals realsozialistischen Ländern viel Platz weg und führt dann zu so pathetischen Statements wie: „Aber unter der Asche und in den Kerkern schwelt lautlos das Feuer. In den siegreichen Erhebungen in Europa, in den kühnen und erfolglosen Widerstandsbewegungen in Afrika findet sich die Hoffnung der ..-Märtyrer ... bestätigt.“ (100) In der wirtschaftlichen Abkoppelung und Abschreibung Afrikas sehen die Autoren die Möglichkeit des Sieges der dritten Welt über ihre eigene Entfremdung Neuerscheinungen und zudem eine der Befreiung Europas (120). Was dazu zu sagen wäre, sagt der zitierte Joseph Ki-Zerbo: „Unsere Vergangenheit ist blind / Unsere Gegenwart ist stumm / Und die Zukunft ist taub.“ (119) „Der Marxismus des Widerstands, um den es in diesem Buch geht, nimmt heute tagtäglich Gestalt an in vielen Frauen und Männern ...“ (134). Der jedoch tatsächlich gemeinte linke und reichlich einflußlose Sozialdemokratismus ist aber vielmehr (Männer-)Geschichte, das wird aus den vier Laudatios für Olof Palme, Bernt Carlsson, Bruno Kreisky und Andre Chavanne deutlich, die das Buch abschließen. Insgesamt ist das Buch, trotz eingestreuter Brechtzitate, ein mehr als fragwürdiger Versuch, den „brilliante(n) Hohlköpfen(n) wie Andre Glucksmann, Bernand-Henri Levy, Philippe Nemo“ (13) Paroli bieten zu können. Jonas Dörge-Weidemann In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 109114 Autor: Klaus Weber Leserbrief Leserbrief: Klaus Weber Die Unterdrückten gegen die Herrschenden Erwiderung auf Thea Bauriedls Artikel „Miteinander oder gegeneinander?“ in WIDERSPRUCH Nr.24. Kein Leser des Widerspruchs, zumindest nicht die privaten und guten, hat je Waffen in andere Länder verschoben oder in seinem Keller ein überdimensioniertes Waffenlager angelegt. Thea Bauriedl fragt in ihrem Artikel, was „wir“ gegen gewalttätige Konflikte unternehmen können. Darauf könnte man viele Antworten geben, allein, in ihrer Antwort hat das Wörtchen „wir“ im Zusammenhang mit Waffenexport etc. nichts zu suchen. Daß aber bei ihr das psychologische/psychoanalytische und das politische Wir durcheinandergehen und eben gerade nicht auf ein erst noch herzustellendes Wir verweisen, hat mit ihrem ganzen Ansatz zu tun. I. Interdisziplinarität und psychologische Systemtheorie Bauriedl konstatiert eine „veränderte politische Lage“ (41) und ein „verändertes kollektives Bewußtsein“ (ebd.) in Europa. Sowohl die „schlimmen Greueltaten an der Zivilbevölkerung“ (ebd.) Jugoslawiens als auch die Tatsache, daß „mitten in unserem 'zivilisiert' geglaubten Land“ (ebd.) Leserbrief: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden Menschen verbrannt werden, findet sie erschreckend. Sie subsumiert alle „uns so sehr überraschenden und erschreckenden Ereignisse“ (42) unter den Begriff der „gewalttätigen Beziehungsstrukturen“ (41). Dieser Reduktion komplexer ökonomischer, ideologischer (religiöser) und historischer Zusammenhänge auf die Beziehungsebene entsprechen dann auch im weiteren sowohl die Analyse als auch die Möglichkeiten des Umgangs mit den für Bauriedl so erscheinenden neuen Phänomenen wie Krieg und Rassismus in Europa. Mit einem Konglomerat von „Überlegungen aus der Philosophie ..., aus der Soziologie, aus der Politologie ..., aus der Kybernetik, aus der Medizin (Immunologie) und ... der Psychoanalyse“ (42), das sie Interdisziplinarität nennt, will sie im folgenden neue Antworten auf die neuen Konstellation geben. Die Psychoanalytikerin weiß zwar um die Arbeitsteilung (bei ihr: „Zersplitterung“) der Wissenschaften, für eine postulierte interdisziplinäre Forschung ist der Bezug auf ein „ganzheitliches Konzept“ bei gleichzeitiger Negation der sogenannten Zersplitterung jedoch schlecht begründet. Bauriedl benutzt im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen das Modell der „Immunologie“, um die richtigen, „heilsamen Eingriffe in das politische und gesellschaftliche System“ (49) zu begründen: Damit sich der menschliche Organismus „gesund“ (48) erhalten kann, muß unser Körper Signale aussenden und empfangen“ (ebd.) und die erhaltenen an die richtigen Stellen weiterleiten. „Sich entwickelnde Krebszellen müssen sofort bekämpft werden“ (49), um den „Prozeß“ Gesundheit vor „Giften“ zu schützen. Weil nun jede/r von uns Teil dieser Gesellschaft ist, in der er/sie ebenfalls andauernd Botschaften empfängt und aussendet, stellt die Autorin die Frage, was denn nun „näher liegt“, als das System der Immunologie auf „intra- und interpsychische Systeme zu übertragen“ (49) und von diesen wiederum auf die Bereiche Politik und Gesellschaft. Die mögliche Antwort, daß es näher läge, dieses biologisch-medizinische Modell nicht auf andere Bereiche zu übertragen, weil sich beispielsweise ein Neonazi damit genausogut seine den Organismus „deutsches Volk“ zerstörende Krebszellen „Ausländer“ erklären und deren „Bekämpfung“ rechtfertigen könnte, diese mögliche Antwort diskutiert Bauriedl erst gar nicht. Da aber diese Art des Umgangs (die zentralistische, -K.W.-) miteinander nicht der menschlichen Natur entspricht, wird überall dort, wo in dem beschriebenen Sinne Gewalt ausgeübt wird, das sozio-psycho-somatische Weber Immunsystem geschädigt. Es kommt zu „Krebsgeschwüren“ verschiedener Art, wie z.B. staatlichen Nachrichtendiensten und anderen Datenbanken zur „Erfassung der Bürger“, zur Produktion und Anwendung von Waffen und allen anderen Formen der Gewalt.“1 Kein Wunder, daß Bauriedl mit dieser Art Erklärung für Nachrichtendienste und Großprojekte das erzählt, was die Lebensphilosophen Anfang des Jahrhunderts relativ unbewußt und die Nazis (zumindest der lebensreformerische und bündische Teil) relativ klar ausdrückten: Das „Gute“ an der Welt ist das saubere, gesunde Immunsystem sowohl des einzelnen als auch des Volkskörpers, das durch die industriellen Gifte verkrebst wird. Keine Frage danach, wer mit welchem Interesse an der Erfassung von BürgerInnen und deren Gewissen beteiligt ist, welche Kräfte in welcher Struktur (eine einfache Erklärung für manche Dinge wäre beispielsweise die Profitlogik, eine andere die Tendenz zur Monopolisierung im Kapitalismus) die Vergiftung natürlicher Ressourcen bedingen. Und ist es wirklich eine Krankheit, wenn Öko-Institute und internationale Umweltorganisationen Datenbanken anlegen, um umfassende Trends über die Zerstörung der Erde zu erfassen? Mit der Begrifflichkeit des „sozio-psycho-somatischen“ Immunsystems verschwinden alle Differenzen, erstrebenswert bleibt scheinbar nur der gesunde Mensch in gesunden Beziehungen. Bauriedls psychologische Systemtheorie baut auf die „Parallelität der Bewußtseinsstrukturen zwischen Individuen und Gemeinschaft“2 und die „Einbeziehung der eigenen Person in die Betrachtung des Systems“ (ebd.). Außerdem sei von entscheidender Bedeutung, nicht nur die offensichtlichen Botschaften, sondern auch deren „unbewußte Inhalte“ (43) zu analysieren, welche zwischen Menschen im besten Falle „dialogisch“ ausgetauscht werden sollten. Am Beispiel der psychoanalytischen Praxis - also Bauriedls klinischer Erfahrung - verdeutlicht sie, daß nicht 1 Thea Bauriedl, Wege aus der Gewalt. Analyse von Beziehungen. Freiburg (Herder) 1993. 2 Obwohl Bauriedl in ihrem Buch „Die Wiederkehr des Verdrängten“ auf über 40 Seiten der Frage nachgeht, ob man „Erkenntnisse aus der Psychoanalyse auf die Politik übertragen“ (15) könne, kann sie keine klare Antwort darauf geben. Vielmehr versteigt sie sich zu Aussagen wie der, daß Politik und Psychoanalyse „sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Störungen“ (13) befassen würden. Zitate aus: Thea Bauriedl, Die Wiederkehr des Verdrängten. München (Piper) 1986. Leserbrief: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden nur das Verhalten in Systemen entscheidend sei, sondern ebenso die verschiedenen Bedeutungsebenen des beobachteten Verhaltens, die jedoch ausschließlich Interpretationen des Beobachters sind: „Um nicht „wild' zu interpretieren ist deshalb jeweils der Dialog mit den Personen nötig, deren Verhalten interpretiert wird. Idealerweise müßten sie immer um eine Antwort auf die Frage gebeten werden, ob sie sich bei diesem Verhalten wirklich so fühlen, wie ich annehme. Ein Problem der Psychoanalyse ist dabei, daß viele Menschen die Gefühle oft nicht oder noch nicht wahrnehmen können, die ich aus meiner Erfahrung bei ihnen annehme, und daß sie deshalb gelegentlich meine Vermutungen auch deshalb (zunächst) ablehnen, weil sie sich selbst an den angesprochenen Stellen nicht kennen oder derzeit nicht kennen lernen wollen (können)“ (45). An diesem Zitat wird deutlich, wie wenig Bauriedl bewußt ist, daß in der therapeutischen Beziehung keine Gleichrangigkeit zwischen Therapeutin und Klient/in herrscht, in der ein herrschaftsfreier Diskurs über Wahrheit oder Falschheit von Verhalten oder Gefühlen und deren Interpretation möglich wäre. Was sich zuerst als „Problem der Psychoanalyse“ darstellt, daß nämlich die Klient/innen sich in keinem dialogischen Prozeß befinden, wird im nächsten Atemzug zum Problem eben dieser umgemodelt. Nun erscheint die Analytikerin als Wissende und damit ihre Interpretationen als wahre und die „vielen Menschen“ können oder wollen eben nicht wahrnehmen, was wirklich hinter ihrem Verhalten steckt. Um dieser in der therapeutischen Beziehung real existierenden Machtfrage aus dem Weg zu gehen, beschränkt sich Bauriedl darauf, den Weg schlicht zum Ziel zu machen: Mit den Antworten „Nein“ oder „Ja“ ist also in einem psychoanalytischen Gespräch meine Hypothese weder bestätigt noch widerlegt. Das ist weniger problematisch als häufig angenommen wird. Denn nicht die sofort verifizierte oder falsifizierte Hypothese ist in dieser Art des „Forschens“ das wichtigste Element, sondern der Prozeß der Verständigung, an dem beide Partner teilnehmen und sich gegenseitig korrigieren. Heilsam ist nicht die „Wahrheit an sich“, sondern das Gespräch“ (45). Diese Orientierung auf den Prozeß, den Weg und nicht das Ziel überträgt Bauriedl dann auch auf die dialogische Regelung gesellschaftlicher Weber Konflikte: dort gehe es ebenfalls vor allem um die „Pflege einer guten Gesprächskultur“ (46), in der man sofort merken würde, wenn beispielsweise „militärische Phantasien überhandnehmen“ (ebd.) würden. Diese würden sich nämlich als „Gewaltphantasien“ im Umgang miteinander äußern und somit wäre „das Prinzip des 'runden Tisches', der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Teilnehmer“ (47) durchbrochen. Entscheidend an Bauriedls Systemtheorie ist, daß geredet wird, daß alles im Fluß ist und Dialoge geführt werden auf gleicher Ebene: es geht „um das Gespräch, den Prozeß des Suchens und Findens einer ... Lösung“ (ebd.). Die radikale Veränderung von Herrschaftsstrukturen, gar das Denken an deren Abschaffung oder auch die Entmächtigung der Herrschenden ist nicht so sehr Bauriedls Anliegen. Sie geht davon aus, daß „gute Politik ... gute zwischenmenschliche Beziehungen“ (47) voraussetzt. Und die guten, gewaltfreien Subjekte in diesen Beziehungen werden von denen mit „Gewaltphantasien“ getrennt, damit das Gespräch gut bleibt, der Tisch rund und der Prozeß im Fließen. „Gute Politik“ aber zielt auf die „Auflösung von Gewalt“ (ebd.), wobei mit keiner Silbe davon gesprochen wird, welche praktischen Folgen aus diesem hehren Ziel abgeleitet werden können. Das Ineinssetzen von Weg und Ziel und dazu das Verwechseln von heute existierenden Gewaltverhältnissen mit einer gewaltfreien Gesellschaft als Ziel pazifistischer Politik durch Thea Bauriedl hat folgende Konsequenzen: Da Bauriedl Gewalt nicht als eine den gesellschaftlichen Verhältnissen inhärente Praxis, sondern als „Substanz“ denkt (deswegen auch das „Auflösen“ ohne Benennung der Lösungsmittel), wird diese enthistorisiert und mythisiert. So schreibt die Autorin in ihrem Buch „Wege aus der Gewalt“, Freiburg (Herder) 1993, von der „unaufgearbeiteten Gewalt ... zwischen Völkern oder Volksgruppen“ (13), die jederzeit wieder „bereitstehen“ (ebd.) könne. II. Macht und Ideologie ... Obwohl Bauriedl behauptet, sie wolle der Politik ihre relative Autonomie belassen (z.B. Thea Bauriedl, Die Wiederkehr des Verdrängten. Psychoanalyse, Politik und der einzelne. München/Zürich (Piper) 1986, S.10) und „vor allem auf die Chancen hinweisen, die ... in einem psychoanaly- Leserbrief: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden tischen Verständnis von politischen Zusammenhängen liegen“3, ist sie durchweg unfähig, auf von ihr analysierte Themen (Gewalt, Sucht, Politik etc.) anders zuzugehen als mit einer rigiden Vereinnahmungsstrategie. Die Kategorie, mit der alle menschlichen und gesellschaftlichen Formen und Prozesse besehen und vereinnahmt werden, ist die der Zwischenmenschlichkeit, der zwischenmenschlichen Beziehungen. Kritisches Unterscheidungsvermögen, Differenzierung und Abgrenzung fordert Bauriedl zwar, ihre Sprache produziert jedoch genau das Gegenteil. In ihrer Gleichmacherei von Täter und Opfer, von Herrschenden und Unterdrückten, von Armen und Reichen, Therapeutin und Patientin gibt es keine Grenzen mehr, keine strukturellen Unterschiede oder Abgrenzungen. Was Bauriedl aus ihrer Analyse ausklammert, sind Machtverhältnisse. Wie schon weiter oben am Beispiel ihrer Rede über Therapeutin und Patientin gezeigt, werden über die Konstruktion des „Dialogischen“ alle Teilnehmer eines Gespräches gleich. Weil ihr „der Respekt für die Angst und den Schmerz ein Hauptanliegen“ ist, werden alle Ängstlichen und Leidenden zu Gleichen gemacht. Der sprachlich konstruierte Handlungs(spiel)raum für die einzelnen Subjekte ist bei ihr grenzenlos und gleichzeitig ungreifbar. Es gibt keine Distanz zwischen verschiedenen Ereignissen, weil wir alle betroffen sein sollen, sind wir auch alle gleich. Im „Widerspruch“ kommt diese Gleichmacherei so vor: „Bei genauer Untersuchung der Botschaften können wir sehr präzise herausfinden, ob wir den Lebenswillen in unserem Land und im ehemaligen Jugoslawien unterstützen, oder ob wir vielleicht resignierend und schweigend mit der Gewalt einverstanden sind, die hier wie dort geschieht“ (49). Was immer man/frau sich darunter vorstellen soll, einen „Lebenswillen“ zu unterstützen; über den Begriff der „Gewalt“ ist „hier wie dort“ alles gleichgemacht. Ob in Jugoslawien oder in der Bundesrepublik, alle Menschen sind verantwortlich für das, was gerade geschieht. („Aus unserer nationalsozialistischen Geschichte haben wir gelernt, daß auch Schweigen und Nichts-Tun verantwortet werden müssen“ [ebd.]). Die Ignoranz gegenüber dem Unterschied von Tätern und Opfern hat Bauriedl schon soweit geführt, deutsche Soldaten als „Opfer des Holocaust“ zu betrau3 Bauriedl 1993, S.178. Weber ern und den geplanten industriellen Massenmord an den Juden mit den „in Kauf genommenen Nebenfolgen industrieller Umweltbelastung“4 gleichzusetzen. Wer es nicht glauben will, lese es nach: „Aber der implizite Schlachtruf „Volk ohne Energie“ dient wie damals der Legitimation zur Machtergreifung, jetzt nicht mehr nur gegenüber Nachbarvölkern und gegenüber der Dritten Welt, sondern auch und besonders gegenüber den zukünftigen Generationen. Damals verfielen Juden, Russen, Polen, Tschechen, Franzosen, die eigenen Soldaten dem Holocaust, weil die Mehrheit des deutschen Volkes glaubte, ein Herrenvolk zu sein“.5 Bauriedls Schreibweise arbeitet mit einer eingängigen Methode. Sie schreibt chronisch von „wir“, was psychoanalytisch für einen Größenwahn oder aber auch für die Unerträglichkeit stehen könnte, das „Schlimme“ in dieser Welt alleine aushalten zu müssen. Diskursanalytisch betrachtet erzeugt sie bei den LeserInnen so etwas wie eine Integration in eine imaginäre Gruppe oder Gemeinschaft. Der andauernde Appell an ein WIR erzeugt in Bauriedls Texten zur „Ausländerfeindlichkeit“ ein völkisches LeserInnensubjekt. So ist völlig klar, daß sie von sich selbst als deutscher Frau spricht und von den Bevölkerungsmitgliedern, die einen deutschen Paß haben, als „unser Volk“6. Über das Thema „Spaltungen“ erklärt sie, wie Ausländerfeindlichkeit entsteht und wie falsch WIR damit bisher umgegangen sind. Bauriedls Angst vor Spaltungen, die gewiß Ursache von Rassismen sein können, führt sie in der völligen Negation dazu, keinen Unterschied mehr machen zu können zwischen den Interessen der derzeitigen Bundesregierung und beispielsweise 4 Micha Brumlik, Zur aktuellen Diskussion um den Nationalsozialismus, in: R. Cogoy/I. Kluge/B. Meckler, Erinnerung einer Profession. Erziehungsberatung, Jugendhilfe und Nationalsozialismus, Münster (Votum) 1989. - Brumlik kritisierte auf der Bundeskonferenz der Erziehungsberatungsstellen im Oktober 1988 Bauriedls damals gerade erschienenes Buch „Das Leben riskieren“ als „realitätsblinde Verleugnung des Nationalsozialismus und der Massenvernichtung“. 5 Thea Bauriedl, Das Leben riskieren. Psychoanalytische Perspektiven des politischen Widerstands. München/Zürich (Piper) 1988. - Bauriedl hat meines Wissens nie auf die Kritik jüdischer KollegInnen geantwortet oder sich entschuldigt. Zumindest ist in keiner ihrer Veröffentlichungen auch nur ein Bedauern über ihre damaligen Sätze zu finden. 6 Thea Bauriedl, Verstehen - und trotzdem nicht einverstanden sein. Interview in: Psychologie Heute, 2/93, S.30. Leserbrief: Die Unterdrückten gegen die Herrschenden PazifistInnen in diesem Land. So sagt sie: „Dabei könnten gerade wir ein Land sein, das sich für Frieden und Freiheit einsetzt. Wir könnten eine zivile Großmacht sein und eine wirkliche neue Rolle übernehmen“7. Von der völligen Plattheit solcher Aussagen abgesehen ist die entscheidende Funktion eines solchen Satzes, den LeserInnen eine Handlungskompetenz anzubieten (sich für etwas einsetzen, eine Rolle übernehmen), die, wie oben angedeutet, nur über die völlige Identifikation mit Deutschland zumindest symbolisch ausgeübt werden kann. Stuart Hall bezeichnet diese Textfiguren als „Mechanismen der konnotativen Verdichtung“8 in ideologischen Diskursen. Dabei werden wie in Thea Bauriedls Arbeiten Klassen in Individuen zerlegt und diese Individuen wieder zusammengesetzt in neue Einheiten und Zusammenhänge. Bei Bauriedl funktioniert das über die Verdichtungsformel des WIR, die jeweils mit verschiedenen imaginierten Gemeinschaften konnotiert wird: einmal ist es die Gruppe der Ökologen, einmal sind es WIR Linken, einmal sind es WIR Deutschen usw. Die LeserInnen müssen sich, wollen sie nicht eine permanente selbstreflexive Distanz zum Text aufrechterhalten, spontan als Teil des „Volkes“ oder des deutschen Staates wahrnehmen. Diese entpolitisierende Sprache, die Subjekte zu völkischen Individuen macht und den Staat personalisiert („Wenn Deutschland ein positives Selbstbild als politisches Subjekt entwickeln könnte“9), „gewinnt den Anschein einer plausiblen Erklärung nur durch einen hilflos machenden Reduktionismus“10. Das Ineinssetzen von politischem „wir“ und allgemein menschlichem „wir“, wie Bauriedl es als politisch-psychologische Mahnerin praktiziert, ist trotz aller unterstellten guten Absicht nichts als kontraproduktive Ideologie. 7 ebd., S.37. Stuart Hall, Rasse - Klasse - Ideologie, in: Argument 122, Juli/August 1980, S.509. 9 Bauriedl 1993 (Interview), S.39. 10 Stuart Hall 1980, ebd., S.509/10. 8 In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 115 AutorenInnenverzeichnis AutorInnen KARL-HEINZ BARTH, Leiter der Stabstelle Recht im Amt für Abfallwirtschaft München ALEXANDER VON PECHMANN Dr.phil., Lehrbeauftragter an der VHS München ROGER BEHRENS, Student der Philosophie, Hamburg FERDINAND ROTZINGER, Leiter der Planungsabteilung im Amt für Abfallwirtschaft München MARTIN BONDELI, Dr. phil. habil., Philosoph, Bern/Fribourg STEPHAN DÜNNWALD M.A., Doktorand der Völkerkunde, München JOACHIM H. SPANGENBERG Dipl.Biologe, Mitarbeiter des Institut für Klima, Umwelt, Energie (Wuppertal), Verantwortl. Betreuer des Kuratoriums der „Duales System Deutschland GmbH“, Wuppertal WOLFGANG HABERMEYER M.A., Doktorand der Völkerkunde, München ELMAR TREPTOW Dr.phil., Universitätsdozent für Philosophie, München WOLFGANG HERRMANN Dr.phil., Gastprofessor und Lehrbeauftragter für Sozialethik und Praktische Theologie an der Uni Marburg und Gießen, Holzappel KLAUS WEBER Diplompsychologe, München PETER DEEG, Mitglied im Landesarbeitskreis Abfall im Bund Naturschutz Bayern, München IGNAZ KNIPS, Doktorand der Philosophie, Köln KONRAD LOTTER, Dr.phil., Lehrbeauftragter am Institut für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der Uni München In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 116 Impressum Impressum WIDERSPRUCH Münchner Zeitschrift für Philosophie Erscheinungsweise halbjährlich 14.Jahrgang (1994) Inhaber MÜNCHNER GESELLSCHAFT FÜR DIALEKTISCHE PHILOSOPHIE Tengstr.14, 80798 München Tel. 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