Ariadne-Fäden Hofmannsthal und Richard Strauss im Labyrinth von Molière und Mythos, Commedia dell'arte und Opera seria Von Ulrich Mutz Sprecher: Andrea Witt, Bodo Primus (Sprecher 1) Bernd Kuschmann (Sprecher 2) Autor Musik 1) Richard Strauss: Ouvertüre zum Vorspiel, aus „Ariadne auf Naxos“ Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646 CD: EMI 7 64159 2, 1. CD, Tr. <1>, 0:00-ca. 1:15, dann zum folgenden Text ausblenden 0‘55 Sprecher 1: „[...] wenn zwei Menschen wie wir eine solche 'Spielerei' machen, so muß es eben eine sehr ernsthafte Spielerei werden, wir müssen nach Kräften von unserem Besten hineinstecken, irgendwann, irgendwo, irgendwie wird’s uns schon gelohnt werden.“ Autor: Mit diesen Zeilen ermuntert Hugo von Hofmannsthal im Juni 1911 sein künstlerisches Alter ego zur Arbeit: den Komponisten Richard Strauss. Seit fünf Jahren verbindet den Dichter mit dem Musiker eine singuläre schöpferische Partnerschaft. Ihre erste gemeinsame Oper „Elektra“ hatte die beiden Künstler zusammengeführt. Im Januar 1911 ging in Dresden auch der „Rosenkavalier“ erstmals über die Bühne, das zweite Gemeinschaftswerk des kongenialen Opern-Tandems. - Schon bald nach diesem Uraufführungserfolg nehmen Hofmannsthal und Strauss ein neues Projekt in Angriff: „Ariadne auf Naxos“: eine Oper sui generis, eingebettet in Molières Komödie „Der Bürger als Edelmann“. Hofmannsthal hat im März 1911 die zündende Idee zu dieser... 2 Sprecher 1: „[...] 30-Minuten Oper für kleines Kammerorchester, die in meinem Kopf so gut wie fertig ist, benannt 'Ariadne auf Naxos', und gemischt aus heroisch-mythologischen Figuren im Kostüm des XVIII. Jahrhunderts in Reifröcken und Straußenfedern und aus Figuren der commedia dell'arte, Harlekins und Scaramouches, welche ein mit dem heroischen Element fortwährend verwebtes Buffo-Element tragen […] ich glaube, das kann etwas sehr Reizendes werden, ein neues Genre, das scheinbar auf ein älteres wieder zurückgreift, wie ja alle Entwicklung sich in der Spirale vollzieht.“ Autor: Oder in der noch komplexer angelegten Form eines Labyrinths. Darin liegen auch die mythologischen Ursprünge der „Ariadne“-Oper: im Labyrinth des kretischen Königs Minos nämlich, das sich dieser vom Erfinder Daidalos erbauen ließ; manchen Erzählungen zufolge soll es in Form einer Spirale angelegt gewesen sein. Minos verbirgt darin den gefürchteten Minotaurus, ein widernatürlich gezeugtes Zwitter-Wesen aus Mensch und Stier. Minos' Frau Pasiphae hat es zur Welt gebracht; damit ist der Minotaurus zugleich der Halbbruder ihrer Tochter Ariadne. - Aus den „Metamorphosen“ des Ovid: Sprecher 2: „Hier wird das Ungeheuer, halb Mann, halb Stier, eingeschlossen. Nachdem es zweimal seinen Durst mit Athenerblut gestillt hatte, bezwang es Theseus, auf den nach wiederum neun Jahren das Los gefallen war. Weil eine Jungfrau“ - Autor: Ariadne - Sprecher 2: „[Weil eine Jungfrau] ihm half, kam er zur schwer auffindbaren Tür zurück, die keiner seiner Vorgänger zum zweiten Mal gesehen hatte; er aber hielt sich an den Faden der Ariadne und segelte sofort mit der entführten Königstochter nach Naxos. An jenem Gestade ließ er seine Gefährtin grausam zurück. Der Verlassenen, hemmungslos Klagenden schenkte Bacchus seine Liebe und seinen Schutz, und um sie ewig durch ein Gestirn zu verherrlichen, nahm er von ihrer Stirn die Krone und ließ sie zum Himmel aufsteigen. Sie schwebt durch die leichten Lüfte empor, und während sie schwebt, verwandeln sich die Edelsteine in funkelnde Sterne […].“ 3 Autor: Das glückliche Ende der Geschichte, mit der Hofmannsthal und Strauss einen der meistvertonten mythologischen Stoffe aufgreifen - seit der Geburtsstunde der Oper um 1600. Zusammen mit dem „Orpheus“-Mythos stand „Ariadne“ an der Wiege der Gattung Oper – namentlich durch Claudio Monteverdis Vertonung, aus der immerhin das bewegende „Lamento d'Arianna“ auf uns gekommen ist. Gut anderthalb Jahrhunderte danach eröffnet Georg Anton Benda damit die Geschichte des deutschsprachigen Melodrams. Die Doppeldeutigkeit dieses Begriffs lenkt schon auf die tragische Eigenart von Figur und Stoff. Auch Hofmannsthal sieht in der von Theseus einsam zurückgelassenen, um den verflossenen Geliebten trauernden Ariadne einen bestimmten Frauentypus: Ariadne verkörpert eheliche Treue, diametral entgegengesetzt der Zerbinetta-Figur aus dem Personal der Commedia dell'arte. Sie flattert wie ein bunter Schmetterling von einem Mann zum anderen. - Hier liegt für Hofmannsthal auch... Sprecher 1: „[...] der geistige Angelpunkt des Stückes – in der diametralen Kontrastierung des Frauencharakters – in Ariadne-Zerbinetta [...]“. Autor: Als geeigneter Rahmen für deren Gegenüberstellung in der „Ariadne“-Oper scheint Hofmannsthal das Stück eines anderen Musiktheater-Tandems: Jean Baptiste Molières Ballettkomödie „Der Bürger als Edelmann“ von 1670, zu der Molières Zeitgenosse Lully die Musik komponiert hatte: für König Ludwig XIV von Frankreich. Sprecher 1: „Ich habe den Molière, immer hatte ich nur an die minder bekannten seiner Stücke gedacht; in Paris stand es auf einmal klar vor mir, wie vortrefflich der 'Bourgeois Gentilhomme' sich eigne, ein solch opernartiges Divertissement einzulegen.“ Autor: Hofmannsthal Mitte Mai 1911 an Richard Strauss. Der Komponist antwortet postwendend zwei Tage später: Sprecher 2: „Lieber Freund! Hochentzückt über Ihren Brief! Schicken Sie – ich bin bereit! Herzlichste Grüße Ihr Dr. Richard Strauss“ 4 Autor: Hofmannsthal richtet Molières Komödie neu ein und zieht den Fünfakter auf zwei Akte zusammen. Titelfigur ist der Tuchhändler Jourdain, ein neureicher bürgerlicher Kretin, der alles dafür tut, in die Welt des Adels aufzusteigen und sich dabei doch nur blamiert. Jourdain ist ein Bruder im Geiste des frisch geadelten Herrn von Faninal aus dem „Rosenkavalier“. Beider Lebensziel ist es, vom alten Adel akzeptiert zu werden; doch mehr noch als Faninal setzt sich der törichte Jourdain in der Verfolgung dieses Ziels mehr und mehr der Lächerlichkeit aus. - Zu Hofmannsthals Adaption komponiert Strauss eine Schauspielmusik mit Orchesterstücken, melodramatischen Abschnitten, gesungenen Nummern und Tanzeinlagen. 1920 destilliert er aus dieser graziösen, historisierenden Musik noch eine Orchestersuite, die der Komponist auch wiederholt vor dem Mikrophon dirigiert. Sprecher 2: „Seit heute ist nun die ganze 'Ariadne' glücklich in meinem Besitz und gefällt mir bis auf den Schluß recht gut: ich denke, es wird sich alles hübsch verwenden lassen. Nur die Aussprache zwischen Ariadne und Bacchus hätte ich mir noch bedeutender gewünscht, mit lebhafterer innerer Steigerung […] dionysischer - bitte spannen Sie Ihren Pegasus noch ein bißchen, ich kann Ihnen ruhig noch vier Wochen Zeit dafür geben, bis ich mit dem Komponieren nachgekommen bin.“ Autor: Nein, ganz und gar glücklich ist Richard Strauss mit Hofmannsthals Operndichtung offenbar noch nicht. Diese verhaltene Reaktion verstimmt wiederum den sensiblen Hofmannsthal. Sprecher 1: „Mein lieber Doktor Strauss, ich will es offen sagen, daß mich Ihre sehr dürftigen und kühlen Worte über die fertige 'Ariadne', verglichen mit der freundlichen Aufnahme jedes einzelnen Aktes des 'Rosenkavalier', die mir als eine der wesentlichsten Freude in jener Sache lebhaft im Gedächtnis sind, ein bißchen verdrossen haben.“ Autor: In der „Ariadne“ stehen einander nicht nur zwei polar entgegengesetzte Frauengestalten gegenüber, die Arbeit daran konfrontiert auch zwei durchaus gegensätzliche Künstlercharaktere: Der instinktsichere Musiktheatermann Strauss und der 5 feinsinnige Ästhet Hofmannsthal prallen in ihrer kreativen Korrespondenz mehr als einmal aufeinander. Die gemeinsame Arbeit daaran erstreckt sich mit den späteren Revisionen von Oper und Schauspiel von 1911 bis 1918. Als die beiden Autoren 1917 um eine Überarbeitung des Molière-Stücks ohne die „Ariadne“-Oper ringen, kommt es sogar fast zum Bruch zwischen den beiden Künstlern. Aber das ist ein anderes Kapitel. Vielleicht liegt Hofmannsthal ja nicht ganz falsch, wenn er Strauss vorhält: Sprecher 1: „[...] Sie sind in vielen künstlerischen Gaben und Kräften mir überlegen, Stilgefühl aber habe ich mehr und eine größere Sicherheit des Geschmacks, das hervorzubringen, was zwar im Moment nicht ganz dem Geschmack der Masse gemäß ist, aber eine gewisse Dauer verbürgt.“ Autor: Schon in der ersten Etappe der Arbeit, im Mai 1911, dringt Hofmannsthal auf eine strikte Kompetenzverteilung und steckt die eigenen Zuständigkeiten fein säuberlich ab: Sprecher 1: „[...] wir müssen die Ressorts reinlich trennen. Alles Szenische, auch das Malerische, das Stilistische, die Tänze u[nd]s[o]f[ort] obliegen mir.“ Autor: Und so verlangt der feinsinnige Ästhet Hofmannsthal für die Ausführung der Komödie auch nur das Beste - den Besten: Allein Max Reinhardt und sein Ensemble scheinen ihm sensibel genug für die Inszenierung seiner Molière-Adaption. Ihm widmen die beiden Autoren das ganze Stück auch: „in Verehrung und Dankbarkeit“. Zumal Reinhardt die Dresdner Uraufführung des „Rosenkavaliers“ als Regisseur entscheidend mitgestaltet hat – ohne auf dem Theaterzettel genannt zu werden. Hofmannsthal und Strauss sind dem Theatermann noch etwas schuldig. Für die Uraufführung der MolièreKomödie reist Reinhardt mit seinem Ensemble eigens aus Berlin nach Stuttgart. Hier hebt er das ganze Stück – Schauspiel und Oper – am 25. Oktober 1912 aus der Taufe: im Rahmen einer Strauss-Festwoche und zur Einweihung der neuerrichteten königlichen Hoftheater. Am Dirigentenpult steht der Komponist. 6 Musik 2) Richard Strauss: 2‘00 Vorspiel zum II. Aufzug („Das Menuett des Lully“), aus „Der Bürger als Edelmann“ (Suite) Staatskapelle Berlin, Leitung: Richard Strauss; LC: 0173 CD: DGG 429 925-2, , 2. CD, Tr. <18>, 0:00-ca. 0:37, dann zum folgenden Text ausblenden Sprecher 1: „Ein merkwürdiger Abend. Was in dieser Hofmannsthal'schen Schwächebekundung vorgeht, weiß ich heute noch nicht. Sobald Molière zu reden aufhört und jener anfängt, sobald Ariadne zu opern beginnt, wächst eine Langweiligkeit auf alle Versammelten; grauenvoll. Das Vermengen des Ernsten, das nicht ernst ist, mit dem Heiteren, das nicht heiter ist... Apart Gemachtes und nicht Gekonntes. Trostlos. Abseits hiervon wispert, raschelt, hüpft, pfeift, lockt, summt, schreit, lächelt, klagt eine Musik von Richard Strauss wie... Wie von einem Mozart, der holdes Meistersingerweben und Leo Fall studiert hätte.“ (Alfred Kerr, zit.n. Wilhelm, 176) Autor: So vernichtend urteilt der Kritiker Alfred Kerr mit seiner notorisch spitzen Feder. Zu heterogen ist die kühne Fügung der Molière-Komödie und der „Ariadne“-Oper geraten. Weder das Schauspielpublikum, noch die Opernliebhaber scheinen am Ende wirklich befriedigt von dem Resultat, das für eine Vorstellung gleich zwei Ensembles blockiert: Schauspieler und Opernsänger - und obendrein auch noch Tänzer. Die Spieldauer mit Pausen übertrifft mit summa summarum sechs Stunden die Gesamtlänge einer ausgewachsenen Wagner-Oper. An dieser enormen Ausdehnung des musiktheatralischen Riesen-Babys ist allerdings auch der schwäbische Landesherr nicht ganz unschuldig. Strauss, der sich dennoch bis zum Ende seines Lebens seine Anhänglichkeit an das Stück bewahrt, drei Jahrzehnte später: Sprecher 2: „[...] zwei Dinge waren nicht bedacht worden. 1. daß das Publikum auf die 'Straussoper' so gespannt war, daß es dem prächtigen (von Reinhardts Schauspielern [...] herrlich gespielten) Molière nicht das nötige Interesse entgegenbrachte, 2. daß der liebenswürdige König Wilhelm von Württemberg nach Molière in bester Absicht einen 7 ¾stündigen Cercle abhielt, der die 1 ½stündige 'Ariadne' etwa 2 ½ Stunden nach Theateranfang beginnen ließ, vor einem bereits etwas verstimmten und ermüdeten Publikum.“ Autor: Das Resümee des alten Strauss: Sprecher 2: „Die hübsche Idee – von der nüchternsten Prosakomödie bis zum reinsten Musikerlebnis – hatte sich praktisch in keiner Weise bewährt; ganz banal gesprochen: weil ein Publikum, das ins Schauspielhaus geht, keine Oper hören will, und umgekehrt. Man hatte für den hübschen 'Zwitter' kein kulturelles Verständnis.“ Autor: Strauss' saloppe Klassifizierung des ganzen Opus als „Zwitter“ ist sogar noch eine gelinde Untertreibung. Denn nicht nur Sprech- und Musiktheater, Opera seria und Commedia dell'arte waren hier miteinander verquickt, sondern auch noch Melodram und Tanz. Das waren vielleicht zu viele verschiedene Ingredienzien für ein Bühnenwerk - trotz den feinen Ariadne-Fäden, die die heterogenen Elemente zusammenhalten solten; aber die wohl zu fein gesponnen, um die zentrifugalen Kräfte zu binden. - Was tun? Das war nach der glücklosen Uraufführung die Frage. Die siamesischen Zwillinge mußten getrennt werden. Gesagt, getan. Also fort mit Molières „Bürger als Edelmann“ – jedenfalls fürs erste. Hofmannsthal verfaßt ein neues szenisches Vorspiel zur „Ariadne“-Oper, das die Molière-Komödie ersetzen und die folgende Vermischung von mythologisch-tragischer Oper und italienischer Stegreifkomödie erklären soll. Wie Molières Stück spielt sie Ende des 17. Jahrhunderts. Doch nicht mehr das Frankreich des Sonnenkönigs, sondern das Palais des reichsten Mannes von Wien ist Schauplatz der verknappten Rahmenhandlung. Strauss gibt dem neuen Vorspiel über weite Strecken die musikalische Anmutung eines großen Seccorezitativs. Strauss: Sprecher 2: „Vor dem Stück selbst habe ich eine kleine rustikale Ouvertüre gedacht, die dann in das Liedchen übergeht, das der Schüler eben komponiert. Dies ist bereits fertig.“ 8 Musik 3) Richard Strauss: Ouvertüre zum Vorspiel, aus „Ariadne auf Naxos“ Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646 CD: EMI 7 64159 2, 1. CD, Tr. <1>, 0:00-ca. 1:15, dann zum folgenden Text ausblenden 2‘05 Sprecher 1: „Ich lasse also dieses Vorspiel mit den bekannten Figuren (Komponist, Tanzmeister, Sängerin, Tenor, Zerbinetta u[nd]s[o]f[ort]) nicht auf der 'Ariadne'-Bühne spielen, sondern hinter dieser, in einem Saal, wo die Garderoben improvisiert sind. […] Der Mäzen (= Jourdain) bleibt namenlos, allegorisch, im Hintergrund, nur durch seine Lakaien vertreten, die seine bizarren Anordnungen melden. In den Mittelpunkt stelle ich noch mehr als bisher das Musikerschicksal, verkörpert durch den jungen Komponisten“. Autor: Hofmannsthal zum Szenario des Vorspiels. Die beiden kontrastierenden Frauenfiguren – die Sängerin der Ariadne und Zerbinetta – sind hier auf der Hinterbühne zu erleben, privat, sozusagen in Zivil. Die Perspektive ist umgekehrt: Bevor das Spiel im Spiel beginnt, wird der Garderobentrakt zur Bühne. Zwischen Vorspiel und Oper findet dann ein Tausch der Perspektiven statt: wie bei einer Drehbühne, die sich hinter geschlossenem Vorhang um 180 Grad gedreht hat. Jourdain ist völlig aus der Handlung eliminiert. Sein anonymer Nachfolger, der reichste Mann von Wien und ein ähnlicher Emporkömmling wie Molières Tuchhändler, tritt nur in Person eines Stellvertreters in Erscheinung, seines dünkelhaften Haushofmeisters: die einzige übriggebliebene Sprechrolle der Neufassung. Im Zentrum des Vorspiels steht das Schicksal des idealistischen jungen Komponisten, der die Oper geschaffen hat. Er ist für Hofmannsthal... Sprecher 1: „[...] eine symbolische halb tragische, halb komische Figur, die Antithese des ganzen Spiels [...]“. Autor: Strauss kann der Figur des Komponisten zunächst keine Sympathie entgegenbringen. Vor der Uraufführung der Neufassung schlägt er Hofmannsthal vor, die Partie mit einer Sängerin zu besetzen,.. 9 Sprecher 2: „[...] da die Tenöre so fürchterlich sind [...]“. Autor: Die Idee, den Komponisten als Hosenrolle anzulegen, geht wohl auf den Dirigenten Leo Blech zurück und knüpft anscheinend an die Partie des Octavian im „Rosenkavalier“ an. Doch Hofmannsthal ist zunächst strikt dagegen. Sprecher 1: „Ich fürchte, hier hat Sie der Theateropportunismus total auf den Holzweg gebracht. […] Dieses Verniedlichen gerade dieser Figur, um die der Geist und die Größe wittern sollen, in ein immer leise operettenhaftes Travesti, das ist mir, verzeihen Sie meine Offenheit, greulich.“ Autor: Das ist weder der erste noch die letzte Streitfrage zwischen den beiden Autoren. In der „Komponistenfrage“ setzt Strauss sich letztlich durch; er wird zur Hosenrolle. Sein alter Lehrer versucht ihm im Vorspiel schonend beizubringen, daß unmittelbar nach seiner neuen Opera seria eine Tanzmaskerade zur Aufführung kommen soll. Damit ruft er das blanke Entsetzen seine Schülers hervor – und auch dessen Verachtung für die real existierenden Verhältnisse am Theater. Sprecher 1: „Das Geheimnis des Lebens tritt an sie heran, nimmt sie bei der Hand – und sie bestellen sich eine Affenkomödie, um das Nachgefühl der Ewigkeit aus ihrem unsagbar leichtfertigen Schädel fortzuspülen.“ Autor: So sieht es jedenfalls der junge Komponist. Zu seinem Antagonisten im Vorspiel wird der pragmatisch-professionelle Tanzmeister – beide Rollen, wie auch die des Musiklehrers, übernimmt Hofmannsthal von Molière, doch baut er sie in seinem neuen Vorspiel entscheidend aus. Schon während der vorausgegangenen Arbeit an Moliéres Komödie hat Strauss eine Vorahnung davon. Ende Juli 1911 ermutigt er Hofmannsthal: Sprecher 2: „Ihr Brief bringt den glänzenden Einfall, die 'Ariadne' durch eine große Szene vorzubereiten, worin die ganze Handlung erklärt und motiviert wird. Das ist ausgezeichnet. […] Überhaupt sind Komponist und Tanzmeister zwei Figuren bei Molière, die ungeheuer 10 erweiterungsfähig sind. […] Das Molièresche Stück ist etwas dumm: es kann ein Schlager werden, wenn Sie die beiden Rollen des Komponisten und Tanzmeisters so ausbauen, daß alles darin gesagt ist, was heute über das Verhältnis von Publikum, Kritik und Zunft zu sagen ist. Es kann das Gegenstück zu den 'Meistersingern' werden, 50 Jahre später.“ Autor: Damit trifft Strauss den Nagel auf den Kopf. Nicht nur, weil auch in den „Meistersingern“ Heiteres und Ernstes miteinander verwoben sind, sondern weil sie mit ihrer ästhetischen Kardinalfrage auch Anspruch und Wirklichkeit der Kunst auf die Bühne bringen: mit all den Unzulänglichkeiten und allzumenschlichen Eitelkeiten, die besonders im Theater gang und gäbe sind. So auch hier: Opernensemble und Komödianten, Tenor und Primadonna, gönnen einander keinen Auftritt, keine Note. Ästhetisch oberflächlicher, doch professioneller Pragmatismus, personifiziert durch den Tanzmeister mit seiner Komödiantentruppe, trifft auf die Arroganz der Opernstars. Darüber schwebt die in idealistische Abgehobenheit der junge Komponist mit seinem altersgemäß schon ein wenig desillusionierten Lehrer zur Seite. Die Gegensätze spitzen sich zu, als der Haushofmeister eine neue Laune seines obersten Dienstherrn verkündet. Der Hausherr ist nämlich soeben auf die Schnapsidee gekommen, die Opera seria, und die StegreifKomödie nicht bloß unmittelbar nacheinander, sondern gleichzeitig aufführen zu lassen. Um anschließend auch noch ein Feuerwerk zünden zu lassen. Mit dieser Idee treibt er den Komponisten schier zur Verzweiflung. Musik 4) Richard Strauss: 1‘51 Ihnen allen habe ich eine plötzliche Anordnung, aus „Ariadne auf Naxos“ Erich-Alexander Winds, Sprecher; Theo Adam, Baßbariton; Gundula Janowitz, Sopran; Peter Schreier und James King, Tenor; Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646, CD: EMI 7 64159 2, 1. CD, Tr. <9>, 0:00-ca. 3:00, ein- und wieder ausblenden Autor: Anders als der idealistische Komponist und sein ernüchterter Lehrer sind der Tanzmeister und die Komödianten in ihrem Bühnenpragmatismus schnell zu jeglicher Konzession bereit. Zerbinetta weist die Komödianten ein: 11 Sprecherin: „Merkt auf, wir spielen mit in dem Stück 'Ariadne auf Naxos'. Das Stück geht so: eine Prinzessin ist von ihrem Bräutigam sitzengelassen, und ihr nächster Verehrer ist vorerst noch nicht angekommen. Die Bühne stellt eine wüste Insel dar. Wir sind eine muntere Gesellschaft, die sich zufällig auf dieser Insel befindet. […] Ihr richtet euch nach mir und sobald sich eine Gelegenheit bietet, treten wir auf und mischen uns in die Handlung!“ Autor: „Das Stück geht so“ - mit der naiven Formulierung macht Hofmannsthal deutlich: Zerbinetta erklärt die Oper ihren Kollegen vor ihrem eigenen, naiven Verständnishorizont: so wie Kinder einander ein Spiel erklären. Gänzlich verständnislos steht Zerbinetta natürlich dem Charakter der Ariadne-Figur gegenüber, den der verzweifelte Komponist so beschreibt: Sprecher 1: „Sie gibt sich dem Tod hin – ist nicht mehr da – weggewischt – stürzt sich hinein ins Geheimnis der Verwandlung – wird neu geboren – entsteht wieder in seinen Armen! - daran wird er zum Gott. Worüber in der Welt könnte eins zum Gott werden als über diesem Erlebnis?“ Autor: Bacchus, der die verlassene Ariadne am Ende erlösen und zur Frau nehmen wird, verwandelt dadurch eben nicht nur Ariadne, sondern wird auch selbst vom Knaben zum Gott. Überhaupt, Verwandlung: Sie ist für Hofmannsthal die Kernidee des ganzen Stücks. Sprecher 1: „Sie fragen mich, was es mit der Verwandlung auf sich hat, die Ariadne in Bacchus' Armen erfährt, denn Sie fühlen: hier ist der Lebenspunkt, nicht bloß für Ariadne und Bacchus, sondern für das Ganze.“ (297) Autor: So Hofmannstahl in einem seinerzeit auch publizierten Brief an Strauss. Treue und Wandelbarkeit versteht er als polare und unverzichtbare Kräfte im menschlichen Leben. Das betrifft auch Strauss und Hofmannsthal, die einander bei dieser neuen gemeinsamen Arbeit auch wieder aufs Neue anverwandeln - und sich dabei selbst treu bleiben müssen, 12 um künstlerisch authentisch zu sein. Es gilt aber aber auch für Opera seria und Commedia dell'arte, für Ariadne und Bacchus, Zerbinetta und den Komponisten. Interessant: Gerade die Verführungskünste der flatterhaften Zerbinetta lassen ihn für einen Moment den Glauben an die Heiligkeit und unversehrte Reinheit seiner Kunst wiedergewinnen. Einen Augenblick lang wähnt er in Zerbinetta eine verwandte Seele und schwingt sich zu einem hymnischen Preislied auf seine Kunst auf. Sprecher 1: „Musik ist heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut wie Cherubim um einen strahlenden Thron! Das ist Musik, und darum ist sie die heilige unter den Künsten!“ Musik 5) Richard Strauss: 1‘10 Musik ist eine heilige Kunst, aus „Ariadne auf Naxos“ Teresa Zylis-Gara, Sopran; Theo Adam, Baßbariton; Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646, CD: EMI 7 64159 2, 1. CD, Tr. <13>, ca. 2:10-ca. 4:14, ein- und wieder ausblenden Sprecher 1: „Endlich […] der lyrische Höhepunkt […] - der Ausbruch des Komponisten: 'Musik!' - eine Art von Preisliedchen (überhaupt hat das ganze Werk 'Ariadne' und Vorspiel eine entfernte rein geistige Analogie mit den 'Meistersingern').“ Autor: Darin kann Hofmannsthal Strauss nur recht geben. Hofmannsthal hat im Vorspiel... Sprecher 1: „[...] mit der Figur des Komponisten […], wie sie nun dasteht, tragisch und komisch zugleich, wie der Musiker in der Welt – die beiden Grundmotive des 'Ariadne' Werkes in die Brust des Musikers hineinverankert […], wogegen jede improvisatorische Mesalliance mit der Prosakomödie dauernd bestehen nicht kann und gewissermaßen nicht darf, weil allzu Kentauren- oder siamesisch-zwillinghaft.“ Autor: Oder: Minotauren-haft? So wie Theseus mit Ariadnes Hilfe den Minotaurus 13 bezwingt, so haben Strauss und Hofmannstahl auch den siamesischen Zwilling des Molière-Stücks und der „Ariadne“-Oper erfolgreich auseinanderoperiert. Was bleibt, ist das folgende, doppelbödige „Spiel im Spiel“, sprich: die Oper. Und bei allem Banausentum des neureichen Hausherrn: In dieser Aufführung ereignet sich dann tatsächlich das Wunder, daß Tragödie und Tanzmaskerade einander anverwandeln und etwas Neues, Großes entsteht. Die Art, wie das geschieht, gibt dem Strauss-Experten Ernst Krause recht, wenn er über „Ariadne“schreibt: Sprecher 1: „Sie ist das genialste und geistreichste Werk der Zusammenarbeit von Strauss mit Hofmannsthal: wenn er nämlich des Lebens opera seria mit des gleichen Lebens opera buffa zu mischen versteht, wie es der 'reiche Herr' anordnet...“ Musik 6) Richard Strauss: Ouvertüre zur Oper, aus „Ariadne auf Naxos“ Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646, CD: EMI 7 64159 2, 1. CD, Tr. <14>, 0:00-ca. 0:45, dann zum folgenden Text ausblenden 2‘10 Sprecher 1: „'Ariadne' hat, ästhetisch betrachtet, die schönste Musik von Strauss, die wohlklingendste und schwungvollste, und, wie er selbst sagt, seine 'modernste'. Sie verkörpert, zugleich volkstümlich und exklusiv, nicht die schwüle und überreizte Antike aus der Perspektive des Jugendstils, sondern das Ideal eines klassizistisch leuchtenden Griechentums.“ Autor: Davon ist jedenfalls Ernst Krause überzeugt. Mit „Ariadne“ antizipiert Strauss bereits sein klassizistisch abgeklärtes Spätwerk der 40er Jahre. Das gilt in gewisser Hinsicht auch für die Orchestrierung. Sprecher 2: „Ich denke mir folgende Besetzung: 2 Violinen, Bratsche, Cello, Baß, 1 Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, 1 bis 2 Hörner, Cembalo, Harfe, Celesta, Harmonium (eventuell noch eine Trompete und etwas Schlagzeug): 15 bis 20 Mann. Nun: Dionysos erleuchte Sie. 14 Ich warte!“ Autor: So Richard Strauss im Mai 1911 an Hofmannsthal. Tatsächlich werden es dann 36 Mann im Orchestergraben: gleichwohl eine radikale Abkehr von den Riesenorchestern der „Salome und „Elektra“. Das Kammerorchester der „Ariadne“ bedeutet eine bewußte Beschränkung des Apparats – so wie Strauss sich im „Rosenkavalier schon von den polytonalen harmonischen Grenzgängen der „Salome“ und „Elektra“ verabschiedet hatte... Drei Tasteninstrumente sind „Ariadne“-Orchester vertreten: kein Cembalo zwar, doch eine Celesta wie bereits im „Rosenkavalier“, ein Harmonium und ein Klavier. Wie der Wiener Musikforscher Günther Brosche bemerkt hat, ist es vor allem mit Zerbinetta und den anderen Masken der Commedia dell'arte konnotiert, während das Harmonium der Partie der Ariadne eine „orgelähnliche, weihevolle“ Klangfarbe beimischt. Immerhin bedeutet der Name Ariadne „sehr rein“ - oder auch „sehr heilig“. Und so fühlt sie sich mit dem Mann, den sie liebt, auch so verwachsen, daß eine dauernde Trennung von ihm scheinbar unbezwingbaren Schmerz und Tod zur Folge hat. Die ersten Versuche der Komödianten, ihr Trost zu spenden, erscheinen da reinewegs vergeblich. Musik 7) Richard Strauss: 1‘30 Wie jung und schön und maßlos traurig, aus „Ariadne auf Naxos“ Hermann Prey, Bariton; Sylvia Geszty, Sopran; Hans-Joachim Rotzsch, Tenor; Siegfried Vogel, Baß; Gundula Janowitz, Sopran; Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646, CD: EMI 7 64159 2, 1. CD, Tr. <16>, ca. 2:44, - <17>, ca. 2:30, ein- und wieder ausblenden Sprecherin: „Ein Schönes war, hieß Theseus-Ariadne Und ging im Licht und freute sich des Lebens!“ Autor: In einem großen Lamento beklagt Strauss' Ariadne die Trennung von ihrem undankbaren Geliebten Theseus, der sie auf der Insel Naxos schmählich zurückgelassen hat. Die Namen Theseus und Ariadne sind mit einem Bindestrich verbunden und auch in Strauss' Kantilene aneinander legiert. In Ariadnes Augen war ihre Seele mit der ihres 15 Geliebten Theseus tatsächlich zusammengewachsen, eins geworden: Sprecherin: „Jetzt hab ich's – Götter! Daß ichs nur behalte! Den Namen nicht – der Name ist verwachsen Mit einem anderen Namen, ein Ding wächst So leicht ins andere, wehe!“ Autor: Ariadne verkörpert bei Hofmannsthal die weibliche Treue – für die ein Leben ohne den geliebten Mann oder mit einem anderen außerhalb des Vorstellbaren liegt. Um weiterzuleben, gibt es für sie nur ein Mittel: Verwandlung. Hofmannsthal an Strauss: Sprecher 1: „Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen. Und dennoch ist ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft. Dies ist einer von den abgrundtiefen Widersprüchen, über denen das Dasein aufgebaut ist, wie der delphische Tempel über seinem bodenlosen Erdspalt.“ Autor: Und über diesem Paradoxon nutzen die Komödianten die erste beste Gelegenheit, sich in die Handlung zu mischen. Harlekin sucht Ariadne mit einem Liedchen zu trösten undzeigt mit Hofmannsthals wundervollen Versen, daß auch der Harlekin einer Commedia-dell-arte-Companie Herz haben kann: Sprecher 1: „Lieben, Hassen, Hoffen, Zagen, Alle Lust und alle Qual, Alles kann ein Herz ertragen Einmal um das andere Mal. Aber weder Lust noch Schmerzen, Abgestorben auch der Pein, Das ist tödlich deinem Herzen, 16 Und so darfst du mir nicht sein! Mußt dich aus dem Dunkel heben, Wär’ es auch um neue Qual, Leben mußt du, liebes Leben, Leben noch dies eine Mal!“ Autor: Ariadne beeindruckt Harlekins Liedchen überhaupt nicht - doch Echo, eines der drei Naturwesen, die ihre Gefährtinnen auf dieser Insel sind, wirft Harlekin tatsächlich ein Echo auf sein bezauberndes Lied zurück: Tragödie und Komödie beginnen da tatsächlich, ineinanderzufließen. Musik 8) Richard Strauss: Lieben, Hassen, Hoffen, Zagen, aus „Ariadne auf Naxos“ Hermann Prey, Bariton; Adele Stolte, Sopran; Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646 CD: EMI 7 64159 2, 1. CD, Tr. <18>, 0:00-ca. 2:00, dann zum folgenden Text ausblenden 1‘41 Autor: Die zweite, auf zwei Stunden verknappte Version kommt im Juni 1916, an der Hofoper Wien heraus. Die Titelpartie der Ariadne wird in dieser zweiten Uraufführung von derselben Sängerin gesungen wie vier Jahre zuvor in der ersten: Ariadne ist die Sopranistin Maria Jeritza – auch wenn Strauss mit ihrer Stuttgarter Leistung offenbar nicht wirklich zufrieden war. Strauss knapp zwei Wochen vor der Premiere an Franz Schalk, den Musikdirektor der Hofoper und Dirigenten der Wiener Uraufführung: Sprecher 2: „Haben Sie mit dem Studium der Ariadne selbst schon begonnen? Bitte Fräulein Jeritza mit meinen schönsten Grüßen ordentlich ins Geschirr zu haben: denn so prachtvoll sie damals in Stuttgart schließlich mit Reinhardts Hilfe war (das Frauenzimmer hat leider eine zu schöne Stimme und zu viel Talent), 'gekonnt' hat sie die Partie weder musikalisch, noch nach der Seite des Gesanglichen und der Phrasierung.“ 17 Autor: Ein interpretatorisch noch anderes Kaliber ist die Sängerin, die die Rolle des Komponisten im neugeschaffenen Vorspiel kreiert: die Sopranistin Lotte Lehmann. In ihren Memoiren schildert sie, den Komponisten zunächst nur als Zweitbesetzung für Marie Gutheil-Schoder studiert zu haben – die arrivierte Kollegin sei dann durch eine Erkältung indisponiert gewesen. Tatsächlich gab es wohl ein Vorsingen Lotte Lehmanns vor Strauss, Schalk, Hofmannsthal und Hofoperndirektor Hans Gregor, und das fiel so eindeutig aus, daß die Gutheil-Schoder kurzerhand ausgebootet wurde. Hofoperndirektor Gregor erinnert sich jedenfalls: Sprecher 1: „[...] für mich hatte Frau Gutheil von Stunde an kein Wort mehr, keinen Gruß“. Autor: Richard Strauss gedenkt in seinen „Erinnerungen an die ersten Auffürhungen meiner Opern“ denn auch besonders... Sprecher 2: „[...] der prächtigen, von mir neu entdeckten Lotte Lehmann (meiner späteren Ariadne, Färberin, Arabella, Octavian, der unübertrefflichen Christine und unvergeßlichen Marschallin) als Komponist. In ihr vereinten sich eine seelenvolle Stimme und ausgezeichnete Textaussprache mit genialer Darstellungskraft und schöner Bühnenerscheinung zu einer seltenen Interpretin gerade meiner Frauenrollen!“ Autor: Der Komponist in„Ariadne“ wird für Lotte Lehmann zum Durchbruch. Drei Jahre später kreiert sie ebenfalls in Wien die Färberin in Strauss „Frau ohne Schatten“. Später wird sie eine berühmte Marschallin im „Rosenkavalier“ und auch Ariadne. Musik 9) Richard Strauss: Es gibt ein Reich, aus „Ariadne auf Naxos“ Lotte Lehmann, Sopran; Orchester, Leitung: Frieder Weißmann; LC: 0542, CD: EMI 7 61042 2, Tr. <9>, ca. 1:35-ca. 6:55, dann zum folgenden Text ausblenden 18 1‘36 Sprecherin: „Stille Höhle wird mein Grab. Aber lautlos meine Seele Folget ihrem neuen Herrn, Wie ein leichtes Blatt im Winde, Folgt hinunter, folgt so gern.“ Autor: Die Höhle wird Ariadne zum Grab. Doch ihre Seele soll, getrent vom Körper, einen anderen Wege nehmen. Hofmannsthal legt seiner Ariadne da eine platonische Vorstellung vom Weiterleben der Seele, nach ihrer Trennung vom Leib, in den Mund: daß ihr nämlich in der Todesstunde Flügel wachsen können. Doch die Komödianten reißen ihre hochfliegenden und auch pathetischen Gedanken wieder trivial aufs Irdische hinunter. Sprecher 1: „Die Dame gibt mit trübem Sinn Sich allzusehr der Trauer hin. Was immer Böses widerfuhr, Die Zeit geht hin und tilgt die Spur. […] Es gilt, ob Tanzen, Ob Singen tauge, Von Tränen zu trocknen Ein schönes Auge.“ Musik 10) Richard Strauss: 0‘55 Die Dame gibt mit trübem Sinn, aus „Ariadne auf Naxos“ Hans-Joachim Rotzsch und Peter Schreier, Tenor; Hermann Prey, Bariton; Siegfried Vogel, Baß; Sylvia Geszty, Sopran; Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646, CD: EMI 7 64159 2, 2. CD, Tr. <2>, ca. 2:15-ca. 4:46, ein- und wieder ausblenden 19 Sprecher 1: „In 'Ariadne' tanzen Mozart und Mascagni, Händel und Offenbach Menuett.“ Autor: So der schottische Opernkomponist und Musikkritiker Cecil Gray. Ja, die Zutaten auch zur homogenisierten Zweitfassung der „Ariadne“ sind sehr unterschiedlicher Provenienz. Der schärfste Kontrast ist wohl der zwischen Ariadne und ihrem Pendant, der leichtlebigen Zerbinetta, der Strauss eine der brillantesten Koloraturarien der gesamten Literatur in die Kehle komponiert hat. Wie ein Schmetterling flattert sie von einem zum nächsten Mann, und das rät sie auch der todtraurigen Ariadne: von Frau zu Frau. Sprecher 2: „[...] große Koloraturarie: Andante und dann Rondeau, Thema mit Variationen und allen Koloraturspäßen (womöglich mit obligater Flöte) der Zerbinetta, wo sie von ihrem Ungetreuen spricht (Andante) und dann Ariadne zu trösten sucht: Rondeau mit Variationen (zwei bis drei). Paradenummer.“ Autor: So Strauss über die Zerbinetta-Arie, die auch in ihrem Aufbau an eine große Belcanto-Arie angelehnt ist. Als Anhaltspunkte nennt er Hofmannsthal die einschlägigen Arien aus Bellinis „Sonnambula“ und Donizettis „Lucia“. Gegenüber der Stuttgarter Urfassung hat Strauss diese „Paradenummer“ für die Neufassung zu großen Teilen um einen Ton nach unten transponiert und um knapp 60 Takte gekürzt. Wiens erste Zerbinetta, die Koloraturvirtuosin Selma Kurz, soll darüber „auf's äusserste bestürzt“ gewesen sein. Doch auch in ihrer neuen Form ist die Zerbinetta-Arie die virtuoseste Koloratur-Arie des deutschen Opernfachs geblieben. Nachdem Zerbinetta sich scheinbar verständnisvoll in Ariadnes Ohren geschlichen hat, kommt sie zur Sache und rät ihr, sie möge sich mit dem nächsten besten Mann trösten, schließlich seien die Männer ja notorisch treulos. Aber auch das Herz der Frauen sei wandelbar, erklärt Zerbinetta. Sprecherin: „Aber sind wir denn gefeit Gegen die grausamen – entzückenden, Die unbegreiflichen Verwandlungen? Noch glaub ich dem einen ganz mich gehörend, Noch mein ich mir selber so sicher zu sein, Da mischt sich im Herzen leise betörend 20 Schon einer nie gekosteten Freiheit, Schon einer neuen verstohlenen Liebe Schweifendes, freches Gefühle sich ein!“ Autor: Und mit einer Art kokett gespielter Verschämtheit gesteht Zerbinetta: Sprecherin: „Ach, und zuweilen, Will es mir scheinen, Waren es zwei!“ Sprecher 1: „Zerbinetta ist in ihrem Element, wenn sie von einem Manne zum andern taumelt, Ariadne konnte nur eines Mannes Gattin, sie kann nur eines Mannes Hinterbliebene sein.“ Autor: Mit diesen Zeilen erklärt Hofmannsthal Richard Strauss den Charakter Zerbinettas – für die natürlich auch jeder neu Mann zum „Gott“ wird. Sprecherin: „Als ein Gott kam jeder gegangen, Jeder wandelte mich um, Küßte er mir Mund und Wangen, Hingegeben war ich stumm! Als ein Gott kam jeder gegangen Hingegeben war ich stumm!“ Musik 11) Richard Strauss: Großmächtige Prinzessin, aus „Ariadne auf Naxos“ Sylvia Geszty, Sopran; Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646 CD: EMI 7 64159 2, 2. CD, Tr. <3>, ca. 6:48-ca. 10:28, ein- und wieder ausblenden 21 1‘27 Autor: Und wie um Ariadne die Richtigkeit ihrer Ratschläge vor Augen zu führen, gibt sie sich bald auch schon dem nächsten Mann hin: Harlekin, der sie - wie auch die anderen Komödianten - umworben hatte, erobert ihr Herz, und Zerbinetta zieht sich mit ihrem neuen Liebhaber zurück. Doch auch Ariadnes Retter und Erlöser erscheint: Najade, Dryade und Echo kündigen Bacchus an und erzählen von seinen Versuchungen durch die Zauberin Circe, denen der göttliche Jüngling aber eben nicht erlegen ist. Sprecherin: „Nicht verwandelt, nicht gebunden Steht vor ihr ein junger Gott!“ Autor: ...berichten die drei Naturwesen. Denn Circe hat Bacchus nicht verzaubern können. Sprecher 1: „Wer ist Bacchus? Wen verbirgt diese Maske, da hier alles nur Maske des niederen oder höheren Lebens ist? […] ich bin hier überall so weit von aller Mythologie, daß der bloße mythisch-anekdotische Zusammenhang mich nicht mehr trägt. […] Bacchus ist Gegenspiel zur gemeinen Lebensmaske Harlekin, wie Ariadne Gegenspiel zu Zerbinetta. Harlekin ist bloße Natur, ist seelenlos und ohne Schicksal, obschon ein Mann; Bacchus ist ein Knabe und schicksalvoll. Harlekin ist irgendeiner, Bacchus ist ein einziger, ein Gott, auf dem Wege zu seiner Gottwerdung. In Bacchus ist das einzig Liebenswerte, Liebewirkende der höheren Stufe verdichtet: Schicksal. Schicksal auf sich zu ziehen, anderer Schicksal zu werden, ist edelste Lebenskraft; sie ist an die Auserwählten verteilt, an den Knaben wie an den Greis. Bacchus ist fast ein Kind, jedoch ein Gott und mehr als ein Mann [...]“ Autor: Ariadne vermag in Bacchus indes nur den Todesboten zu erkennen, den sie herbeisehnt. Sprecherin: „O Todesbote! süß ist deine Stimme! Balsam ins Blut, und Schlummer in die Seele!“ Autor: Die Änderungen, die Hofmannesthal und Strauss an der eigentlichen Oper 22 vorgenommen halten sich in engen Grenzen. Am Anfang und am Ende fehlen die Kommentare, die Jourdain und seine Gäste abgeben – zumal Molières Tuchhändler im neuen Vorspiel eben auch nicht mehr vorkommt... Das Geschehen der mythologischen Opera seria wird nur noch von den Komödianten kommentiert. Die entscheidenden Unterschiede betreffen die Arie der Zerbinetta und den kompletten Strich ihres zweiten großen Auftritts bei der Ankunft des Bacchus: einer Art zweiter Zerbinetta-“Arie“. Nach dem Erscheinen des Bacchus preist sie Ariadne den jungen Gott als ihren Erlöser an. Sprecherin: „Prinzessin! welchen Botenlohn hab ich verdient Auf dieser Insel weilt ein Mann, ein Gott! Es weilt ein Wunder ohnegleichen! [...] Beflügelt euch denn nicht, was hier geschehen muß?!“ Autor: Doch Ariadne verharrt noch immer in Erwartung des Todesboten: Sprecherin: „[...] Mein Grab ist da […] Jetzt geht Ariadne fort von hier.“ Autor: Mit der Epiphanie des Bacchus beginnt jedoch Ariadnes Verwandlung einzusetzen. Mit seiner Liebesfähigkeit ruft Bacchus Ariadne wieder ins Leben zurück. Hofmannsthal: Sprecher 1: „Es ist Bacchus erste Ausreise. Noch wird seine Gottheit bezweifelt. Sein erstes Abenteuer war Circe, deren Macht an ihm versagte. Ein Grauen vor dem Verwandeltwerden hat ihm das Herz versengt. Daß er die Macht habe, zu verwandeln, zu erwecken ist eine ihm noch ungethane Erfahrung. Sein Lied, ehe er auftritt ist Furcht vor Circe. Neue Insel, neues Leben [...]“ Autor: Und so fragt Bacchus, nach seiner schmerzlichen Begegnung mit Circe, Ariadne noch etwas beklommen: Sprecher 1: „Und ach,wer dir sich gibt, verwandelst du ihn auch? Weh! Bist du auch solch eine Zauberin?“ 23 Musik 12) Richard Strauss: Du schönes Wesen, aus „Ariadne auf Naxos“ James King, Tenor; Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646, CD: EMI 7 64159 2, 2. CD, Tr. <6>, ca. 5:45, - <7>, ca. 1:30, ein- und wieder ausblenden 1‘42 Sprecherin: „Du Zauberer, du! Verwandler, du! Blickt nicht aus dem Schatten deines Mantels Der Mutter Auge auf mich her?“ Autor: Was meint Ariadne mit dieser Frage an Bacchus? Auch wenn Hofmannsthal erkärt, sich mit diesem Stück weit von aller Mythologie entfernt zu haben, läßt sich diese kryptische Frage doch auch mit Hilfe des Mythos beantworten: Circe, deren Zauberkünsten Bacchus eben entronnen war, ist als Tochter des Helios eine Schwester von Ariadnes Mutter Pasiphae. Spielt Hofmannstahl auf sie an? Oder sieht Ariadne im Mantel des Bacchus einen zweiten Mutterschoß, aus dem sie neu geboren wird? Hofmannsthal: Sprecher 1: „Wenn Ariadne vor ihrem verwandelten Selbst auch die Höhle ihrer Schmerzen zum Freudentempel verwandelt sieht, wenn ihr der Mutter Augen aus dem Mantel des Bacchus entgegenblicken und die Insel aus einem Kerker ein Elysium wird – was bekommt sie damit anderes, als daß sie liebt und lebt. Sie war gestorben und ist aufgelebt, ihre Seele ist in Wahrheit verwandelt – freilich, es ist die Wahrheit einer höheren Stufe, wie könnte es die Wahrheit für Zerbinetta und die ihrigen sein!“ Sprecherin: „Wie konnt es geschehen? Auch meine Höhle, schön! gewölbt Über ein seliges Lager, Einen heiligen Altar! Wie wunder-, wunderbar verwandelst du!“ Autor: Ariadnes Höhle wird ihr zum Grab, ihr Lager zum Altar: so wie auch jeder 24 Altarstein einer Kirche ein „Grab“ enthält, mit den Reliquien der Heiligen, die darin eingelassen werden. Ist es allzu gewagt, bei dem Altar, auf dem Ariadne zu sterben gedenkt, um neu geboren zu werden, auf den Altar des christlichen Messopfers zu beziehen, auf dem der Priester Inkarnation, Sterben und Auferstehung Christi vergegenwärtigt? Und Bacchus, die Gottheit, deren Epiphanie Ariadne diese Verwandlung ermöglicht, als Typos, als ein heidnisches Vorbild Christi zu sehen – so wie auch Orpheus, der seine tote Frau Eurydike aus der Unterwelt zurückzuholen vermochte, in der frühchristlichen Ikonographie auf Christus bezogen wurde? Durch Ariadnes Verwandlung wandelt sich Bacchus immerhin auch selbst: zum lebenspendenden Gott. Sprecher 1: „Du! Alles du! Ich bin ein anderer als ich war! Der Sinn des Gottes ist wach in mir [...]“ Autor: Hofmannsthal sah in der Epiphanie des Bacchus auch die Peripetie der Oper: Sprecher 1: „Bis zu dieser ist das Spielerische, Bühne auf der Bühne, Reifröcke, Wachskerzen, Anklänge an Händel etc[etera] ein Hauptingrediens. Mit dem Auftreten des Bacchus sind wir mit eins in dem Schoß großer Poesie, hoher Musik.“ Autor: Das muß auch Konsequenzen für das Finale der Oper haben. Nach den himmlischen Höhen, auf denen sich die Verwandlung Bacchus' und Ariadnes ereignet, darf es keinen Rückfall mehr in die Trivialität des Rahmenspiels geben. Sprecher 1: „Hier müssen wir, wenn wir dies je einmal auf die Bühne bringen, der Maler und der Regisseur alle ihre Kräfte einsetzen, um ein wahrhaftiges Geheimnis – nicht zu offenbaren, aber zu verherrlichen; hier muß die kleine Bühne ins Unbegrenzte wachsen, mit dem Eintritt des Bacchus müssen die puppenhaften Kulissen verschwunden sein, die Decke von Jourdains Saal schwebt auf, Nacht muß um Bacchus und Ariadne sein, in die von oben Sterne hineinfunkeln, nichts darf vom 'Spiel im Spiel' mehr zu ahnen sein, Herr Jourdain, seine Gäste, seine Lakaien, sein Haus, alles muß fort und vergessen sein, und der 25 Zuhörer darf sich dieser Dinge so wenig mehr erinnern, als wer in einem tiefen Traum liegt, etwas von seinem Bette weiß. - Bis dahin ist es ja aber noch weit [...]“. Autor: Das schreibt Hofmannsthal schon im Zusammenhang mit der Urfassung an Strauss. In der ersten Fassung hatte Zerbinetta noch einen größeren Auftritt im Finale und sogar Jourdain, der noch einmal den Bogen zur Rahmenhandlung schloß. Das war nun natürlich obsolet geworden – auch durch das glückliche Verschmelzen der Genres. Sprecher 1: „Ganz absolut schwer ist es für mich, die Schlußworte, äußersten Rahmen, in den Mund des Komponisten zu legen. […] Klagt er, wo doch die Oper sich zur Harmonie beider Elemente durchgerungen hat, so wirkt es absurd, freut er sich, so wirkt es noch absurder. Das Ganze ist in Gefahr, vom hier aus zum Unsinn zu werden. Fluch allen Umarbeitungen!“ Autor: ...klagt Hofmannsthal im Mai 1916 gegenüber Strauss – der auf die Wünsche seines Kompagnons eingeht: Sprecher 2: „Seien wir also radical u[nd] weg mit dem Componisten u[nd] Haushofmeister etc[etera] am Schluß u[nd] beendigen wir die Oper mit dem Höhepunkt: Ariadne u[nd] Bacchus […] Weg mit Zerbinetta u[nd] den Masken, lassen wir dies Alles bei der ersten Fassung! […] In Stuttgart war es so schön, daß beim Eintritt des Bacchus Kronleuchter, Palmen, Höhle verschwand u[nd] die beiden einsam gegen den weiten Nachthimmel standen. Wollen wir dies nicht beibehalten? […] Lassen wir also Höhle u[nd] Landschaft versinken u[nd] nur mehr den Ausblick auf das weite Meer [...]“. Autor: Damit ist auch Hofmannsthal einverstanden - im wesentlichen … Sprecher 1: „[...]aber – eine völlige Gewissenlosigkeit von mir gegen das Werk und dessen Zukunft wäre es, wollte ich, bequemlichkeitshalber – konzedieren, daß die irdische Gegenstimme (Zerbinetta) gar nicht mehr zum Worte kommt! […] Nun aber, wo ist die Kompromißlinie zwischen Ihrem berechtigten Vorschlag und meinem 'weiter kann ich nicht!' - Ich glaube so: […] indes rückwärts die beiden hinabschreiten, gegens Meer, und 26 bevor das Orchester zum Nachspiel einsetzt, erscheint rechts vorne, an der Kulisse, aber sichtbar, Zerbinetta, weist spöttisch mit dem Fächer über die Schulter nach rückwärts und fängt an, ihr Couplet zu singen[…] Meinetwegen mag sie es nur anfangen, nur die erste Zeile singen – […] mir genügt dann ihr symbolisches spöttisches Dastehen und Wiederverschwinden [...]“ Autor: Eine glänzende Idee, die an den genialen Schluß des „Rosenkavalier“-Finales anknüpft: Da zieht nach den elysischen Höhen des finalen Terzetts und des folgenden Schlußduetts, eine Pantomime die Zuhörer sanft auf den Boden der Tatsachen zurück: Der kleine Mohr aus dem Dienstpersonal der Marschallin holt ein zurückgelassenes Taschentuch. Womöglich denkt auch Strauss daran zurück, als er Hofmannsthal zusagt: Sprecher 2: „Ihr Wunsch ist mir Befehl: Zerbinetta tritt […] leise aus der Kulisse und singt spöttisch 'Kommt der neue Gott gegangen, hingegeben sind wir stumm – stumm -', das Fagott deutet dazu das Rondothema der Arie an, sie verschwindet [...]“ Sprecherin: „Kommt der neue Gott gegangen, Hingegeben sind wir stumm!“ Autor: Ein Paradoxon, denn Zerbinetta ist ja gar nicht stumm, sondern gibt einen letzten Kommentar zum Geschehen ab – ohne es wirklich zu verstehen, denn letztlich bleibt sie, was sie war: eine charmante Maske. Sprecher 1: „Diese gemeinen Lebensmasken sehen in dem Erlebnis der Ariadne, was eben sie davon zu begreifen vermögen: den Tausch eines neuen Liebhabers für einen alten. So sind die beiden Seelenwelten in dem Schluß ironisch verbunden, wie sie eben verbunden sein können: durch das Nichtverstehen.“ Autor: Aber eben doch verbunden. Mann und Frau verwandeln einander wie Dichter und Musiker, Opern-Mythos und italienische Stegreifkomödie – aber nur weil sie innerlich aneinander gebunden sind. Der Schriftsteller Martin Mosebach hat die Verbindung von 27 Mythos und Commedia dell'arte mit der ihm eigenen künstlerischen Intuition wahrgenommen. Sprecher 1: „Im Vergleich zu den starken schönen Göttern sind Pantalone, Zerbinetta und Arlecchino freilich nur Gartenzwerggötter, aber es ist doch wohl kein Zufall, daß die Commedia dell'arte nur dort blühen konnte, wo das Heidnische im Katholizismus noch nicht abgewürgt worden war.“ Autor: Und das läßt sich vom Autor des „Jedermann“ nun wirklich nicht behaupten. So verschieden die archetypischen Gestalten des Mythos und die Masken der italienischen Stegreifkomödie auch sein mögen, so abgehoben voneinander die Ebenen, auf denen sie sich bewegen: Sie sind doch Pendants. Was im Vorspiel der Oper zunächst als banausenhafte Laune eines Kretins erscheint, ist für Mosebach denn auch ein ästhetischer Coup von tiefsinniger Folgerichtigkeit. Kein Wunder: Auch in seiner Prosa sind das Ernste und das Heitere beständig ineinander verschlungen. Und damit liefert er uns auch den Ariadnefaden, der ins Zentrum des Labyrinths dieser Oper führt - und wieder heraus. Sprecher 1: „Die Gestalten der Commedia dell'arte sind Verwandte der antiken Götter, die als Archetypen die menschlichen Verhaltensweisen in jeweils einem Namen vorstellen. Deshalb war Hugo von Hofmannsthals Einfall, in Ariadne auf Naxos die Welt der Götter und der Heroen mit der Welt der Commedia dell'arte in einen Topf zu schütten, eben kein willkürliches Experiment, sondern ein Zusammenführen dessen, was seiner Natur nach auch zusammengehört.“ Autor: Und nur mit dieser Prämisse kann das Wunder der Verwandlung auch gelingen: Von Dichter und Komponist, Ariadne und Bacchus, Mythos und Commedia dell'arte. Allerdings gilt auch hier Hofmannsthal Wort: Sprecher 1: „[...] der Zuhörer darf sich dieser Dinge so wenig mehr erinnern, als wer in einem tiefen Traum liegt, etwas von seinem Bette weiß. - Bis dahin ist es aber noch weit“. 28 Autor: So ist es. Und deshalb begnügen wir uns wie die kapriziöse Zerbinetta auch damit, vor dem Wunder der Verwandlung einzugestehen: „Hingegeben sind wir stumm!“ Musik 13) Richard Strauss: 3‘04 Gibt es kein Hinüber, aus „Ariadne auf Naxos“ Gundula Janowitz, Sopran; James King, Tenor; Erika Wustmann, Sopran; Annelies Burmeister, Alt; Adele Stolte und Sylvia Geszty, Sopran; Staatskapelle Dresden, Leitung: Rudolf Kempe; LC: 6646, CD: EMI 7 64159 2, 2. CD, Tr. <9>, ca. 4:40-ca. 7:47, zum Ende des Textes einblenden *** 29