WARUM bRAUchEN bURschEN MäNNER?

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Warum brauchen Burschen Männer?
Möglichkeiten und Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenberatung
Salzburg, aktualisiert April 2015
Inhalt
01. Kontakt – Kultur – Kompetenz
Jungenarbeit aus der Perspektive der Männerberatung . . . . . . . . . . . . 04
02. Warum brauchen Burschen Männer?
»Möglichkeiten und Grenzen der
geschlechterhomogenen Jungenberatung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 08
03. Jungenarbeit im internationalen Vergleich
» Tagung in Wien: Bubenarbeit im internationalen Vergleich . . . . . . . . 23
» Niederlande: Der Idealbub ist ein Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
» Südtirol: Ein Junge ist ein Junge ... ist doch kein Junge . . . . . . . . . . . . 26
04. Verstehende Jungenarbeit
als gewaltpräventives Handlungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Impressum:
Männerwelten
Verein Männer gegen Männer-Gewalt
Bergstrasse 22, 5020 Salzburg
www.maennerwelten.at
Redaktion:
Mag. Harald Burgauner
Bert van Leerdam
© 2012 Männerwelten
Gestaltung:
Yvonne Nicko, akzente Salzburg
Fotos:
Shutterstock.com
Rückfragen:
Referat für Jugend, Generationen, Integration
Gstättengasse 10, 5020 Salzburg, Tel.: 0662/8042 – 2117,
[email protected]
Gefördert aus Mitteln vom:
2
4
Vorwort
Die
Jugendarbeit beinhaltet die geschlechtergerechte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten von Mädchen
und Jungen. Neben der Mädchenarbeit, ist die spezifische Jungenarbeit ein wichtiger Schwerpunkt bei der Arbeit mit Jugendlichen.
Burschen brauchen Räume und Angebote um sich entwickeln zu
können, fernab von vorgegebenen Rollenbildern. Neben der Reflexion, steht auch die Gewaltprävention im Fokus. Geschlechterspezifische Methoden müssen dabei um- bzw. eingesetzt werden.
Und so möchte ich nun vier von diesen Fragen herausgreifen:
Fragen, die uns im Jetzt bewegen. Zunächst eine Frage, die mit
unserer Jugend zu tun hat, damit, wie wir durchs Leben gehen,
mit dem Morgen. Und das ist eine Frage, die sich jeden Morgen
neu stellt. Oder sich jedes Jahr mit dem Frühling erneuert. Diese
Frage am Morgen heißt: »Wonach sehnen wir uns?« Wonach
sehnen wir uns eigentlich? Die Frage, die sich uns dann in der
Lebensmitte stellt, am Mittag, im Sommer unseres Lebens, das
ist die Frage: »Wie können wir überstehen?« – Wenn alles auf
uns hereinbricht, wenn alles unter uns zusammenbricht: Wie
können wir überstehen? Und dann eine dritte Frage, die Frage
der Lebens reife, des Herbstes, des Abends: »Woran reifen wir?«
– Nicht in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit, sondern jetzt,
im gegenwärtigen Augenblick: Was macht uns jetzt reifen? Und
schließlich für die Lebensneige, für den Winter, für die Nacht die
Frage: »Was tröstet uns?«
Die Erwartungen an die Jugendlichen und die damit verbunden Geschlechterrollen von Burschen und Mädchen sind viel differenzierter und flexibler geworden. Diese durchaus positive Veränderung
birgt für viele Burschen und Männer eine Herausforderung. Was
früher noch als typisch männlich galt, ist heute viel individueller
und vielfältiger. Die Jugend ist einfühlsam und kraftvoll zugleich,
kreativ und pragmatisch. Eigenschaften, die früher nur Mädchen
zugesprochen worden sind, werden nun auch für Burschen im
positiven Sinn verwendet. Es ist schon lange nicht mehr „uncool“,
sensibel, musikalisch, friedliebend oder sanftmütig zu sein.
Was aber Burschen jedenfalls brauchen, sind männliche Vorbilder,
die Zeit für sie haben. Das beginnt bereits im Frühkindalter, vor
allem in der Kinderbetreuung und Elementarpädagogik.
Daher kann es nur unser Anliegen sein, mehr Männer für pädagogische Berufe zu motivieren.
Fragen
© David Steindl-Rast
»Und ich mag mich nicht bewahren«
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Burschen brauchen aber auch ihre Väter. Väter die den Mut haben,
von den vielfältigen Karenzmöglichkeiten Gebrauch zu machen und
selbst bei ihren Kindern zu Hause zu bleiben. Und auch in schwierigen Lebensabschnitten, wie der Pubertät, ist eine männliche
Begleitung für Burschen von großer Wichtigkeit.
Wir sind davon überzeugt, dass diese Studie wertvolle Anregungen
für die praktische Jungenarbeit liefert und freuen uns, wenn Sie als
LeserIn Anregungen für Ihre (pädagogische) Arbeit finden.
Wir danken dem Verein Männer gegen Männer-Gewalt „Männerwelten“ und allen ExpertInnen, die diese wichtigen Erkenntnisse
aus der Jungen- bzw. Burschenarbeit zusammengetragen haben.
?
Landesrätin Martina Berthold und
Landesjugendreferent Wolfgang Schick
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Kontakt - Kultur - Kompetenz
Jungenarbeit aus der Perspektive der Männerberatung
Der Auftrag des Salzburger Landesjugendreferates
zu einer Studie über Erfahrungen und Erkenntnisse
aus der Jungenarbeit bietet uns die Gelegenheit
die Argumentation für geschlechtsensible Jungenarbeit bzw. Burschenarbeit zu reflektieren und
einen wissenschaftlichen Blick auf den Hintergrund
unserer Praxis zu legen. Die Jungenarbeit der
Männerberatungen in Österreich ist ein in ganz
Österreich präsentes Angebot zur geschlechtspezifischen Arbeit mit Burschen, das sich durch regen
und über Jahre gewachsenen fachlichen Austausch
kennzeichnet.
Die Angebote der Männerberatungen werden in
der Regel von Schulen und Institutionen angefordert, wenn eine Gruppe von Jungen »Symptome«
aufweist, daher wird das Geschlechtsspezifische in
den Rahmenbedingungen von der gemeinsamen
»Problemlage« der Jungen bestimmt.
Markus Stüger zeigt in seiner Bachelor-Arbeit,
wie sehr Jungenarbeit letztlich aus der am Defizit
orientierten Sicht auf Buben und männliche
Jugendliche ihre Notwendigkeit ableitet. Gewalt,
Sucht, Sexismus, höhere Siuzidalität (70% der
Suizide werden von Männern begangen), politisch
rechtsextreme Gruppierungen mit hoher Gewaltbereitschaft etc. sind einige der meist genannten Gründe warum
PädagogInnen Jungenarbeit fordern. In diesem Sinne ist Jungenarbeit eine besondere Form der Kriminalprävention. Buben und junge Männer brauchen Unterstützung bei der Entwicklung ihrer Identität und um sich zu orientieren. Es gibt keine allgemeingültigen Konzepte mehr für Weiblichkeit und Männlichkeit.
Die Lebensbedingungen von Frauen und Männern, von Mädchen
und Buben haben sich stark verändert und somit sind die Erwartungen an die Geschlechterrolle und deren Ausgestaltung flexibler
und differenzierter geworden. Diese durchaus positive Entwicklung
ist für viele Männer eine Herausforderung, die auch für Buben
spürbar wird.« Philipp Leeb auf www.gender.schule.at (12.2011)
Auf der Webseite www.gender.schule.at findet sich folgender
Text von Philipp Leeb in dem noch einmal deutlich wird, wie der
Blick auf Jungen heute geprägt ist: »Bildungsverlierer, Störenfried
und Rabauke!?« Bubenarbeit muss mit den Interessen, Erfahrungen und Meinungen der Jungen beginnen.« schreiben Ende der
Achtziger die Wissenschafterinnen Sue Askew und Carol Ross in
ihrem Aufsatz «Boys Don‘t Cry«. Der differenzierte Blick auf Buben
und männliche Jugendliche ist in der pädagogischen Arbeit immer
notwendiger geworden. Als Ergänzung zur Mädchenarbeit ist die
Bubenarbeit mittlerweile ein sehr wichtiges Instrument zur Gewaltprävention geworden. In der außerschulischen Arbeit hat sich
gezeigt, dass Bubenarbeit aufgrund fehlender oder zweifelhafter
Männlichkeitsentwürfe immer notwendiger wurde.
Jungenarbeit ist im internationalen Vergleich eine Notwendigkeit
die von PädagogInnen gefordert wird. Gleichzeitig ist dieser Arbeitsansatz nach wie vor eine exotische Blüte, die im Alltag der Pädagogik kaum eine Rolle spielt. Sieht man jedoch auch die Liste von
Publikationen, Tagungen, Weiterbildungen die vor allem im letzten
Jahrzehnt das Thema weiter entwickelt haben, dann wird deutlich,
dass Jungenarbeit ein Ansatz ist, den man als Versuch werten kann,
die viel zitierte »Feminisierung der Pädagogik« zu ergänzen.
Jungenarbeit wie sie von den Männerberatungen und anderen
kritischen Männerprojekten betrieben wird, versteht sich jedoch
nicht als Gegenbewegung. Jungenarbeiter fokussieren die Bedürftigkeit der Jungen nach männlichen Inputs, die sie zur Entwicklung
ihrer individuellen Männlichkeit brauchen. 4
Jungen und Burschen
brauchen
Gender-Kompetenz
Gender-Kompetenz ist letztlich die Fähigkeit Geschlecht als Chance
zu sehen und nicht als Handicap. Dies erfordert aber zunächst eine
Umorientierung der PädagogInnen, denn der Defizit orientierter
Zugang ist zunächst das Problem der erwachsenen Frauen und
Männer, die mit den Jungen konfrontiert sind. Richtung weisend
kann da der Ansatz der inklusionsorientierten Jungenpädagogik
wie er von Jo Jerg, Günter Neubauer und Harald Sickinger vertreten wird. Dieser Zugang sieht Vielfalt als Chance und stellt das was
Jungen verbindet in den Vordergrund. Dies meint im Speziellen
auch die bereiche »Behinderung« und »Migration« die nach wie
vor für Burschen (und Mädchen) ein Ausgrenzungskriterium für
unser Bildungssystem darstellen. Am deutlichsten sichtbar ist
das durch den überhöhten Anteil von Burschen mit Migrationshintergrund in Sonderschulen, die an und für sich ein Mittel der
»pädagogisch« argumentierten strukturellen Gewalt darstellen.
Der Ansatz der Inklusionsorientierten Jungenpädagogik wird in
7 Basistexten vorgestellt, die im Rahmen eines Praxisforschungsprojektes des Pfunzkerle e.V. Fachstelle Jungen- und Männerarbeit
Tübingen erarbeitet wurden. (www.pfunzkerle.de)
Jungenarbeit braucht neben dem Anspruch der Gewaltprävention
jedoch einen weiter gefassten Ansatz und Jungenarbeit braucht
positiv formulierte Ziele. Dies wird im deutschen Sprachraum vor
allem durch den Ansatz »Boysday« vertreten, der die Berufswahl
von Burschen fokussiert. Auf der Webseite www.neue-wegefuer-jungs.de findet sich ein solcher Zugang. Das Netzwerk will
Organisationen unterstützen, die »schulische und außerschulische
Angebote für Jungen zur Erweiterung der Berufs- und Studienfachwahl, der Flexibilisierung männlicher Rollenbilder und zum Ausbau
sozialer Kompetenzen organisieren.«
(www.neue-wege-fuer.jungs.de 12.2011)
Die Webseite www.boysday.at des BMASK verfolgt dasselbe Ziel
und spricht auf der ersten Seite die Burschen direkt an:
»BOYS‘ DAY - BURSCHEN IN SOZIALBERUFEN. TYPISCH MÄNNLICH /
TYPISCH WEIBLICH: MAL SEHEN, OB DAS STIMMT.
In dem Aufsatz »Cool aber einsam … wie jungen Leben erleben«
schreibt Burkhard Oelemann: »Nur eine eindeutig solidarisch
begleitende Haltung für Jungen nimmt sie in ihren Problemen
und Schwierigkeiten ernst und ermöglicht ihnen eben die emotionale Öffnung, die zur Veränderung nötig ist. Jungen suchen Halt
und Orientierung bei Männern, bei den Frauen suchen sie auch
Verständnis für die schwierigen Aspekte des Jungeseins. Solidarisch
begleitend bedeutet, die Jungen vor dem Hintergrund ihrer Stärken, ihrer Neigungen und ihrer Schwierigkeiten zu sehen, sie wirklich in Gänze wahrzunehmen, anstelle sie als Personen mit ihrer
Geschlechtszugehörigkeit abzuwerten. Unbedingte Voraussetzung
hierfür ist die ehrliche Reflexion des eigenen Bildes von Männern
und Männlichkeit. (…). Die solidarisch begleitende Haltung bedeutet keineswegs, den Jungen alle Verhaltensauffälligkeiten kommentarlos durchgehen zu lassen.« (Burkhard Oelemann, http://www.
eduhi.at/dl/Cool_aber_einsam.pdf 12.2011)
BOYS´ DAY,
was ist denn das?
Ein Tag, an dem Du Berufe kennen lernst, die Du nicht kennst.
WIE?
Berufe, in denen man mit Kindern, mit Kranken oder mit alten
Menschen arbeitet. Ok, meist arbeiten Frauen in solchen Einrichtungen. Aber wir Männer können das auch, und wir werden
dringend gebraucht!
Beim BOYS´ DAY kannst Du Dir diese Berufe einmal anschauen,
unverbindlich.
UND WO?
Zum Beispiel in Spitälern, Kinder- und Jugend-Betreuungseinrichtungen, Schulen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen.
Burschen sollen sich für Berufe entscheiden, die normalerweise
hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden. WARUM SOLLEN SIE DAS?
Weil Burschen unglaublich viele Fähigkeiten haben, von denen sie
(noch) wenig wissen: Sie können einfühlsam sein und kraftvoll, sie
können die Bedürfnisse anderer erkennen und gut organisieren.
Und, und, und!« www.boysday.at 12.2011)
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Jungenarbeit
braucht Männer
Jungen (und später Männern) wird in Momenten der subjektiv erlebten Hilflosigkeit, auf sexistische Muster, männliches Dominanzverhalten und Gewaltakte zurückgegriffen. Damit soll eine prekär
gewordene Selbstsicherheit kurzfristig wieder hergestellt werden.
Gewaltpräventive Handlungsansätze in der Jungenarbeit setzen
sich daher zum Ziel, für Jungen Erlebnis-, Beziehungs- und Lernräume zu schaffen, in denen ein vielfältiges Junge-Sein möglich ist. Für
die Bewältigung kritischer Lebensmomente und -ereignisse, sollen
den Jungen geeignete und angemessene Formen zur Verfügung
stehen. Um dieses Ziel zu erreichen bedarf es vor allem männlicher
Jungenarbeiter. Wenn diese als Begleit- und Bezugspersonen zur
Verfügung stehen, können realistische und gewaltfreie Entwürfe
von Junge-Sein / Mann-Sein möglich werden.«
(Präambel Curriculum Jungenarbeit) Im Rahmen der Plattform gegen Gewalt in der Familie des BMWFJ
gibt es seit 2000 den Bereich »Geschlechtsspezifische Burschenund Männerarbeit«. Die Bereichsprojekte der letzten Jahre boten
ein regelmäßiges Reflexions- und Entwicklungsforum für diesen
neuen Arbeitsbereich. Ein zentrales Ergebnis aus dieser Österreich
weiten Zusammenarbeit der Männerberatungen war die Erarbeitung eines Curriculums zur Qualifizierung von Männern für die
geschlechtsspezifische Arbeit mit Burschen. Aus der Präambel des
Curriculums: »Gewaltpräventive Jungenarbeit nimmt die Jugendlichen bewusst und gezielt als Geschlechtswesen wahr. Die Sozialisation von Jungen und Mädchen hat dabei gemeinsame und unterschiedliche Belastungen. Im Prozess der männlichen Sozialisation
ist das Risiko der sozialen Ausgrenzung und Lächerlichmachung für
viele Jungen allgegenwärtig. Wer etwa empathische, emotionale
und sozial-kooperative Seiten zeigt, läuft Gefahr als »Weichei«,
«Schwächling« o.ä. ausgegrenzt zu werden.
Jungenarbeit braucht Rahmenbedingungen und dazu zählt primär
die Qualifikation der Männer, die die Arbeit leisten sollen.
Diese Qualifikation ist aus unserer Erfahrung mit drei Aspekten zu
erreichen:
»
»
Theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik
Selbstreflexion und Selbsterfahrung zu
Männlichkeiten und ihren Implikationen
» Einbindung in ein Team, das die laufende
Reflexion der Arbeit ermöglicht.
Unter diesen Bedingungen resultieren bei vielen Jungen Defizite im
eigenen Selbstwertgefühl und der sozialen Kompetenz. Dies führt
zu vielen psychischen Problemen und sozialen Auffälligkeiten, wie
sie etwa im Bereich Risikoverhalten, Suizid, Sucht oder sexueller
Missbrauch vielfach dokumentiert sind. Beim Gewalthandeln von
6
Jungenarbeit
in verschiedenen Settings
Im Idealfall ist der entsprechende Standard über die Absolvierung
eines Curriculums zu erreichen, wie es die Arbeitsgruppe der Österreichischen Männerberatungen vorgelegt hat. Derzeit erscheint
jedoch eine Finanzierung solcher Maßnahmen aussichtslos. In der
Präambel zum Curriculum schreibt die Arbeitsgruppe: »Um diese
Arbeit und Beziehungsgestaltung im pädagogischen Feld leisten
zu können bedarf es mehr als einer bloß theoretisch-fachlichen
Kompetenz. Die Sensibilisierung der Jungenarbeiter für sich selbst
im Prozess des eigenen Mann-Seins und damit verbunden den
eigenen Männer- und Frauenbildern kommt hier eine zentrale
Bedeutung zu.« Dasselbe gilt für den Methodendiskurs in der
Jungenarbeit. Als Beispiel zwei Zitate aus einer Beitrag von Andreas
Haase in »Switchboard – Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit«
in dem er die Teilnehmer einer praxisbegleitenden Qualifizierungsmassnahme zu Wort kommen lässt: Ein Teilnehmer stellt fest: »
Ich kann mich noch gut an das erste Modul erinnern, als wir alle
gesagt haben, wir möchten gerne mehr Methoden kennen lernen.
Und es hat ein bischen gedauert, bis es »Klick« gemacht hat und
ich für mich begriffen habe, dass die Methoden alle da sind, dass
man sie nur geschlechtsspezifisch reflektieren und umsetzen muss
bzw. so einsetzen muss, dass sie zu den Jungen passen.«
Die häufigste »Form« von Jungenarbeit, die aus den letzten Jahren
Dokumentiert wurde, beschreibt das Gruppensetting. Workshops
oder regelmäßige Meetings in Schulen oder Jugendzentren, bei
denen ein oder zwei meist männliche – manchmal Paare – von
Pädagogen mit einer Gruppe von 6 – 16 Jungen arbeiten. Dies ist
sicher auch die effizienteste Art des Angebots unter dem Aspekt,
dass mit knappen Ressourcen möglichst viele junge Männer
erreicht werden sollen. In diesem Rahmen werden Themen oft
durch das »Programm« bestimmt und durch die aktuellen Anliegen
der jungen ergänzt. Auch inhaltlich erscheint das Gruppensetting
in vielerlei Hinsicht zielführend und geeignet, um die Anliegen der
Jungenarbeit umszusetzen.
Die geschlechtsspezifische Arbeitsweise mit Buben und Burschen ist jedoch auch für Beratungs- und Betreuungssettings ein
bereichernder Ansatz. Die Männerberatungsstellen sind oft mit
jungen Männern als Klienten betraut, die die Einzelsitzungen mit
den Beratern mit einer außergewöhnlichen Verlässlichkeit nutzen.
Viele unserer jungen Klienten machen in den Gesprächen in den
Beratungsstellen zum ersten Mal die Erfahrung, einige Stunden
exklusiv mit einem erwachsenen Mann verbringen zu können, wo
es um Ihre Befindlichkeiten, Wünsche, Anliegen, Erfahrungen geht.
Jungen brauchen – neben Frauen – auch Männer.
Ein anderer Teilnehmer bringt es so auf den Punkt: » Die Fortbildung hat meinen Warenkorb der Möglichkeiten, mit den Jungs
methodisch zu arbeiten, eindeutig erhöht. Noch interessanter
finde ich die anderen beiden Aspekte: die Selbstreflexion als Mann
und – viel entscheidender für mich – dass beide Referenten eine
Haltung vorgelebt haben, die sehr viel mit »Bevatern« der Jungen,
sehr viel mit einem sich Einsetzen für die Belange der Jungs zu tun
hat. Und sehr viel damit zu tun hat, die Jungs da abzuholen, wo sie
stehen.« (Switchboard Nr. 188 S. 7)
Männerberatungen bieten für manche dieser jungen Männer
den Raum und die Zeit und die Präsenz von Männern, die sie zur
Entwicklung ihrer Männlichkeit brauchen. In diesem Sinne ist die
Einzelberatung von jungen Männern – neben den Gruppensettings – auch ein Doing Gender in dem Burschen Männlichkeit auch
anders und differenziert Erleben können.
Der zentrale Begriff, um den sich Jungenarbeit immer wieder dreht
ist Reflexion. Letztlich ist das einer der gemeinsamen Nenner unter
den sich die Jungen- und Burschenarbeit der letzten 2 Jahrzehnte
zusammenfassen lässt. In einer Gesellschaft, in der sich Frauen
emanzipieren und ihre tradierten Rollen aufbrechen, muss man(n)
sich zunehmend seiner eigenen Rolle bewusst werden. In starren gesellschaftlichen Strukturen, reichte es als Mann definiert zu sein. Der
Rest der Aufgabe bestand nur mehr darin, dem Normbild »Mann« so
gut wie möglich zu entsprechen. Dieses Normbild gibt es nicht mehr,
es existiert als Klischee bzw. als Karikatur. Die Jungen wissen das und
die Erfahrung von Workshopleitern ist die, dass der große Teil der
Jungen sehr dankbar diesen Raum der Reflexion des männlichen
oder der Männlichkeiten betritt. Reflexion der eigenen Geschlechterrolle kann jedoch kein Diktat sein sondern bei gelungener Jungenarbeit ein Weg zu mehr Selbstverständnis und die Erfahrung, dass
diese Reflexion im Dialog mit anderen stattfinden kann.
Harald Burgauner
Quellen
www.boysday.at
www.neue-wege-fuer-jungs.de
www.poika.at
www.pfunzkerle.de
www.sektraining.de
Switchboard – Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit by Verlag
männerwege
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BACHELORARBEIT 1
Warum brauchen
Burschen Männer?
Möglichkeiten und Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenberatung.
Inhaltsverzeichnis
Studierender: Stüger Markus, 0910626059
Betreuer:Mag. (FH) Clemens Scharre
Salzburg, am 29. Dezember 2011
1. Persönliches Interesse an der Thematik . . . . . . . . . . . . . . 13
2. Einführung und Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1. Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2. Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1. Primärsozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2. Sekundärsozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3. Tertiärsozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.4. Quartärsozialisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3. Jungenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Geschlechterhomogene Jungenberatung
und Abgrenzung zur Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . .
Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre hiermit eidesstattlich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst, und keine
anderen als die angegeben Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.
Weiters versichere ich hiermit, dass ich die den benutzten Quellen
wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich
gemacht habe.
Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner
anderen Prüfungskommission weder im In- noch im Ausland
vorgelegt und auch nicht veröffentlicht.
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15
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3. Kritik an der Burschenarbeit zu deren Beginn am
Ende der 80-er Jahre – Der antisexistische Ansatz. . . . . . 18
3.1. Kritik am anti-sexistischen Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Hallein, am 29. 12. 2011
4. Männlichkeit in Zeiten der Risikogesellschaft . . . . . . . . . . 24
5. Die Dekonstruktion der Geschlechter – Jungenarbeit
als Versuchsfeld zu einer neuen Sichtweise von
Gemeinschaft und Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
6. Biologistisch-mythopoetischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . 29
7. Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenberatung . .
7.1 Jugend und Pubertät als soziales Konstrukt? . . . . . . . . . .
7.2 Gender-Mainstreaming, Diversitiymanagement
und Neoliberalismus: Eine Triage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2.1 Gender-Mainstreaming und Neoliberalismus? . . . . . . . . .
7.2.2 »Diversity-Management« und Neoliberalismus? . . . . . . .
8
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35
36
8. Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
1. Persönliches Interesse
an der Thematik:
auftauchendes Problem: „Die Komplementarität der Geschlechterrollen und -funktionen gab beiden Geschlechtern das Gefühl
einer je spezifischen Identität.“ (Badinter, 2010, S. 16.) Durch eine
Relativierung eben dieser Geschlechtsidentitäten wurden und werden Irritationen bei heranwachsenden Jugendlichen erschaffen,
deren Klärung im Sinne sozialarbeiterischer Beratung als Auftrag
angesehen wird.
Nach mittlerweile sechsjähriger Berufserfahrung in der Jungenarbeit ermöglichte mir ein Langzeitpraktikum in der Beratungsstelle
„Männerwelten“ den Einblick in eine neue Form des Umgangs mit
den Irritationen, die das Leben für junge Männer bereithält. Die
Kombination aus Subjektivität, Fachwissen und Parteilichkeit für
die Betroffenen – ohne jedoch ihre Verhaltensweisen zwingend
gutheißen zu wollen – führte zu einer bis dato nicht gekannten
Qualität des Beziehungsaufbaus. Die gestärkte Compliance als
Ergebnis geschlechterhomogener Jungenberatung, die Tatsache
also, dass Männer mit Jungen zusammenarbeiten und die klare Abgrenzung zu Arbeitsfeldern wie Mediation oder Familienberatung
weckte in kurzer Zeit den Wunsch der Frage: „Warum brauchen
Burschen Männer?“ auf den Grund zu gehen.
In den einzelnen Kapiteln meiner Arbeit wird das Arbeitsfeld der
geschlechterhomogenen Jungenberatung nicht nur von unterschiedlichen konzeptuellen Standpunkten aus betrachtet, sondern
erfahren auch eine Diskussion von VertreterInnen der Soziologie,
der Pädagogik, der Psychotherapie und der Sozialpädagogik um
eine umfassende Beleuchtung sicherzustellen.
Am Ende dieser Arbeit wird ein kritischer Ausblick formuliert, der
als Basis für weitere Arbeiten dienen könnte – die mögliche Verbindung zwischen „Gender-Mainstreaming“, „Diversity-Management“
und „Neoliberalismus“ könnte den Ausschlag für eine neue Orientierung dieses Berufsfeldes geben.
Die Tatsache, dass Jungenarbeit in dieser Form weder in ausreichender Flächendeckung und auch ohne adäquate Finanzierung in
Österreich betrieben wird, bestärkte mich in meinem Vorhaben,
diese Thematik ins Zentrum meines Interesses zu rücken.
„Treiben wir die Unterscheidung anatomisches Geschlecht/Geschlechtsidentität bis an ihre logische Grenze, so deutet sie vielmehr auf eine grundlegende Diskontinuität zwischen den sexuell
bestimmten Körpern und den kulturell bedingten Geschlechtsidentitäten hin.“ (Butler, 1991, S. 22 f.)
Wie Probleme in diesem Kontext entstehen und welche Lösungsansätze existieren wird im weiteren Verlauf ein Kernthema dieser
Arbeit darstellen.
2.2. Sozialisation
Die gängigen Sozialisationstheorien können grob in zwei Gruppen
mit unterschiedlichem Ansatz eingeteilt werden. Geht die eine vom
Ziel der Integration in ein Gesellschaftssystem aus, so stellt der
andere Ansatz die Fähigkeit zum Erlernen des sozialen Handelns als
Zielsetzung ins Zentrum der Betrachtung. Vgl. (Heinz Abels, 2010).
Interessant für den Bereich der Burschenberatung sind die Ansätze
von Peter Berger und Thomas Luckmann, welche in ihrem Buch
„Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ die Mechanismen der Gesellschaft beschreiben, um Verhaltensänderungen
bei Einzelpersonen zu erzwingen. Die dort angeführten Systeme
werden in weiterer Folge Einfluss in diese Arbeit haben.
Die Unterteilung von Sozialisationsabschnitten in die Bereiche von
der Primär- bis zur Quartärsozialisation umfasst das Erlernen von
sozialen Kompetenzen in unterschiedlichen Lebensperioden und
–situationen:
Ein Anliegen dieser Arbeit besteht auch darin, das Konzept der geschlechterhomogenen Jungenberatung für SozialarbeiterInnen neu
vorzustellen um einen facettenreichen Diskurs zu einem Thema
anzuregen, das meiner Ansicht nach vernachlässigt wird.
2.2.1. Primärsozialisation:
Der von Cole verwendete Begriff ist im Kontext seiner Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärgruppen zu verstehen, wobei
mit Primärgruppen die Familie (oder Individuen mit gleichem Auftrag) und mit Sekundärgruppen soziale Institutionen wie Arbeitsplatz, Kirche, etc. gemeint sind. Der in der Familie stattfindende
Prozess der Primärsozialisation bezeichnet „[…] die Herausbildung
der Grundpersönlichkeit. Das bedeutet, dass andere soziale Einflüsse an der Konstituierung der Grundpersönlichkeit von untergeordneter Bedeutung sind. In der Primärsozialisation wird demnach
entsprechend der familialen Ressourcen sowie der wertbezogenen
und normativen Orientierungen eine ganz bestimmte Modifikation
gesellschaftlicher Erwartungen und den Umgang damit vermittelt.“
(Mühler, 2008, S. 50) Die Vergesellschaftung beginnt.
2. Einführung und
Begriffsklärung:
Um die Diskussion rund um gendergerechte Männerberatung konfliktfrei führen zu können, bedarf es an dieser Stelle einer Klärung
der Kernbegriffe „Männerberatung“, „Sozialisation“, „Gender“,
„Jungenarbeit“ und „geschlechterhomogene Jungen-beratung“.
2.1.Gender:
Die Unterscheidung zwischen der Zuweisung von Geschlecht
durch die Biologie (sex) und durch gesellschaftliche Zuschreibungen im Sinne eines sozialen Geschlechts (gender) birgt durch eine
Neubewertung des (männlichen) Selbstbildes eine der zentralen
Aufgaben moderner Männerberatung.
„Der Begriff „Gender“ verweist auf inhaltliche Bedeutungsverschiebungen: Wurde anfangs „Geschlecht“ als eine gegebene Voraussetzung interpretiert, die eine Politik des Kampfes um Teilhabe
(Gleichheit) und Anerkennung (Differenz) nach sich zog, stellt der
seit den 1990er Jahren eingeführte Begriff „Gender“ eher eine
Analysekategorie des sozial hergestellten Geschlechts als Folge
einer gesellschaftlichen Ungleichheitsordnung dar.“ (Bitzan, 2011,
S. 500) Die Dekonstruktion von Geschlechtlichkeit im Sinne des
tradierten Dualismus „männlich“-„weiblich“ birgt ein immer wieder
2.2.2. Sekundärsozialisation:
Basierend auf den Ergebnissen der Primärsozialisation beginnt
das Individuum in der nächsten Phase, seinen Platz und Einfluss
in Gruppen zu finden. Peergroups werden zum zentralen Mittel
des nächsten Schrittes in Richtung Vergesellschaftung, während
die Familie an Einfluss stark verliert. „Sekundäre Sozialisation ist
jeder spätere Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in
neue Abschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist.“
(Berger, Luckmann: zit. in Mühler 2008, S. 47) Durch die Tatsache,
dass in diesem (bis ans Lebensende dauernden) Sozialisationsprozess Verhaltensweisen der Individuen auch in Bezug auf ihre
Geschlechteridentität bewertet werden, verändert sich der performative doing-gender Aspekt – speziell durch die Einflussnahme
von Medien: „Ungeachtet der zum Teil gegensätzlichen theoreti-
9
2.3. Jungenarbeit
Definitionen:
„Ziel [der Jungenarbeit] sei es, den heranwachsenden männlichen
Jugendlichen die gesellschaftspolitischen Ziele und die Männlichkeitsvorstellungen der Männerbewegung schmackhaft zu machen.“
(Hoffmann, zit. in: Holz 2008)
„Unter „Jungenarbeit“ wird die geschlechtsbezogene pädagogische
Arbeit erwachsener Männer (Fachkräfte) mit Jungen verstanden“.
(Reinhard Winter, 2006, S. 9)
Ausdrücklich sei hier festgehalten, dass die Arbeit mit sogenannten „Jungen mit Migrationshintergrund“ als selbstverständlicher
Teil der Jungenarbeit verstanden werden muss. Der Begriff wird
aufgrund seiner diskriminierenden Wirkung in dieser Arbeit in
weiterer Folge nicht verwendet.
schen Standpunkte scheint dennoch sicher zu sein, dass Medien,
insbesondere solche, die sich direkt an Jugendliche und Heranwachsende wenden, Leitbilder vermitteln, welche auf Prozesse der
Identitätsbildung nachhaltig wirken können.“ (Mühler, 2008, S. 47)
2.2.3. Tertiärsozialisation
Diese Phase bezeichnet die Sozialisation in der Adoleszenz. Das
Erreichen eines gesellschaftlichen Status und die Aneignung der
dafür notwendigen Strategien nehmen eine zentrale Bedeutung
ein. „Die sozialisatorisch vermittelten Wirkungen betreffen die
Erringung eines sozialen Gesamtstatus und des Umgangs damit.“
(Mühler, 2008, S. 48) Aufgrund der Tatsache, dass die zu beratenden Burschen in ihrer überwiegenden Mehrzahl in früherem Alter
Unterstützung suchen, halte ich die Beschreibung von Tertiär- und
Quartärsozialisation kurz.
Während die Ursprünge der geschlechtssensiblen Burschen- oder
Jungenarbeit im Deutschland der 80-er Jahre zu finden sind, ist die
Veränderung von Geschlechteridentitäten im Sinne der Veränderung ihrer sozialen Rollen und Aufgaben wesentlich älter. Ich beginne mit der Zeit des Nationalsozialismus, da der Rahmen dieser
Arbeit andererseits gesprengt werden würde. Die biologistischdogmatische Geschlechterzuschreibung der Nationalsozialisten
erlaubte sehr wohl die Manipulation der sozialen Rolle von männlichen Jugendlichen. Als (parteipolitisches) Ideal wurden körperliche
Fitness, die gesteigerte Fähigkeit Leid zu ertragen und die Kontrolle
von Emotionalität genannt.
2.2.4. Quartärsozialisation
Die sich verändernden Lebensumstände nach Abschluss des
Erwerbslebens werden als letzte Phase der Sozialisationsabschnitte
betrachtet. Die Zäsur der Pensionierung ist dabei eine durchwegs
dramatische: Rückgang der Einkommen, Tendenzen zur Selbstentwertung aufgrund der Tatsache, dass berufliche Leistungen nicht
mehr erbracht werden müssen (oder gegebenenfalls nicht mehr
erbracht werden können), Reduktion des sozialen Umfelds im Bereich der ArbeitskollegInnen, die Beschneidung von Anerkennung
seitens der Gesellschaft und gesundheitliche Probleme gehören zu
den Faktoren, die in diesem Lebensabschnitt in den Vordergrund
treten. Mühler verknüpft diese Lebenssituation mit früher auftretenden Lebensabschnitten: „Ein Leben ohne Berufsarbeit oder der
frühe Beginn einer solchen Phase im Lebenslauf würde zum einen
dies systematische Berücksichtigung sozialisatorischer Prozesse
im Falle von Langzeitarbeitslosigkeit oder im Hinblick auf alternative Lebensstile ermöglichen. Damit würden Lebensprobleme wie
sinkende soziale Anerkennung, verminderte soziale Wirksamkeit,
soziale Desintegration und Armut, unabhängig vom Lebensalter intensiver im Zusammenhang mit Sozialisationsvorgängen analysiert
werden.“ (Mühler, 2008, S. 49)
Dieses Männlichkeitsziel sollten Burschen durch Eingliederung in
die Hitler-Jugend (mit der ihr eigenen strikten Geschlechtertrennung) erreichen, einer Organisation, in der die Zugehörigkeit zu sozialen Schichten keine Rolle spielen sollte. Wenn sich doing-gender
als performativ versteht und somit das Erreichen von Geschlechtsidentität durch das Ausführen von Verhaltensmustern meint, so
scheint (jenseits der Erkenntnis von Geschlecht als sozialem Konstrukt) das Erzeugen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ mittels
geschlechtergetrennter Gruppen bereits in den dreißiger-Jahren
gang und gäbe gewesen zu sein – und nicht nur das nationalsozialistische Regime war sich dessen bewusst. „Diese Strategie der
Integration aller jungen Menschen über ein alle umfassendes und
erfassendes ganzheitliches Jugendbild läßt sich dann weiter über
die „uniformierte Staatsjugend“, die „Hitlerjugend“ des Dritten
Reiches und die „FDJ“ in der DDR bzw. des SED-Regimes weiterverfolgen.“ (Michael Brater, zit. in. Sellmann 2000, S. 6) Eine neue
„männliche“ Geschlechtsidentität im Sinne der zitierten Politsysteme konnte gebildet werden.
Margaret Mead befasste sich bereits 1958 im Rahmen ihrer kulturanthropologischen Arbeit mit der Frage: „Mit gutem Grund fragen
wir: Existieren wirklich über jene augenfälligen anatomischen
und physischen Unterschiede hinaus noch andere Unterschiede,
die durch die jener Gesellschaft eigentümlicher Erziehung zwar
verdeckt, aber nicht aus der Welt geschafft werden können, die
biologisch ebenso fest verankert sind?“ (Mead, 1958, S. 11) obwohl
ihre Schlussfolgerungen mit der heutigen Lehrmeinung zu weiten
Teilen im Widerspruch stehen.
10
3. Kritik an der Burschenarbeit zu deren Beginn
am Ende der 80-er Jahre –
Der antisexistische Ansatz:
Mit der Erkenntnis von Simone de Beauvoire „Man wird nicht
als Frau geboren, man wird es.“ (Beauvoir, 1961, S. 335) setzte in
weiterer Folge innerhalb des Feminismus und daraus folgend in der
feministischen Mädchenarbeit eine intensive Auseinandersetzung
mit der Konstruktion von „Weiblichkeit“ und Nationalsozialismus
ein (Christina Thürmer-Rohr, Leonie Wagner, Karin Windaus-Walser, Rita Thalmann, Irene Stochr oder Detel Aurand, um nur einige
wenige zu nennen) – ein Diskurs, den die Männer- beziehungsweise die Burschenarbeit nicht zuletzt aufgrund ihres zeitlich verzögerten Auftauchens weitgehend vermissen lässt.
In diesem Sinne ist ein Verstehen der Möglichkeiten und Grenzen
von geschlechtssensibler Burschenberatung nicht möglich, ohne
die Diskussionen im Laufe Ihrer Geschichte rund um dieses Thema
zu beachten. Die Begründungen der Standpunkte einzelner Entwicklungsstadien von Burschenberatung erklären die Arbeitsfelder
und die Kritikpunkte der einzelnen Erklärungsansätze aus Sicht
der Pädagogik, der Soziologie, der Sozialen Arbeit, der Psychologie
sowie der Psychotherapie. (Vgl.: Holz, 2008, S. 28)
In dieser Arbeit werden beide Begriffe – Jungenarbeit und Burschenarbeit – gleichwertig verwendet.
Kriterien zur Genderkompetenz für operativ Tätige in der Burschenarbeit.
Karl definiert die anti-sexistische Pädagogik wie folgt:
„Die tendenzielle Vaterlosigkeit und das daraus resultierende
Erfordernis, männliche Identität in erster Linie als Abgrenzung von
„Weiblichkeit“ zu definieren, hat nicht nur Auswirkungen auf die
Jungen selbst, sondern auch auf die andere Seite: Aus Abgrenzung
wird Abwertung; Jungen bekämpfen das „weibliche“ nicht nur in
sich, sondern auch um sich herum […]. Wir hinterfragen die Äußerungsformen und versuchen, ihr ein Frauen- und Mädchenbild
entgegenzusetzen, das von Achtung und Respekt geprägt ist: Durch
unser Beispiel und durch Infragestellung sexistischer Mythen auf
der kognitiven Ebene.“ (Karl, 1994, S. 133)
Das scheinbare Paradoxon, weswegen innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur ausgerechnet männliche Jugendliche
einer subjektiven und genderspezifischen Unterstützung bedürfen,
stand am Beginn der Burschenarbeit. „So behaupten manche
Feministinnen schon von den Ansätzen der Männerbewegung, sie
sei nur ein besonders schlauer Versuch des ohnehin herrschenden
Geschlechts, sich auch noch jene Qualitäten und Qualifikationen
anzueignen, die ihnen bisher fehlten, um somit noch stärker und
einflußreicher zu werden.“ (Sielert, 1993, S. 36)
Es erscheint logisch, dass sich die Anfänge genderorientierter
Burschenarbeit Mitte der 80-er Jahre als „antisexistisch“ betitelte, um ebendiese Vorwürfe zu unterbinden. Der zitierte Vorwurf
wäre dann stimmig, wenn Burschenarbeit auf ein Beibehalten von
geschlechtsspezifischen Ungerechtigkeiten abzielen würde.
Geiß formuliert folgende Voraussetzungen für geschlechtsspezifische Arbeit mit Jugendlichen:
2.4. Geschlechterhomogene Jungenberatung
und Abgrenzung zur Psychotherapie
Geschlechterhomogene Jungenberatung meint ein Setting, in dem
Männer und Jungen ein Beratungssetting bilden. Die Abgrenzung
zur Psychotherapie erfolgt erstens nach den gesetzlichen Grundlagen (Psychotherapiegesetz), zweitens durch die Tatsache, dass
diese Beratungen nicht zwingend an einen Ort gebunden sind, sondern auch im unmittelbaren Lebensbereich der Klienten stattfinden
und somit aufsuchenden Charakter haben können und drittens
durch den direkten Bezug auf den Alltag des Klienten.
Sickendick/Engel/Nestmann definieren den allgemeinen Begriff der
sozialpädagogischen Beratung als „ […] eine Interaktion zwischen
zumindest zwei Beteiligten, bei der die beratende(n) Person(en)
die Ratsuchende(n)= - (sic!) mit Einsatz von kommunikativen
Mitteln, Orientierung oder Lösungskompetenz zu gewinnen. Die
Interaktion richtet sich auf kognitive, emotionale und praktische
Problemlösung und –bewältigung von KlientInnen oder Klientsystemen (Einzelpersonen, Familien, Gruppen, Organisationen) sowohl
in lebenspraktischen Fragen wie auch in psychosozialen Konflikten
und Krisen.“ (Galuske, 2001, S. 167)
Das Vermitteln von Genderkompetenz beinhaltet:
1.)
2.)
3.)
4.)
5.)
6.)
Thiersch formuliert: „Sozialpädagogische Beratung sollte parteinehmende Praxis sein, die, gestützt auf Persönlichkeits- und
Gesellschaftstheorie, durch reflektierte Beziehungen und Erschließen von Hilfsquellen verschiedener Art das Unterworfensein von
Menschen unter belastenden Situationen verändern will. Sie hat
die Offenheit von menschlichen Situationen zur Voraussetzung und
arbeitet mit den zugleich methodischen wie inhaltlichen Mitteln
der Akzeptierung, Sachkompetenz und Solidarisierung. Eine solche
Zieldefinition zeigt, daß Beratung zwar mit Interaktion zwischen
Personen beginnt, aber nicht dort verbleibt, sondern menschliche
Lebensumstände mit ihrer mehrdimensionalen, insbesondere auch
sozioökonomischen Bedingtheit angehen will.“ (ebd. S. 171)
Die Möglichkeit eine gendergerechte Perspektive im
jeweiligen Handlungsfeld einnehmen zu können.
Bestehende Gesellschaftsstrukturen auf ihren Bezug zu
Geschlechterverhältnissen überprüfen zu können.
Die eigene Rolle im bestehenden Geschlechterverhältnis
verstehen und überprüfen zu können.
Eine persönliche Position zum Thema „Geschlechterdemokratie“ zu erarbeiten.
Das Realisieren von Gendergerechtigkeit im Alltag zu fördern.
Die erreichten Ziele methodisch zu überprüfen.
(Vgl.: Geiß, 2004, S. 221)
11
2)Jungen machen Probleme.
Verbunden mit der Tatsache, dass Frauenforschung beziehungsweise Mädchenarbeit als solche bereits seit Ende der 60-er bzw.
Anfang der 70-er Jahre existiert, währenddessen Männerforschung/Burschenarbeit zeitlich stark verzögert kaum auf eine
Entwicklung in gleicher Intensität verweisen kann, entstehen für
Burschen un- oder kaum betrachtete Problemfelder, die gendergerechte Burschenarbeit als solche rechtfertigen können. Badinter
verdeutlicht im Zusammenhang mit Mutterschaft:
„Die Komplementarität der Geschlechterrollen und –funktionen
gab beiden Geschlechtern das Gefühl einer je spezifischen Identität. Doch seit Männer und Frauen im öffentlichen wie im privaten
Leben die gleichen Funktionen ausüben und die gleichen Rollen
spielen können, stellt sich die Frage, was beide noch grundlegend
voneinander unterscheidet. Wenn die Mutterschaft das Privileg
der Frau ist, kann man es dann bei einer negativen Definition des
Mannes bewenden lassen: als desjenigen, der keine Kinder bekommen kann? So stürzte der Mann in eine tiefe existentielle Krise.“
(Badinter, 2010, S. 16)
Wie bereits oben angerissen, ist nachvollziehbar, dass Jungen im
Zuge der Findung von gesellschaftlich akzeptierter Geschlechtsidentität auf Schwierigkeiten stoßen, die sie zwar zwingend zu
bewältigen haben – die aber nicht (ohne Unterstützung) bewältigbar sind. Der so entstehende Druck und das Gefühl eine der
wesentlichen Aufgaben dieses Lebensabschnittes nicht bewältigen
zu können, entlädt sich nach Karl in einer Kompensation durch
überbordenden Sexismus, gesteigertem Risikoverhalten im Allgemeinen und Gewaltausübung im Speziellen.
Die Schwierigkeiten, die sich aus veränderten (männlichen)
Geschlechtsidentitäten ergeben die Möglichkeit, im Rahmen der
gendergerechten Burschenberatung Probleme zu thematisieren
und Lösungswege zu bearbeiten und können nicht als Mechanismus zur Machterhaltung einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur gewertet werden. Das Vermitteln eines Geschlechterbildes, in dem „Mann“ eben nicht als „mächtig“, „dominant“, „stark“
etc. verstanden werden muss, bietet keine Möglichkeit für die
Klienten, die erlernten Strategien zur Unterdrückung von Frauen
einzusetzen. (vgl. Sielert, 1993, ebd.) Ein Mitbegründer der „antisexistischen Jugendarbeit“, Holger Karl, geht in seinem Aufsatz „Der
ehrenhafte Abschied des Panzersoldaten“ auf diese Diskussion ein
und postuliert zwei Pole gendergerechter Burschenarbeit:
1)Jungen haben Probleme.
Die Entwicklung der Geschlechtsidentität „männlich“ stellt Heranwachsende vor zum Teil schwer lösbare Probleme: Das (weil
untersagte) Wegbrechen von tradiert-männlichen Verhaltensmerkmalen im Sinne von „doing-gender“ irritiert massiv, zudem
keine klar strukturierten Alternativen für die Gruppe der Burschen
präsentiert beziehungsweise breit genug an sie gesendet wurde.
Das Fehlen von männlichen „role-models“ durch arbeitstätige
Väter verstärkt die bestehende Problematik. Die beiden Probleme
kulminieren miteinander, denn selbst wenn der Vater als „männliche“ Vorbildfigur präsent und beobachtbar ist, so entspricht er
möglicherweise dem aktuell viel zitierten veralteten Männerbild. Dazu kommt, dass Jugendliche in vermehrtem Ausmaß mit den
Zuschreibungen „stark“, „belastbar“, „risikobereit“ überfordert
werden, da ihnen (nicht zuletzt durch die Auswirkungen berechtigter feministischer Kritik) klar wird, dass diese Anforderungen im
realen Leben in keiner Weise erfüllt werden können. Die daraus
wiederum resultierende Orientierungslosigkeit und Unzufriedenheit stellt ein Feld der problemorientierten Sichtweise in der Arbeit
mit jungen Männern dar, deren Diskussionsfeld von der Sprengelarbeit bis hin zur Schulsozialarbeit weite Teile der Handlungsfelder
der Sozialen Arbeit einnimmt.
12
3.1. Kritik am
anti-sexistischen Ansatz:
Praxis antisexistischer Pädagogik empathischer Bezug auf Jungen
genommen, jedoch im Konzept die Auseinandersetzung mit und
der Ausgangspunkt der neuen Jungenarbeit in der Kritik an patriarchaler Männlichkeit als Anspruch auf Herrschaft und Dominanz
über Frauen mit seinen dramatischen Folgen klar benannt. Damit
wird eine gesellschaftliche Zielrichtung skizziert und unterstützt,
die solche Dominanz in das Konzept der Geschlechterdemokratie
überführen will“ (vgl. Karl/Ottemeier-Glücks 1997). (Karl, Holger/
Gerd Ottemeier-Glücks, „Neues aus dem Mekka der antisexistischen Jungenarbeit. Ein Blick in die Internet-Diskussion“, in Möller,
Kurt (Hg.), Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende
Jungen- und Männerarbeit, Weinheim/München 1997, S. 91-107.)
Erst jetzt – also Mitte bis Ende der 90er Jahre konnte also der
Zugang geklärt werden, mit dem Jungenarbeit arbeiten wollte.
Während die „Hamburger Schule“ bereits gegen Ende der 60-er
Jahre auf die Beratung, beziehungsweise auf die Vermittlung von
Inhalten für junge Frauen im Rahmen von geschlechterhomogenen
Gruppen setzte, so stand (und steht) diese Form in der Burschenarbeit bis heute im Kreuzfeuer der Kritik:
Das Festhalten am binären Verständnis von Geschlecht beinhaltet eine Vernachlässigung (und damit eine Diskriminierung) aller
Geschlechtsidentitäten, die jenseits von „männlich“ und „weiblich“
existieren. „Eine Frau zu „sein“, ist sicherlich nicht alles, was man
ist. Diese Bestimmung kann nicht erschöpfend sein, und zwar
nicht, weil eine ihrer geschlechtlichen Bestimmtheit vorangehende Person (pregendered person) das spezifische Beiwerk ihrer
Geschlechtsidentität übersteigt, sondern weil die Geschlechtsidentität in den verschiedenen geschichtlichen Kontexten nicht
immer übereinstimmend und einheitlich gebildet worden ist und
sich mit den rassischen, ethnischen, sexuellen, regionalen und
klassenspezifischen Modalitäten diskursiv konstituierter Identitäten überschneidet.“ schreibt Judith Butler im Kapitel „Kontroverse
Heterosexualität“ und zeigt die Unzuverlässigkeit aller Geschlechtszuschreibungen am Beispiel „Frau“ auf. (Butler, 1990, S. 485)
Sielert dazu: „Wie Frauen trotz äußeren Machtzuwachses in ihrer
„Weibchen-Rolle“ verharren können, geben Männer ihr altes
Rollenverhalten nicht einfach auf, wenn ihnen Macht genommen
wird. Es ist eine weise und sich immer wieder bewahrheitende
Einsicht, daß die politische Veränderung der Verhältnisse mit der
pädagogischen Anstrengung im persönlichen Bereich einhergehen
muß, damit wünschenswerte Entwicklungen real greifen.“ (Sielert,
1993, S. 37)
„Viele Argumentationen zeigen, wie schwer es Jungenpädagogen
noch fällt, von der Dominanz als negativer Abgrenzung von Mädchen und Frauen, von männerbündischen Denk- und Handlungsstrukturen und vom Anspruch der Bestimmungsmacht Abschied zu
nehmen. „Jungenarbeit kann nur von Männern gemacht werden“,
„Jungenarbeiter müssen sich frauenfrei unter sich vernetzen“ –
dies sind zwei zu hörende Auffassungen, in denen sich m.E. die
alten Strukturen der Frauenabwertung und der Männerdominanz
spiegeln.“ (Heiliger, 2002, S. 4)
Heiliger berücksichtigt mit ihrer Aussage nicht, dass speziell schambesetzte Problematiken im Bereich der Sexualität, der Gewalt an
Frauen durch Burschen, der Geschlechtsidentität etc. durch einen
männlichen Gesprächspartner die Schwellenangst senken können.
Offen bleibt ebenfalls die Frage, weswegen sozialpädagogische
Beratung in geschlechterhomogenen Gruppen als Abwertung
gegenüber Frauen gesehen werden kann (nachdem Konzept und
Methode der Jungenarbeit ausreichend dargelegt wurden) beziehungsweise weswegen hier männlich-dominantes Verhalten zu
beobachten ist.
(Allerdings kann an dieser Stelle auf die mythopoetische Männerrechtsbewegung verwiesen werden, (s. S. 19 f.) in der (jenseits
der gängigen Vorstellungen und Ziele der geschlechtshomogenen
Jungenberatung) Heiligers Befürchtungen bestätigt werden.)
Sielert stellt dieser Kritik ein anderes Argument gegenüber: „Die
Identitätsprobleme von Jungen werden keineswegs gelöst, wenn
ihnen Wertvorstellungen und Verhaltenserwartungen weiblicher
Weltsicht und Durchsetzungsstrategie anempfohlen werden. Die
ohnehin problematische Sozialisation der Jungen durch überwiegend weibliche Bezugspersonen wiederholt bzw. doppelt sich
dabei auf einer anderen Ebene.“ (Sielert 1992, S. 39)
Reinhard Winter unterstützt: „Wenn Jungenarbeit eine menschlich-männliche Sozialisation fördern will, muss also die äußere
Form „Geschlechtshomogenität“ eine spezifische innere Qualität
erhalten.
Im Zuge der wachsenden öffentlichen Diskussion um diese ersten
Ansätze der Burschenarbeit wurden die Grenzen der antisexistischen Herangehensweisen offensichtlich: Der Kampfbegriff des
„Antisexismus“ und dessen Ableger veranlasste speziell PädagogInnen zur Formulierung des Vorwurfes, dass Jungenarbeit nichts
anderes wäre als die Unterstützung feministischer Forderungen
der Mädchenarbeit:
„Die in der Literatur gelegentlich auffindbare (sic!) Bezeichnungen „feministische Jungenarbeit“ oder auch „emanzipatorische
Jungenarbeit“ legen die Vermutung nahe, dass die Mädchenarbeit
begrifflich und konzeptionell für die Arbeit mit Jungen übernommen wurde. Die feministische Jungenarbeit soll offenbar die
Erkenntnisse und Interessen der Frauenbewegung für Jungenarbeit
nutzbar machen.“ (Sielert 1993, S. 39)
„Zunächst war der Widerstand beträchtlich, der den Forderungen
der Pädagoginnen von Seiten der männlichen Pädagogen entgegengesetzt wurde, die nicht einsahen, warum sie mit Jungen eine
rollenkritische Arbeit durchführen sollten, die natürlich bei ihnen
selber eine kritische Reflexion von Männlichkeit voraussetzte.“
(Heiliger, 2002, S. 113)
(Hier findet sich bis heute eine Grenze der Burschenarbeit – wenn
soziale Institutionen wie Schule, Kirche oder Familie ein sexistisches Geschlechterbild zeichnen und/oder vermitteln, so wird die
Arbeit der gendersensiblen Burschenarbeit stets ein reaktives sein
und im nicht-wissenschaftlichen Diskurs auf Ablehnung stoßen.)
Andererseits wurde kritisiert, dass eine der wesentlichen Voraussetzungen für gelingende Klientenarbeit in der Bezeichnung „antisexistisch“ keinerlei Beachtung beigemessen werde – der wohlwollenden Grundeinstellung gegenüber Burschen. Die „anti-Haltung“
gegenüber der „Männlichkeit“ der Klienten pervertiere sogar diese
Voraussetzung zur gelingenden Klientenarbeit.
Karl und Ottemeier-Glücks stellen dieses Missverständnis, eine
Verwechslung von Methode und Konzept, richtig und setzen so
eine bis heute gültige Klarstellung von gendergerechter Jungenarbeit indem sie postulieren: „Selbstverständlich werde in der
Nur wenn in der männlichen Gruppe eine neue Qualität von
männlicher selbstkritischer Solidarität, Stärkung und gleichzeitiger
Hinterfragung vorherrschender Männlichkeit sich entwickelt, kann
das Ziel der bewussten selbständigen Entwicklung von Geschlechtsidentität gefördert werden.“ (Reinhard Winter (Hrsg.), 2006, S. 38)
Im Sinne der Dekonstruktion von Geschlecht (auf die später
in dieser Arbeit noch eingegangen werden wird), zeichnet Ulf
Preuss-Lausitz das Problem am Beispiel Schule anders: „Nicht also
13
4. Männlichkeit in Zeiten
der Risikogesellschaft
sind Mädchen oder Jungen generell benachteiligt. Benachteiligt
sind jene Kinder, die von Leistungsversagen bedroht sind, die ihre
Potenziale nicht entfalten können, weil und wenn ihre Familienbedingungen sie nicht schulisch stützen, weil und wenn die Vielfalt
möglicher Jungen- und Mädchen-Rollen nicht bejaht und nicht
zugleich in einem überzeugenden Verständnis von Menschlichkeit gebündelt wird.“ (Preuss-Lausitz, 1999) Die Problematik von
Kindern und Jugendlichen wird hier jenseits von Geschlechtszugehörigkeit und deren Auswirkungen gesehen.
Um die Frage „Warum brauchen Burschen Männer?“ beantworten
zu können, müssen jene Faktoren beleuchtet werden, die den
Wandel der „Männlichkeit“ beeinflussen und somit das Arbeitsfeld
der Hilfesteller für die Klientel vorzeichnen. Die soziologischen
Sichtweisen zu diesem Thema sind dabei unverzichtbar.
Wenn es ein Bestreben der feministischen Kritik an der geschlechterhomogenen Jungenberatung ist, dass Frauen männliche Geschlechtsidentitäten gendersensibel an heranwachsende
Jungen vermitteln sollen, so stellen sich drei Probleme:
Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ und seine 1994 folgende „Weltrisikogesellschaft“ zäsierte nicht nur die soziologische Sichtweise
der Vernetzung von Gesellschaften, sondern führte auch zu einem
neuen Blickwinkel im Umgang mit Problemen heranwachsender
Personen.
1.) Die Vorbildwirkung des greifbaren „Mannes“, der eine im
Vergleich zum tradierten Geschlechterbild alternative Form des
„Mann-seins“ lebt.
Die Versuche, wie „Mann“ seine Existenz erfolgreich organisieren
und strukturieren konnte, scheitern einerseits ob der Tatsache,
dass geschlechterspezifisches Rollenverhalten mit seinen Privilegierungs- und Unterdrückungsmechanismen aufgebrochen wurde und
neue Anforderungen und Pflichten seitens einer zunehmend gesellschaftlich gleichgestellten Gruppe von Frauen gestellt werden.
Das Kernanliegen geschlechtshomogener Jungenberatung, nämlich
die Vermittlung sowie das Vorleben eines Leitbildes männlicher
Identität, gerät damit gemeinsam mit ihrer Klientel in einen
Zustand des permanenten Legitimationszwangs. Beck beschreibt
die Ursachen dieses Konflikts: „Die „Jahrhundertkonflikte“, die sich
in persönlichen Schuldzuweisungen und Enttäuschungen in den
Geschlechtsbeziehungen entladen, haben ihren Grund auch darin,
daß immer noch versucht wird, unter Konstantsetzung der institutionellen Strukturen die Freisetzung aus den Geschlechtsstereotypen (weitgehend) allein im privaten Gegeneinander von Männern
und Frauen, und zwar in den Rahmenbedingungen der Kleinfamilie, zu proben.“ (Beck, 1986, S. 181)
2.) Die Frage, ob ein Jugendlicher im Zuge eines Identitätsproblems die „weibliche“ Vorstellung einer gendersensiblen „Männlichkeit“ in gleicher Weise wie bei einem „männlichen“ Ansprechpartner akzeptieren kann. (Problem der compliance/adherence.)
3.) Durch die oben erwähnte Dominanz an weiblichen Bezugspersonen im Leben eines archetypischen Klienten kann in diesem Fall
angenommen werden, dass die „typisch weiblichen care-Fähigkeiten“ als sexistische Zuschreibung für Frauen (speziell im Arbeitsfeld
der Sozialen Arbeit) beim Klienten reproduziert und verfestigt werden. In Bezug auf die Pädagogik schreibt Beck: „Dennoch scheint es
nicht übertrieben – gemessen an der Ausganssituation -, von einer
Feminisierung der Bildung in den sechziger und siebziger Jahren zu
sprechen.“ (Beck, 1986, S. 166)
(Winter äußert dazu noch einen vierten Punkt:
„Die Jungen geraten bei Anwesenheit von […] Frauen einerseits
in einen Selbstdarstellungsdruck, indem sie sich vor den Frauen
präsentieren und darstellen müssen, andererseits geraten sie unter
einen Rechtfertigungsdruck, indem sie versuchen, ihr männliches
Handeln zu verteidigen.“ (ebd. S. 40) Es stellt sich die Frage, ob
Burschen diesen Druck bei männlichen Ansprechpartnern nicht
ebenfalls zumindest in geringerer Form verspüren.)
Oelemann teilt die Einschätzung Becks in Bezug auf die „Feminisierung“ und führt unter dem Titel „Jungensozialisation: Aufwachsen
im männlichen Vakuum“ aus: „Beide [Anm.: Mädchen wie Jungen]
wachsen die ersten Lebensjahre mit und bei Frauen auf. Üblicherweise sorgt die Mutter für das Kind. Es gibt eine Babysitterin. Im
Kindergarten arbeiten Kindergärtnerinnen. In der Grundschule
unterrichten Lehrerinnen. Oft treten erst nach dem Wechsel in
eine weiterführende Schule männliche Lehrer in Erscheinung.“
(Oelemann, 1998, S. 14)
Andererseits bleibt der (gesellschaftliche) Anspruch auf die „Hegemonie des Mannes“ aufrecht – und wird gleichzeitig verunmöglicht. Die Planung des eigenen Erwerbslebens welches als wichtigste Stütze „männlichen“ Selbstbewusstseins und als Basis von
Anerkennung, Macht und Einfluss gilt, ist im Rahmen der Risikogesellschaft von Faktoren dominiert, die das (männliche) Individuum
weder steuern noch vorhersehen oder vermeiden kann.
„Der Schlüssel der Lebenssicherung liegt im Arbeitsmarkt […]. Das
Bereitstellen und Vorenthalten von Lehrstellen wird so zur Frage
des Einstiegs oder Ausstiegs in die oder aus der Gesellschaft. Zugleich können durch konjunkturelle oder demographische „Hochs“
und „Tiefs“ ganze Generationen ins existentielle Abseits driften.“
(Beck, 1986, S. 212)
14
In seinen späteren Betrachtungen zum Thema „Gesundheitssoziologie“ werden nicht nur die Zusammenhänge von Kindern
und Jugendlichen aus sozial schwachen Schichten mit niedrigerer
Lebensdauer in Verbindung gebracht, sondern auch die Auswirkungen von Geschlecht und Gesundheitsvorsorge beleuchtet. Erklärt
Hurrelmann das erhöhte Verletzungsrisiko bei Jungen noch mit
erhöhtem Testosteronspiegel vgl. (Hurrelmann, Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von
Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung., 2010, S. 51 ff.),
so ergänzt er im Kapitel „Geschlechtsunterschiede im Jugendalter“:
„Während bei den weiblichen Jugendlichen psychosomatische und
depressive Gesundheitsstörungen besonders häufig auftreten, fallen die Jungen durch ein hohes Ausmaß an Aggression, dissozialem
und kriminellem Verhalten und Substanzmittelkonsum (sic!) auf.
[…] Sie wollen damit die Erfüllung der gesellschaftlichen Erwartungen an eine aktive und starke soziale Rolle als Mann signalisieren.“ (ebd.) Allerdings muss ergänzt werden, dass die Korrelation
Geschlecht – Krankheit sich im Erwachsenenalter und speziell im
Alter für Frauen deutlich zum schlechteren wendet, da sie strukturell unter niedrigerem Einkommen und dessen Auswirkungen
auf Wohnen, Essen, etc., sowie schlechterem sozialen Status und
vielem mehr ausgesetzt sind.
An dieser Stelle soll die Frage gestellt werden, ob die Risikogesellschaft als Struktur nicht sogar aktiv ein neues Männerbild fordert,
welches mit den Attributen „kinderlos“, „flexibel“ (in Bezug auf
Arbeitszeit und Arbeitsort), „entsolidarisiert“, „institutionalisiert“
und „ökonomisiert“ beschrieben werden könnte. Eine genauere
Betrachtung dieses Gedankens erscheint sinnvoll, würde jedoch
den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
(Ebenso verhält es sich mit der Abklärung der Hinweise, inwieweit
„jugendlich sein“ und „Pubertät“ als soziale Konstrukte behandelt
werden müssen, um ein vollständiges Verständnis für die daraus
entstehenden Problemlagen entwickeln zu können. (s. S. 27 f.))
Angesichts der Vielzahl von Ansätzen, die Jungenarbeit verfolgte
und verfolgt, beginnend beim oben bearbeiteten „anti-sexistischen“ Ansatz, über emanzipatorische, feministische, antifaschistische, personenzentrierte, etc., Herangehensweise, kann von diesem modernisierungstheoretischen Ansatz angenommen werden,
dass er die wichtigsten Argumente für eine geschlechtshomogene
Jungenarbeit liefert.
In der Zusammenfassung aller oben angeführten Problemlagen
dieses Kapitels eignet sich Winters Rechtfertigung für Jungenarbeit:
„Jungen brauchen Jungenarbeit, um ihr Jungesein im Modernisierungsdruck aneignen und bewältigen zu können.“
(Winter, 1996, S. 378 ff.)
Mittlerweile stehen Jugendliche vor dem Problem, dass durch
die Schnelligkeit technischer Entwicklungen Berufsausbildungen
als Ganzes obsolet werden können. (Das Handwerk des Bäckers
beispielsweise erfuhr einen dramatischen Niedergang, nachdem die
Möglichkeit der Eigenproduktion von Backwaren mittlerweile an
beinahe jeder Tankstelle möglich geworden ist.)
Zur Bedeutung von Arbeit für „Männlichkeit“ präzisieren Baur und
Luedtke: „“Mann“ und „Arbeit“ werden in der Moderne stereotyp
zusammengedacht. Der Erwerbsarbeit wird eine zentrale Bedeutung
für die Konstruktion von Männlichkeit zugeschrieben: Das normative
Ideal des 19. Jahrhunderts war das „heroische männliche Subjekt“,
das seine Selbstverwirklichung in Konkurrenz zur (sozialen und
natürlichen) Umwelt und der Durchsetzung gegenüber der Umwelt
betreibt.
Seine Gestaltungsmacht beruhte auf harter Arbeit, beruflichem
Erfolg, Selbstverleugnung; […]“ (Jens Luedte, 2008, S. 81)
Mit „Selbstverleugnung“ meinen Baur und Luedtke die gesellschaftlich geforderte Unfähigkeit zum Ausdruck von Emotionen wie
Angst, Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Scham, Nervosität, Unsicherheit, etc. Oelemann bezeichnet dies als „Jungensozialisation als
systematische Desensibilisierung“. (Oelemann, 1998, S. 14)
Reinhard Winter ergänzt in seinem Buch „Jungenarbeit“, dass die
tradierten „männlichen“ Leitbilder von Stärke, Ausdauer, etc. ihre
Funktion verlieren, wenn diese Attribute im Erwerbsleben nicht
mehr von Bedeutung sind. Das Bedienen von Rechnern und deren
Programmen nimmt einen stetig ansteigenden Anteil im Berufsleben – nicht nur von Jugendlichen – ein und führt die klassisch den
Männern zugewiesene Stärke in die Nutzlosigkeit.
Außerdem gerät der Anspruch als Vollernährer von Familien angesichts der oben beschriebenen Unsicherheitsfaktoren am Arbeitsmarkt (nicht zuletzt eine gewichtige Auswirkung der Risikogesellschaft) ins Wanken.
Das Vorleben und Vermitteln alternativer Männerbilder würde
Klienten in einer gesellschaftlichen Entwicklung, die von Unsicherheit in Bezug auf Selbstidentität, Genderidentität, beruflichen
Rahmenbedingungen und gesellschaftspolitischen Veränderungen
geprägt ist, Sicherheit bieten. Voraussetzung dafür ist, dass die
operativ tätigen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen Kenntnis über
Ursachen und Wirkungen gesellschaftlich erzeugter (Existenz-)
Probleme haben.
Dass die veralteten Vorstellungen von Männlichkeit nicht nur
irritieren, sondern das Leben als Ganzes gefährden kann, beobachtet Hurrelmann. Er ortet eine Auswirkung des sozialen Konstrukts
der Männlichkeit nicht nur auf die seelische Komponente, sondern
auch auf die Körpergesundheit.
Hurrelmann zum Thema „Männlichkeit“ und Krankheit: „In den
Geschlechtsunterschieden spiegeln sich die ungleichen Temperamente von Jungen und Mädchen, ebenso aber auch die in unserem
Kulturkreis typischen Erziehungsmuster und Vorstellungen vom
sozial angemessenen Verhalten der Geschlechter.“
(Hurrelmann, 2003, S. 16)
15
5. Die Dekonstruktion
der Geschlechter –
Jungenarbeit als Versuchsfeld zu einer neuen Sichtweise von Gemeinschaft und
Gesellschaft.
have in ways we have traditionally defined as
masculine and feminine but these positions
would no longer be gendered, so allowing
people more flexibility and experimentation.” (Francis, 1998, S. 17.)
Wenn Schule als zentrales Element der
Sekundärsozialisation und als soziale Institution an der Reproduktion der klassischen
Geschlechterrollen bei Kindern und Jugendlichen gilt, so würde die Haltung der gendersensiblen Jugendarbeit (nicht Jungenarbeit
– das System der Koedukation wird erst später in Frage gestellt)
laut Francis bei PädagogInnen eine klar formulierte, subjektiv
eingenommene Positionierung zu den Fragen rund um Geschlechtlichkeit und deren Konstruktion voraussetzen.
Sowohl die früheren anti-sexistischen Ansätze in der Jungenarbeit
als auch die später erfolgten Erkenntnisse der gender-Wissenschaft
und deren Beleuchtung ausgehend vom Standpunkt der Risikogesellschaf, vereinen sich in einem Punkt: Die unterschiedlichen
(negativen) Auswirkungen patriarchaler Gesellschaftssysteme auf
die (sozialen) Geschlechter. Die Analyse des ungerechten Kampfes
um Ressourcen lassen auf die Existenz zweier Hauptpole schließen, die abhängig vom jeweils anderen um Vorteile kämpfen. Die
dazu nötige Unterscheidung zwischen „männlich“ und „weiblich“
wird bereits von Kindern durchgeführt und von pädagogischen
Systemen produziert. „The depiction of gender identity is a public
achievement: […] children take up aspects of gender-stereotypical
behaviour in order to publicly delineate their gender identifications.“ (Francis, 1998, S. 9 f.) Judith Butlers Ausführungen zum
“biologischen Geschlecht” können auch als dekonstruktivistisch
gelesen werden: “ In diesem Sinne fungiert das ‚biologische
Geschlecht’ demnach nicht nur als Norm, sondern ist Teil einer
regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht,
das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine produktive Macht
erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren.“
(Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des
Geschlechts., 1995, S. 21)
Ein Lernziel im Sinne der Förderung von Kindern und Jugendlichen
zu einer kritischen Auseinandersetzung mit gender und damit
mit der Gesellschaft, in der sie eingebettet sind, zu formulieren,
stellt eine Herausforderung auf politischer Ebene dar. Die Frage,
ob Bildung in diesem Sinn politisch gewünscht (oder abgelehnt)
wird, wäre im Anschluss an diese Arbeit eine interessante, die
hier nicht geklärt werden wird. Die politische Dimension auch der
geschlechtshomogenen Jungenberatung halte ich in ihrer logischen
Konsequenz für ebenso gewichtig.
Gleichzeitig bietet der Zugang über den Dekonstruktivismus der
Geschlechter zum ersten Mal eine diskriminierungsfreie Betrachtung von Homosexuellen und Transgender-Menschen. Als Ziel der pädagogischen Anwendung der Dekonstruktion von
Geschlechtern formuliert Francis:
„It might serve to stem the excesses of gender category maintenance and to empower children intellectually - to challenge them.
It will enable them to challenge constructions and assumptions
emanating from the dominant discourse of gender dichotomy if
they wish. Moreover it will provide children with extra information, fantasies and discursive resources which they can draw on to
create more flexible constructions of their own gender identity if
they want to.” (Francis, 1998, S. 181.)
Somit sind die Ziele der DekonstruktivistInnen mit denen der
geschlechterhomogenen Jungenarbeit identisch.
Folgerichtig und konsequent erscheint demnach der Ansatz, sämtliche negativen und positiven Zuschreibungen an die (sozialen)
Geschlechter fallen zu lassen, da die Gemeinsamkeiten erstens
überwiegen und zweitens bisher vernachlässigt wurden. Wenn die
Jungenarbeit ihre ersten Anleihen aus der feministischen Mädchen- (und Frauenarbeit) entnommen hat und ihr Ziel nicht in der
Schaffung einer Männerrechtsbewegung, sondern im Erarbeiten
bisher brach liegender Ressourcen liegt – weshalb sollte man weiterhin auf die Unterschiedlichkeiten der gender hinweisen?
Nachdem bisher diskutiert wurde, dass dem Geschlecht „weiblich“
zugeschriebene Persönlichkeitsanteile bei Männern wie Angst,
Schwäche und Zweifel zwar existieren aber nicht ausgedrückt
werden dürfen, so wäre es beispielsweise ein gangbarer Weg von
Menschen zu sprechen, die im Regelfall über ein emotionales
Spektrum verfügen, das sie nützen können – und das nicht aufgrund gesellschaftlicher Konventionen beschnitten werden soll.
„The deconstruction of the gender dichotomy would involve the
deconstruction of „masculine“ and „feminine“ qualities and the
value system behind this dichotomy. People would be able to be-
16
6. Biologistischmythopoetischer
Ansatz
In Bezug auf die Beziehung „Mutter-Sohn“ wird festgestellt: „Wenn
Frauen, selbst Frauen mit den besten Absichten, einen Jungen
allein großziehen, dann kann es sein, daß er in gewisser Hinsicht
kein männliches Gesicht hat, oder sogar überhaupt kein Gesicht.“
(ebd, S. 35) In weiterer Folge bezeichnet er die Auswirkungen der
alleinerziehenden Frau als „psychischen Inzest“. (ebd, S. 259)
Elisabeth Badinter erklärt den Versuch der mythopoetisch-naturalistischen Sichtweise von Geschlecht wie folgt: „Angesichts all
dieser Umwälzungen und Unsicherheiten ist die Versuchung groß,
sich auf die gute alte Mutter Natur zu berufen und die Ambitionen der vorangehenden Generation als Verirrung anzuprangern.“
(Badinter, 2010, S. 16)
Zeitgleich in der Evolution des Feminismus ereignet
sich seit dem Ende der 90-er Jahre eine neue
Entwicklung der Jungenarbeit – die biologistischen
Ansätze.
Obgleich die Argumente dieser Strömung einer
wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten
können, so ist die Erwähnung dieses Ablegers vonnöten, da er
weite Teile der Bevölkerung erreicht und somit eine veränderte
Sichtweise der eigenen Person (zum Teil über die Eltern) bei den
KlientInnen der Jugendarbeit hervorruft. Da sonst keine Argumente für eine nähere Betrachtung vorliegen, betrachte ich nur die
wesentlichen Merkmale und Auswirkungen, um der Vollständigkeit
der Diskussion „Warum brauchen Burschen Männer?“ zu genügen.
Positiv ist – soviel sei vorweggenommen - zu erwähnen, dass der in
weiterer Folge beschriebene Ansatz die häufig angetroffene DefizitOrientierung der Haltung gegenüber den Klienten zu überwinden
scheint.
„In each case, they argue that men have lost control of their lives
because of attacks by assertive women, particularly feminists (…).
They all call for a “return” to a “more natural” regime in which
men and women knew their places, and men were able to use
their inherent male power.” (Epstein: zit. In: Schultheis, StrobelEisele, Fuhr (Hrsg.). Kinder: Geschlecht männlich: Pädagogische
Jungenforschung. Stuttgart 2006. S. 16.)
Reinhard Winter reagiert überraschend angriffig auf diesen
Ansatz mit der Beantwortung der grundsätzlichen Frage: „Was
ist Jungenarbeit? Ganz einfach: Wenn erwachsene Männer mit
Jungen geschlechtsbezogen pädagogisch arbeiten. Dabei besteht
grundsätzlich kein Bedarf an Initiation, Mythen, Indianerritualen
oder Magie. Tiefmythische Hohlformeln und gewichtige Sätze […]
jagen über manchen männlichen Rücken ein ergriffenes Frösteln;
die Gefahr ist groß, daß sie dabei gleichzeitig auch Intelligenz und
Kritikfähigkeit aus dem Gehirn treiben.“ ((Hg.), 1997, S. 147)
In weiterer Folge wehrt sich Winter gegen eine fachliche Einmischung durch die Esoterik: „Weil Jungenarbeit Pädagogik ist,
bezieht sich dieser Ansatz auf Pädagogen (nicht ohne zu registrieren, daß auf dem Markt der Möglichkeiten von Jungenarbeit
auch Schamanen, Sozialwirte, Amerikaner, Leistungssportler und
Preisboxer zu finden sind).“ (Ebd. S. 148)
(Das Anführen der „Amerikaner“ als Berufsgruppe wird als bewusst
sarkastische Bemerkung interpretiert und wurde deshalb nicht
mit „sic!“ versehen. Zu beachten ist in diesem Fall, dass sich die
Grenzen zwischen Sozialer Arbeit und der Sozialpädagogik soweit
überschneiden, dass ein Interessenskonflikt zwischen den beiden
Handlungsfeldern auszuschließen ist, wie der Diskurs rund um
Jungenarbeit zeigte.)
Das zweite zentrale Element der mythopoetischen Haltung ist die
Funktion der Initiation:
„Initiiert zu werden bedeutet in Wahrheit, mit offenen Armen die
Herrlichkeit der Eichen, Berge, Gletscher, Pferde, […], zu empfangen. Wir brauchen die Wildnis und die Ausschweifung.“
(Bly, 1993, S. 84)
Im Rahmen einer soziologischen Betrachtung des Textes erwidert
Meuser: „Worin das Ziel männlicher Initiation besteht, wie diese
unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft zu
vollziehen ist, was die zu gewinnende Männerenergie ausmacht, all
das bleibt weitgehend unexpliziert. Das ist freilich keine Nachlässigkeit des Autors, sondern entspricht seinem Programm.“
(Meuser, 1998, S. 174)
Die Haltung, die vertreten wird, ist ein „Urmännlichkeitsprinzip“,
dass archetypisch, zeit- und kulturungebunden (und durch genetische Voraussetzungen begründet) existiert und gelebt werden
muss, wenn Störungen vermieden werden sollen.
Vgl. (Biddulph, 2002) Aufgrund der Erkenntnisse der Neurobiologie, wonach Männer
und Frauen unterschiedliche Strukturen im Gehirn aufweisen und
der Auswirkungen von Testosteron auf menschliches Verhalten, sei
ein unterschiedliches Sozialverhalten „vorprogrammiert“.
Im Gegensatz zur Haltung im Sinne der Dekonstruktion von Geschlechtern wird eben nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zum Zentrum des Interesses:
„Vor nicht allzu langer Zeit haben Genforscher entdeckt, daß der
genetische Unterschied in der DNS zwischen Männern und Frauen
nur knapp drei Prozent ausmacht. […] Ich glaube, daß es in diesem
Jahrhundert und in dieser Zeit wichtig ist, die drei Prozent Unterschied zu betonen, die einen Menschen männlich machen, wobei
man die siebenundneunzig Prozent […] nicht aus dem Bewußtsein
verlieren darf.“ (Bly, 1993, S. 322 f.)
Nicht das soziale Umfeld, sondern die Genetik definiert nach dieser
Meinung „Männlichkeit“.
Einen tiefen Einblick in die Vorstellung von „männlichen“ Riten und
Rollenverteilung geben zwei weitere Zitate von Bly:
„Den Vietnamveteranen ginge es heute besser, wenn wir in jeder
kleinen Stadt im Land ein Fest veranstaltet hätten mit einer berittenen Veteranenparade und einer jungen Frau, die ihnen goldene
Äpfel zuwirft.“ (Bly, 1993, S. 274.) (Wie Bly den passenden Ritus z.
B. bei heimkehrenden Wehrmachtssoldaten konstruieren würde,
bleibt unbeantwortet.)
17
7. Grenzen der
geschlechterhomogenen
Jungenberatung
„Männlichkeitsideologien unterschlagen wesentliche Teile männlicher Lebenswirklichkeiten oder spalten sie ab. Sie tendieren dazu,
Bezüge zur Realität zu verweigern […]. (Anm.: So) braucht es pädagogisch absolut keine neuen oder modernisierten Ideologien der
Männlichkeit. Im Gegenteil kann deren Eindimensionalität schnell
gefährlich werden, wenn diese sich mit initiationsbezogenen Größenphantasien verbinden verlieren („Ich kann Jungen zum Mann
machen“): ganz offen zeigt Männlichkeit hier ihr latent faschistoides Gesicht.“ (Winter 1997, S. 152)
Der Abbau der defizit-orientierten Jungenarbeit – Grenzen der
geschlechterhomogenen Jungenarbeit
Sämtliche bisher diskutierten Ansätze der Jungenarbeit (mit
Ausnahme des Phänomens des mythopoetischen „Ansatzes“),
eigentlich der gesamten Jugendarbeit, sind zumindest in Ansätzen
defizitorientiert. Ihr Einsatz in der Intervention (im Sinne einer
Problemlösung) und der Prävention (im Sinne des Vermeidens von
Problemen) verfestigen diese Position.
„Jungen- und Männerarbeit ist nicht (nur) aus einem „Anti“ (z. B.
Anti-Sexismus, Anti-machismo) zu bestimmen, sondern aus einem
„Pro“ zu begründen“ ((Hrsg.), 1997, S. 54)
Die Pädagogik stößt mit der Haltung der verstehenden Jungenarbeit nicht nur wegen der mangelnden Verbreitung dieser
Einstellung an ihre Grenzen – immerhin wird sie kaum vermittelt –
sondern auch durch die Rahmenbedingungen des Schulsystems an
sich. Kann im Zuge eines koedukativen Unterrichts beides, nämlich
das vorurteilsfreie Vermitteln weiblicher und männlicher Geschlechtsidentitäten (möglicherweise im Sinne der Dekonstruktion
von Geschlecht) vermittelt werden?
Nachdem geschlechterhomogene Jungenberatung (wie bereits
erwähnt) nicht als Methode, sondern als Haltung fungiert, kann
sie als Setting vielfältig eingesetzt werden, um sich aufgrund ihrer
verstehenden Position der Probleme von Jungen anzunehmen.
Möglich sind Einzelsetting ebenso wie Gruppenarbeit, pädagogische, psychosoziale wie sozialpädagogische Settings, basierend auf
Akzeptanz, Sachkompetenz und Solidarisierung (s. S. 4) werden die
Settings eingegrenzt durch:
1) Wirtschaftliche Rahmenbedingungen:
Geschlechterspezifische Jungenarbeit ist in Österreich weit davon
entfernt, flächendeckend arbeiten zu können. Die bestehenden
Institutionen sehen sich aus diesem Grund einer großen Zahl von
(potentiellen) Klienten gegenübergestellt. Der Zusammenhang zwischen Projektqualität und den finanziellen Ressourcen bestimmt
die Mitarbeiter- und Klientenzufriedenheit.
2) Gesetzliche Rahmenbedingungen:
Die Abgrenzung der sozialpädagogischen Beratung zur Psychotherapie ist klar im Psychotherapiegesetz, BGBl.Nr. 361/1990 ST0151,
geregelt.
3) Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen:
Fehlt der politische Wille zur Umsetzung von Jungenarbeit, so
kann sie nicht umgesetzt werden. Verharren Schule, Kirche, Politik
etc. in einer veralteten Sicht von Geschlecht, so wird Jungenarbeit
darüber hinaus stets reaktiven Charakter aufweisen müssen. „Die
Jungenarbeit darf nicht Veränderungsmöglichkeiten versprechen
und fordern, die gesellschaftlich kaum umzusetzen sind. So bleibt
sie stets der Defizit-Sicht verhaftet.“ (Kerstin Bronner, 2007, S. 208)
Einzig im Bereich der Mediation ist die Haltung der verstehenden,
geschlechterhomogenen Jungenberatung nicht angezeigt, da eine
der wesentlichen Grundhaltungen – die Subjektivität – vom Setting
aus logischen Gründen nicht zugelassen wird.
Darüber hinaus sind im Rahmen dieser Arbeit soziologische Fragen
rund um den Kernbegriff der „Jugend“ sowie den Ansätzen des
„Gender-Mainstreamings“ sowie dessen Ableger des „Diversitymanagements“ aufgetaucht, die in weiterer Folge als kritischer
Ausblick behandelt werden.
18
7.1 Jugend und Pubertät
als soziales Konstrukt?
sich zwei wichtige Gründe anführen: gleichzeitige Ausdifferenzierung und Vereinheitlichung sowie gleichzeitige Vereinnahmung
und Ausgrenzung.“ (Ralf Puchert, 2004, S. 104)
Wieder bleibt offen, welche Ziele, Werte und Orientierungen damit
gemeint sein könnten. Die Hinweise jedoch, die Jugend als Sozialkonstrukt zu verstehen, verdichten sich:
„“Der Jugendliche“, das haben Roth (1983) und Herrmann (1982)
gezeigt, ist eine durch und durch negative Begriffskonstruktion,
die etwa vor 100 Jahren im Kontext von Strafvollzug und Verwahrlosung entstand – und unser Denken über, unsere Wahrnehmung
von und auch unser (pädagogisches) Handeln jungen Leuten
gegenüber – unbewusst, doch wirksam – mitdeterminiert.“ (Griese,
2001, S. 283)
Wenn „Jugend“ im allgemeinen und „Jungen“ im speziellen als
Präkariat verstanden werden kann, das die Möglichkeit bietet,
als Projektionsfläche gesellschaftlich verursachter Problemfelder
von Gewalt bis Sucht zu funktionieren, so muss dies im Rahmen
sozialpädagogischer Beratung berücksichtigt werden. Im Bereich
„Schule“ scheint diese Entwicklung bereits stattgefunden zu haben:
„Werden in den Schulen Konferenzen wegen Disziplinarfällen
einberufen, so beschäftigen sich die LehrerInnen überwiegend
mit dem auffälligen Verhalten der Jungen. Lediglich 10 bis 15 %
all dieser Konferenzen werden wegen der Mädchen einberufen.“
(Boldt, 2005, S. 106)
Bezugnehmend auf Sozialisation wird verstärkt: „Jugend „kann
auch nicht mehr mit Begriffen wie „Sozialisation“ oder „Enkulturation“ gefasst werden, die ja vom Grundmuster einer individualgeschichtlichen Übernahme von ansonsten kollektiv geltenden und
vorgegebenen, individuell abgestützten kulturellen Regeln und
Normen ausgehen“ (Michael Brater, zit. n. Sellmann 2000, S. 6)“
(Ralf Puchert, 2004, S. 104).
Im Zuge der fachspezifischen Lektüre stellte sich die Frage: Wenn
erwachsene Männer und erwachsene Frauen geschlechtsbezogene
Zuschreibungen seitens Ihres sozialen Umfeldes erhalten, die sie
im Sinne des doing-genders zu erfüllen haben um Geschlechtsidentität zu erlangen und wenn das Gleiche auch für Mädchen und Buben im Kindesalter gilt – welche Aufgaben und/oder Eigenschaften,
die es zu erreichen gilt, werden Jugendlichen zugeschrieben?
Jenseits der gestellten Anforderung, zum „Mann“ oder zur „Frau“
zu werden, scheint es in diesem Lebensabschnitt kaum Aspekte zu
geben, die erfüllt werden können um „erfolgreich“ jugendlich zu
sein und auch diese Aufgabe impliziert ein Problem: Wenn Jugendliche den Auftrag haben, zum „Mann“ beziehungsweise zur „Frau“
zu werden, so wird der Lebensabschnitt der Jugend also dadurch
definiert, ihn überwinden zu müssen. Der Zustand des „jugendlich
seins“ ist demnach kein wünschenswerter, sondern ein defizitärer
– ein Zustand der „Nicht-Existenz“, dessen Überwindung oberste
Priorität erhält.
Impliziert dies, dass es sich bei den Begriffen „Jugend“ und die oft
synonym verwendete „Pubertät“ um soziale Konstrukte handelt?
Wenn ja – läuft die Jungenarbeit Gefahr, diese Konstrukte und die
daraus entspringenden Klischees zu reproduzieren?
Während Margaret Mead die Unumgänglichkeit der Pubertät inklusive ihrer (negativen) Auswirkungen auf Verhalten bereits 1928 in
ihrem Buch „Coming of Age in Samoa“ in Frage gestellt hatte, so ist
die Frage nach den Hintergründen der „Jugend“ ungleich schwieriger, obgleich der Terminus (undefiniert) in den Sozialwissenschaften häufig verwendet wird.
„Ferner „lassen sich Aufgaben formulieren, die mit dem Heranwachsen und mit der Bewältigung des jugendlichen Alltags in der
Regel verbunden sind. Dazu gehören die Auseinandersetzungen
mit Sexualität, die Veränderung in den Beziehungen zu den Eltern
und die von der Gleichaltrigengruppe an [die Jugendlichen. J.]
herangetragenen Erwartungen, sich in angemessener Weise als
„jugendlich“ und „weiblich“ bzw. „männlich“ darzustellen.“ (Breitenbach 2000 zit. in: Jens Luedtke, 2008, S. 48)
Die Frage, wo und wie jenseits allfälligen Sexualkundeunterrichts
jedoch die Auseinandersetzung von Jugendlichen mit ihrer Sexualität gefordert oder gar gefördert wird, bleibt unbeantwortet.
Nimmt im Rahmen der Sekundärsozialisation die peer-group zwar
eine besonders identitätsstiftende Funktion ein, so ist die Mitgliedschaft in peer-groups keineswegs ein Primat der Jugend, sondern
auch Teil der Tertiär- und Quartärsozialisation. (vgl. (Grundmann,
2006, S. 129 ff.))
Es bleibt die Frage offen, ob die Etikettierung von Klienten im Rahmen der geschlechterhomogenen Jungenberatung als „Jugendlich“ eine sinnvolle ist – speziell im Hinblick auf die Befürchtung,
dass finanzielle Träger von Beratungseinrichtungen für Jugendliche
den Arbeitsauftrag der Gewaltprävention beziehungsweise der
Intervention bei bereits geschehenen gewalttätigen Übergriffen
automatisch voraussetzen. Eine Reduktion der Problemfelder von
Jugendlichen auf den Gewaltkontext wäre die zu erwartende Folge
– die Vernachlässigung der anderen Lebensbereiche und der dazu
gehörenden Problemlagen der Klienten wäre die Konsequenz.
Böhnisch formuliert am Beispiel „Mann“ mit problematischer Sprache: „So hat sich auch um die alarmierende Verstrickungsdynamik
des sexuellen Missbrauchs und familialer Gewalt ein für die Männer verhängnisvoller Verdeckungszusammenhang gebildet, der
nur durch eine öffentliche Thematisierung aufgebrochen werden
könnte. Eine solche wiederum aber würde – abgesehen von dem
immer noch sakrosanten (sic!) Täterverdikt, das die feministische
Zunft erlassen hat – die Aufmerksamkeit auf die ökonomischen
Fallen lenken, in die Männer immer wieder geraten.“ (Böhnisch,
2003, S. 141) Zusätzlich kann dieses Zitat auch als Beispiel für die
unnötige Konstruktion von Feindbildern innerhalb der Diskussion
rund um geschlechtsspezifische Problemlagen und als Argument
für die Dekonstruktion von Geschlecht dienen.
Faktum scheint, dass der Begriff der „Jugendlichkeit“ einer
Veränderung unterworfen ist: „Auch in der Theorie wird Jugend
heute immer seltener als Übergang, als „transitorische“ Phase
zwischen den relativ klaren und festen Welten der Kindheit und
des Erwachsenenalters gesehen (Beck 1998). Vielmehr wird sie als
eigenständige Lebensphase mit eigenständigen Zielen, Werten und
Orientierungen verstanden. Für diesen Perspektivwechsel lassen
19
institutionalisiert wird, um – jenseits der inhaltlichen Konzepte
von (sozialen) Institutionen – einen Rückzug oder Einsparungen
zu argumentieren. So könnte zum Beispiel Jungenarbeit an eine
Familienberatungsstelle des Landes Salzburg ausgegliedert werden
mit dem Argument, diese würde sich zur geschlechtssensiblen
Arbeit mit Jugendlichen (nicht mit Jungen) verpflichten. Zwei der
Hauptfaktoren geschlechtersensibler Arbeit (die positive Diskriminierung am Beispiel des oben genannten Frauenministeriums
und die Parteilichkeit für Jungen in diesem Fall) würde dadurch
pervertiert werden.
Auch möchte ich an dieser Gelegenheit an Frauenminister Herbert
Haupt erinnern: Seine Bestellung als Mann könnte sich mit derselben Argumentationslinie verteidigen lassen.
Die VertreterInnen der Sozialen Arbeit sollten aus diesem Grund
ein starkes Augenmerk auf die Möglichkeit legen, „Gender-Mainstreaming“ als Argument für neoliberale Politik geltend zu machen
und somit eine Verschlechterung der Positionen ihrer KlientInnen
zu ermöglichen.
In Bezug auf die scheinbare Verbindung zwischen „Gewalt“ und
„Männlichkeit“ schreibt Fleischmann: „Ausmaß und Häufigkeit
von Aggressionen zeigen keinerlei Unterschiede zwischen den Geschlechtern was ihren Einsatz betrifft. Ein beachtlicher Unterschied
liegt in der Form der Aggression. Bei Buben herrscht eine physische
und direkte Aggression vor. Mädchen hingegen bevorzugen verbale
und indirekte Aggressionen.“ (Fleischmann, 2008, S. 56)
7.2 Gender-Mainstreaming,
Diversitiy-management
und Neoliberalismus:
Eine Triage?
7.2.1) Gender-Mainstreaming und Neoliberalismus?
Unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität, die eine Trennung von „sex“ und „gender“ inklusive der daraus resultierenden
Erkenntnisse mit sich bringt, und die nach unzähligen Überprüfungen als gesichert angesehen werden kann, bringen die Begriffe
„Gender-Mainstreaming“ und „Diversity-Management“ auch
Schwierigkeiten in das Arbeitsfeld der geschlechterhomogenen
Jungenberatung.
Die schwammige Begrifflichkeit und die Probleme bei der Übersetzung ins Deutsche am Beispiel „Gender-Mainstreaming“ sind
eine davon – die Auswirkungen sind nicht klar zu fassen, obgleich
die Vermutung nahe liegt, dass die Reichweite des Konzepts sowie
dessen Verständlichkeit darunter leidet.
Deutlicher wird der Zusammenhang bei Böhnisch:
„Die Gender-Mainstreaming-Programmatik, die nun auch den
Mann in seiner Bewältigungsproblematik anspricht, aber nicht
erreicht (s.o.), ist ein Beispiel dafür. Gleichzeitig stellt sie nicht
mehr als ein Übergangsprogramm dar: Sie wird nicht mehr im
„alten“ sozialstaatlichen Sinne der Wohlfahrtsbalance, sondern im
sozialtechnologischen Sinne der Steuerungsbalance forciert, ohne
dass neue sozialstaatlich gestaltbare frauen- und männerpolitische
Perspektiven sichtbar werden. Die kontroverse Diskussion um die
geschlechterpolitische Reichweite des Gender-MainstreamingProgramms setzt aber die Perspektive frei, dass es eines neuen
sozialstaatlichen Anlaufs bedarf, um den Genderdiskurs, der in das
Magnetfeld der globalisierten Ökonomie geraten ist, wieder in ein
wohlfahrtspolitisches Magnetfeld bringen zu können“ (Böhnisch,
2003, S. 139)
Im Zuge möglicher weiterer Arbeiten können zwei
Theorien aufgestellt werden:
1.) „Gender-Mainstreaming“ beinhaltet selbst Merkmale
und Strukturen neoliberaler Politik.
oder
2.) „Gender-Mainstreaming“ lässt sich aufgrund der breit
gestreuten Inhalte derer es sich annimmt, von neoliberalen
Politiken als Argument vereinnahmen.
7.2.2) „Diversity-Management“ und Neoliberalismus?
Definition für Organisationen:
Das aus den USA stammende Konzept des „DiversityManagements“ beschäftigt sich mit der Vielfalt, der
Heterogenität, den Unterschieden innerhalb
der Organisationen und zielt darauf ab, in
der gegenwärtigen Phase der „flexiblen
Akkumulation“ (Harvey 2000: S. 141 – 172)
die Unterschiedlichkeiten der Individuen,
Kulturen, Strategien, Funktionen etc. gezielt als strategische Ressource zur Lösung
komplexer organisationaler Probleme zu
nutzen.“ (Hans-Jürgen Aretz, 2002, S. 8)
Wenn Soziale Arbeit im Allgemeinen und
Jungenarbeit im Speziellen dazu tendieren, Unterschiede, Vielfalt und deren
ungenutzte Ressourcen dahingehend
zu nutzen um eine gesteigerte
Leistungsfähigkeit der KlientInnen
an Schulen, Arbeitsplätzen, etc.
zu garantieren, so kann die Frage
gestellt werden, inwieweit dem
eigentlich im Vordergrund stehenden Gedanken der Beseitigung von
Ungleichheit durch rassistische bzw.
sexistische Zuschreibungen noch Rechnung getragen werden kann.
Die bestehende Gefahr ist demnach, dass Politiken „Gender-Mainstreaming“ benutzen, um neoliberale Rückzüge aus der Sozialpolitik durchzuführen.
Am Beispiel erklärt: 1998 tritt der deutsche Bundeskanzler Gerhard
Schröder vor die Medien und erklärt die Abschaffung des niedersächsischen Frauenministeriums. Seine Erklärung ist eine Interessante: Alle Ressorts der deutschen Landesregierung hätten sich
verpflichtet Frauenpolitik zu betreiben – demnach sei das Ministerium überflüssig. (vgl.: (Schunter-Kleemann, 2001, S. 20)
Es besteht auch in Österreich die theoretische Möglichkeit,
dass „Gender-Mainstreaming“ von politischen Machtstrukturen
20
adulte Männer von ihrem „Geschlecht“ profitieren, kennzeichnet
diese Phase der geschlechterhomogenen Jungenberatung. Auch
wird beleuchtet, dass Jungen im Gespräch mit „Männern“ ihr Geschlecht nicht „performen“ müssen, wie dies sonst zu befürchten
wäre, wenn es um scham- oder angstbesetzte Themen geht.
Die Globalisierung der Lebenswelten erzeugte und erzeugt vielfältige Erschütterungen aller ihr integrierten Individuen. Jungen
und Männer erleben nicht zuletzt aufgrund der Veränderungen
am Arbeitsmarkt eine Gesellschaftsform, in der die Planung und
Organisation ihrer Existenz – egal ob als Einzelperson oder in der
Funktion als Familienerhalter – erschüttert wird. (s. S. 14 f.) Die
Neubewertung des „männlichen Geschlechts“ wirft neue Fragen
auf und erzwingt eine Neupositionierung. Geschlechterhomogene
Jungenberatung zielt auf die Möglichkeit ab, Jungen mit betroffenen Männern in Verbindung zu bringen, die ebendiese Problematik
durchlebt haben und Lösungen vorleben können. Die Relativierung
der hegemonialen Stellung des „Mannes“ kann von Betroffenen
besprochen werden.
Die Frage, ob die Risikogesellschaft selbst ein Männerbild kreiert
und fordert, wird diskutiert.
Die Jungenarbeit beschäftigt sich in der logischen Konsequenz mit
der „Dekonstruktion der Geschlechter“ und steht vor dem scheinbar unlösbaren Problem Geschlechtlichkeit nicht binär zwischen
männlich und weiblich erklären beziehungsweise hinterfragen
zu wollen. Das Verlegen der Binarität (und ihrer Unzulänglichkeit
im Hinblick auf Personen, die sich jenseits oder zwischen diesen
beiden Polen entwickelt haben) ins Zentrum der Diskussion erscheint als mögliche Lösung, während andere Positionen (wie der
Ansatz des einheitlichen Geschlechts nach Laqueur) fallen gelassen
wurden. Die Ausweitung der Möglichkeiten des Einzelnen durch
das Wegbrechen von geschlechtsspezifischen Zuweisungen und
Dogmen soll als Ziel ein breiteres Handlungsspektrum und größere
persönliche Freiheit garantieren.
Außerdem sollte sich die VertreterInnen der Sozialen Arbeit die
Frage stellen, wie ein Konzept, das per se auf die Vermeidung von
rassistisch und sexistisch motivierter Unterdrückung abzielt, so
modifiziert werden kann, dass die Gefahr einer Vereinnahmung
sozialarbeiterischer Arbeit im Sinn der Gewinnmaximierung und
des Neoliberalismus gleichermaßen verhindert.
„Ein neues Verständnis von Vielfalt ergibt sich auch aus der Analyse der Konstruktionsmechanismen der sozialen beziehungsweise
kulturellen Herstellung von Geschlecht (doing gender), der Konstruktionsprozesse von Kultur und Fremdheit (doing ethnic) oder der
gesellschaftlichen Definition von Behinderung. Wenn diese Herstellung von Differenz und die dahinter liegenden Machtverhältnisse
nicht dekonstruiert werden, wird Diversity Management zu einer
affirmativen Strategie, die die sozialpolitisch zu verändernden Ausgrenzungsmechanismen gerade nicht in den Blick nimmt.“ (http://
www.b-b-e.de/uploads/media/nl20_schroeer.pdf S. 2)
8. Fazit - Warum brauchen
Jungen Männer?
Aufgrund der vielschichtigen Veränderungen nicht nur im Sozialisationsprozess, sondern auch in Bezug auf ständig veränderte
Anforderungen an Jungen und heranwachsende Männer, ergeben
sich Problematiken, die Jungen oftmals nicht alleine zu bewältigen
wissen.
Die Absenz des Vaters und damit der männlichen Vorbildfigur
beginnt bereits im Abschnitt der Primärsozialisation und drängt
Jungen zur Identitätsfindung mittels Abgrenzung zur „Weiblichkeit“.
(s. S. 4) Diese negativ-Haltung des „männlich-seins“
durch „nicht-weiblich-sein“ legt die Vermutung
nahe, dass eine Abwertung des „weiblichen“
Geschlechts als Konsequenz erwartet
werden kann.
Der „anti-sexistische“ Ansatz – und
gleichzeitig ein wichtiger Entwicklungspunkt der Jungenarbeit
zu Beginn der 80-er Jahre
– bleibt in seinen Ansätzen
gültig, da er das bestehende Rollenverständnis der
Geschlechter hinterfragend
beleuchtet und (nach
Abschluss des Diskurses im
Sinn der geäußerten feministischen Kritik, im Sinne von z.
B. Heiliger, an der Jungenarbeit) zum Schluss kommt, dass
ein verstehender Ansatz in der
Jungenarbeit vonnöten ist um die
Problemlagen rund um fehlende
Väter, veraltete Geschlechterrollen
und Geschlechterzuweisungen zu
bewältigen. Die Erkenntnis dass Jungen
nicht zwingend Vorteile daraus ziehen, dass
Dennoch bleibt die Jungenarbeit in weiten Teilen defizitorientiert
– ein Problem, das (ausgerechnet) von einem pseudowissenschaftlichen Ansatz aufgenommen wurde und einen Impuls in Richtung
eines positiv-konnotierten Selbstverständnisses von Männlichkeit
gibt.
Für die Zukunft wird es unerlässlich sein, die Rahmenbedingungen
der Jungenarbeit, nämlich die Termini „Gender-Mainstreaming“,
„Diversity-Management“ und „Jugend“ genauer zu betrachten um
die Frage beantworten zu können, inwieweit sie Strukturen bilden,
die einem Arbeitsfeld schaden können, welches als Ziel nichts
weniger verfolgt als das Schaffen einer akzeptierenden Koexistenz
von Menschen.
21
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22
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Jungenarbeit
im internationalen Vergleich
WIEN, ÖSTERREICH – Ablauf der Tagung
»Bubenarbeit im internationalen Vergleich«
am 14. Oktober 2011 in der FH Campus Wien
Im ersten Vortrag führte PhD Raewyn Connell ihre Überlegungen
zu globale Maskulinitäten und ihrem Kontext zu Bubenarbeit vor.
Sie erklärte den derzeitigen Gender-Diskurs.
Danach stellte Dipl. soz. Miguel Diaz das bundesdeutsche Netzwerk
»Neue Wege für Jungs« vor und führte durch aktuelle Zahlen die
Situation von Mädchen und Burschen am Arbeitsmarkt vor Augen.
Die Tagung begann mit geringer Verspätung. Die Moderation
wurde von der Journalistin und Buchautorin Sibylle Hamann sehr
professionell und sympathisch durchgeführt.
Nach einem angenehmen Mittagessen und regen Austausch unter
den TeilnehmerInnen wechselten wir den Raum und Frau Hamann
führte in das World Café ein. 18 TischgastgeberInnen konnten besucht werden, es gab 4 Runden. Die beiden offenen Tische wurden
zu Beginn der Veranstaltung noch besetzt.
Nach der Begrüßung durch FH-Prof.in Mag.a Ulrike Alker und
Philipp Leeb, der stimmlos eine PowerPoint präsentierte, wurden
die VertreterInnen Dennis Beck (WiG), Dr. Johannes Berchtold
(BMASK), Mag.a Evelin Langenecker (BMUKK) und Mag. Richard
Meisel (AK Wien) der fördergebenden Einrichtungen im Wordrap
interviewt.
Im Anschluss daran präsentierte Mag. Romeo Bissuti die neu aufgelegte BMUKK-Broschüre »Stark! Aber wie?« und führte daraus
drei Übungen mit allen TeilnehmerInnen durch. Außerdem erklärte
er den Ansatz gewaltpräventiver Arbeit als Vertreter von White
Ribbon Österreich.
Nach der Nachmittagspause eröffnete Jens Malmström einen
intensiven Einblick (mittels Prezi) in die Arbeit des Onlineforums
killfragor.se, dass Burschen die Möglichkeit gibt, niederschwellig
sehr persönliche Fragen stellen zu können.
Drei Interviewserien werden durch Walter Dickmanns, Lehrer
am BORG I, Hegelgasse 12, vorgeführt. Die SchülerInnen seiner
Medienklasse interviewten Menschen zu den Themen »Männlichkeiten/ Weiblichkeiten«. Gleich danach gab es eine abschließende
Podiumsdiskussion mit den ExpertInnen.
Die Veranstaltung wurde um 18:15 beendet.
Es kamen etwa 150 Personen über den ganzen Tag verteilt. Der
Anteil von Frauen und Männern lag bei jeweils 50%, was aus Sicht
der Veranstalter ein sehr schönes Ergebnis ist.
Philipp Leeb, Obmann Verein Poika
(Quelle: www.poika.at)
Relevante Poika-Links
http://www.poika.at/tagung/
http://www.poika.at/einblicke/audio/
http://www.poika.at/tagung/videos-der-tagung/
23
23
Der Idealbub
ist ein Mädchen
Am 7. Dezember 2011 veröffentlichte Aleid Truijens, Journalistin,
Autorin und Kolumnistin der niederländischen »De Volkskrant«
diese folgende Kolumne:
AMSTERDAM, NIEDERLANDE – Einer der Ausgangspunkte im
ursprünglichen Projektauftrag des Landes Salzburg war die Frage,
ob Salzburg ein Kompetenzzentrum für Jungenarbeit brauche. Ein
Zentrum, wo – neben spezifisches Fachwissen und Zielgerichte
Aufklärungsarbeit und Beratung – vor allem auch internationale
Vernetzung und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem
Thema einen Platz finden müssten.
»Der Idealbub ist heutzutage ein Mädchen, und der
einzig wahre Bub, hat ADHS.«
»Ob es jetzt Zufall ist oder nicht, in den vergangenen Wochen traf
ich drei Männer, die – im Gespräch über ihre Kinder – den Terminus »ADHS« verwendeten. Jedes Mal war ein Sohn das »Opfer«.
»Na ja, der jüngere hat Schwierigkeiten in der Schule. Er hat
ADHS.« »Der Mittlere war zu Hause wirklich unausstehlich. Hatte
ADHS, verstehst du?« »Der Dreißiger sitzt schon seit Jahre zu
Hause. Er wird, wegen seines ADHS, überall gekündigt.« Jedes einziges Mal wurden die Söhne nicht als Mensch mit einem Problem
beschrieben, sondern einfach als »Typ mit ADHS«. Die Krankheit ist
zur Identität geworden.
Ein Blick auf aktuellen Entwicklungen in den Niederlanden zeigt,
wie wichtig, informativ und konfrontierend internationale Vernetzung funktionieren könnte. Nur schon die Gedanke, ein Kompetenzzentrum in Salzburg wäre im Stande, europaweit Ansichten
und Studien zu sammeln und verbreiten, ist eine aufregende Idee.
So wird in den Niederlanden zur Zeit heftig über Sinn und Unsinn
vom »Political Correctness« diskutiert. »Führt politisch korrektes
Verhalten dazu,« fragt man sich, »dass – gerade in Konfliktbereichen, wie Gewalt, Jungenarbeit und Gender – Konfliktstoff einfach
nicht diskutiert wird? Ist »Political Correctness« sozusagen ein
Risikomeidendes Verhalten geworden? Und wird dadurch genau
das unbesprochen gelassen, was dringend besprochen gehört?
Opinion Leaders
Wichtige Opinion Leaders in den Niederlanden, allen voran Kabarettisten, Sozialwissenschaftler und Journalisten, versuchen zu
hinterfragen, ob unsere Gesellschaft nicht einfach extrem korrekt
ins Reaktionäre abdriftet. Und somit höchst korrekt Platz fürs
Extreme kreiert.
Weltweit heißt es verhängnisvoll, es sei ein »großer Wandel« im
Kommen. Tatsächlich? Und ist dieser »Wandel« dann möglicherweise nichts anders als eine Gemeinschaft, die endlich – unvorstellbar langsam – einfach versteht, dass wir unsere Probleme offen ins
Auge sehen müssen? Dass wir Fragen wieder stellen dürfen (und
uns trauen müssen sie uns zu stellen!), sogar wenn es vielleicht ein
wenig Weh tut?
Ein Perspektivenwechsel
In dem Fall würden wir die Perspektive wechseln. In dieser Hinsicht, könnte die bereits angekündigte Veröffentlichung (voraussichtlich im März 2012) einer Sozialstudie der Historikerin Angela
Crott in den Niederlanden höchstinteressant sein. Die Kolumne
auf den nächsten Seiten wurde im Dezember 2011 in der niederländischen »De Volkskrant« veröffentlicht. Sie liefert ein weiterer
Beitrag an diesem Themenpaket und ist nebenbei ein guter Beweis
für die Notwendigkeit, die gerade mal aufgestartete Vernetzung
der Männerwelten europaweit voran zu treiben. Es wäre «nur«
einen weiteren Schritt in Richtung Kompetenzzentrum für Jungenberatung – ein Zentrum, das auch europaweite Inputs gezielt
weiterleiten würde … 24
Letztes Jahr gab es Laura Batstra, eine Psychologin, die ihren Job in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie kündigte, weil sie sich ärgerte über die einfache Art und Weise, womit Kinder die Diagnose
»ADHS« aufgeklebt bekommen. »ADHS sagt etwas aus, über die
Tragfähigkeit und Toleranz der gesellschaftlichen Umgebung des
Kindes« sagte sie in der Zeitung »Trouw«. Noch etwas weiter
wagte sich Kinderpsychiater Sjef Teuns – Gründer der medizinische
Tagesbetreuung für Kinder, also keiner, der Verhaltensprobleme
unterschätzen würde. Er nannte ADHS eine »Wahndiagnose, die
die Realität verschleiert«. Wenn du nicht sauber mitmarchierst,«
sagte Teuns, »kriegst du Ritalin.«
Krankheit?
ADHS ist keine Krankheit, sondern lediglich eine Verhaltensbeschreibung. Es gibt keine medizinische Ursache. Wer in einem Test
punktet mit Symptomen, wie unkonzentriert sein, hektisch und
sprunghaft, der »hat« es. Unvorstellbar viele Kinder haben es. In
manchen Schulklassen die Hälfte, vor allem Buben.
Obwohl es sich absolut nicht um eine Krankheit handelt, gibt es
ein wirksames Heilmittel: Ritalin. Es bekämpft nicht die Ursachen
des Verhaltens – welche auch immer – sondern unterdrückt die
Symptome. »Hektische« Kinder werden auf Anhieb ruhig gestellt.
Das Wundermittel ist dermaßen effektiv, dass die Versuchung, die
Medikation zu verlangen, für Eltern und Lehrer besonders groß ist.
Die pharmazeutische Industrie freut sich über Millionen Abnehmer.
Es ist unbekannt, welche Effekte der jahrelange Konsum der Pillen
mit sich bringt.
Lausbubenverhalten
Und jetzt taucht die Historikerin Angela Crott, mit einer kühnen
Behauptung über ADHS auf: »Das diagnostizieren von hektischen
Buben als ADHS-Patienten ist ein Auswuchs der bürgerliche
Zivilisationsinitiative, die im 19. Jahrhundert angefangen hat«
behauptet sie in ihrer Dissertation. Sie hofft am 21. Dezember
mit der Untersuchung »Von Hoffnung des Vaterlandes bis zum
ADHS-Fall« doktorieren zu können. Ich bin gespannt auf dem Buch,
das ich bis jetzt nur in Zusammenfassung kenne. Crott sah nach
in Erziehungsbücher – erschienen im Zeitraum 1882-2005 – wie
sich das Gesellschaftsbild von Buben wandelte. Die Buben an sich
veränderten sich über mehr als ein Jahrhundert nicht, konkludiert
sie. Die blieben die lärmende, grobe, rabaukende, schlampige,
impulsive, angeberische und herzergreifende Truppe von damals.
Aber was vor hundert Jahr noch »Lausbubenverhalten« war, ist
heutzutage lästig.
Verzweiflung
In jüngster Zeit wächst die Kritik an die epidemische Zunahme
von ADHS. Dennoch zweifelt niemand daran, ob es die Symptome
tatsächlich gibt. Wir kennen ja alle diese Kinder, die nicht eine
Sekunde sitzen bleiben können. Nicht zuhören und sich im Bestfall
zwei Sekunden mit Spielzeug beschäftigen. Jungs, vor allem, die
sich rabaukend, schreiend und tobend ein Weg über den Schulplatz bahnen. Wir kennen auch ihre Eltern, machtlos warnend im
Supermarkt, und die seufzende Lehrerin, die diese Störsender aus
der Klasse schickt. Verständliche Verzweiflung.
Diese Entwicklung geschah schleichend. Vor 1945 war der Bub
noch »Erbprinz des Himmels«, der, nachdem er sich ausgetobt
hatte, einfach Ernährer der ganzen Familie wurde. Nach dem Krieg,
als die städtische Bevölkerung wuchs und die Macht der Eltern
langsam verschwand, wurden Jungenstreiche (Halbstarken!) immer
öfter für »Belästigungen« angesehen. Die Feministen in den 70-er
Jahren nannten Bubenverhalten »aggressiv«. Seit den 80-er Jahren
wurde Verhalten immer mehr in psychologischer Terminologie
umschrieben, wodurch immer mehr »Abweichungen« festgehalten
wurden. Außerdem gab es immer mehr Eineltern-Haushalte und
immer weniger Männer unterrichteten an den (Volks)schulen. Daraus folgte, dass immer mehr Buben männliche »role models« abhanden kamen. Zu guter letzt lag der Schwerpunkt – in der Schule
– bei selbständigem Arbeiten und Selbstreflektion: die Leistungen
von Buben wurden ständig schlechter. Heutzutage ist deshalb der
Idealbub ein Mädchen; und der einzig wahre Bub hat ADHS.
Eine schöne, historische Analyse, die sehr gut ergänzt, was Erziehungsexperten, wie Louis Tavecchio, Martine Delfos und Micha de
Winter, darüber bereits veröffentlichten. Es ist an der Zeit, Lösungen zu finden und Maßnahmen zu nehmen. Rettet den Buben, er
verdient es.
© Aleid Truijens, Volkskrant,
7. Dezember 2011
(Übersetzung aus dem Niederländischen: Bert van Leerdam)
25
Ein Junge ist ein Junge …
ist doch kein Junge
Südtirol – In Südtirol gibt es seit mehreren
Jahren den AKM. »Im Arbeitskreis Männer
und Bubenarbeit – AKM treffen sich Männer,
welche in verschiedenen sozialen Einrichtungen arbeiten. Darin vertreten sind Jugenddienste, Jugendzentren, Caritas, Forum für
Suchtprävention, Jugendhaus Kassianeum,
Amt für Jugendarbeit, ... Es ist ein freier Zusammenschluss von Einrichtungen, welche
unter anderem mit Jungen bzw. Männern
arbeiten. Träger des Arbeitskreises ist das
Jugendhaus Kassianeum. Dabei sind folgende
Ziele vorrangig:
»
»
»
»
»
»
Eine wichtige Veranstaltung der letzten Jahre in Südtirol war die
Tagung »Geschlechtsbewußte Jugendarbeit« im November 2005.
Das Referat von Armin Bernhard anlässlich der Tagung wird hier
ungekürzt übernommen, da es eine sehr wesentliche Diskussion in
der Jungenarbeit zusammenfasst.
»Ein Junge ist ein Junge … ist doch kein Junge.«
Bubenarbeit Von der antisexistischen Jugendarbeit
bis zum Queer-Ansatz
Eine Klasse von 13jährigen Jungen und Mädchen besucht eine
Ausstellung. Um eine Weltkarte stehend drehen sie sich und zeigen
einander den Rücken. Spielerisch sollen sie nun das Wetter auf
den Schultern des anderen darstellen und es selbst empfinden.
Der Sonnenschein, der einen wärmt, die zarten Regentropfen, ein
leichter Sturm,... Alle genießen sichtlich dieses Spiel, das Streichen
der Hände, das Berühren der Fingerspitzen. Doch als der leichte
Sturm kommt, artet dieser bei den Jungen schnell zu einem heftigen Getöse aus, bei dem alle kräftig durchgebeutelt werden und
jeder wieder acht geben muss, nicht von den Wirren der Witterung und mehr noch von den Angriffen der Kollegen überfallen
zu werden. Die Jungen haben sich wieder mal bewiesen, dass sie
»richtige Jungs« sind, dass sie mal Männer werden. Körpererfahrungen, bei denen es zuallererst um Wahrnehmung, Sensibilität
und Achtsamkeit geht, entsprechen nicht den Erfahrungen, welche
Jungen in der Realität, in der Gruppe, unter Gleichaltrigen machen.
Dort gehen sie angespannt durchs Leben, immer auf der Hut, immer darauf bedacht sich keine Blöße zu geben, jederzeit gewappnet zu sein.
Theoretische Auseinandersetzung mit der Geschlechterund Männerforschung
Theoretische Ansätze der Bubenarbeit
Ausarbeitung konkreter Konzepte zur
Männer- bzw. Bubenarbeit
Umsetzung von Männer- und Bubenarbeit in die jeweilige Praxis und Reflexion derselben
Weiterbildung für in diesem Bereich Tätige
Gesellschaftliches Thematisieren geschlechtskritischer
Pädagogik
Jungenarbeit – woher?
Aufbauend auf die Annahme, dass Jugendarbeit eigentlich Jungenarbeit sei, weil sie an den Interessen von Jungen orientiert, entstand die Mädchenarbeit, welche eigene Räume und Inhalte schuf.
Erst später, zuallererst in der Alten Molkerei Frille in Deutschland,
entstanden erste Ansätze von (sogenannter »antisexistischer«)
Jungenarbeit. Mitte der Neunziger Jahre, auf Initiative von Klaus
Nothdurfter vom Amt für Jugendarbeit, entstand in Südtirol der
Arbeitskreis Buben- und Männerarbeit, welcher sich sehr intensiv mit Theorie und Praxis der Jungenarbeit auseinandersetzte.
Organisiert und durchgeführt wurden Tagungen, Weiterbildungen
und Projekte, allerdings, so richtig durchgesetzt und einen ebenso
starken Stellenwert wie die Mädchenarbeit hat die Jungenarbeit
noch nicht bekommen.
26
indem ich mich so kleide, so gebe, usw. Dieses als »Doing Gender«
Bezeichnete ist aber auch wandelbar und verändert sich auch im
Laufe der Zeit. Jungenarbeit, welche sich am Konzept orientiert,
dass Männer »gemacht« sind und Jungen auch Fähigkeiten außerhalb der »Jungenrolle« erlernen können, fördert neue Kompetenzen derselben. Sie dürfen Angst haben und auch mal weinen. Aber
Jungen wollen und brauchen natürlich noch Abenteuer.
Haben die Jungen wenig Interesse, unter Jungen zu sein? Geht
es den Jungen gut, sodass sie diese nicht wollen? Gibt es zu
wenig Männer, welche mit Jungen arbeiten? Oder fehlt es gar an
Inhalten, Praxiskonzepten, welche umgesetzt werden könnten?
Ist Jungenarbeit eine Forderung der Frauen und für Jungen und
Männer nicht so wichtig?
Schaut man sich die Statistiken an, so bekommt man den Eindruck,
dass es schlecht um die Jungen steht. Zwei von drei Gewaltopfern
sind Männer, die Täter zum überwiegenden Teil Männer, die Schulabbrecherrate unter Jungen ist viel höher, die Lebenserwartung ist
niedriger, die Krankheitsrate höher – verkürzt gesagt, Mann-Sein ist
gefährlich. Und bei solch einer Diagnose kommt die Jungenarbeit
nicht so recht vom Fleck? Was sind die Ziele der Jungenarbeit? Soll
die Jungenarbeit sich an den Problemen orientieren, welche die
Jungen haben und welche sie machen? Soll sie die Jungen gesund
und brav machen?
Die praktische Arbeit des Arbeitskreises Buben- und Männerarbeit
orientierte sich in den letzten Jahren seiner Tätigkeiten an diesen
Ideen und versuchte das Kompetenzspektrum der Jungen, die
Möglichkeiten der Konfliktverarbeitung, die verschiedenen Existenzweisen als Junge zu erweitern. Ziel war es, dass Jungen einerseits
weniger Probleme hatten und andererseits auch weniger Probleme machten. So wurde z.B. eine Abenteuerwoche in Slowenien
organisiert, während der die Jungen selbst kochen, als auch einen
Orientierungslauf in einer unbekannten Gegend meistern konnten.
Die Jungen wurden dabei in ihrem traditionellen Rollenbild ernst
genommen, als auch anderen neuen Erfahrungen »ausgesetzt«,
wie z.B. dem Brot backen, dem Sorgen für die gesamte Gruppe, ...
Ausschlaggebend sind aber nicht die einzelnen Angebote, sondern
die Art der Angebote und das Identitätsverständnis, aus dem heraus die Jungenarbeiter die Angebote formulieren, durchführen und
auswerten. Die Jungenarbeiter unterstützen und tragen die Gleichheitsdebatte zwischen Frauen und Männern in der Gesellschaft mit
und versuchen mit ihrer Arbeit, die vorhandenen Rollenklischees
aufzubrechen und den Jungen die nötigen Kompetenzen mitzugeben, welche Jungen in einer veränderten Gesellschaft benötigen,
in der sei es die Frauen als auch die Männer alles tun sollten oder
dies zumindest können sollten.
Jungenarbeit – wieso?
Die Frauen- und Geschlechterforschung brachte das Thema des
sozial konstruierten Geschlechts ein, das Geschlecht einerseits
in »Sex«, das biologische Geschlecht, einteilte und andererseits
in »Gender«, das kulturelle, das konstruierte, anerzogene, selbst
angeeignete Mann- bzw. Frausein. Diese Position beschreibt das
Geschlecht einerseits als natürlich, biologisch vorgegeben, in unserem Verhalten, Denken und Fühlen aber als sozial konstruiert und
produziert. Ich inszeniere mich jederzeit als Mann, bzw. Frau neu,
An diesem Konzept wird nun kritisiert, dass ein biologischer
Mann sich nur als Gender- Mann sozialisieren kann und nicht als
Gender-Frau. Das heißt, dass die Jungen zwar neue Kompetenzen
erwerben und sich auch aneignen, aber doch in einem klaren Rollenverständnis bleiben. Jungen und Männer bleiben in einer zwar
veränderten, aber doch abgegrenzten und definierten Männerrolle. Die Jungenarbeit, welche die Differenz und die Gleichberechtigung der Geschlechter fördert, bleibt in den vorherrschenden
Dualitäten von Mann - Frau, von Hetero- und Homosexualität
stecken und produziert demnach Männlichkeit und damit auch Hierarchie und Abgrenzung. Jungen versuchen sich von den Mädchen
abzugrenzen, besonders von den Rollenattributen, die Mädchen
zugeschrieben werden. Demzufolge arbeiten sie ständig daran,
eine Mauer zu bauen, eine Mauer zwischen den Geschlechtern,
27
zurück, wie z.B. Gewalt. Für die konkrete Jungenarbeit heißt dies,
dass sie bloß dadurch, dass sie gewisse Eigenschaften und Tätigkeiten dem Jungesein zuschreibt und fördert, auch bestimmt, was ein
Junge ist. Mehr noch, die Aufteilung in Jungenarbeit und Mädchenarbeit Geschlechtsbewusste setzt voraus, dass es zwei klar voneinander unterscheidbare Geschlechter gibt, welche sich voneinander
abgrenzen und abgrenzen müssen. Und genau dieses Sichabgrenzenmüssen führt die Jungen in eine Zwangslage, in der sie oft
nicht mehr weiter wissen und auch von den Jungenarbeitern keine
Hilfestellung mehr erhalten können. Jungenarbeit fördert mitunter
die traditionelle Rollenaufteilung, auch wenn es die innerhalb einer
Rolle möglichen Verhaltensweisen beträchtlich erweitert.
um zu sehen, dass mann selbst ja auf der »richtigen« Seite steht.
Dies erreicht mann am besten dadurch, dass mann sich selbst und
anderen beweist, wie männlich im klassischen Sinn mann ist. Die
»richtige« Seite ist in unserer Gesellschaft ja immer noch die Seite
der Macht, des Einflusses und der verschiedenen Möglichkeiten,
die in patriarchalen Systemen für Männer vorgesehen sind.
Wieso sollen die Jungen nun ein Interesse daran haben, die Mauer,
die sie so mühsam verteidigen, abzubauen? Um neue Kompetenzen,
welche weiblich und schwach konnotiert sind, zu erwerben? Oder
gar um den Mädchen Zutritt zu der »richtigen« Seite zu gewähren?
Was soll für die Jungen daran attraktiv sein? Diese Kompetenzerweiterung der Jungen bedroht und verunsichert sie in ihrem ureigensten Jungesein, in ihrer Jungenexistenz. Es ist verständlich, dass sie
sich nicht einen Pfeiler ihrer Identität nehmen lassen wollen. Solch
Bemühen wird von keinem Erfolg gekrönt sein, solange seine Identität auf dem Pfeiler des Mann- bzw. Jungeseins steht.
Jungenarbeit - welche?
Bleibt Jungenarbeit in einem unlösbaren
Widerspruch gefangen? Bedeutet das
nun, dass keine Jungenarbeit die beste
Jungenarbeit ist? Kann man überhaupt
Jungenarbeit machen, welche kein
klares Bild von Jungen als Ziel hat?
Dass Mädchenarbeit sich dabei in einer gänzlich anderen Lage befindet, wird deutlich, wenn wir die Mädchen, die auf der anderen
Seite der Mauer stehen, und ihre Interessen betrachten. Ziel der
Mädchenarbeit in den vergangenen Jahren war es vielfach, die
Kompetenzen der Mädchen zu erweitern, allerdings in die entgegengesetzte Richtung, zur »Jungenwelt« hin. Die Mädchen sollten
das tun und tun wollen, was ihnen so lange verwehrt blieb. Sie
sollten körperliche und geistige Höchstleistungen vollbringen, denn
so können sie sich entfalten und noch dazu zur Entwicklung der
Gesellschaft Wertvolles beitragen. Den Mädchen war es also auch
aufgetragen, die Mauer zwischen den Geschlechtern abzubauen,
mit dem einen Unterschied, dass die abgebrochene Mauer sie zu
den oberen, gesellschaftlich angeseheneren Positionen brachte.
Sie durften demzufolge stolz sein auf das, was sie »immer schon«
konnten und noch stolzer auf das, was sie an neuen Kompetenzen
sich aneigneten. Ihr Bedürfnis war dementsprechend mehr, es den
Jungen gleichzutun, als sich von diesen abzugrenzen. Genau dieses
Abgrenzen war aber immer schon die Aufgabe der Jungen und
schlussendlich auch die Definition von Junge-Sein.
Jens Krabel und Sebastian Schädler
schreiben in ihrem Artikel » Das Ziel
einer »nicht­identitären« Jungenarbeit
wäre somit nicht der »andere Junge«,
sondern gar kein Junge.« (Krabel,
Jens und Schädler, Sebastian, S. 38) Geschlecht
ist eine Orientierungslinie, die unsere Gesellschaft dem Einzelnen
bietet, eine Zuordnungsmöglichkeit,
Welche Möglichkeiten bleiben denn nun den Jungen, ihre Identität
zu definieren, eine Identität, deren Grundpfeiler doch die Zugehörigkeit zum Geschlecht Junge und demzufolge im Gegensatz
zum Geschlecht Mädchen steht?
Ich finde, den Jungen bleibt nur eine Flucht nach hinten, mit dem Ziel, die Mauer als Schutz mitzunehmen.
Angesichts von Mädchen, welche einerseits Mädchen
sind, andererseits sich immer mehr Zuständigkeiten der Jungen aneignen, ziehen sich die Jungen
oft umso mehr auf letzte »männliche« Domänen
28
mit der wir uns und alle gegenseitig strukturieren, einteilen und
zuordnen. Diese Zuordnung ist eine, wenn nicht die erste, die wir
bei jeder Begegnung ständig von neuem anlegen. Solange die Jungen ihre Identität auf diese Zuordnung konstruieren und demzufolge auf das Distanzieren und Abgrenzen müssen zu den Mädchen, kann aber eine wirkliche Gleichstellung nicht möglich sein.
Wenn die eigene Identität nicht auf die Geschlechtszugehörigkeit
aufbaut, vervielfältigt sich hingegen der Diskurs von Differenz
und Gleichheit der Geschlechter, um sich anschließend vollends
aufzulösen. Anstelle der Geschlechter und der Identität als solches
tritt nun der Einzelne mit einer je eigenen Identität. Es geht dann
in der Jungenarbeit nicht darum, das Feld zu erweitern, was ein
Junge sein kann, und immer wieder neu Männlichkeit zu produzieren indem man zulässt, ein Mann darf auch weinen und darf auch
schwach sein,... Es geht darum, an den gelebten Männlichkeiten zu
arbeiten und diese zu hinterfragen.
geschlechtliche oder sexuelle Identitäten, sondern prozessuale Identitäten (vgl. Hartmann 1998: 38) stehen im Mittelpunkt
einer solchen Jungenarbeit. Ständig veränderbare, erweiterbare
Identitäten, welche dem Einzelnen ermöglichen sich immer wieder
zu gestalten, denn wir sind ständig ein Abbild der uns gegebenen
Grenzen und zugleich »ein Experiment der Möglichkeiten ihrer
Überschreitung«
(Foucault, 1990, S. 53)
Es gibt kein ein Mann ist so, eine Frau ist so, sondern vielmehr, ein
Mann ist nicht nur so, er ist Vieles mehr. Was dabei herauskommt,
ist eine Definition der eigenen Identität, welche sich ständig verändert. Genau dies versucht die »Queer Theorie«. Sie geht weder
von Männlichkeit aus noch hat sie diese zum Ziel. »Queer Theorie
stellt sich dabei als ein theoretischer Ansatz vor, der sich weigert,
den geschlechtlichen und sexuellen Identitäten eineN BesitzerIn
zuzuordnen und einer Ontologisierung von Geschlecht entgegensteht.« (Stuve, Olaf, 2001, S. 281)
Das Umfeld, in dem die einzelnen Kinder und Jugendlichen sich
jedoch befinden und mit dessen zur Verfügung stehenden Angeboten sie ihre Identität gestalten, ist geprägt von der Dualität, von der
Einteilung in männlich und weiblich, in Mann und Frau. Das Arbeiten an der Auflösung dieser Normierung durch geringere Beachtung und Wertschätzung der Kategorie Geschlecht würde schlussendlich zu einer Verleugnung der gelebten Realitäten von Kindern
und Jugendlichen führen. So sinnvoll es einerseits wäre, würden
andererseits durch das Nicht-zum-Themamachen die Muster und
Denkkategorien auch nicht in Frage gestellt und dadurch die in unserer Gesellschaft vorherrschende Geschlechterhierarchie gestärkt
und gestützt. Bleibt die Möglichkeit, in den geschlechtshomogenen, bzw. in geschlechtsheterogenen Gruppen diese Normierung
explizit zum Thema zu machen und an der Auflösung zu arbeiten.
Bleibt das Ernstnehmen der gelebten Realität, das Aufdecken von
Einteilungsmechanismen und der Versuch diese zu dekonstruieren
und bewusst andere Möglichkeiten zu inszenieren, um zu einer
größeren Freiheit der Gestaltung eigener, sich ständig wandelnder
Individualität zu gelangen. Andrea Maihofer tritt für eine Definition
des Geschlechts als »historisch bestimmte gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise« ein. (Maihofer, Andrea, 1994, S. 180) Damit
versucht sie eine Balance zwischen Natur und Kultur, Körper und
Geist, Materie und Bewusstsein zu schaffen.
Würden wir aber diesem Diskurs strikt folgen, müssten wir die
Mädchen- und Jungenarbeit sofort auflösen und in eine koedukative, »geschlechtsneutrale« Jugendarbeit zusammenführen, welche
die Geschlechter und deren Ausdrucksweisen weder zum Thema
macht noch ihren Blick darauf wirft. Diese Jugendarbeit wirft den
Blick auf das einzelne Individuum und seinen individuellen Bedürfnissen und Wünschen nach Bildung einer Identität.
Die Queer Theory versteht das Geschlecht als politische Kategorie. Das Geschlecht ist eine Normierung, eine Festschreibung der eigenen Identität neben vielen anderen. Judith
Butler plädiert für eine Uneindeutigkeit, für das Offenhalten, für das ständige Verhandeln von Identitäten.
Demzufolge ist es nicht Aufgabe der Jungenarbeit, Jugendliche auf der »Suche nach der eigenen Identität« zu unterstützen, oder sie auf dem Weg zum
Mann-Sein zu begleiten. Vielmehr ist es ihre
Aufgabe, gerade diese Festlegungen zu
vermeiden und scheinbar starre
Kategorien immer wieder zu
hinterfragen, deren Bedeutung zu öffnen und
neu zu verhandeln.
Mann-Sein, auch
ein »neues«
Mann-Sein
kann nicht Ziel
einer solchen
Jungenarbeit
sein. Nicht
»Wir begreifen Geschlecht, Frau- oder Mannsein nur, wenn
wir einen Begriff entwickeln, der sowohl das Imaginäre dieser
Existenzweise, also Geschlechtlichkeit, Subjektivität, Identität und Körperlichkeit als gesellschaftlich-kulturell produzierte
historisch bestimmte Selbstverhältnisse reflektiert, als auch die
Realität dieser Existenzweise als gelebte Denk-, Gefühls- und
Körperpraxen.«(Maihofer, Andrea, 1994, S. 185)
29
Damit eröffnen sich Fragen wie:
Was macht Jugendliche zu Jungen oder Mädchen?
Wie wird Männlichkeit und Weiblichkeit gelebt?
Wie wird das Gelebte zu anerkannten Wirklichkeit?
Wie hängt Geschlechtlichkeit und sexuelle Orientierung zusammen?
»Es gibt keine endgültige Wegentscheidung, wenn ich Jungen Reisen anbiete, in das Gebiet, jenseits des Zauns, der normalen Weise
vorherrschender Männlichkeit. Also in das Gebiet, wo eigentlich
ein Schild steht: Sie betreten den unmännlichen Sektor. Ich biete
Reisen in dieses Land an, in diesen Sektor und sage direkt dazu,
ihr könnt jederzeit wieder zurück. Ihr könnt auch jederzeit sagen,
nein, da gehe ich nicht hin. Es gibt Jungen die stellen sich mit dem
Rücken zu diesem Sektor hin und sagen: das ist Quatsch. Da gibt
es welche die schauen und sagen, das ist Blödsinn, das brauche
ich nicht. Da gibt es welche, die gehen hinüber, kommen wieder
zurück und sagen: das war Quatsch. Dann gibt es solche die sagen,
das war schön. Und alle haben Erfahrungen mitgenommen.«
(Karl, Holger, 1998, S. 58)
Meines Erachtens ist dies ein möglicher Ansatzpunkt für die Praxis
der Jungenarbeit. Das Einsetzen und das Arbeiten mit diesen und
ähnlichen Fragestellungen gerade auch in der Jungengruppe. Das
Aufzeigen der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit von Männlichkeit.
Was geht noch als männlich durch, was nicht? Warum?
Wo setze ich meine Grenzen?
Was passiert, wenn ich mich anders gebe und verhalte?
Wie reagiere ich, wenn ich Personen nicht zu einem Geschlecht
zuordnen kann, wenn sie nicht in meine Abgrenzungen passen?
Es geht um die Freiheit der Möglichkeiten, welche Jugendliche
haben und sich nehmen, ihre Identität und ihre Lebensweisen
zu gestalten. Jungenarbeit sollte Räume öffnen, Räume für neue
Erfahrungen, den Blick öffnen, den Blick auf die Unterschiedlichkeit
der Männlichkeitsentwürfe, auf die Randgruppen, welche am Rande der Männlichkeit stehen und so den Raum öffnen, sodass die
Männlichkeit wie Sand durch die Finger zerrinnt und sich auflöst
in einzelne unterschiedliche Sandkörner, in verschiedene Jugendliche, welche versuchen ihr Leben zu gestalten. Jungenarbeit muss
verschiedene Jungen begleiten, ihnen Beziehung anbieten und
ihnen neue Freiheiten anbieten. Freiheiten, welche sie spielerisch
gestalten und ausprobieren können.
Jungenarbeit – wohin?
»Keine Defizitpädagogik, sondern selbstverständliche Hilfe zur Persönlichkeitsbildung« (Sielert, Uwe, 2002, S. 87). Es geht nicht darum,
den Jungen neue, von der Gesellschaft geforderte, Kompetenzen
»beizubringen«, sondern erstmal zu sehen, dass die Jungen nicht
die Jungen sind. »Es geht ...um die Bewusstwerdung von großen
Teilgruppen in ihrer Verschiedenheit« (Sielert, Uwe, 2002, S. 35).
Kriterien für diese Teilgruppen können sein: Verhaltenstypen, Milieu, sexuelle Orientierung, Jungen aus anderen Ländern, traditionell
auftretende Jungen, … Schlussendlich führt das zu einem Ernst»In diesem Spielen entsteht neben persönlichen Kreationen auch
nehmen des einzelnen Jungen in seiner Lebenswelt, in dem was
die Grundlage für unsere Teilhabe an kulturellen Produktionen
ihn
beschäftigt,
was
ihn
erfreut,
bedrückt,
und
seine
Bedürfnisse
MAWE_Anzeige_210x148_LINKS:Layout 1 26.03.2015 10:04 Uhr Seite 1
und Genüssen. … Im Spiel handelt es sich um scheinbar beliebige
werden in den Mittelpunkt gestellt.
Es gibt 1001 Gründe, den Halt zu verlieren. Oder sind es vielleicht
1001 Ausreden? Verein Männerwelten bietet kompetente Beratung
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30
und nicht zielorientierte Vorgehensweisen, alles
allerdings Qualitäten, die einer Verflüssigung von
starren Konzeptionen jeder Art entgegenkommen
würden.« (Musfeld, Tamara, 2001, S. 155)
Das Spiel ist aber im Laufe der Zeit vollständig aus
dem pädagogischen Alltag verschwunden, ja Pädagogik, z.B. Schule,... definiert sich allzu oft gerade
in Abgrenzung zu Spiel, Spaß und Lust. Vielleicht
gerade darum, weil das Spiel keinen klaren eindeutigen Weg kennt, als nicht zielorientiert definiert
wird, und weil darin jegliche Grenzen von richtig
und falsch sich auflösen, auflösen in Richtung unterschiedlicher Möglichkeiten. Das Spiel als ein Ort
der Freiheit von Möglichkeiten in einem definierten
Rahmen. Das Spiel, das keine Hierarchien kennt
und ständig Eingefahrenes in Frage stellt und neue
Wege und Deutungsmuster entwirft. So gibt uns
gerade das Spiel viele Möglichkeiten mit Freiheiten
und Entwürfen zu experimentieren. Spiel mit meiner virtuellen Realität im Internet, in Chaträumen,
in Rollenspielen,... Dort kann ich ausprobieren,
mich anders zu geben, anders zu reden. Spiel mit
verschiedenen Männerbildern, mit Bildern aus
Zeitschriften von Personen und der Kategorisierung in Männern und Frauen. Wie kategorisiere
ich, nach welchen Kriterien? Was tue ich, wenn
ich eine Person nicht klar zuordnen kann? Spiel
mit neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellung,
Ausprobieren neuer Rollen, sei es im Theater oder
durch Verkleidung in der Wirklichkeit. Wie geht es
mir dabei? Wie reagieren die anderen? Das Spielen
und Wahrnehmen der eigenen Grenzen. Das Ernstnehmen und Achten eigener und fremder Grenzen.
Das Anbieten von Neuland, von neuen Erfahrungen. Dazu braucht es wohl Jugendarbeiter, welche
sich auf Jungen und ihre Lebenswelt einlassen
wollen. Jugendarbeiter, welche erst mal ihre eigene
Männlichkeit reflektieren, ihr Bild vom Mann Sein,
ihre Grenzen. Männer, welche sich aktiv mit der
Männer- und Geschlechterforschung auseinandersetzen und ihre eigene Position finden, denn, wie
Uwe Sielert schreibt, »Mitarbeiter der Jungen- und
Männerarbeit sind, ob sie es wollen oder nicht,
immer Vorbilder, Modelle oder besser: Beispiele«.
(Sielert, Uwe, 2002, S. 97)
Die Einrichtungen müssen sich fragen, welche
Jungen sie ansprechen, und welche Modelle diese
Jungen ansprechen könnten, denn es gibt nicht die
Jungenarbeit, wie es auch nicht die Jungen gibt.
Jungenarbeit muss Neues probieren, Erfahrungsräume schaffen und behutsam vorgehen, um nicht
ein Rollenbild durch ein neues Bild vom Jungen zu
ersetzen.
Literatur
verzeichnis
Butler, Judith: Das Unbehagen der
Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991
Butler, Judith: Körper von Gewicht.
Berlin 1995
Lothar Böhnisch: Männliche Sozialisation. Eine Einführung.
Juventa Vg. 2004
Cornelißen, u.a.: Junge Frauen – junge Männer. Daten zur Lebensführung
und
Chancengleichheit. Opladen 2002
Duden, Barbara: Geschichte unter der
Haut. Stuttgart 1991
Erdmann, E./ Forst, R./ Honneth, A.
(Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults
Kritik der Aufklärung.
Karl, Holger: Heimweh nach der
Ferne. In: Jugendhaus Kassianeum
und Amt für Jugendarbeit: SuperMänner!? 1. Fachkongress zur Bubenarbeit in Südtirol. S. 55 – 63.
Brixen/Bozen 1998
Krabel, Jens und Schädler, Sebastian:
Dekonstruktivistische Theorie und
ihre Folgerungen für die Jungenarbeit
Maihofer, Andrea: Geschlecht als
Existenzweise. In: Institut für Sozialforschung Frankfurt: Geschlechterverhältnisse und Politik. S.168 – 187.
Frankfurt. Suhrkamp Verlag 1994
Musfeld, Tamara: Das Wissen, die
Macht und das Spiel. In: Fritzsche,
Bettina u.a. (Hrsg.): Dekonstruktive
Pädagogik. S.149 – 159. Opladen.
Leske + Budrich 2001
Frankfurt a.M. und New York 1990
Foucault, Michael (1990): Was ist
Aufklärung. In: Erdmann, E./ Forst, R./
Honneth, A. (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung.
Frankfurt a.M. und New York
Goffman, Erving: Interaktion und
Geschlecht. 1971
Hartmann, J. (1998): Die Triade
Geschlecht – Sexualität – Lebensform.
Widersprüchliche
gesellschaftliche Entwicklungstendenzen und neue Impulse für eine
kritische Pädagogik. In: Hartmann, J./
Holzkamp, Ch./ Lähnemann, L./ Meißner, K./ Mücke, D. (Hrsg.): Lebensform
und Sexualität. Herrschaftskritische
Analysen und pädagogische Perspektiven. Bielefeld
Jantz, Olaf u.a.(Hg.): Perspektiven
geschlechtsbezogener Pädagogik.
Opladen 2001
Kreisjugendring München-Stadt (Hg.
Dokumentation): Abschied von den
Geschlechterrollen? 2001
Kreisjugendring München-Land (Hg.):
Rahmenkonzept geschlechtsreflektierte offene Jugendarbeit. 2004
(siehe www.kjr-muenchen-land.de)
31
Andrea Schmidt: Balanceakt Mädchenarbeit. Beiträge zu dekonstruktiver Theorie und Praxis. Edition
Hipparchia, 2002
Sielert, Uwe: Jungenarbeit. Praxishandbuch für die Jugendarbeit Teil 2,
3. völlig überarbeitete Auflage. Weinheim/München: Juventa Verlag 2002
Spannbauer, Christa: Das verquere
Begehren. Sind zwei Geschlechter
genug? Würzburg 1999.
Stuve, Olaf: Jungenarbeit und Queer
Theory – Versuch einer paradoxen
Verbindung. In: Fritzsche, Bettina u.a.
(Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik.
S.281 – 294. Opladen. Leske + Budrich
2001
Aus: Arnin Bernhard, EIN JUNGE IST
EIN JUNGE… IST DOCH KEIN JUNGE.
Bubenarbeit von der antisexistischen
Jugendarbeit bis zum Queer-Ansatz Tagungsdokumentation Geschlechterbewußte Jugendarbeit 2005 Südtirol
(Seiten 17 – 26)
http://www.provinz.bz.it/
kulturabteilung/download/
A_Geschlechtsbewusste_Jugendarbeit_Tagungsdokumentation.pdf
Verstehende Jungenarbeit
als gewaltpräventives
Handlungskonzept
Verstehende Jungenarbeit
als Chance und Möglichkeit
der Gewaltprävention
Der Diskurs über geschlechtssensible Arbeit mit Jungen ist im deutschen Sprachraum speziell in Österreich bereits ein beträchtlicher
und daher verweise ich an dieser Stelle auf die Literatur und im
Besonderen auf zwei Publikationen, die einen Einblick in die Praxis
und einen breiteren theoretisch Zugang ermöglichen: »Bubenarbeit in Österreich I + II« (2000), sowie »Gewaltprävention durch
Mädchen- und Bubenarbeit in der außerschulischen Jugendarbeit« (1996). Diese beiden Schriften zeigen auch sehr deutlich die
Geschichte und Teile des Werdeganges von geschlechtssensibler
Arbeit mit Burschen im Sozialpädagogischen Feld. »Durch die
Bemühungen der Frauenbewegung um die Mädchenerziehung und
Mädchenstärkung sind nun die Defizite der Männer auf eine neue
Art ins Blickfeld gerückt.« (G. SCHROFFENEGGER, A. SCHWEIGHOFER, A. GNAIGER, 2000) Da wir uns auf österreichische Projekterfahrungen stützen, werden wir die Begriffe Jungenarbeit und
Burschenarbeit synonym verwenden. Die weibliche Schreibweise,
bzw. die geschlechtsneutrale Formulierung mit dem großen »I«,
verwenden wir nur dort wo tatsächlich weibliche und männliche
Personen gemeint sind, wie z.B. SchülerInnen.
Die von uns geforderte Reflexion eigener Interaktionen im Handlungsfeld, kann im besten Fall als Input im theoretischen Diskurs
dienlich sein.
Harald Burgauner & Rainer Konderla
Unser Verständnis
von Handlungskonzept
Der vorliegende Beitrag zu einem Arbeitsfeld, das in ständiger
Wandlung begriffen ist, hat den Anspruch, einen Baustein zu einem
sich ständig konkretisierenden Ganzen zu liefern. Das Konzept
kann in dem Handlungsfeld ohnehin nur eine Möglichkeitsvariante
aufzeigen. Konzepte mit engen Handlungsspielräumen behindern
Entwicklung. Und das ist, was wir dringend brauchen: Räume,
in denen kreativ an der Entwicklung von Menschenbildern und
Geschlechterrollen gearbeitet werden kann. Dies geschieht permanent. Uns ist es ein Anliegen, dass dies nach den Kriterien von
Gender Mainstreaming erfolgen soll. Dies bedeutet in knappen
Worten, dass eigenes Handeln im Hinblick auf dessen Auswirkung
auf das eigene und das andere Geschlecht reflektiert und bewertet
wird. Vor wenigen Tagen wurde ich von einer geschätzten Kollegin
gefragt, ob wir denn das gesamte Konzept veröffentlichen würden?
Ja, soweit wir dazu in der Lage sind, waren wir bemüht, in überschaubarer Weise transparent zu machen, worin Gewaltpädagogik
als geschlechtssensible Intervention bestehen kann. Das »ganze
Konzept« als fertige Handlungsanleitung ist nicht unser Ziel. Jene,
die es schaffen, aus jungen Männern Selbstmordattentäter zu machen, arbeiten leider nach alten, bewährten und »ganzen« Konzepten. Uns ist bewusst, dass diese Aussage verkürzt und problematisch ist, jedoch ist es uns ein Anliegen unsere Position deutlich von
jeglicher Radikalisierung und Fanatisierung abzugrenzen und daher
die Grenze zu Ideologisierungen zu wahren. Wir wollen mit unserer
Arbeit ermutigen, dort anzusetzen, wo die Möglichkeit geboten
wird, dass Burschen und heranwachsende Männer mit Männern
gestaltend an den Bildern vom »ganzen Mann« arbeiten. Männer,
die selbstverantwortlich und gesellschaftsfähig sind. Wenn es
damit gelingt, einen Beitrag zu leisten, der zur Verständigung dient,
kann Gewalt vermieden werden.
32
Tabus brechen
Geschlechtsspezifische Prävention- und Interventionsarbeit
mit Burschen im Einzelsetting und in Gruppen ist ein Praxisfeld,
das Kraft aus Netzwerken schöpft. Daher ist es an dieser Stelle
angebracht allen jenen Männern und Frauen zu danken, die uns in
unserer Arbeit ermutigt, begleitet, kritisiert, inspiriert und ergänzt
haben.
Jungenarbeit findet in Schulen, Jugendzentren und nicht zuletzt in
der Einzelarbeit mit männlichen Jugendlichen statt. Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit man von geschlechtssensibler Arbeit
mit Jugendlichen sprechen kann?
Methoden und Haltungen in der Arbeit, die in diesem Artikel angesprochen werden, sind in unserer internen Qualitätsprüfung feste
Bestandteile der laufenden Diskussionen. Wie in sehr vielen Tätigkeitsfeldern, sind die Wandlungen auch in diesem Arbeitsbereich
zum Teil sehr schnellen Rhythmen unterworfen und durch externe
Ereignisse mitbestimmt. Aktuelle Ereignisse und der öffentliche
Diskurs darüber spielen häufig in die Projekte hinein.
Was die Arbeit mit Mädchen betrifft, könnte einen als Mann der
glatte Neid packen. Da können die Frauen auf über Jahrzehnte
erarbeitete und gereifte Theorie und Praxis zurückgreifen. Der
Feminismus bietet ideologische Rückendeckung. Zudem ist die Perspektive der Mädchen auf das gerichtet, was es noch zu erreichen
gilt. Demgegenüber steht bei den Burschen oft das Gebot, was
sie alles aufgeben sollen. Jedoch ist Neid als Gefühl genauso gut
wie jedes andere, die Hauptsache mann merkt es. Und damit sind
wir auch schon an dem Punkt, den wir in der Arbeit von großen
Männern mit kleinen bzw. jungen Männern für den zentralsten
halten: Gefühle, sind das Tabu, das es in der Arbeit mit Burschen zu
brechen gilt.
Der Zweck heiligt nicht die Mittel, jedoch sollten die Mittel dem
Zweck immer wieder aufs neuen angeglichen werden. Das Ziel
unserer Arbeit in der sekundären und tertiären Präventionsarbeit
ist klar formuliert: Wir wollen mit Buben, Burschen und jungen
Männern Wege zu einer nachhaltigen, den Kriterien des Gender
Mainstreaming folgenden, und effizienten Prävention von Gewalt
erarbeiten. Idealistische Ziele müssen jedoch an den realen Machbarkeiten gemessen werden. Machen heißt Methoden anwenden.
Haltungen sind auf Personen angewiesen, die sie einnehmen.
Seit einiger Zeit erhalten wir bezüglich Burschenarbeit immer
wieder ähnliche Anfragen, die letztlich Fragen zur Methodik sind.
Der Methoden-Katalog für die »richtige Burschenarbeit« liegt
noch nicht auf und wird es hoffentlich nie. Geschlechtssensible
Burschenarbeit fängt zunächst bei uns Männern selbst an. Mann
muss seine »Männlichkeiten« reflektieren, um mit Burschen daran
arbeiten zu können, selbst gestaltend ihre Geschlechterrollen zu
entwerfen und zu leben, denn...
Uns ist bewusst, dass die Forderung nach klaren Haltungen und das
Aufzeigen der Risiken, aus der Erfahrung des Scheiterns neben den
Erfolgen resultiert. Wir kennen die Erfahrung, dass ein festhalten
an einer Methode, einen Prozess beengt, bremst, zu sehr beschleunigt und im schlimmsten Fall eskaliert. Das Eingeständnis eigenen
Scheiterns lässt uns kritischer auf die Erfolge blicken und letztlich
Möglichkeiten für Korrekturen erkennen. Dies trifft auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen, die Kontakte mit Erziehungsverantwortlichen und den Kontakt zu den heranwachsenden Männern
gleichermaßen zu. Es ist dies eine unmittelbare Einsicht aus der
Workshoptätigkeit mit den jungen Männern. Daher gilt ihnen ein
besonderer Dank. Die Burschen habe uns vieles lernen lassen, was
wir vorher einfach nicht wussten, bzw. uns nicht bewusst war.
Burschenarbeit
ist Grenzarbeit
Die Gratwanderung zwischen Empathie für den Buben einerseits
und der klaren Beziehung zu den Jungen, erfordert Gespür für
Grenzen. Grenzen sehen wir nicht als starre Linien, sondern eher
wie Schutzhüllen mit denen man sehr behutsam umzugehen hat.
Es bedarf dieses Sensoriums, um Respekt laufend zu praktizieren.
Gerade im Kontakt unter Männern sind Grenzverletzungen oft Teil
eines unreflektierten Habitus.
Männer machen Männer
Als wir Anfang der 90er Jahre mit dem Ansatz der feministischen
Mädchenarbeit konfrontiert wurden, fragten wir uns, was denn mit
den Burschen gemacht wird. Auf unserer Suche nach Arbeitsmodellen stießen wir auf die verstehende Jungenarbeit wie sie in Hamburg aus der Arbeit mit gewalttätigen Männern entwickelt wurde.
Grenzarbeit meint aber zudem auch: Grenzen zu setzen, also den
Blick und das Gefühl für die eigenen Grenzen nicht zu verlieren.
Wie sollen werdende Männer denn wissen wo die Konturen des
anderen sind, wenn er diese nicht aufzeigt? Binsenweisheiten
– wie die eben genannten – bekommen gerade in diesem schwierigen Kontext eine sehr große Bedeutung und erweisen sich in
der Umsetzung, gerade in einer Burschengruppe, als ein äußerst
vielschichtiges Unterfangen. Wieder einmal zeigt sich hierbei wie
wichtig es ist, dass der Mann hinter der Rolle des »Pädagogen«,
»Vaters«, »Betreuers«, »Erziehers« etc. selbstreflexiv und authentisch ist.
Verstehende Jungenarbeit bedeutet für uns solidarisch mit Burschen und heranwachsenden Männern zu sein, denn Burschen
brauchen Männer zum Reifen. Burschenarbeit ist keine Auftragsarbeit für Frauen und Mädchen, sondern zunächst selbstbezogen.
Dass diese Arbeit aus der Forderung von Frauen entstanden ist,
verstehen wir als das Einfordern der Verantwortungsübernahme
durch Männer. »Denn Frauen können aus Buben keine Männer
machen.« In schillernder Abwesenheit kann man nichts tun, daher
erfordert geschlechterreflektierende Burschenarbeit die Präsenz
von Männern.
33
Gewalt ist ...
Gewalt ist nicht Aggression
Die von uns verwendete Gewaltdefinition bezieht sich auf Gewalt
im engeren Sinn, also physische Gewalt. Wir definieren »Gewalt«
im Sinne der »Hamburger Schule« als »jede Form von körperlicher
Beeinträchtigung und ihre Androhung.« (LEMPERT/OELEMANN
2000, S.11)
Rückführend auf seine etymologischen Wurzeln, bedeutet das
Wort »aggredere« : auf (etwas oder jemanden) zugehen, sich
nähern, hinbewegen (im Sinne von einem mutigen Draufzugehen).
Beschreibend meint Aggression demnach eine Entschlossenheit
oder das Zeigen von Initiative. Ursprünglich fehlt diesem Begriff
der destruktive/negative Teil, der im normalen Sprachgebrauch
üblich ist. Aggressiv zu sein in diesem Sinne hat sogar im Gegenteil
einen konstruktiven Anteil, denn ein Problem, dass angegangen
wird, wird zuvor als solches erkannt und verliert dadurch an Bedrohung. Es bedarf keiner gewalttätigen Handlung um es abzuwehren.
Dies deckt sich mit der alltagssprachlichen Bedeutung dieses
Begriffes. Auch die in Deutschland eingesetzte »Unabhängige
Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von
Gewalt« – kurz »Gewaltkommission« genannt – definierte 1990 im
Rahmen eines Gutachtens den Gewaltbegriff »als ... die zielgerichtet, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen«
(SCHWIND 1990, S.36). Im weiteren Sinn lässt diese Kommission
auch noch Vandalismus als Gewaltform gelten, klammert damit
aber auch andere Gewaltdimensionen wie psychische oder strukturelle Gewalt aus.
»Richtig eingesetzte Aggression bewahrt davor, gewalttätig zu
werden.« (LEMPERT/ OELEMANN 2000, S.20) Die Erfahrungen aus
der Praxis der Beratung von gewalttätigen Männern zeigt »dass der
überwiegende Teil der Männer und Jungen, die massiv gewalttätig
sind, aggressionsgehemmt sind.«
(LEMPERT/OELEMANN 2000, S.20)
Diese eingegrenzte Gewaltdefinition, die sich wie gesagt stark
am Alltagsverständnis des Begriffs orientiert, ist im Sinne einer
klaren Begriffsdefinition in der Beratungsarbeit mit gewalttätigen Männern einerseits und der Vermeidung einer inflationären
Verwendung des Begriffs andererseits notwendig. Die klare Arbeitsdefinition von Gewalt ist eine Voraussetzung, damit konkrete
Veränderung in Richtung Gewaltfreiheit möglich werden kann.
Dass Gewalt auf das Phänomen der physischen Gewalt und deren
Androhung reduziert wird, löst vielleicht bei manchen LeserInnen
Widerstand aus.
Darum ist es wichtig, an dieser
Stelle festzuhalten, dass diese
eingeschränkte Begriffsdefinition
von Gewalt nicht der Bagatellisierung verletzender, erniedrigender,
entwürdigender Verhaltensformen dienen soll, die Männer – als
Mittel zur Aufrechterhaltung von
Herrschaftsverhältnissen – gegen
Frauen, Kinder und andere Männer
richten. Gewaltfreiheit in diesem
eingeschränkten Sinn ist jedoch die
Voraussetzung, um jenen »sicheren
Ort« zu schaffen, wo andere Beziehungs- und Kommunikationsmuster
überhaupt thematisiert werden
können. In diesem Sinne ist unsere
Gewaltprävention vorwiegend
Sekundär- und Tertiärpräventiv.
34
Gewalt ist männlich
Das erwartete und dann belohnte bzw. bestrafte Verhalten schaut
bei Buben und Mädchen unterschiedlich aus. Buben dürfen wilder
sein als Mädchen, gewaltbereites Verhalten wird eher toleriert
und als typisch männliches Verhalten, das dazu dient, Konkurrenzsituationen zu bewältigen oder als spielerisches Kräftemessen,
interpretiert. Das Erproben von Macht und Dominanz wird Buben
eher zugebilligt wie Mädchen.
Die gerichtlichen Strafakten sprechen eine eindeutige Sprache: ca.
80 % der Verurteilungen wegen körperlicher Gewalt (also ohne
Erpressung, Nötigung etc.) werden gegen Männer ausgesprochen. Österreichische Gefängnisse sind zu über 90% mit Männern
besetzt. Gewalt wird demnach zu einem überwiegend hohen
Anteil von Männern ausgeübt, aber ... auch auf der Opferseite sind
Männer überdurchschnittlich hoch repräsentiert. Man geht davon
aus, dass 70% der Opfer von Gewalttaten männlich sind.
Damit soll aber nicht gesagt sein, dass Mädchen nur passiv bzw.
gewaltfrei agieren. Während bei Jungen körperliche Gewalt dominiert, stehen bei Mädchen »spitze Bemerkungen«, »bloßstellen«
und »verbale Gewalt« im Vordergrund. (Vgl. POPP 1999, S. 219).
Wir legen wert darauf festzuhalten, dass die Verantwortung für
eine Handlung durch eine »Provokation« von außen nicht geleugnet werden sollte. Denn die Delegation der Verantwortung an das
Opfer ermöglicht die spiralige Dynamik der Gewalt.
Auch in anderen Belangen gibt es signifikante geschlechtsspezifische Daten: Männer begehen drei mal häufiger Selbstmord
als Frauen, weshalb der Suizid in Österreich an dritter Stelle der
Todesursachen von Männern im erwerbstätigen Alter steht. Auch
im Bereich der Suchtproblematik sind mehrheitlich Männer betroffen, ebenso wie bei den damit im Zusammenhang stehenden
Folgen wie z. B. Wohnungslosigkeit. Männer sind in einem höheren
Ausmaß als Frauen spiel- und arbeitssüchtig.
Die im Laufe männlicher Sozialisation geprägten Persönlichkeitsmuster sind so individuell gefärbt, wie die einzelnen Entwicklungsgeschichten. Dennoch lassen sich ziemlich stabile Rollenfestschreibungen herausfiltern, die als typisch »männlich« bezeichnet
werden können. Diese können (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)
wie folgt umschrieben werden:
Dieser kurze Exkurs soll verdeutlichen, dass es einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und gesellschaftlich (gesundheits- und sozialpolitisch) relevanten Fakten gibt.
Dies gilt, wie anfangs beschrieben, auch und vor allem für den
Bereich der Gewalt. Auffallend ist dabei zudem, dass gewalttätige
Männer sich in kein soziologisches Schema pressen lassen. Gewalt
wird unabhängig von Schulbildung , der sozialen Herkunft oder des
Milieus ausgeübt.
» Männer sollen Verantwortung übernehmen
» Männer sollen trösten und in den Arm nehmen
» Männer sollen souverän sein
» Männer sollen stark und tapfer sein
» Männer sollen immer alles unter Kontrolle haben
»usw.
Aus diesen Fakten lässt sich zusammenfassend folgender Schluss
ziehen: Gewalt hat sehr viel mit dem »Männlichkeit« zu tun. Wie
kommt es dazu? Wie werden männliche Verhaltensmuster erworben? Man geht davon aus, dass (männliches) Verhalten nicht nur
angeboren – sozusagen genetisch determiniert ist – sondern anerzogen und angelernt wurde, dieser Prozess wird »Sozialisation« genannt. Prozess sowie Ergebnis des Hineinwachsens des Menschen
in den gesellschaftlichen Struktur- und Interaktionszusammenhang
(Familien, Gruppen, Schichten). Durch die Sozalisation formt das
Individuum seine Persönlichkeitsmerkmale aus und erlernt soziales
verhalten und gesellschaftlich verbindl. Normen, die seine Handlungsfähigkeit begründen.( Der BROCKHAUS, XIII, 1997, S. 159)
Diese an Männer, bzw. auch schon an Buben herangetragenen
Erwartungen formen die Persönlichkeit. Sie können sozusagen
als Aufträge verstanden werden, die jeder werdende Mann mehr
oder weniger ausgeprägt und direkt formuliert auf den Lebensweg
mitbekommt. Durch die Überbetonung dieser Werte kann es zu
einer schwächeren Ausprägung von kommunikativen und emotionalen Fähigkeiten kommen. Gerade diese Qualitäten sind jedoch
in Konfliktsituationen wichtig. »Männliche« Strategien eskalieren
oft deshalb gewaltvoll, weil sie bei einem Streit das Gefühl der
Unterlegenheit und des Mangels nicht mehr anders kompensieren
können, als durch Gewalt. Ohnmacht wahrnehmen zu dürfen, auszuhalten oder gar auszudrücken haben viele einfach nicht gelernt.
Die Gewalttat soll das Bild des souveränen, starken Mannes, das
während des Konfliktes in Gefahr geraten ist, wieder zurechtrücken. Auch um den Preis, dass dieser Effekt manchmal nur einen
kurzen Moment erhalten bleibt.
Dieses Hineinwachsen des Menschen in die Gesellschaft vollzieht
sich ein Leben lang. Dabei sind die ersten Lebensjahre, also die
Kindheit und Jugend von entscheidender Bedeutung. »Während der Sozialisation im Jugendalter sind soziale Erwartungen
besonders folgenreich, denn die Auseinandersetzung mit und
die Akzeptanz der eigenen Geschlechtsrolle gelten als wichtige
Voraussetzung zur Erlangung des Erwachsenenstatus (Hurrelmann
1994). Mit Beginn der Pubertät, einer Zeit, in der Mädchen und
Jungen von der Umwelt durch die Veränderung ihres äußerlichen
Erschienungsbildes zunehmend als »Frauen« und »Männer«
angesprochen und wahrgenommen werden und in der sich die
Geschlechter füreinander zu interessieren beginnen, wird die Identitätsentwicklung zunehmend von Geschlechtsrollenerwartungen
geprägt.« (POPP 1999, S.208)
Fazit
Gewalt ist jede Form von körperlicher Beeinträchtigung
oder ihre Androhung.
» Es ist wichtig zwischen den Begriffen »Aggression« und
»Gewalt« zu unter» scheiden. Aggressionsfähigkeit kann Gewalttätigkeiten
vermeiden.
» Gewalt ist ein männliches Phänomen:
95% aller Gewalttaten werden von Männern, Jungen
und heranwachsenden Männern verübt. Die Gründe und
Ursachen dafür sind sehr vielfältig und konnten hier nur
angedeutet werden.
»
35
Gewalt ist
eine Wiederholungstat
Gewalttäter sind sehr häufig Wiederholungstäter. Wenn einmal
das Zuschlagen als probates Mittel zum Lösen eines Konfliktes
erlebt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es beim
nächsten mal wieder angewandt werden wird. Dies liegt begründet
in der Mechanik der Gewalt, die sich anhand folgenden Kreislaufes
veranschaulichen lässt: »Die Abfolge der Phasen ist nicht kausal
logisch zu sehen, das heißt, dass Phase vier nicht geschieht, weil
sich Phase drei abgespielt hat. Die Anordnung ist zeitabhängig, wobei die Zeitabfolge in den allermeisten Fällen eingehalten wird. Die
Zeitabschnitte zwischen den Gewalttaten hingegen verkürzen sich.
Es ist auch zu beobachten, dass die Intensität der Gewalt steigt.
Phase 1: Die Gewalttat
Währenddessen spürt der Mann oder Junge höchstens ein Gefühl
der Erleichterung und Befreiung. Eine Situation, die er ansonsten
ohnmächtig und angstvoll erleben würde, ist er endlich wieder
aktiv geworden. ... Er weiß nicht was er tut und kann sich oftmals
an nichts erinnern.
Die Entscheidung darüber, ob in einer Konfliktsituation, in der das
Gefühl der Ohnmacht entsteht, Gewalt angewendet wird oder
nicht, wird jedesmal aufs Neue getroffen. Gewalt wird also immer
bewußt und willentlich eingesetzt. Der Täter ist für seine Tat verantwortlich und nie das Opfer.
Phase 2: Aufwachen
Plötzlich wird ihm bewusst, was er getan hat. ...
Dieser Moment findet kurz nach der Gewalttat statt.
Verstehende
Jungenarbeit ist ...
Phase 3: Reue und Scham
Der Mann wünscht sich nichts mehr, als das Geschehene ungeschehen zu machen. Er bittet die Frau um Verzeihung und schwört,
dass »so etwas« nie wieder vorkommt. ... Der Wechsel zwischen
Gewalt und der netten, zuvorkommenden, liebevollen Art des
Mannes ist für die Frau verwirrend. ... Das macht Angst.
Die Beschäftigung mit werdenden Männern hat viele Namen:
Burschenarbeit, Bubenarbeit oder Jungenarbeit werden die Adjektive geschlechtsspezifisch oder geschlechtssensibel beigefügt.
Historisch betrachtet ist die Bubenarbeit als Folge der feministischen Mädchenarbeit zu sehen. Die Inhalte sind jedoch im Großen
und Ganzen sehr ähnlich: Mittels Begleitung eines Erwachsenen
sollen die Heranwachsenden angeleitet werden über die in ihrer
Sozialisation angenommenen (Geschlechter-)Rollen nachzudenken
und diese nach Möglichkeit zu erweitern. Die Gespräche drehen
sich dabei im Wesentlichen um die Themen Sexualität, Gewalt,
Freizeitgestaltung, Beruf, Beziehungen, Familie und die damit
zusammenhängenden Rollen.
Phase 4: Verantwortung abgeben
Bis dahin ist dem Mann oder Jungen auch noch klar, dass er Gewalt
ausgeübt hat. Aber diese Gewalt war `irgendwie´ über ihn gekommen, er war unkontrolliert, er wusste nicht, was er tat. ... Der Täter
wird also anfangen darüber nachzudenken, wie es dazu kommen
konnte. Er sucht nach Ursachen. ... In dieser Phase gibt er die Verantwortung ab, indem er die Schuld bei seiner Frau sucht. Beide
unterscheiden nicht zwischen Verantwortung und Schuld. ... Wir
benützen das Wort Verantwortung um auch eine Möglichkeit der
Veränderung deutlich zu machen. Wenn von Schuld gesprochen
wird, geht es nur um richtig oder falsch. ...
Die Partnerin ist oft bereit, auf die Verantwortungsabwehr des
Mannes positiv zu reagieren und nimmt die Verantwortung auf
sich. ... Die Konsequenz davon ist, dass sich der Mann nicht mehr
verantwortlich fühlt.
Verstehende Jungenarbeit® geht von folgenden Prämissen aus:
»
Geschlechtstypisches Verhalten ist nicht angeboren, sondern
anerzogen. Es ist gelernt und kann verändert werden.
» Das vorherrschende Bild vom Mann, dem alle Männer nachstreben, ist eine »Idealisierung«, die kein Mann je erreicht.
Selbst »Rambo« ist privat nur Silvester Stallone.
» Sogenannte »männliche Tugenden«, wie Selbstbeherrschung,
Gelassenheit (cool sein), festigkeit, Distanziertheit, Stärke,
Überlegenheit, Neigung zur Gewalt, Strenge usw. machen in
ihrer männlichen Idealisierung eine Panzerung des Gefühlslebens und des Körpers notwendig, so dass sich der Junge/Mann
täglich selbst Gewalt antun muss um diese Fassade aufrecht zu
erhalten.
Phase 5: Schweigen
Eine Auseinandersetzung über die Gewalt und die Konflikte, die ihr
zu Grunde liegen wird vermieden. Es ... findet kein Gespräch über
die Gewalt statt. ... Wenn die Phase des Schweigens erreicht ist, ist
garantiert, dass es wieder zu Gewalt kommt. Es braucht nur einen
erneuten Anlass zu geben.
Phase 6: Ohnmachtsgefühl
Die Erinnerung an die Gewalt ist noch präsent. Die alten – ungelösten – Konflikte erzeugen bald wieder die Gefahr von Gefühlen der
Ohnmacht, die von Jungen und Männern durch Gewalt abgewehrt
wird.« (LEMPERT/OELEMANN 2000, S. 86)
36
Das alltägliche Gefühlsleben bewusst in die eigenen Hände zu
nehmen; ...
» Sensibler zu werden für fremde und eigene Bedürfnisse, überhaupt für den zwischenmenschlichen Umgang; im psychologischen Sinn meint dies »Kontaktfähigkeit«.
» Zu erfahren, dass auch Männer mit Gefühlen und Wärme
begabt sind.
» Durch Abbau der typisch männlichen Gefühlsabwehr neue
Erfahrungen mit allen Sinnen, mit dem eigenen Körper zu
machen um sich selbst besser wahrzunehmen.« (LEMPERT/
OELEMANN 2000, S. 91f)
Das ist nicht nur unsere Chance für die Kontaktaufnahme mit
Buben sondern auch unser wichtigstes Kapital in der Arbeit. »Man
muss davon ausgehen, dass Jungen in der Regel sehr wenig geübt
sind, ihre eigene Geschlechterrolle als Teil ihrer Identität zu erleben. In der Arbeit mit Jungen muss stärker noch als bei Mädchen
am Anfang eine Sensibilisierung für das eigene Geschlecht stehen.
Das vordringliche Ziel unserer Arbeit ist also, Jungen bewusst
zumachen, welche Auswirkungen ihr eigenes, zum Teil gewalttätiges Verhalten für sie selbst, für andere Jungen, für Mädchen
und Frauen hat.« (LEMPERT/ OELEMANN 2000, S.90) Verstehende
Jungenarbeit meint also, den Burschen auf einer Ebene zu begegnen, die das gemeinsame Geschlecht und den damit verbundenen
Erfahrungen, Raum gibt. Dieser Raum bietet den Rahmen für das
Lernen am lebendigen Vorbild.
Geschlechtssensible Burschenarbeit fängt zunächst bei uns Männern selbst an. Wir sollten wissen was für Männer und wie wir
Männer sein wollen, um mit Burschen daran arbeiten zu können,
selbst gestaltend ihre Geschlechterrolle zu entwerfen und zu leben.
Verstehende Jungenarbeit® ist daher im Sinne eines »stehen für«
zu verstehen, denn Buben brauchen die Solidarität von uns Männern zum Reifen. Kontaktfähigkeit kann nur im Kontakt mit anderen erlebt und erlernt werden. Vielen jungen/werdenden Männern
fehlt es an erwachsenen Vorbildern (Stichwort »die abwesenden
Väter«), die bereit sind authentisch zu vermitteln, was es heißt ein
Mann (mit Stärken und Schwächen) zu sein. Denn den Burschen
geht es grundsätzlich nicht so viel anders wie uns Männern. Sollte
es einmal einen Katalog der Merksätze für die geschlechtsensible
Burschenarbeit geben, dann sollte folgender Satz darin vorkommt:
Wir haben mit den Burschen mehr gemeinsam als uns trennt.
»Geschlechterreflektierte Arbeit mit männlichen Kindern und
Jugendlichen ist eine psychologische, pädagogische und sozialarbeiterische Herangehensweise in der Jugendarbeit, die männliche Lebenswelten und männliche Sozialisation in Inhalten und
Methoden berücksichtigt. Durch diese Grundhaltung wollen wir
die Handlungsspielräume heranwachsender Männer erweitern.
Wir fördern dadurch Buben und Burschen in ihrer Entwicklung zu
emotional aufmerksamen, selbstbewussten und sozial verantwortlichen Persönlichkeiten. Wir sind solidarisch und parteilich mit Buben und Burschen und vertreten ein partnerschaftliches Miteinander der Geschlechter. Für diese Arbeit sind Männer unerlässlich.«
(Positionspapier des Arbeitskreis Burschen Arbeit Salzburg, 2000)
Das verlangt von uns Männern, die diese Arbeit leisten, die Bereitschaft unser Tun auch laufend neu zu reflektieren. Burschenarbeit
ist Selbsterfahrung und setzt diese voraus. Die Fragen nach den
Jungenarbeit, so wie wir sie verstehen, stellt einen Raum zur
Verfügung, in dem Jungen lernen können: ...
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Das Erspüren können von momentanen Befindlichkeiten und diese
ausdrücken zu können, heißt zu lernen aggressiv zu sein und dies
wiederum bedeutet auf Gewalt verzichten zu können. Hierin haben
viele junge Männer einen Nachholbedarf, den wir zu einem gewissen Teil in unseren Veranstaltungen erfüllen.
Methoden und Rahmenbedingungen sind nicht unwichtig, aber sie
sind zweitrangig und nach pragmatischen Gesichtspunkten veränderbar. »Jungenarbeit ist (...) keine Frage der Methodik, sondern
eine Frage der Haltung. Haltung setzt ein hohes Maß an Selbsterfahrung voraus. Daraus resultiert, dass die männlichen Betreuer
einen guten Kontakt zu dem kleinen Jungen in sich selbst haben
müssen. Diese Nähe ist aber bei den meisten Männern verschüttet.« (LEMPERT/OELEMANN 2000, S. 93) Diese Nähe herzustellen,
ist die Herausforderung in der Burschenarbeit.
Überarbeitete Fassung 2011
Die Projektarbeit die uns die hier veröffentlichten Ansichten und
Einsichten ermöglichte, wurde gefördert von: Salzburger Landesregierung, Stadt Salzburg, Bundesministerium für soziale Sicherheit
und Generationen.
Verstehende Jungenarbeit
ist gewaltpräventiv
Dieser Artikel wurde in der ersten Fassung publiziert: Verstehende
Jungenarbeit als gewaltpräventives Handlungskonzept, Harald
Burgauner und Rainer Konderla
In: Karin Lauermann, Gerald Knapp (Hrsg.) Sozialpädagogik in
Österreich Perspektiven in Theorie und Praxis (Verlag Mohorjeva
Hermagoras, Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/ Laibach –
Wien/Dunaj) 2003. ISBN 3-85013-996-4
Aus all dem bisher Gesagten geht hervor, dass ...
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der Gewaltkreislauf durchbrochen werden kann, wenn der
Täter die Verantwortung für sein Handeln übernimmt.
dies kann er dann, wenn er sich seinen Gefühlen stellt.
das Wahrnehmen und Benennen von Gefühlen ist für Männer
kaum möglich, weil es nicht zu typisch männlichen Qualitäten
gehört und deshalb in der Erziehung kaum gefördert wird.
diese Fähigkeiten können ins Geschlechtsrollenbild aufgenommen werden und die Kinder und Jugendlichen kontaktfähiger,
sensibler, gefühlsbewusster und selbstbewußter werden.
dadurch ist die Wahrscheinlichkeit, dass in Konfliktsituationen
auf das Mittel der Gewalt zurückgegriffen werden muss, verringert.
Literatur
LEMPERT, J./ OELEMANN, B.: Endlich selbstbewusst und stark. Gewaltpädagogik nach
dem Hamburger Modell – Ein Lernbrief.
OLE Verlag. Hamburg 2000.
Gewaltprävention
ist Burschensache
SCHWIND, H. D. (Hg.): Ursachen, Prävention,
und Kontrolle von Gewalt: Analyse und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung
von Gewalt (Gewaltkommission). Bd.I,
Berlin 1990.
Wenn man der Prämisse folgen kann, dass Gewalt im engeren
Sinne, also das Schlagen, Treten, Schubsen und ähnliches hauptsächlich von Männern und Burschen ausgeübt wird, dann ist klar,
dass auch bei den vorbeugenden Maßnahmen das Augenmerk
vornehmlich auf Männer gelegt werden muss.
POPP, U.: Geschlechtersozialisation und
Gewalt an Schulen, in: Holtappels, Heinz
Günter u.a. (Hg.), Forschung über Gewalt an
Schulen.Juventa.Weinheim/ München 1999
In der Durchführung unserer Gewaltpräventionsworkshops haben
wir die Erfahrung gemacht, dass vielen jungen Männern die Sprache für ihr ureigenstes Selbst nämlich ihr »Mann-sein« fehlt. Das
Bild, dass viele Jungen von sich haben ist geprägt von sexualisierten Vorurteilen und dem Begriff der »Coolnes«. Umfassend kann
das Selbstbild dieser werdenden Männer mit dem Wort »Abwertung« beschrieben werden. Der Mann bestätigt sich als solcher im
Tun und nicht im Sein. Er erweist sich als Mann durch das, was er
leistet und nicht durch das was er fühlt.
SCHROFFENEGGER, G. / SCHWEIGHOFER A.
/ GNAIGER A. : Bubenarbeit in Österreich I
+ II , Eigentümer und Herausgeber Republik
Österreich, Bundesministerium für soziale
Sicherheit und Generationen,
Wien, 2. Auflage, 2000
Diese einseitige Verengung auf quantitativ fassbare Ergebnisse
birgt zwei große Gefahr in sich:
PLATTFORM GEGEN DIE GEWALT IN DER FAMILIE, »Gewaltprävention durch Mädchenund Bubenarbeit in der außerschulischen
Jugendarbeit« Eigentümer und Herausgeber
Republik Österreich, Bundesministerium für
soziale Sicherheit und Generationen,
Wien 1996
»
nämlich, dass er in Situationen, deren er nicht mehr »Herr«
werden kann, diese mit dem Mittel der Gewalt wieder für sich
ins Lot bringt.
» Die Quantifizierung hat zudem noch den Effekt der Messbarkeit, also der Vergleichbarkeit. Sehr schnell geht es dann
darum besser zu sein. Also um Rangordnung. Immer wieder
kann die Herstellung der »richtigen« Ordnung eskalieren und
zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen.
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