KONTAKT KULTUR KOMPETENZ Warum brauchen Burschen Männer? Möglichkeiten und Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenberatung Salzburg, aktualisiert April 2015 Inhalt 01. Kontakt – Kultur – Kompetenz Jungenarbeit aus der Perspektive der Männerberatung . . . . . . . . . . . . 04 02. Warum brauchen Burschen Männer? »Möglichkeiten und Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenberatung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 08 03. Jungenarbeit im internationalen Vergleich » Tagung in Wien: Bubenarbeit im internationalen Vergleich . . . . . . . . 23 » Niederlande: Der Idealbub ist ein Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 » Südtirol: Ein Junge ist ein Junge ... ist doch kein Junge . . . . . . . . . . . . 26 04. Verstehende Jungenarbeit als gewaltpräventives Handlungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Impressum: Männerwelten Verein Männer gegen Männer-Gewalt Bergstrasse 22, 5020 Salzburg www.maennerwelten.at Redaktion: Mag. Harald Burgauner Bert van Leerdam © 2012 Männerwelten Gestaltung: Yvonne Nicko, akzente Salzburg Fotos: Shutterstock.com Rückfragen: Referat für Jugend, Generationen, Integration Gstättengasse 10, 5020 Salzburg, Tel.: 0662/8042 – 2117, [email protected] Gefördert aus Mitteln vom: 2 4 Vorwort Die Jugendarbeit beinhaltet die geschlechtergerechte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten von Mädchen und Jungen. Neben der Mädchenarbeit, ist die spezifische Jungenarbeit ein wichtiger Schwerpunkt bei der Arbeit mit Jugendlichen. Burschen brauchen Räume und Angebote um sich entwickeln zu können, fernab von vorgegebenen Rollenbildern. Neben der Reflexion, steht auch die Gewaltprävention im Fokus. Geschlechterspezifische Methoden müssen dabei um- bzw. eingesetzt werden. Und so möchte ich nun vier von diesen Fragen herausgreifen: Fragen, die uns im Jetzt bewegen. Zunächst eine Frage, die mit unserer Jugend zu tun hat, damit, wie wir durchs Leben gehen, mit dem Morgen. Und das ist eine Frage, die sich jeden Morgen neu stellt. Oder sich jedes Jahr mit dem Frühling erneuert. Diese Frage am Morgen heißt: »Wonach sehnen wir uns?« Wonach sehnen wir uns eigentlich? Die Frage, die sich uns dann in der Lebensmitte stellt, am Mittag, im Sommer unseres Lebens, das ist die Frage: »Wie können wir überstehen?« – Wenn alles auf uns hereinbricht, wenn alles unter uns zusammenbricht: Wie können wir überstehen? Und dann eine dritte Frage, die Frage der Lebens reife, des Herbstes, des Abends: »Woran reifen wir?« – Nicht in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit, sondern jetzt, im gegenwärtigen Augenblick: Was macht uns jetzt reifen? Und schließlich für die Lebensneige, für den Winter, für die Nacht die Frage: »Was tröstet uns?« Die Erwartungen an die Jugendlichen und die damit verbunden Geschlechterrollen von Burschen und Mädchen sind viel differenzierter und flexibler geworden. Diese durchaus positive Veränderung birgt für viele Burschen und Männer eine Herausforderung. Was früher noch als typisch männlich galt, ist heute viel individueller und vielfältiger. Die Jugend ist einfühlsam und kraftvoll zugleich, kreativ und pragmatisch. Eigenschaften, die früher nur Mädchen zugesprochen worden sind, werden nun auch für Burschen im positiven Sinn verwendet. Es ist schon lange nicht mehr „uncool“, sensibel, musikalisch, friedliebend oder sanftmütig zu sein. Was aber Burschen jedenfalls brauchen, sind männliche Vorbilder, die Zeit für sie haben. Das beginnt bereits im Frühkindalter, vor allem in der Kinderbetreuung und Elementarpädagogik. Daher kann es nur unser Anliegen sein, mehr Männer für pädagogische Berufe zu motivieren. Fragen © David Steindl-Rast »Und ich mag mich nicht bewahren« ? ? Burschen brauchen aber auch ihre Väter. Väter die den Mut haben, von den vielfältigen Karenzmöglichkeiten Gebrauch zu machen und selbst bei ihren Kindern zu Hause zu bleiben. Und auch in schwierigen Lebensabschnitten, wie der Pubertät, ist eine männliche Begleitung für Burschen von großer Wichtigkeit. Wir sind davon überzeugt, dass diese Studie wertvolle Anregungen für die praktische Jungenarbeit liefert und freuen uns, wenn Sie als LeserIn Anregungen für Ihre (pädagogische) Arbeit finden. Wir danken dem Verein Männer gegen Männer-Gewalt „Männerwelten“ und allen ExpertInnen, die diese wichtigen Erkenntnisse aus der Jungen- bzw. Burschenarbeit zusammengetragen haben. ? Landesrätin Martina Berthold und Landesjugendreferent Wolfgang Schick 3 Kontakt - Kultur - Kompetenz Jungenarbeit aus der Perspektive der Männerberatung Der Auftrag des Salzburger Landesjugendreferates zu einer Studie über Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Jungenarbeit bietet uns die Gelegenheit die Argumentation für geschlechtsensible Jungenarbeit bzw. Burschenarbeit zu reflektieren und einen wissenschaftlichen Blick auf den Hintergrund unserer Praxis zu legen. Die Jungenarbeit der Männerberatungen in Österreich ist ein in ganz Österreich präsentes Angebot zur geschlechtspezifischen Arbeit mit Burschen, das sich durch regen und über Jahre gewachsenen fachlichen Austausch kennzeichnet. Die Angebote der Männerberatungen werden in der Regel von Schulen und Institutionen angefordert, wenn eine Gruppe von Jungen »Symptome« aufweist, daher wird das Geschlechtsspezifische in den Rahmenbedingungen von der gemeinsamen »Problemlage« der Jungen bestimmt. Markus Stüger zeigt in seiner Bachelor-Arbeit, wie sehr Jungenarbeit letztlich aus der am Defizit orientierten Sicht auf Buben und männliche Jugendliche ihre Notwendigkeit ableitet. Gewalt, Sucht, Sexismus, höhere Siuzidalität (70% der Suizide werden von Männern begangen), politisch rechtsextreme Gruppierungen mit hoher Gewaltbereitschaft etc. sind einige der meist genannten Gründe warum PädagogInnen Jungenarbeit fordern. In diesem Sinne ist Jungenarbeit eine besondere Form der Kriminalprävention. Buben und junge Männer brauchen Unterstützung bei der Entwicklung ihrer Identität und um sich zu orientieren. Es gibt keine allgemeingültigen Konzepte mehr für Weiblichkeit und Männlichkeit. Die Lebensbedingungen von Frauen und Männern, von Mädchen und Buben haben sich stark verändert und somit sind die Erwartungen an die Geschlechterrolle und deren Ausgestaltung flexibler und differenzierter geworden. Diese durchaus positive Entwicklung ist für viele Männer eine Herausforderung, die auch für Buben spürbar wird.« Philipp Leeb auf www.gender.schule.at (12.2011) Auf der Webseite www.gender.schule.at findet sich folgender Text von Philipp Leeb in dem noch einmal deutlich wird, wie der Blick auf Jungen heute geprägt ist: »Bildungsverlierer, Störenfried und Rabauke!?« Bubenarbeit muss mit den Interessen, Erfahrungen und Meinungen der Jungen beginnen.« schreiben Ende der Achtziger die Wissenschafterinnen Sue Askew und Carol Ross in ihrem Aufsatz «Boys Don‘t Cry«. Der differenzierte Blick auf Buben und männliche Jugendliche ist in der pädagogischen Arbeit immer notwendiger geworden. Als Ergänzung zur Mädchenarbeit ist die Bubenarbeit mittlerweile ein sehr wichtiges Instrument zur Gewaltprävention geworden. In der außerschulischen Arbeit hat sich gezeigt, dass Bubenarbeit aufgrund fehlender oder zweifelhafter Männlichkeitsentwürfe immer notwendiger wurde. Jungenarbeit ist im internationalen Vergleich eine Notwendigkeit die von PädagogInnen gefordert wird. Gleichzeitig ist dieser Arbeitsansatz nach wie vor eine exotische Blüte, die im Alltag der Pädagogik kaum eine Rolle spielt. Sieht man jedoch auch die Liste von Publikationen, Tagungen, Weiterbildungen die vor allem im letzten Jahrzehnt das Thema weiter entwickelt haben, dann wird deutlich, dass Jungenarbeit ein Ansatz ist, den man als Versuch werten kann, die viel zitierte »Feminisierung der Pädagogik« zu ergänzen. Jungenarbeit wie sie von den Männerberatungen und anderen kritischen Männerprojekten betrieben wird, versteht sich jedoch nicht als Gegenbewegung. Jungenarbeiter fokussieren die Bedürftigkeit der Jungen nach männlichen Inputs, die sie zur Entwicklung ihrer individuellen Männlichkeit brauchen. 4 Jungen und Burschen brauchen Gender-Kompetenz Gender-Kompetenz ist letztlich die Fähigkeit Geschlecht als Chance zu sehen und nicht als Handicap. Dies erfordert aber zunächst eine Umorientierung der PädagogInnen, denn der Defizit orientierter Zugang ist zunächst das Problem der erwachsenen Frauen und Männer, die mit den Jungen konfrontiert sind. Richtung weisend kann da der Ansatz der inklusionsorientierten Jungenpädagogik wie er von Jo Jerg, Günter Neubauer und Harald Sickinger vertreten wird. Dieser Zugang sieht Vielfalt als Chance und stellt das was Jungen verbindet in den Vordergrund. Dies meint im Speziellen auch die bereiche »Behinderung« und »Migration« die nach wie vor für Burschen (und Mädchen) ein Ausgrenzungskriterium für unser Bildungssystem darstellen. Am deutlichsten sichtbar ist das durch den überhöhten Anteil von Burschen mit Migrationshintergrund in Sonderschulen, die an und für sich ein Mittel der »pädagogisch« argumentierten strukturellen Gewalt darstellen. Der Ansatz der Inklusionsorientierten Jungenpädagogik wird in 7 Basistexten vorgestellt, die im Rahmen eines Praxisforschungsprojektes des Pfunzkerle e.V. Fachstelle Jungen- und Männerarbeit Tübingen erarbeitet wurden. (www.pfunzkerle.de) Jungenarbeit braucht neben dem Anspruch der Gewaltprävention jedoch einen weiter gefassten Ansatz und Jungenarbeit braucht positiv formulierte Ziele. Dies wird im deutschen Sprachraum vor allem durch den Ansatz »Boysday« vertreten, der die Berufswahl von Burschen fokussiert. Auf der Webseite www.neue-wegefuer-jungs.de findet sich ein solcher Zugang. Das Netzwerk will Organisationen unterstützen, die »schulische und außerschulische Angebote für Jungen zur Erweiterung der Berufs- und Studienfachwahl, der Flexibilisierung männlicher Rollenbilder und zum Ausbau sozialer Kompetenzen organisieren.« (www.neue-wege-fuer.jungs.de 12.2011) Die Webseite www.boysday.at des BMASK verfolgt dasselbe Ziel und spricht auf der ersten Seite die Burschen direkt an: »BOYS‘ DAY - BURSCHEN IN SOZIALBERUFEN. TYPISCH MÄNNLICH / TYPISCH WEIBLICH: MAL SEHEN, OB DAS STIMMT. In dem Aufsatz »Cool aber einsam … wie jungen Leben erleben« schreibt Burkhard Oelemann: »Nur eine eindeutig solidarisch begleitende Haltung für Jungen nimmt sie in ihren Problemen und Schwierigkeiten ernst und ermöglicht ihnen eben die emotionale Öffnung, die zur Veränderung nötig ist. Jungen suchen Halt und Orientierung bei Männern, bei den Frauen suchen sie auch Verständnis für die schwierigen Aspekte des Jungeseins. Solidarisch begleitend bedeutet, die Jungen vor dem Hintergrund ihrer Stärken, ihrer Neigungen und ihrer Schwierigkeiten zu sehen, sie wirklich in Gänze wahrzunehmen, anstelle sie als Personen mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit abzuwerten. Unbedingte Voraussetzung hierfür ist die ehrliche Reflexion des eigenen Bildes von Männern und Männlichkeit. (…). Die solidarisch begleitende Haltung bedeutet keineswegs, den Jungen alle Verhaltensauffälligkeiten kommentarlos durchgehen zu lassen.« (Burkhard Oelemann, http://www. eduhi.at/dl/Cool_aber_einsam.pdf 12.2011) BOYS´ DAY, was ist denn das? Ein Tag, an dem Du Berufe kennen lernst, die Du nicht kennst. WIE? Berufe, in denen man mit Kindern, mit Kranken oder mit alten Menschen arbeitet. Ok, meist arbeiten Frauen in solchen Einrichtungen. Aber wir Männer können das auch, und wir werden dringend gebraucht! Beim BOYS´ DAY kannst Du Dir diese Berufe einmal anschauen, unverbindlich. UND WO? Zum Beispiel in Spitälern, Kinder- und Jugend-Betreuungseinrichtungen, Schulen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen. Burschen sollen sich für Berufe entscheiden, die normalerweise hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden. WARUM SOLLEN SIE DAS? Weil Burschen unglaublich viele Fähigkeiten haben, von denen sie (noch) wenig wissen: Sie können einfühlsam sein und kraftvoll, sie können die Bedürfnisse anderer erkennen und gut organisieren. Und, und, und!« www.boysday.at 12.2011) 5 Jungenarbeit braucht Männer Jungen (und später Männern) wird in Momenten der subjektiv erlebten Hilflosigkeit, auf sexistische Muster, männliches Dominanzverhalten und Gewaltakte zurückgegriffen. Damit soll eine prekär gewordene Selbstsicherheit kurzfristig wieder hergestellt werden. Gewaltpräventive Handlungsansätze in der Jungenarbeit setzen sich daher zum Ziel, für Jungen Erlebnis-, Beziehungs- und Lernräume zu schaffen, in denen ein vielfältiges Junge-Sein möglich ist. Für die Bewältigung kritischer Lebensmomente und -ereignisse, sollen den Jungen geeignete und angemessene Formen zur Verfügung stehen. Um dieses Ziel zu erreichen bedarf es vor allem männlicher Jungenarbeiter. Wenn diese als Begleit- und Bezugspersonen zur Verfügung stehen, können realistische und gewaltfreie Entwürfe von Junge-Sein / Mann-Sein möglich werden.« (Präambel Curriculum Jungenarbeit) Im Rahmen der Plattform gegen Gewalt in der Familie des BMWFJ gibt es seit 2000 den Bereich »Geschlechtsspezifische Burschenund Männerarbeit«. Die Bereichsprojekte der letzten Jahre boten ein regelmäßiges Reflexions- und Entwicklungsforum für diesen neuen Arbeitsbereich. Ein zentrales Ergebnis aus dieser Österreich weiten Zusammenarbeit der Männerberatungen war die Erarbeitung eines Curriculums zur Qualifizierung von Männern für die geschlechtsspezifische Arbeit mit Burschen. Aus der Präambel des Curriculums: »Gewaltpräventive Jungenarbeit nimmt die Jugendlichen bewusst und gezielt als Geschlechtswesen wahr. Die Sozialisation von Jungen und Mädchen hat dabei gemeinsame und unterschiedliche Belastungen. Im Prozess der männlichen Sozialisation ist das Risiko der sozialen Ausgrenzung und Lächerlichmachung für viele Jungen allgegenwärtig. Wer etwa empathische, emotionale und sozial-kooperative Seiten zeigt, läuft Gefahr als »Weichei«, «Schwächling« o.ä. ausgegrenzt zu werden. Jungenarbeit braucht Rahmenbedingungen und dazu zählt primär die Qualifikation der Männer, die die Arbeit leisten sollen. Diese Qualifikation ist aus unserer Erfahrung mit drei Aspekten zu erreichen: » » Theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik Selbstreflexion und Selbsterfahrung zu Männlichkeiten und ihren Implikationen » Einbindung in ein Team, das die laufende Reflexion der Arbeit ermöglicht. Unter diesen Bedingungen resultieren bei vielen Jungen Defizite im eigenen Selbstwertgefühl und der sozialen Kompetenz. Dies führt zu vielen psychischen Problemen und sozialen Auffälligkeiten, wie sie etwa im Bereich Risikoverhalten, Suizid, Sucht oder sexueller Missbrauch vielfach dokumentiert sind. Beim Gewalthandeln von 6 Jungenarbeit in verschiedenen Settings Im Idealfall ist der entsprechende Standard über die Absolvierung eines Curriculums zu erreichen, wie es die Arbeitsgruppe der Österreichischen Männerberatungen vorgelegt hat. Derzeit erscheint jedoch eine Finanzierung solcher Maßnahmen aussichtslos. In der Präambel zum Curriculum schreibt die Arbeitsgruppe: »Um diese Arbeit und Beziehungsgestaltung im pädagogischen Feld leisten zu können bedarf es mehr als einer bloß theoretisch-fachlichen Kompetenz. Die Sensibilisierung der Jungenarbeiter für sich selbst im Prozess des eigenen Mann-Seins und damit verbunden den eigenen Männer- und Frauenbildern kommt hier eine zentrale Bedeutung zu.« Dasselbe gilt für den Methodendiskurs in der Jungenarbeit. Als Beispiel zwei Zitate aus einer Beitrag von Andreas Haase in »Switchboard – Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit« in dem er die Teilnehmer einer praxisbegleitenden Qualifizierungsmassnahme zu Wort kommen lässt: Ein Teilnehmer stellt fest: » Ich kann mich noch gut an das erste Modul erinnern, als wir alle gesagt haben, wir möchten gerne mehr Methoden kennen lernen. Und es hat ein bischen gedauert, bis es »Klick« gemacht hat und ich für mich begriffen habe, dass die Methoden alle da sind, dass man sie nur geschlechtsspezifisch reflektieren und umsetzen muss bzw. so einsetzen muss, dass sie zu den Jungen passen.« Die häufigste »Form« von Jungenarbeit, die aus den letzten Jahren Dokumentiert wurde, beschreibt das Gruppensetting. Workshops oder regelmäßige Meetings in Schulen oder Jugendzentren, bei denen ein oder zwei meist männliche – manchmal Paare – von Pädagogen mit einer Gruppe von 6 – 16 Jungen arbeiten. Dies ist sicher auch die effizienteste Art des Angebots unter dem Aspekt, dass mit knappen Ressourcen möglichst viele junge Männer erreicht werden sollen. In diesem Rahmen werden Themen oft durch das »Programm« bestimmt und durch die aktuellen Anliegen der jungen ergänzt. Auch inhaltlich erscheint das Gruppensetting in vielerlei Hinsicht zielführend und geeignet, um die Anliegen der Jungenarbeit umszusetzen. Die geschlechtsspezifische Arbeitsweise mit Buben und Burschen ist jedoch auch für Beratungs- und Betreuungssettings ein bereichernder Ansatz. Die Männerberatungsstellen sind oft mit jungen Männern als Klienten betraut, die die Einzelsitzungen mit den Beratern mit einer außergewöhnlichen Verlässlichkeit nutzen. Viele unserer jungen Klienten machen in den Gesprächen in den Beratungsstellen zum ersten Mal die Erfahrung, einige Stunden exklusiv mit einem erwachsenen Mann verbringen zu können, wo es um Ihre Befindlichkeiten, Wünsche, Anliegen, Erfahrungen geht. Jungen brauchen – neben Frauen – auch Männer. Ein anderer Teilnehmer bringt es so auf den Punkt: » Die Fortbildung hat meinen Warenkorb der Möglichkeiten, mit den Jungs methodisch zu arbeiten, eindeutig erhöht. Noch interessanter finde ich die anderen beiden Aspekte: die Selbstreflexion als Mann und – viel entscheidender für mich – dass beide Referenten eine Haltung vorgelebt haben, die sehr viel mit »Bevatern« der Jungen, sehr viel mit einem sich Einsetzen für die Belange der Jungs zu tun hat. Und sehr viel damit zu tun hat, die Jungs da abzuholen, wo sie stehen.« (Switchboard Nr. 188 S. 7) Männerberatungen bieten für manche dieser jungen Männer den Raum und die Zeit und die Präsenz von Männern, die sie zur Entwicklung ihrer Männlichkeit brauchen. In diesem Sinne ist die Einzelberatung von jungen Männern – neben den Gruppensettings – auch ein Doing Gender in dem Burschen Männlichkeit auch anders und differenziert Erleben können. Der zentrale Begriff, um den sich Jungenarbeit immer wieder dreht ist Reflexion. Letztlich ist das einer der gemeinsamen Nenner unter den sich die Jungen- und Burschenarbeit der letzten 2 Jahrzehnte zusammenfassen lässt. In einer Gesellschaft, in der sich Frauen emanzipieren und ihre tradierten Rollen aufbrechen, muss man(n) sich zunehmend seiner eigenen Rolle bewusst werden. In starren gesellschaftlichen Strukturen, reichte es als Mann definiert zu sein. Der Rest der Aufgabe bestand nur mehr darin, dem Normbild »Mann« so gut wie möglich zu entsprechen. Dieses Normbild gibt es nicht mehr, es existiert als Klischee bzw. als Karikatur. Die Jungen wissen das und die Erfahrung von Workshopleitern ist die, dass der große Teil der Jungen sehr dankbar diesen Raum der Reflexion des männlichen oder der Männlichkeiten betritt. Reflexion der eigenen Geschlechterrolle kann jedoch kein Diktat sein sondern bei gelungener Jungenarbeit ein Weg zu mehr Selbstverständnis und die Erfahrung, dass diese Reflexion im Dialog mit anderen stattfinden kann. Harald Burgauner Quellen www.boysday.at www.neue-wege-fuer-jungs.de www.poika.at www.pfunzkerle.de www.sektraining.de Switchboard – Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit by Verlag männerwege 7 BACHELORARBEIT 1 Warum brauchen Burschen Männer? Möglichkeiten und Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenberatung. Inhaltsverzeichnis Studierender: Stüger Markus, 0910626059 Betreuer:Mag. (FH) Clemens Scharre Salzburg, am 29. Dezember 2011 1. Persönliches Interesse an der Thematik . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Einführung und Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Primärsozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Sekundärsozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Tertiärsozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Quartärsozialisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Jungenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Geschlechterhomogene Jungenberatung und Abgrenzung zur Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre hiermit eidesstattlich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst, und keine anderen als die angegeben Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Weiters versichere ich hiermit, dass ich die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungskommission weder im In- noch im Ausland vorgelegt und auch nicht veröffentlicht. 13 13 14 14 15 15 15 16 17 3. Kritik an der Burschenarbeit zu deren Beginn am Ende der 80-er Jahre – Der antisexistische Ansatz. . . . . . 18 3.1. Kritik am anti-sexistischen Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Hallein, am 29. 12. 2011 4. Männlichkeit in Zeiten der Risikogesellschaft . . . . . . . . . . 24 5. Die Dekonstruktion der Geschlechter – Jungenarbeit als Versuchsfeld zu einer neuen Sichtweise von Gemeinschaft und Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 6. Biologistisch-mythopoetischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . 29 7. Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenberatung . . 7.1 Jugend und Pubertät als soziales Konstrukt? . . . . . . . . . . 7.2 Gender-Mainstreaming, Diversitiymanagement und Neoliberalismus: Eine Triage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Gender-Mainstreaming und Neoliberalismus? . . . . . . . . . 7.2.2 »Diversity-Management« und Neoliberalismus? . . . . . . . 8 31 32 34 35 36 8. Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Persönliches Interesse an der Thematik: auftauchendes Problem: „Die Komplementarität der Geschlechterrollen und -funktionen gab beiden Geschlechtern das Gefühl einer je spezifischen Identität.“ (Badinter, 2010, S. 16.) Durch eine Relativierung eben dieser Geschlechtsidentitäten wurden und werden Irritationen bei heranwachsenden Jugendlichen erschaffen, deren Klärung im Sinne sozialarbeiterischer Beratung als Auftrag angesehen wird. Nach mittlerweile sechsjähriger Berufserfahrung in der Jungenarbeit ermöglichte mir ein Langzeitpraktikum in der Beratungsstelle „Männerwelten“ den Einblick in eine neue Form des Umgangs mit den Irritationen, die das Leben für junge Männer bereithält. Die Kombination aus Subjektivität, Fachwissen und Parteilichkeit für die Betroffenen – ohne jedoch ihre Verhaltensweisen zwingend gutheißen zu wollen – führte zu einer bis dato nicht gekannten Qualität des Beziehungsaufbaus. Die gestärkte Compliance als Ergebnis geschlechterhomogener Jungenberatung, die Tatsache also, dass Männer mit Jungen zusammenarbeiten und die klare Abgrenzung zu Arbeitsfeldern wie Mediation oder Familienberatung weckte in kurzer Zeit den Wunsch der Frage: „Warum brauchen Burschen Männer?“ auf den Grund zu gehen. In den einzelnen Kapiteln meiner Arbeit wird das Arbeitsfeld der geschlechterhomogenen Jungenberatung nicht nur von unterschiedlichen konzeptuellen Standpunkten aus betrachtet, sondern erfahren auch eine Diskussion von VertreterInnen der Soziologie, der Pädagogik, der Psychotherapie und der Sozialpädagogik um eine umfassende Beleuchtung sicherzustellen. Am Ende dieser Arbeit wird ein kritischer Ausblick formuliert, der als Basis für weitere Arbeiten dienen könnte – die mögliche Verbindung zwischen „Gender-Mainstreaming“, „Diversity-Management“ und „Neoliberalismus“ könnte den Ausschlag für eine neue Orientierung dieses Berufsfeldes geben. Die Tatsache, dass Jungenarbeit in dieser Form weder in ausreichender Flächendeckung und auch ohne adäquate Finanzierung in Österreich betrieben wird, bestärkte mich in meinem Vorhaben, diese Thematik ins Zentrum meines Interesses zu rücken. „Treiben wir die Unterscheidung anatomisches Geschlecht/Geschlechtsidentität bis an ihre logische Grenze, so deutet sie vielmehr auf eine grundlegende Diskontinuität zwischen den sexuell bestimmten Körpern und den kulturell bedingten Geschlechtsidentitäten hin.“ (Butler, 1991, S. 22 f.) Wie Probleme in diesem Kontext entstehen und welche Lösungsansätze existieren wird im weiteren Verlauf ein Kernthema dieser Arbeit darstellen. 2.2. Sozialisation Die gängigen Sozialisationstheorien können grob in zwei Gruppen mit unterschiedlichem Ansatz eingeteilt werden. Geht die eine vom Ziel der Integration in ein Gesellschaftssystem aus, so stellt der andere Ansatz die Fähigkeit zum Erlernen des sozialen Handelns als Zielsetzung ins Zentrum der Betrachtung. Vgl. (Heinz Abels, 2010). Interessant für den Bereich der Burschenberatung sind die Ansätze von Peter Berger und Thomas Luckmann, welche in ihrem Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ die Mechanismen der Gesellschaft beschreiben, um Verhaltensänderungen bei Einzelpersonen zu erzwingen. Die dort angeführten Systeme werden in weiterer Folge Einfluss in diese Arbeit haben. Die Unterteilung von Sozialisationsabschnitten in die Bereiche von der Primär- bis zur Quartärsozialisation umfasst das Erlernen von sozialen Kompetenzen in unterschiedlichen Lebensperioden und –situationen: Ein Anliegen dieser Arbeit besteht auch darin, das Konzept der geschlechterhomogenen Jungenberatung für SozialarbeiterInnen neu vorzustellen um einen facettenreichen Diskurs zu einem Thema anzuregen, das meiner Ansicht nach vernachlässigt wird. 2.2.1. Primärsozialisation: Der von Cole verwendete Begriff ist im Kontext seiner Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärgruppen zu verstehen, wobei mit Primärgruppen die Familie (oder Individuen mit gleichem Auftrag) und mit Sekundärgruppen soziale Institutionen wie Arbeitsplatz, Kirche, etc. gemeint sind. Der in der Familie stattfindende Prozess der Primärsozialisation bezeichnet „[…] die Herausbildung der Grundpersönlichkeit. Das bedeutet, dass andere soziale Einflüsse an der Konstituierung der Grundpersönlichkeit von untergeordneter Bedeutung sind. In der Primärsozialisation wird demnach entsprechend der familialen Ressourcen sowie der wertbezogenen und normativen Orientierungen eine ganz bestimmte Modifikation gesellschaftlicher Erwartungen und den Umgang damit vermittelt.“ (Mühler, 2008, S. 50) Die Vergesellschaftung beginnt. 2. Einführung und Begriffsklärung: Um die Diskussion rund um gendergerechte Männerberatung konfliktfrei führen zu können, bedarf es an dieser Stelle einer Klärung der Kernbegriffe „Männerberatung“, „Sozialisation“, „Gender“, „Jungenarbeit“ und „geschlechterhomogene Jungen-beratung“. 2.1.Gender: Die Unterscheidung zwischen der Zuweisung von Geschlecht durch die Biologie (sex) und durch gesellschaftliche Zuschreibungen im Sinne eines sozialen Geschlechts (gender) birgt durch eine Neubewertung des (männlichen) Selbstbildes eine der zentralen Aufgaben moderner Männerberatung. „Der Begriff „Gender“ verweist auf inhaltliche Bedeutungsverschiebungen: Wurde anfangs „Geschlecht“ als eine gegebene Voraussetzung interpretiert, die eine Politik des Kampfes um Teilhabe (Gleichheit) und Anerkennung (Differenz) nach sich zog, stellt der seit den 1990er Jahren eingeführte Begriff „Gender“ eher eine Analysekategorie des sozial hergestellten Geschlechts als Folge einer gesellschaftlichen Ungleichheitsordnung dar.“ (Bitzan, 2011, S. 500) Die Dekonstruktion von Geschlechtlichkeit im Sinne des tradierten Dualismus „männlich“-„weiblich“ birgt ein immer wieder 2.2.2. Sekundärsozialisation: Basierend auf den Ergebnissen der Primärsozialisation beginnt das Individuum in der nächsten Phase, seinen Platz und Einfluss in Gruppen zu finden. Peergroups werden zum zentralen Mittel des nächsten Schrittes in Richtung Vergesellschaftung, während die Familie an Einfluss stark verliert. „Sekundäre Sozialisation ist jeder spätere Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Abschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist.“ (Berger, Luckmann: zit. in Mühler 2008, S. 47) Durch die Tatsache, dass in diesem (bis ans Lebensende dauernden) Sozialisationsprozess Verhaltensweisen der Individuen auch in Bezug auf ihre Geschlechteridentität bewertet werden, verändert sich der performative doing-gender Aspekt – speziell durch die Einflussnahme von Medien: „Ungeachtet der zum Teil gegensätzlichen theoreti- 9 2.3. Jungenarbeit Definitionen: „Ziel [der Jungenarbeit] sei es, den heranwachsenden männlichen Jugendlichen die gesellschaftspolitischen Ziele und die Männlichkeitsvorstellungen der Männerbewegung schmackhaft zu machen.“ (Hoffmann, zit. in: Holz 2008) „Unter „Jungenarbeit“ wird die geschlechtsbezogene pädagogische Arbeit erwachsener Männer (Fachkräfte) mit Jungen verstanden“. (Reinhard Winter, 2006, S. 9) Ausdrücklich sei hier festgehalten, dass die Arbeit mit sogenannten „Jungen mit Migrationshintergrund“ als selbstverständlicher Teil der Jungenarbeit verstanden werden muss. Der Begriff wird aufgrund seiner diskriminierenden Wirkung in dieser Arbeit in weiterer Folge nicht verwendet. schen Standpunkte scheint dennoch sicher zu sein, dass Medien, insbesondere solche, die sich direkt an Jugendliche und Heranwachsende wenden, Leitbilder vermitteln, welche auf Prozesse der Identitätsbildung nachhaltig wirken können.“ (Mühler, 2008, S. 47) 2.2.3. Tertiärsozialisation Diese Phase bezeichnet die Sozialisation in der Adoleszenz. Das Erreichen eines gesellschaftlichen Status und die Aneignung der dafür notwendigen Strategien nehmen eine zentrale Bedeutung ein. „Die sozialisatorisch vermittelten Wirkungen betreffen die Erringung eines sozialen Gesamtstatus und des Umgangs damit.“ (Mühler, 2008, S. 48) Aufgrund der Tatsache, dass die zu beratenden Burschen in ihrer überwiegenden Mehrzahl in früherem Alter Unterstützung suchen, halte ich die Beschreibung von Tertiär- und Quartärsozialisation kurz. Während die Ursprünge der geschlechtssensiblen Burschen- oder Jungenarbeit im Deutschland der 80-er Jahre zu finden sind, ist die Veränderung von Geschlechteridentitäten im Sinne der Veränderung ihrer sozialen Rollen und Aufgaben wesentlich älter. Ich beginne mit der Zeit des Nationalsozialismus, da der Rahmen dieser Arbeit andererseits gesprengt werden würde. Die biologistischdogmatische Geschlechterzuschreibung der Nationalsozialisten erlaubte sehr wohl die Manipulation der sozialen Rolle von männlichen Jugendlichen. Als (parteipolitisches) Ideal wurden körperliche Fitness, die gesteigerte Fähigkeit Leid zu ertragen und die Kontrolle von Emotionalität genannt. 2.2.4. Quartärsozialisation Die sich verändernden Lebensumstände nach Abschluss des Erwerbslebens werden als letzte Phase der Sozialisationsabschnitte betrachtet. Die Zäsur der Pensionierung ist dabei eine durchwegs dramatische: Rückgang der Einkommen, Tendenzen zur Selbstentwertung aufgrund der Tatsache, dass berufliche Leistungen nicht mehr erbracht werden müssen (oder gegebenenfalls nicht mehr erbracht werden können), Reduktion des sozialen Umfelds im Bereich der ArbeitskollegInnen, die Beschneidung von Anerkennung seitens der Gesellschaft und gesundheitliche Probleme gehören zu den Faktoren, die in diesem Lebensabschnitt in den Vordergrund treten. Mühler verknüpft diese Lebenssituation mit früher auftretenden Lebensabschnitten: „Ein Leben ohne Berufsarbeit oder der frühe Beginn einer solchen Phase im Lebenslauf würde zum einen dies systematische Berücksichtigung sozialisatorischer Prozesse im Falle von Langzeitarbeitslosigkeit oder im Hinblick auf alternative Lebensstile ermöglichen. Damit würden Lebensprobleme wie sinkende soziale Anerkennung, verminderte soziale Wirksamkeit, soziale Desintegration und Armut, unabhängig vom Lebensalter intensiver im Zusammenhang mit Sozialisationsvorgängen analysiert werden.“ (Mühler, 2008, S. 49) Dieses Männlichkeitsziel sollten Burschen durch Eingliederung in die Hitler-Jugend (mit der ihr eigenen strikten Geschlechtertrennung) erreichen, einer Organisation, in der die Zugehörigkeit zu sozialen Schichten keine Rolle spielen sollte. Wenn sich doing-gender als performativ versteht und somit das Erreichen von Geschlechtsidentität durch das Ausführen von Verhaltensmustern meint, so scheint (jenseits der Erkenntnis von Geschlecht als sozialem Konstrukt) das Erzeugen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ mittels geschlechtergetrennter Gruppen bereits in den dreißiger-Jahren gang und gäbe gewesen zu sein – und nicht nur das nationalsozialistische Regime war sich dessen bewusst. „Diese Strategie der Integration aller jungen Menschen über ein alle umfassendes und erfassendes ganzheitliches Jugendbild läßt sich dann weiter über die „uniformierte Staatsjugend“, die „Hitlerjugend“ des Dritten Reiches und die „FDJ“ in der DDR bzw. des SED-Regimes weiterverfolgen.“ (Michael Brater, zit. in. Sellmann 2000, S. 6) Eine neue „männliche“ Geschlechtsidentität im Sinne der zitierten Politsysteme konnte gebildet werden. Margaret Mead befasste sich bereits 1958 im Rahmen ihrer kulturanthropologischen Arbeit mit der Frage: „Mit gutem Grund fragen wir: Existieren wirklich über jene augenfälligen anatomischen und physischen Unterschiede hinaus noch andere Unterschiede, die durch die jener Gesellschaft eigentümlicher Erziehung zwar verdeckt, aber nicht aus der Welt geschafft werden können, die biologisch ebenso fest verankert sind?“ (Mead, 1958, S. 11) obwohl ihre Schlussfolgerungen mit der heutigen Lehrmeinung zu weiten Teilen im Widerspruch stehen. 10 3. Kritik an der Burschenarbeit zu deren Beginn am Ende der 80-er Jahre – Der antisexistische Ansatz: Mit der Erkenntnis von Simone de Beauvoire „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ (Beauvoir, 1961, S. 335) setzte in weiterer Folge innerhalb des Feminismus und daraus folgend in der feministischen Mädchenarbeit eine intensive Auseinandersetzung mit der Konstruktion von „Weiblichkeit“ und Nationalsozialismus ein (Christina Thürmer-Rohr, Leonie Wagner, Karin Windaus-Walser, Rita Thalmann, Irene Stochr oder Detel Aurand, um nur einige wenige zu nennen) – ein Diskurs, den die Männer- beziehungsweise die Burschenarbeit nicht zuletzt aufgrund ihres zeitlich verzögerten Auftauchens weitgehend vermissen lässt. In diesem Sinne ist ein Verstehen der Möglichkeiten und Grenzen von geschlechtssensibler Burschenberatung nicht möglich, ohne die Diskussionen im Laufe Ihrer Geschichte rund um dieses Thema zu beachten. Die Begründungen der Standpunkte einzelner Entwicklungsstadien von Burschenberatung erklären die Arbeitsfelder und die Kritikpunkte der einzelnen Erklärungsansätze aus Sicht der Pädagogik, der Soziologie, der Sozialen Arbeit, der Psychologie sowie der Psychotherapie. (Vgl.: Holz, 2008, S. 28) In dieser Arbeit werden beide Begriffe – Jungenarbeit und Burschenarbeit – gleichwertig verwendet. Kriterien zur Genderkompetenz für operativ Tätige in der Burschenarbeit. Karl definiert die anti-sexistische Pädagogik wie folgt: „Die tendenzielle Vaterlosigkeit und das daraus resultierende Erfordernis, männliche Identität in erster Linie als Abgrenzung von „Weiblichkeit“ zu definieren, hat nicht nur Auswirkungen auf die Jungen selbst, sondern auch auf die andere Seite: Aus Abgrenzung wird Abwertung; Jungen bekämpfen das „weibliche“ nicht nur in sich, sondern auch um sich herum […]. Wir hinterfragen die Äußerungsformen und versuchen, ihr ein Frauen- und Mädchenbild entgegenzusetzen, das von Achtung und Respekt geprägt ist: Durch unser Beispiel und durch Infragestellung sexistischer Mythen auf der kognitiven Ebene.“ (Karl, 1994, S. 133) Das scheinbare Paradoxon, weswegen innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur ausgerechnet männliche Jugendliche einer subjektiven und genderspezifischen Unterstützung bedürfen, stand am Beginn der Burschenarbeit. „So behaupten manche Feministinnen schon von den Ansätzen der Männerbewegung, sie sei nur ein besonders schlauer Versuch des ohnehin herrschenden Geschlechts, sich auch noch jene Qualitäten und Qualifikationen anzueignen, die ihnen bisher fehlten, um somit noch stärker und einflußreicher zu werden.“ (Sielert, 1993, S. 36) Es erscheint logisch, dass sich die Anfänge genderorientierter Burschenarbeit Mitte der 80-er Jahre als „antisexistisch“ betitelte, um ebendiese Vorwürfe zu unterbinden. Der zitierte Vorwurf wäre dann stimmig, wenn Burschenarbeit auf ein Beibehalten von geschlechtsspezifischen Ungerechtigkeiten abzielen würde. Geiß formuliert folgende Voraussetzungen für geschlechtsspezifische Arbeit mit Jugendlichen: 2.4. Geschlechterhomogene Jungenberatung und Abgrenzung zur Psychotherapie Geschlechterhomogene Jungenberatung meint ein Setting, in dem Männer und Jungen ein Beratungssetting bilden. Die Abgrenzung zur Psychotherapie erfolgt erstens nach den gesetzlichen Grundlagen (Psychotherapiegesetz), zweitens durch die Tatsache, dass diese Beratungen nicht zwingend an einen Ort gebunden sind, sondern auch im unmittelbaren Lebensbereich der Klienten stattfinden und somit aufsuchenden Charakter haben können und drittens durch den direkten Bezug auf den Alltag des Klienten. Sickendick/Engel/Nestmann definieren den allgemeinen Begriff der sozialpädagogischen Beratung als „ […] eine Interaktion zwischen zumindest zwei Beteiligten, bei der die beratende(n) Person(en) die Ratsuchende(n)= - (sic!) mit Einsatz von kommunikativen Mitteln, Orientierung oder Lösungskompetenz zu gewinnen. Die Interaktion richtet sich auf kognitive, emotionale und praktische Problemlösung und –bewältigung von KlientInnen oder Klientsystemen (Einzelpersonen, Familien, Gruppen, Organisationen) sowohl in lebenspraktischen Fragen wie auch in psychosozialen Konflikten und Krisen.“ (Galuske, 2001, S. 167) Das Vermitteln von Genderkompetenz beinhaltet: 1.) 2.) 3.) 4.) 5.) 6.) Thiersch formuliert: „Sozialpädagogische Beratung sollte parteinehmende Praxis sein, die, gestützt auf Persönlichkeits- und Gesellschaftstheorie, durch reflektierte Beziehungen und Erschließen von Hilfsquellen verschiedener Art das Unterworfensein von Menschen unter belastenden Situationen verändern will. Sie hat die Offenheit von menschlichen Situationen zur Voraussetzung und arbeitet mit den zugleich methodischen wie inhaltlichen Mitteln der Akzeptierung, Sachkompetenz und Solidarisierung. Eine solche Zieldefinition zeigt, daß Beratung zwar mit Interaktion zwischen Personen beginnt, aber nicht dort verbleibt, sondern menschliche Lebensumstände mit ihrer mehrdimensionalen, insbesondere auch sozioökonomischen Bedingtheit angehen will.“ (ebd. S. 171) Die Möglichkeit eine gendergerechte Perspektive im jeweiligen Handlungsfeld einnehmen zu können. Bestehende Gesellschaftsstrukturen auf ihren Bezug zu Geschlechterverhältnissen überprüfen zu können. Die eigene Rolle im bestehenden Geschlechterverhältnis verstehen und überprüfen zu können. Eine persönliche Position zum Thema „Geschlechterdemokratie“ zu erarbeiten. Das Realisieren von Gendergerechtigkeit im Alltag zu fördern. Die erreichten Ziele methodisch zu überprüfen. (Vgl.: Geiß, 2004, S. 221) 11 2)Jungen machen Probleme. Verbunden mit der Tatsache, dass Frauenforschung beziehungsweise Mädchenarbeit als solche bereits seit Ende der 60-er bzw. Anfang der 70-er Jahre existiert, währenddessen Männerforschung/Burschenarbeit zeitlich stark verzögert kaum auf eine Entwicklung in gleicher Intensität verweisen kann, entstehen für Burschen un- oder kaum betrachtete Problemfelder, die gendergerechte Burschenarbeit als solche rechtfertigen können. Badinter verdeutlicht im Zusammenhang mit Mutterschaft: „Die Komplementarität der Geschlechterrollen und –funktionen gab beiden Geschlechtern das Gefühl einer je spezifischen Identität. Doch seit Männer und Frauen im öffentlichen wie im privaten Leben die gleichen Funktionen ausüben und die gleichen Rollen spielen können, stellt sich die Frage, was beide noch grundlegend voneinander unterscheidet. Wenn die Mutterschaft das Privileg der Frau ist, kann man es dann bei einer negativen Definition des Mannes bewenden lassen: als desjenigen, der keine Kinder bekommen kann? So stürzte der Mann in eine tiefe existentielle Krise.“ (Badinter, 2010, S. 16) Wie bereits oben angerissen, ist nachvollziehbar, dass Jungen im Zuge der Findung von gesellschaftlich akzeptierter Geschlechtsidentität auf Schwierigkeiten stoßen, die sie zwar zwingend zu bewältigen haben – die aber nicht (ohne Unterstützung) bewältigbar sind. Der so entstehende Druck und das Gefühl eine der wesentlichen Aufgaben dieses Lebensabschnittes nicht bewältigen zu können, entlädt sich nach Karl in einer Kompensation durch überbordenden Sexismus, gesteigertem Risikoverhalten im Allgemeinen und Gewaltausübung im Speziellen. Die Schwierigkeiten, die sich aus veränderten (männlichen) Geschlechtsidentitäten ergeben die Möglichkeit, im Rahmen der gendergerechten Burschenberatung Probleme zu thematisieren und Lösungswege zu bearbeiten und können nicht als Mechanismus zur Machterhaltung einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur gewertet werden. Das Vermitteln eines Geschlechterbildes, in dem „Mann“ eben nicht als „mächtig“, „dominant“, „stark“ etc. verstanden werden muss, bietet keine Möglichkeit für die Klienten, die erlernten Strategien zur Unterdrückung von Frauen einzusetzen. (vgl. Sielert, 1993, ebd.) Ein Mitbegründer der „antisexistischen Jugendarbeit“, Holger Karl, geht in seinem Aufsatz „Der ehrenhafte Abschied des Panzersoldaten“ auf diese Diskussion ein und postuliert zwei Pole gendergerechter Burschenarbeit: 1)Jungen haben Probleme. Die Entwicklung der Geschlechtsidentität „männlich“ stellt Heranwachsende vor zum Teil schwer lösbare Probleme: Das (weil untersagte) Wegbrechen von tradiert-männlichen Verhaltensmerkmalen im Sinne von „doing-gender“ irritiert massiv, zudem keine klar strukturierten Alternativen für die Gruppe der Burschen präsentiert beziehungsweise breit genug an sie gesendet wurde. Das Fehlen von männlichen „role-models“ durch arbeitstätige Väter verstärkt die bestehende Problematik. Die beiden Probleme kulminieren miteinander, denn selbst wenn der Vater als „männliche“ Vorbildfigur präsent und beobachtbar ist, so entspricht er möglicherweise dem aktuell viel zitierten veralteten Männerbild. Dazu kommt, dass Jugendliche in vermehrtem Ausmaß mit den Zuschreibungen „stark“, „belastbar“, „risikobereit“ überfordert werden, da ihnen (nicht zuletzt durch die Auswirkungen berechtigter feministischer Kritik) klar wird, dass diese Anforderungen im realen Leben in keiner Weise erfüllt werden können. Die daraus wiederum resultierende Orientierungslosigkeit und Unzufriedenheit stellt ein Feld der problemorientierten Sichtweise in der Arbeit mit jungen Männern dar, deren Diskussionsfeld von der Sprengelarbeit bis hin zur Schulsozialarbeit weite Teile der Handlungsfelder der Sozialen Arbeit einnimmt. 12 3.1. Kritik am anti-sexistischen Ansatz: Praxis antisexistischer Pädagogik empathischer Bezug auf Jungen genommen, jedoch im Konzept die Auseinandersetzung mit und der Ausgangspunkt der neuen Jungenarbeit in der Kritik an patriarchaler Männlichkeit als Anspruch auf Herrschaft und Dominanz über Frauen mit seinen dramatischen Folgen klar benannt. Damit wird eine gesellschaftliche Zielrichtung skizziert und unterstützt, die solche Dominanz in das Konzept der Geschlechterdemokratie überführen will“ (vgl. Karl/Ottemeier-Glücks 1997). (Karl, Holger/ Gerd Ottemeier-Glücks, „Neues aus dem Mekka der antisexistischen Jungenarbeit. Ein Blick in die Internet-Diskussion“, in Möller, Kurt (Hg.), Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und Männerarbeit, Weinheim/München 1997, S. 91-107.) Erst jetzt – also Mitte bis Ende der 90er Jahre konnte also der Zugang geklärt werden, mit dem Jungenarbeit arbeiten wollte. Während die „Hamburger Schule“ bereits gegen Ende der 60-er Jahre auf die Beratung, beziehungsweise auf die Vermittlung von Inhalten für junge Frauen im Rahmen von geschlechterhomogenen Gruppen setzte, so stand (und steht) diese Form in der Burschenarbeit bis heute im Kreuzfeuer der Kritik: Das Festhalten am binären Verständnis von Geschlecht beinhaltet eine Vernachlässigung (und damit eine Diskriminierung) aller Geschlechtsidentitäten, die jenseits von „männlich“ und „weiblich“ existieren. „Eine Frau zu „sein“, ist sicherlich nicht alles, was man ist. Diese Bestimmung kann nicht erschöpfend sein, und zwar nicht, weil eine ihrer geschlechtlichen Bestimmtheit vorangehende Person (pregendered person) das spezifische Beiwerk ihrer Geschlechtsidentität übersteigt, sondern weil die Geschlechtsidentität in den verschiedenen geschichtlichen Kontexten nicht immer übereinstimmend und einheitlich gebildet worden ist und sich mit den rassischen, ethnischen, sexuellen, regionalen und klassenspezifischen Modalitäten diskursiv konstituierter Identitäten überschneidet.“ schreibt Judith Butler im Kapitel „Kontroverse Heterosexualität“ und zeigt die Unzuverlässigkeit aller Geschlechtszuschreibungen am Beispiel „Frau“ auf. (Butler, 1990, S. 485) Sielert dazu: „Wie Frauen trotz äußeren Machtzuwachses in ihrer „Weibchen-Rolle“ verharren können, geben Männer ihr altes Rollenverhalten nicht einfach auf, wenn ihnen Macht genommen wird. Es ist eine weise und sich immer wieder bewahrheitende Einsicht, daß die politische Veränderung der Verhältnisse mit der pädagogischen Anstrengung im persönlichen Bereich einhergehen muß, damit wünschenswerte Entwicklungen real greifen.“ (Sielert, 1993, S. 37) „Viele Argumentationen zeigen, wie schwer es Jungenpädagogen noch fällt, von der Dominanz als negativer Abgrenzung von Mädchen und Frauen, von männerbündischen Denk- und Handlungsstrukturen und vom Anspruch der Bestimmungsmacht Abschied zu nehmen. „Jungenarbeit kann nur von Männern gemacht werden“, „Jungenarbeiter müssen sich frauenfrei unter sich vernetzen“ – dies sind zwei zu hörende Auffassungen, in denen sich m.E. die alten Strukturen der Frauenabwertung und der Männerdominanz spiegeln.“ (Heiliger, 2002, S. 4) Heiliger berücksichtigt mit ihrer Aussage nicht, dass speziell schambesetzte Problematiken im Bereich der Sexualität, der Gewalt an Frauen durch Burschen, der Geschlechtsidentität etc. durch einen männlichen Gesprächspartner die Schwellenangst senken können. Offen bleibt ebenfalls die Frage, weswegen sozialpädagogische Beratung in geschlechterhomogenen Gruppen als Abwertung gegenüber Frauen gesehen werden kann (nachdem Konzept und Methode der Jungenarbeit ausreichend dargelegt wurden) beziehungsweise weswegen hier männlich-dominantes Verhalten zu beobachten ist. (Allerdings kann an dieser Stelle auf die mythopoetische Männerrechtsbewegung verwiesen werden, (s. S. 19 f.) in der (jenseits der gängigen Vorstellungen und Ziele der geschlechtshomogenen Jungenberatung) Heiligers Befürchtungen bestätigt werden.) Sielert stellt dieser Kritik ein anderes Argument gegenüber: „Die Identitätsprobleme von Jungen werden keineswegs gelöst, wenn ihnen Wertvorstellungen und Verhaltenserwartungen weiblicher Weltsicht und Durchsetzungsstrategie anempfohlen werden. Die ohnehin problematische Sozialisation der Jungen durch überwiegend weibliche Bezugspersonen wiederholt bzw. doppelt sich dabei auf einer anderen Ebene.“ (Sielert 1992, S. 39) Reinhard Winter unterstützt: „Wenn Jungenarbeit eine menschlich-männliche Sozialisation fördern will, muss also die äußere Form „Geschlechtshomogenität“ eine spezifische innere Qualität erhalten. Im Zuge der wachsenden öffentlichen Diskussion um diese ersten Ansätze der Burschenarbeit wurden die Grenzen der antisexistischen Herangehensweisen offensichtlich: Der Kampfbegriff des „Antisexismus“ und dessen Ableger veranlasste speziell PädagogInnen zur Formulierung des Vorwurfes, dass Jungenarbeit nichts anderes wäre als die Unterstützung feministischer Forderungen der Mädchenarbeit: „Die in der Literatur gelegentlich auffindbare (sic!) Bezeichnungen „feministische Jungenarbeit“ oder auch „emanzipatorische Jungenarbeit“ legen die Vermutung nahe, dass die Mädchenarbeit begrifflich und konzeptionell für die Arbeit mit Jungen übernommen wurde. Die feministische Jungenarbeit soll offenbar die Erkenntnisse und Interessen der Frauenbewegung für Jungenarbeit nutzbar machen.“ (Sielert 1993, S. 39) „Zunächst war der Widerstand beträchtlich, der den Forderungen der Pädagoginnen von Seiten der männlichen Pädagogen entgegengesetzt wurde, die nicht einsahen, warum sie mit Jungen eine rollenkritische Arbeit durchführen sollten, die natürlich bei ihnen selber eine kritische Reflexion von Männlichkeit voraussetzte.“ (Heiliger, 2002, S. 113) (Hier findet sich bis heute eine Grenze der Burschenarbeit – wenn soziale Institutionen wie Schule, Kirche oder Familie ein sexistisches Geschlechterbild zeichnen und/oder vermitteln, so wird die Arbeit der gendersensiblen Burschenarbeit stets ein reaktives sein und im nicht-wissenschaftlichen Diskurs auf Ablehnung stoßen.) Andererseits wurde kritisiert, dass eine der wesentlichen Voraussetzungen für gelingende Klientenarbeit in der Bezeichnung „antisexistisch“ keinerlei Beachtung beigemessen werde – der wohlwollenden Grundeinstellung gegenüber Burschen. Die „anti-Haltung“ gegenüber der „Männlichkeit“ der Klienten pervertiere sogar diese Voraussetzung zur gelingenden Klientenarbeit. Karl und Ottemeier-Glücks stellen dieses Missverständnis, eine Verwechslung von Methode und Konzept, richtig und setzen so eine bis heute gültige Klarstellung von gendergerechter Jungenarbeit indem sie postulieren: „Selbstverständlich werde in der Nur wenn in der männlichen Gruppe eine neue Qualität von männlicher selbstkritischer Solidarität, Stärkung und gleichzeitiger Hinterfragung vorherrschender Männlichkeit sich entwickelt, kann das Ziel der bewussten selbständigen Entwicklung von Geschlechtsidentität gefördert werden.“ (Reinhard Winter (Hrsg.), 2006, S. 38) Im Sinne der Dekonstruktion von Geschlecht (auf die später in dieser Arbeit noch eingegangen werden wird), zeichnet Ulf Preuss-Lausitz das Problem am Beispiel Schule anders: „Nicht also 13 4. Männlichkeit in Zeiten der Risikogesellschaft sind Mädchen oder Jungen generell benachteiligt. Benachteiligt sind jene Kinder, die von Leistungsversagen bedroht sind, die ihre Potenziale nicht entfalten können, weil und wenn ihre Familienbedingungen sie nicht schulisch stützen, weil und wenn die Vielfalt möglicher Jungen- und Mädchen-Rollen nicht bejaht und nicht zugleich in einem überzeugenden Verständnis von Menschlichkeit gebündelt wird.“ (Preuss-Lausitz, 1999) Die Problematik von Kindern und Jugendlichen wird hier jenseits von Geschlechtszugehörigkeit und deren Auswirkungen gesehen. Um die Frage „Warum brauchen Burschen Männer?“ beantworten zu können, müssen jene Faktoren beleuchtet werden, die den Wandel der „Männlichkeit“ beeinflussen und somit das Arbeitsfeld der Hilfesteller für die Klientel vorzeichnen. Die soziologischen Sichtweisen zu diesem Thema sind dabei unverzichtbar. Wenn es ein Bestreben der feministischen Kritik an der geschlechterhomogenen Jungenberatung ist, dass Frauen männliche Geschlechtsidentitäten gendersensibel an heranwachsende Jungen vermitteln sollen, so stellen sich drei Probleme: Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ und seine 1994 folgende „Weltrisikogesellschaft“ zäsierte nicht nur die soziologische Sichtweise der Vernetzung von Gesellschaften, sondern führte auch zu einem neuen Blickwinkel im Umgang mit Problemen heranwachsender Personen. 1.) Die Vorbildwirkung des greifbaren „Mannes“, der eine im Vergleich zum tradierten Geschlechterbild alternative Form des „Mann-seins“ lebt. Die Versuche, wie „Mann“ seine Existenz erfolgreich organisieren und strukturieren konnte, scheitern einerseits ob der Tatsache, dass geschlechterspezifisches Rollenverhalten mit seinen Privilegierungs- und Unterdrückungsmechanismen aufgebrochen wurde und neue Anforderungen und Pflichten seitens einer zunehmend gesellschaftlich gleichgestellten Gruppe von Frauen gestellt werden. Das Kernanliegen geschlechtshomogener Jungenberatung, nämlich die Vermittlung sowie das Vorleben eines Leitbildes männlicher Identität, gerät damit gemeinsam mit ihrer Klientel in einen Zustand des permanenten Legitimationszwangs. Beck beschreibt die Ursachen dieses Konflikts: „Die „Jahrhundertkonflikte“, die sich in persönlichen Schuldzuweisungen und Enttäuschungen in den Geschlechtsbeziehungen entladen, haben ihren Grund auch darin, daß immer noch versucht wird, unter Konstantsetzung der institutionellen Strukturen die Freisetzung aus den Geschlechtsstereotypen (weitgehend) allein im privaten Gegeneinander von Männern und Frauen, und zwar in den Rahmenbedingungen der Kleinfamilie, zu proben.“ (Beck, 1986, S. 181) 2.) Die Frage, ob ein Jugendlicher im Zuge eines Identitätsproblems die „weibliche“ Vorstellung einer gendersensiblen „Männlichkeit“ in gleicher Weise wie bei einem „männlichen“ Ansprechpartner akzeptieren kann. (Problem der compliance/adherence.) 3.) Durch die oben erwähnte Dominanz an weiblichen Bezugspersonen im Leben eines archetypischen Klienten kann in diesem Fall angenommen werden, dass die „typisch weiblichen care-Fähigkeiten“ als sexistische Zuschreibung für Frauen (speziell im Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit) beim Klienten reproduziert und verfestigt werden. In Bezug auf die Pädagogik schreibt Beck: „Dennoch scheint es nicht übertrieben – gemessen an der Ausganssituation -, von einer Feminisierung der Bildung in den sechziger und siebziger Jahren zu sprechen.“ (Beck, 1986, S. 166) (Winter äußert dazu noch einen vierten Punkt: „Die Jungen geraten bei Anwesenheit von […] Frauen einerseits in einen Selbstdarstellungsdruck, indem sie sich vor den Frauen präsentieren und darstellen müssen, andererseits geraten sie unter einen Rechtfertigungsdruck, indem sie versuchen, ihr männliches Handeln zu verteidigen.“ (ebd. S. 40) Es stellt sich die Frage, ob Burschen diesen Druck bei männlichen Ansprechpartnern nicht ebenfalls zumindest in geringerer Form verspüren.) Oelemann teilt die Einschätzung Becks in Bezug auf die „Feminisierung“ und führt unter dem Titel „Jungensozialisation: Aufwachsen im männlichen Vakuum“ aus: „Beide [Anm.: Mädchen wie Jungen] wachsen die ersten Lebensjahre mit und bei Frauen auf. Üblicherweise sorgt die Mutter für das Kind. Es gibt eine Babysitterin. Im Kindergarten arbeiten Kindergärtnerinnen. In der Grundschule unterrichten Lehrerinnen. Oft treten erst nach dem Wechsel in eine weiterführende Schule männliche Lehrer in Erscheinung.“ (Oelemann, 1998, S. 14) Andererseits bleibt der (gesellschaftliche) Anspruch auf die „Hegemonie des Mannes“ aufrecht – und wird gleichzeitig verunmöglicht. Die Planung des eigenen Erwerbslebens welches als wichtigste Stütze „männlichen“ Selbstbewusstseins und als Basis von Anerkennung, Macht und Einfluss gilt, ist im Rahmen der Risikogesellschaft von Faktoren dominiert, die das (männliche) Individuum weder steuern noch vorhersehen oder vermeiden kann. „Der Schlüssel der Lebenssicherung liegt im Arbeitsmarkt […]. Das Bereitstellen und Vorenthalten von Lehrstellen wird so zur Frage des Einstiegs oder Ausstiegs in die oder aus der Gesellschaft. Zugleich können durch konjunkturelle oder demographische „Hochs“ und „Tiefs“ ganze Generationen ins existentielle Abseits driften.“ (Beck, 1986, S. 212) 14 In seinen späteren Betrachtungen zum Thema „Gesundheitssoziologie“ werden nicht nur die Zusammenhänge von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Schichten mit niedrigerer Lebensdauer in Verbindung gebracht, sondern auch die Auswirkungen von Geschlecht und Gesundheitsvorsorge beleuchtet. Erklärt Hurrelmann das erhöhte Verletzungsrisiko bei Jungen noch mit erhöhtem Testosteronspiegel vgl. (Hurrelmann, Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung., 2010, S. 51 ff.), so ergänzt er im Kapitel „Geschlechtsunterschiede im Jugendalter“: „Während bei den weiblichen Jugendlichen psychosomatische und depressive Gesundheitsstörungen besonders häufig auftreten, fallen die Jungen durch ein hohes Ausmaß an Aggression, dissozialem und kriminellem Verhalten und Substanzmittelkonsum (sic!) auf. […] Sie wollen damit die Erfüllung der gesellschaftlichen Erwartungen an eine aktive und starke soziale Rolle als Mann signalisieren.“ (ebd.) Allerdings muss ergänzt werden, dass die Korrelation Geschlecht – Krankheit sich im Erwachsenenalter und speziell im Alter für Frauen deutlich zum schlechteren wendet, da sie strukturell unter niedrigerem Einkommen und dessen Auswirkungen auf Wohnen, Essen, etc., sowie schlechterem sozialen Status und vielem mehr ausgesetzt sind. An dieser Stelle soll die Frage gestellt werden, ob die Risikogesellschaft als Struktur nicht sogar aktiv ein neues Männerbild fordert, welches mit den Attributen „kinderlos“, „flexibel“ (in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsort), „entsolidarisiert“, „institutionalisiert“ und „ökonomisiert“ beschrieben werden könnte. Eine genauere Betrachtung dieses Gedankens erscheint sinnvoll, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. (Ebenso verhält es sich mit der Abklärung der Hinweise, inwieweit „jugendlich sein“ und „Pubertät“ als soziale Konstrukte behandelt werden müssen, um ein vollständiges Verständnis für die daraus entstehenden Problemlagen entwickeln zu können. (s. S. 27 f.)) Angesichts der Vielzahl von Ansätzen, die Jungenarbeit verfolgte und verfolgt, beginnend beim oben bearbeiteten „anti-sexistischen“ Ansatz, über emanzipatorische, feministische, antifaschistische, personenzentrierte, etc., Herangehensweise, kann von diesem modernisierungstheoretischen Ansatz angenommen werden, dass er die wichtigsten Argumente für eine geschlechtshomogene Jungenarbeit liefert. In der Zusammenfassung aller oben angeführten Problemlagen dieses Kapitels eignet sich Winters Rechtfertigung für Jungenarbeit: „Jungen brauchen Jungenarbeit, um ihr Jungesein im Modernisierungsdruck aneignen und bewältigen zu können.“ (Winter, 1996, S. 378 ff.) Mittlerweile stehen Jugendliche vor dem Problem, dass durch die Schnelligkeit technischer Entwicklungen Berufsausbildungen als Ganzes obsolet werden können. (Das Handwerk des Bäckers beispielsweise erfuhr einen dramatischen Niedergang, nachdem die Möglichkeit der Eigenproduktion von Backwaren mittlerweile an beinahe jeder Tankstelle möglich geworden ist.) Zur Bedeutung von Arbeit für „Männlichkeit“ präzisieren Baur und Luedtke: „“Mann“ und „Arbeit“ werden in der Moderne stereotyp zusammengedacht. Der Erwerbsarbeit wird eine zentrale Bedeutung für die Konstruktion von Männlichkeit zugeschrieben: Das normative Ideal des 19. Jahrhunderts war das „heroische männliche Subjekt“, das seine Selbstverwirklichung in Konkurrenz zur (sozialen und natürlichen) Umwelt und der Durchsetzung gegenüber der Umwelt betreibt. Seine Gestaltungsmacht beruhte auf harter Arbeit, beruflichem Erfolg, Selbstverleugnung; […]“ (Jens Luedte, 2008, S. 81) Mit „Selbstverleugnung“ meinen Baur und Luedtke die gesellschaftlich geforderte Unfähigkeit zum Ausdruck von Emotionen wie Angst, Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Scham, Nervosität, Unsicherheit, etc. Oelemann bezeichnet dies als „Jungensozialisation als systematische Desensibilisierung“. (Oelemann, 1998, S. 14) Reinhard Winter ergänzt in seinem Buch „Jungenarbeit“, dass die tradierten „männlichen“ Leitbilder von Stärke, Ausdauer, etc. ihre Funktion verlieren, wenn diese Attribute im Erwerbsleben nicht mehr von Bedeutung sind. Das Bedienen von Rechnern und deren Programmen nimmt einen stetig ansteigenden Anteil im Berufsleben – nicht nur von Jugendlichen – ein und führt die klassisch den Männern zugewiesene Stärke in die Nutzlosigkeit. Außerdem gerät der Anspruch als Vollernährer von Familien angesichts der oben beschriebenen Unsicherheitsfaktoren am Arbeitsmarkt (nicht zuletzt eine gewichtige Auswirkung der Risikogesellschaft) ins Wanken. Das Vorleben und Vermitteln alternativer Männerbilder würde Klienten in einer gesellschaftlichen Entwicklung, die von Unsicherheit in Bezug auf Selbstidentität, Genderidentität, beruflichen Rahmenbedingungen und gesellschaftspolitischen Veränderungen geprägt ist, Sicherheit bieten. Voraussetzung dafür ist, dass die operativ tätigen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen Kenntnis über Ursachen und Wirkungen gesellschaftlich erzeugter (Existenz-) Probleme haben. Dass die veralteten Vorstellungen von Männlichkeit nicht nur irritieren, sondern das Leben als Ganzes gefährden kann, beobachtet Hurrelmann. Er ortet eine Auswirkung des sozialen Konstrukts der Männlichkeit nicht nur auf die seelische Komponente, sondern auch auf die Körpergesundheit. Hurrelmann zum Thema „Männlichkeit“ und Krankheit: „In den Geschlechtsunterschieden spiegeln sich die ungleichen Temperamente von Jungen und Mädchen, ebenso aber auch die in unserem Kulturkreis typischen Erziehungsmuster und Vorstellungen vom sozial angemessenen Verhalten der Geschlechter.“ (Hurrelmann, 2003, S. 16) 15 5. Die Dekonstruktion der Geschlechter – Jungenarbeit als Versuchsfeld zu einer neuen Sichtweise von Gemeinschaft und Gesellschaft. have in ways we have traditionally defined as masculine and feminine but these positions would no longer be gendered, so allowing people more flexibility and experimentation.” (Francis, 1998, S. 17.) Wenn Schule als zentrales Element der Sekundärsozialisation und als soziale Institution an der Reproduktion der klassischen Geschlechterrollen bei Kindern und Jugendlichen gilt, so würde die Haltung der gendersensiblen Jugendarbeit (nicht Jungenarbeit – das System der Koedukation wird erst später in Frage gestellt) laut Francis bei PädagogInnen eine klar formulierte, subjektiv eingenommene Positionierung zu den Fragen rund um Geschlechtlichkeit und deren Konstruktion voraussetzen. Sowohl die früheren anti-sexistischen Ansätze in der Jungenarbeit als auch die später erfolgten Erkenntnisse der gender-Wissenschaft und deren Beleuchtung ausgehend vom Standpunkt der Risikogesellschaf, vereinen sich in einem Punkt: Die unterschiedlichen (negativen) Auswirkungen patriarchaler Gesellschaftssysteme auf die (sozialen) Geschlechter. Die Analyse des ungerechten Kampfes um Ressourcen lassen auf die Existenz zweier Hauptpole schließen, die abhängig vom jeweils anderen um Vorteile kämpfen. Die dazu nötige Unterscheidung zwischen „männlich“ und „weiblich“ wird bereits von Kindern durchgeführt und von pädagogischen Systemen produziert. „The depiction of gender identity is a public achievement: […] children take up aspects of gender-stereotypical behaviour in order to publicly delineate their gender identifications.“ (Francis, 1998, S. 9 f.) Judith Butlers Ausführungen zum “biologischen Geschlecht” können auch als dekonstruktivistisch gelesen werden: “ In diesem Sinne fungiert das ‚biologische Geschlecht’ demnach nicht nur als Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren.“ (Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts., 1995, S. 21) Ein Lernziel im Sinne der Förderung von Kindern und Jugendlichen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit gender und damit mit der Gesellschaft, in der sie eingebettet sind, zu formulieren, stellt eine Herausforderung auf politischer Ebene dar. Die Frage, ob Bildung in diesem Sinn politisch gewünscht (oder abgelehnt) wird, wäre im Anschluss an diese Arbeit eine interessante, die hier nicht geklärt werden wird. Die politische Dimension auch der geschlechtshomogenen Jungenberatung halte ich in ihrer logischen Konsequenz für ebenso gewichtig. Gleichzeitig bietet der Zugang über den Dekonstruktivismus der Geschlechter zum ersten Mal eine diskriminierungsfreie Betrachtung von Homosexuellen und Transgender-Menschen. Als Ziel der pädagogischen Anwendung der Dekonstruktion von Geschlechtern formuliert Francis: „It might serve to stem the excesses of gender category maintenance and to empower children intellectually - to challenge them. It will enable them to challenge constructions and assumptions emanating from the dominant discourse of gender dichotomy if they wish. Moreover it will provide children with extra information, fantasies and discursive resources which they can draw on to create more flexible constructions of their own gender identity if they want to.” (Francis, 1998, S. 181.) Somit sind die Ziele der DekonstruktivistInnen mit denen der geschlechterhomogenen Jungenarbeit identisch. Folgerichtig und konsequent erscheint demnach der Ansatz, sämtliche negativen und positiven Zuschreibungen an die (sozialen) Geschlechter fallen zu lassen, da die Gemeinsamkeiten erstens überwiegen und zweitens bisher vernachlässigt wurden. Wenn die Jungenarbeit ihre ersten Anleihen aus der feministischen Mädchen- (und Frauenarbeit) entnommen hat und ihr Ziel nicht in der Schaffung einer Männerrechtsbewegung, sondern im Erarbeiten bisher brach liegender Ressourcen liegt – weshalb sollte man weiterhin auf die Unterschiedlichkeiten der gender hinweisen? Nachdem bisher diskutiert wurde, dass dem Geschlecht „weiblich“ zugeschriebene Persönlichkeitsanteile bei Männern wie Angst, Schwäche und Zweifel zwar existieren aber nicht ausgedrückt werden dürfen, so wäre es beispielsweise ein gangbarer Weg von Menschen zu sprechen, die im Regelfall über ein emotionales Spektrum verfügen, das sie nützen können – und das nicht aufgrund gesellschaftlicher Konventionen beschnitten werden soll. „The deconstruction of the gender dichotomy would involve the deconstruction of „masculine“ and „feminine“ qualities and the value system behind this dichotomy. People would be able to be- 16 6. Biologistischmythopoetischer Ansatz In Bezug auf die Beziehung „Mutter-Sohn“ wird festgestellt: „Wenn Frauen, selbst Frauen mit den besten Absichten, einen Jungen allein großziehen, dann kann es sein, daß er in gewisser Hinsicht kein männliches Gesicht hat, oder sogar überhaupt kein Gesicht.“ (ebd, S. 35) In weiterer Folge bezeichnet er die Auswirkungen der alleinerziehenden Frau als „psychischen Inzest“. (ebd, S. 259) Elisabeth Badinter erklärt den Versuch der mythopoetisch-naturalistischen Sichtweise von Geschlecht wie folgt: „Angesichts all dieser Umwälzungen und Unsicherheiten ist die Versuchung groß, sich auf die gute alte Mutter Natur zu berufen und die Ambitionen der vorangehenden Generation als Verirrung anzuprangern.“ (Badinter, 2010, S. 16) Zeitgleich in der Evolution des Feminismus ereignet sich seit dem Ende der 90-er Jahre eine neue Entwicklung der Jungenarbeit – die biologistischen Ansätze. Obgleich die Argumente dieser Strömung einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten können, so ist die Erwähnung dieses Ablegers vonnöten, da er weite Teile der Bevölkerung erreicht und somit eine veränderte Sichtweise der eigenen Person (zum Teil über die Eltern) bei den KlientInnen der Jugendarbeit hervorruft. Da sonst keine Argumente für eine nähere Betrachtung vorliegen, betrachte ich nur die wesentlichen Merkmale und Auswirkungen, um der Vollständigkeit der Diskussion „Warum brauchen Burschen Männer?“ zu genügen. Positiv ist – soviel sei vorweggenommen - zu erwähnen, dass der in weiterer Folge beschriebene Ansatz die häufig angetroffene DefizitOrientierung der Haltung gegenüber den Klienten zu überwinden scheint. „In each case, they argue that men have lost control of their lives because of attacks by assertive women, particularly feminists (…). They all call for a “return” to a “more natural” regime in which men and women knew their places, and men were able to use their inherent male power.” (Epstein: zit. In: Schultheis, StrobelEisele, Fuhr (Hrsg.). Kinder: Geschlecht männlich: Pädagogische Jungenforschung. Stuttgart 2006. S. 16.) Reinhard Winter reagiert überraschend angriffig auf diesen Ansatz mit der Beantwortung der grundsätzlichen Frage: „Was ist Jungenarbeit? Ganz einfach: Wenn erwachsene Männer mit Jungen geschlechtsbezogen pädagogisch arbeiten. Dabei besteht grundsätzlich kein Bedarf an Initiation, Mythen, Indianerritualen oder Magie. Tiefmythische Hohlformeln und gewichtige Sätze […] jagen über manchen männlichen Rücken ein ergriffenes Frösteln; die Gefahr ist groß, daß sie dabei gleichzeitig auch Intelligenz und Kritikfähigkeit aus dem Gehirn treiben.“ ((Hg.), 1997, S. 147) In weiterer Folge wehrt sich Winter gegen eine fachliche Einmischung durch die Esoterik: „Weil Jungenarbeit Pädagogik ist, bezieht sich dieser Ansatz auf Pädagogen (nicht ohne zu registrieren, daß auf dem Markt der Möglichkeiten von Jungenarbeit auch Schamanen, Sozialwirte, Amerikaner, Leistungssportler und Preisboxer zu finden sind).“ (Ebd. S. 148) (Das Anführen der „Amerikaner“ als Berufsgruppe wird als bewusst sarkastische Bemerkung interpretiert und wurde deshalb nicht mit „sic!“ versehen. Zu beachten ist in diesem Fall, dass sich die Grenzen zwischen Sozialer Arbeit und der Sozialpädagogik soweit überschneiden, dass ein Interessenskonflikt zwischen den beiden Handlungsfeldern auszuschließen ist, wie der Diskurs rund um Jungenarbeit zeigte.) Das zweite zentrale Element der mythopoetischen Haltung ist die Funktion der Initiation: „Initiiert zu werden bedeutet in Wahrheit, mit offenen Armen die Herrlichkeit der Eichen, Berge, Gletscher, Pferde, […], zu empfangen. Wir brauchen die Wildnis und die Ausschweifung.“ (Bly, 1993, S. 84) Im Rahmen einer soziologischen Betrachtung des Textes erwidert Meuser: „Worin das Ziel männlicher Initiation besteht, wie diese unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft zu vollziehen ist, was die zu gewinnende Männerenergie ausmacht, all das bleibt weitgehend unexpliziert. Das ist freilich keine Nachlässigkeit des Autors, sondern entspricht seinem Programm.“ (Meuser, 1998, S. 174) Die Haltung, die vertreten wird, ist ein „Urmännlichkeitsprinzip“, dass archetypisch, zeit- und kulturungebunden (und durch genetische Voraussetzungen begründet) existiert und gelebt werden muss, wenn Störungen vermieden werden sollen. Vgl. (Biddulph, 2002) Aufgrund der Erkenntnisse der Neurobiologie, wonach Männer und Frauen unterschiedliche Strukturen im Gehirn aufweisen und der Auswirkungen von Testosteron auf menschliches Verhalten, sei ein unterschiedliches Sozialverhalten „vorprogrammiert“. Im Gegensatz zur Haltung im Sinne der Dekonstruktion von Geschlechtern wird eben nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zum Zentrum des Interesses: „Vor nicht allzu langer Zeit haben Genforscher entdeckt, daß der genetische Unterschied in der DNS zwischen Männern und Frauen nur knapp drei Prozent ausmacht. […] Ich glaube, daß es in diesem Jahrhundert und in dieser Zeit wichtig ist, die drei Prozent Unterschied zu betonen, die einen Menschen männlich machen, wobei man die siebenundneunzig Prozent […] nicht aus dem Bewußtsein verlieren darf.“ (Bly, 1993, S. 322 f.) Nicht das soziale Umfeld, sondern die Genetik definiert nach dieser Meinung „Männlichkeit“. Einen tiefen Einblick in die Vorstellung von „männlichen“ Riten und Rollenverteilung geben zwei weitere Zitate von Bly: „Den Vietnamveteranen ginge es heute besser, wenn wir in jeder kleinen Stadt im Land ein Fest veranstaltet hätten mit einer berittenen Veteranenparade und einer jungen Frau, die ihnen goldene Äpfel zuwirft.“ (Bly, 1993, S. 274.) (Wie Bly den passenden Ritus z. B. bei heimkehrenden Wehrmachtssoldaten konstruieren würde, bleibt unbeantwortet.) 17 7. Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenberatung „Männlichkeitsideologien unterschlagen wesentliche Teile männlicher Lebenswirklichkeiten oder spalten sie ab. Sie tendieren dazu, Bezüge zur Realität zu verweigern […]. (Anm.: So) braucht es pädagogisch absolut keine neuen oder modernisierten Ideologien der Männlichkeit. Im Gegenteil kann deren Eindimensionalität schnell gefährlich werden, wenn diese sich mit initiationsbezogenen Größenphantasien verbinden verlieren („Ich kann Jungen zum Mann machen“): ganz offen zeigt Männlichkeit hier ihr latent faschistoides Gesicht.“ (Winter 1997, S. 152) Der Abbau der defizit-orientierten Jungenarbeit – Grenzen der geschlechterhomogenen Jungenarbeit Sämtliche bisher diskutierten Ansätze der Jungenarbeit (mit Ausnahme des Phänomens des mythopoetischen „Ansatzes“), eigentlich der gesamten Jugendarbeit, sind zumindest in Ansätzen defizitorientiert. Ihr Einsatz in der Intervention (im Sinne einer Problemlösung) und der Prävention (im Sinne des Vermeidens von Problemen) verfestigen diese Position. „Jungen- und Männerarbeit ist nicht (nur) aus einem „Anti“ (z. B. Anti-Sexismus, Anti-machismo) zu bestimmen, sondern aus einem „Pro“ zu begründen“ ((Hrsg.), 1997, S. 54) Die Pädagogik stößt mit der Haltung der verstehenden Jungenarbeit nicht nur wegen der mangelnden Verbreitung dieser Einstellung an ihre Grenzen – immerhin wird sie kaum vermittelt – sondern auch durch die Rahmenbedingungen des Schulsystems an sich. Kann im Zuge eines koedukativen Unterrichts beides, nämlich das vorurteilsfreie Vermitteln weiblicher und männlicher Geschlechtsidentitäten (möglicherweise im Sinne der Dekonstruktion von Geschlecht) vermittelt werden? Nachdem geschlechterhomogene Jungenberatung (wie bereits erwähnt) nicht als Methode, sondern als Haltung fungiert, kann sie als Setting vielfältig eingesetzt werden, um sich aufgrund ihrer verstehenden Position der Probleme von Jungen anzunehmen. Möglich sind Einzelsetting ebenso wie Gruppenarbeit, pädagogische, psychosoziale wie sozialpädagogische Settings, basierend auf Akzeptanz, Sachkompetenz und Solidarisierung (s. S. 4) werden die Settings eingegrenzt durch: 1) Wirtschaftliche Rahmenbedingungen: Geschlechterspezifische Jungenarbeit ist in Österreich weit davon entfernt, flächendeckend arbeiten zu können. Die bestehenden Institutionen sehen sich aus diesem Grund einer großen Zahl von (potentiellen) Klienten gegenübergestellt. Der Zusammenhang zwischen Projektqualität und den finanziellen Ressourcen bestimmt die Mitarbeiter- und Klientenzufriedenheit. 2) Gesetzliche Rahmenbedingungen: Die Abgrenzung der sozialpädagogischen Beratung zur Psychotherapie ist klar im Psychotherapiegesetz, BGBl.Nr. 361/1990 ST0151, geregelt. 3) Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen: Fehlt der politische Wille zur Umsetzung von Jungenarbeit, so kann sie nicht umgesetzt werden. Verharren Schule, Kirche, Politik etc. in einer veralteten Sicht von Geschlecht, so wird Jungenarbeit darüber hinaus stets reaktiven Charakter aufweisen müssen. „Die Jungenarbeit darf nicht Veränderungsmöglichkeiten versprechen und fordern, die gesellschaftlich kaum umzusetzen sind. So bleibt sie stets der Defizit-Sicht verhaftet.“ (Kerstin Bronner, 2007, S. 208) Einzig im Bereich der Mediation ist die Haltung der verstehenden, geschlechterhomogenen Jungenberatung nicht angezeigt, da eine der wesentlichen Grundhaltungen – die Subjektivität – vom Setting aus logischen Gründen nicht zugelassen wird. Darüber hinaus sind im Rahmen dieser Arbeit soziologische Fragen rund um den Kernbegriff der „Jugend“ sowie den Ansätzen des „Gender-Mainstreamings“ sowie dessen Ableger des „Diversitymanagements“ aufgetaucht, die in weiterer Folge als kritischer Ausblick behandelt werden. 18 7.1 Jugend und Pubertät als soziales Konstrukt? sich zwei wichtige Gründe anführen: gleichzeitige Ausdifferenzierung und Vereinheitlichung sowie gleichzeitige Vereinnahmung und Ausgrenzung.“ (Ralf Puchert, 2004, S. 104) Wieder bleibt offen, welche Ziele, Werte und Orientierungen damit gemeint sein könnten. Die Hinweise jedoch, die Jugend als Sozialkonstrukt zu verstehen, verdichten sich: „“Der Jugendliche“, das haben Roth (1983) und Herrmann (1982) gezeigt, ist eine durch und durch negative Begriffskonstruktion, die etwa vor 100 Jahren im Kontext von Strafvollzug und Verwahrlosung entstand – und unser Denken über, unsere Wahrnehmung von und auch unser (pädagogisches) Handeln jungen Leuten gegenüber – unbewusst, doch wirksam – mitdeterminiert.“ (Griese, 2001, S. 283) Wenn „Jugend“ im allgemeinen und „Jungen“ im speziellen als Präkariat verstanden werden kann, das die Möglichkeit bietet, als Projektionsfläche gesellschaftlich verursachter Problemfelder von Gewalt bis Sucht zu funktionieren, so muss dies im Rahmen sozialpädagogischer Beratung berücksichtigt werden. Im Bereich „Schule“ scheint diese Entwicklung bereits stattgefunden zu haben: „Werden in den Schulen Konferenzen wegen Disziplinarfällen einberufen, so beschäftigen sich die LehrerInnen überwiegend mit dem auffälligen Verhalten der Jungen. Lediglich 10 bis 15 % all dieser Konferenzen werden wegen der Mädchen einberufen.“ (Boldt, 2005, S. 106) Bezugnehmend auf Sozialisation wird verstärkt: „Jugend „kann auch nicht mehr mit Begriffen wie „Sozialisation“ oder „Enkulturation“ gefasst werden, die ja vom Grundmuster einer individualgeschichtlichen Übernahme von ansonsten kollektiv geltenden und vorgegebenen, individuell abgestützten kulturellen Regeln und Normen ausgehen“ (Michael Brater, zit. n. Sellmann 2000, S. 6)“ (Ralf Puchert, 2004, S. 104). Im Zuge der fachspezifischen Lektüre stellte sich die Frage: Wenn erwachsene Männer und erwachsene Frauen geschlechtsbezogene Zuschreibungen seitens Ihres sozialen Umfeldes erhalten, die sie im Sinne des doing-genders zu erfüllen haben um Geschlechtsidentität zu erlangen und wenn das Gleiche auch für Mädchen und Buben im Kindesalter gilt – welche Aufgaben und/oder Eigenschaften, die es zu erreichen gilt, werden Jugendlichen zugeschrieben? Jenseits der gestellten Anforderung, zum „Mann“ oder zur „Frau“ zu werden, scheint es in diesem Lebensabschnitt kaum Aspekte zu geben, die erfüllt werden können um „erfolgreich“ jugendlich zu sein und auch diese Aufgabe impliziert ein Problem: Wenn Jugendliche den Auftrag haben, zum „Mann“ beziehungsweise zur „Frau“ zu werden, so wird der Lebensabschnitt der Jugend also dadurch definiert, ihn überwinden zu müssen. Der Zustand des „jugendlich seins“ ist demnach kein wünschenswerter, sondern ein defizitärer – ein Zustand der „Nicht-Existenz“, dessen Überwindung oberste Priorität erhält. Impliziert dies, dass es sich bei den Begriffen „Jugend“ und die oft synonym verwendete „Pubertät“ um soziale Konstrukte handelt? Wenn ja – läuft die Jungenarbeit Gefahr, diese Konstrukte und die daraus entspringenden Klischees zu reproduzieren? Während Margaret Mead die Unumgänglichkeit der Pubertät inklusive ihrer (negativen) Auswirkungen auf Verhalten bereits 1928 in ihrem Buch „Coming of Age in Samoa“ in Frage gestellt hatte, so ist die Frage nach den Hintergründen der „Jugend“ ungleich schwieriger, obgleich der Terminus (undefiniert) in den Sozialwissenschaften häufig verwendet wird. „Ferner „lassen sich Aufgaben formulieren, die mit dem Heranwachsen und mit der Bewältigung des jugendlichen Alltags in der Regel verbunden sind. Dazu gehören die Auseinandersetzungen mit Sexualität, die Veränderung in den Beziehungen zu den Eltern und die von der Gleichaltrigengruppe an [die Jugendlichen. J.] herangetragenen Erwartungen, sich in angemessener Weise als „jugendlich“ und „weiblich“ bzw. „männlich“ darzustellen.“ (Breitenbach 2000 zit. in: Jens Luedtke, 2008, S. 48) Die Frage, wo und wie jenseits allfälligen Sexualkundeunterrichts jedoch die Auseinandersetzung von Jugendlichen mit ihrer Sexualität gefordert oder gar gefördert wird, bleibt unbeantwortet. Nimmt im Rahmen der Sekundärsozialisation die peer-group zwar eine besonders identitätsstiftende Funktion ein, so ist die Mitgliedschaft in peer-groups keineswegs ein Primat der Jugend, sondern auch Teil der Tertiär- und Quartärsozialisation. (vgl. (Grundmann, 2006, S. 129 ff.)) Es bleibt die Frage offen, ob die Etikettierung von Klienten im Rahmen der geschlechterhomogenen Jungenberatung als „Jugendlich“ eine sinnvolle ist – speziell im Hinblick auf die Befürchtung, dass finanzielle Träger von Beratungseinrichtungen für Jugendliche den Arbeitsauftrag der Gewaltprävention beziehungsweise der Intervention bei bereits geschehenen gewalttätigen Übergriffen automatisch voraussetzen. Eine Reduktion der Problemfelder von Jugendlichen auf den Gewaltkontext wäre die zu erwartende Folge – die Vernachlässigung der anderen Lebensbereiche und der dazu gehörenden Problemlagen der Klienten wäre die Konsequenz. Böhnisch formuliert am Beispiel „Mann“ mit problematischer Sprache: „So hat sich auch um die alarmierende Verstrickungsdynamik des sexuellen Missbrauchs und familialer Gewalt ein für die Männer verhängnisvoller Verdeckungszusammenhang gebildet, der nur durch eine öffentliche Thematisierung aufgebrochen werden könnte. Eine solche wiederum aber würde – abgesehen von dem immer noch sakrosanten (sic!) Täterverdikt, das die feministische Zunft erlassen hat – die Aufmerksamkeit auf die ökonomischen Fallen lenken, in die Männer immer wieder geraten.“ (Böhnisch, 2003, S. 141) Zusätzlich kann dieses Zitat auch als Beispiel für die unnötige Konstruktion von Feindbildern innerhalb der Diskussion rund um geschlechtsspezifische Problemlagen und als Argument für die Dekonstruktion von Geschlecht dienen. Faktum scheint, dass der Begriff der „Jugendlichkeit“ einer Veränderung unterworfen ist: „Auch in der Theorie wird Jugend heute immer seltener als Übergang, als „transitorische“ Phase zwischen den relativ klaren und festen Welten der Kindheit und des Erwachsenenalters gesehen (Beck 1998). Vielmehr wird sie als eigenständige Lebensphase mit eigenständigen Zielen, Werten und Orientierungen verstanden. Für diesen Perspektivwechsel lassen 19 institutionalisiert wird, um – jenseits der inhaltlichen Konzepte von (sozialen) Institutionen – einen Rückzug oder Einsparungen zu argumentieren. So könnte zum Beispiel Jungenarbeit an eine Familienberatungsstelle des Landes Salzburg ausgegliedert werden mit dem Argument, diese würde sich zur geschlechtssensiblen Arbeit mit Jugendlichen (nicht mit Jungen) verpflichten. Zwei der Hauptfaktoren geschlechtersensibler Arbeit (die positive Diskriminierung am Beispiel des oben genannten Frauenministeriums und die Parteilichkeit für Jungen in diesem Fall) würde dadurch pervertiert werden. Auch möchte ich an dieser Gelegenheit an Frauenminister Herbert Haupt erinnern: Seine Bestellung als Mann könnte sich mit derselben Argumentationslinie verteidigen lassen. Die VertreterInnen der Sozialen Arbeit sollten aus diesem Grund ein starkes Augenmerk auf die Möglichkeit legen, „Gender-Mainstreaming“ als Argument für neoliberale Politik geltend zu machen und somit eine Verschlechterung der Positionen ihrer KlientInnen zu ermöglichen. In Bezug auf die scheinbare Verbindung zwischen „Gewalt“ und „Männlichkeit“ schreibt Fleischmann: „Ausmaß und Häufigkeit von Aggressionen zeigen keinerlei Unterschiede zwischen den Geschlechtern was ihren Einsatz betrifft. Ein beachtlicher Unterschied liegt in der Form der Aggression. Bei Buben herrscht eine physische und direkte Aggression vor. Mädchen hingegen bevorzugen verbale und indirekte Aggressionen.“ (Fleischmann, 2008, S. 56) 7.2 Gender-Mainstreaming, Diversitiy-management und Neoliberalismus: Eine Triage? 7.2.1) Gender-Mainstreaming und Neoliberalismus? Unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität, die eine Trennung von „sex“ und „gender“ inklusive der daraus resultierenden Erkenntnisse mit sich bringt, und die nach unzähligen Überprüfungen als gesichert angesehen werden kann, bringen die Begriffe „Gender-Mainstreaming“ und „Diversity-Management“ auch Schwierigkeiten in das Arbeitsfeld der geschlechterhomogenen Jungenberatung. Die schwammige Begrifflichkeit und die Probleme bei der Übersetzung ins Deutsche am Beispiel „Gender-Mainstreaming“ sind eine davon – die Auswirkungen sind nicht klar zu fassen, obgleich die Vermutung nahe liegt, dass die Reichweite des Konzepts sowie dessen Verständlichkeit darunter leidet. Deutlicher wird der Zusammenhang bei Böhnisch: „Die Gender-Mainstreaming-Programmatik, die nun auch den Mann in seiner Bewältigungsproblematik anspricht, aber nicht erreicht (s.o.), ist ein Beispiel dafür. Gleichzeitig stellt sie nicht mehr als ein Übergangsprogramm dar: Sie wird nicht mehr im „alten“ sozialstaatlichen Sinne der Wohlfahrtsbalance, sondern im sozialtechnologischen Sinne der Steuerungsbalance forciert, ohne dass neue sozialstaatlich gestaltbare frauen- und männerpolitische Perspektiven sichtbar werden. Die kontroverse Diskussion um die geschlechterpolitische Reichweite des Gender-MainstreamingProgramms setzt aber die Perspektive frei, dass es eines neuen sozialstaatlichen Anlaufs bedarf, um den Genderdiskurs, der in das Magnetfeld der globalisierten Ökonomie geraten ist, wieder in ein wohlfahrtspolitisches Magnetfeld bringen zu können“ (Böhnisch, 2003, S. 139) Im Zuge möglicher weiterer Arbeiten können zwei Theorien aufgestellt werden: 1.) „Gender-Mainstreaming“ beinhaltet selbst Merkmale und Strukturen neoliberaler Politik. oder 2.) „Gender-Mainstreaming“ lässt sich aufgrund der breit gestreuten Inhalte derer es sich annimmt, von neoliberalen Politiken als Argument vereinnahmen. 7.2.2) „Diversity-Management“ und Neoliberalismus? Definition für Organisationen: Das aus den USA stammende Konzept des „DiversityManagements“ beschäftigt sich mit der Vielfalt, der Heterogenität, den Unterschieden innerhalb der Organisationen und zielt darauf ab, in der gegenwärtigen Phase der „flexiblen Akkumulation“ (Harvey 2000: S. 141 – 172) die Unterschiedlichkeiten der Individuen, Kulturen, Strategien, Funktionen etc. gezielt als strategische Ressource zur Lösung komplexer organisationaler Probleme zu nutzen.“ (Hans-Jürgen Aretz, 2002, S. 8) Wenn Soziale Arbeit im Allgemeinen und Jungenarbeit im Speziellen dazu tendieren, Unterschiede, Vielfalt und deren ungenutzte Ressourcen dahingehend zu nutzen um eine gesteigerte Leistungsfähigkeit der KlientInnen an Schulen, Arbeitsplätzen, etc. zu garantieren, so kann die Frage gestellt werden, inwieweit dem eigentlich im Vordergrund stehenden Gedanken der Beseitigung von Ungleichheit durch rassistische bzw. sexistische Zuschreibungen noch Rechnung getragen werden kann. Die bestehende Gefahr ist demnach, dass Politiken „Gender-Mainstreaming“ benutzen, um neoliberale Rückzüge aus der Sozialpolitik durchzuführen. Am Beispiel erklärt: 1998 tritt der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder vor die Medien und erklärt die Abschaffung des niedersächsischen Frauenministeriums. Seine Erklärung ist eine Interessante: Alle Ressorts der deutschen Landesregierung hätten sich verpflichtet Frauenpolitik zu betreiben – demnach sei das Ministerium überflüssig. (vgl.: (Schunter-Kleemann, 2001, S. 20) Es besteht auch in Österreich die theoretische Möglichkeit, dass „Gender-Mainstreaming“ von politischen Machtstrukturen 20 adulte Männer von ihrem „Geschlecht“ profitieren, kennzeichnet diese Phase der geschlechterhomogenen Jungenberatung. Auch wird beleuchtet, dass Jungen im Gespräch mit „Männern“ ihr Geschlecht nicht „performen“ müssen, wie dies sonst zu befürchten wäre, wenn es um scham- oder angstbesetzte Themen geht. Die Globalisierung der Lebenswelten erzeugte und erzeugt vielfältige Erschütterungen aller ihr integrierten Individuen. Jungen und Männer erleben nicht zuletzt aufgrund der Veränderungen am Arbeitsmarkt eine Gesellschaftsform, in der die Planung und Organisation ihrer Existenz – egal ob als Einzelperson oder in der Funktion als Familienerhalter – erschüttert wird. (s. S. 14 f.) Die Neubewertung des „männlichen Geschlechts“ wirft neue Fragen auf und erzwingt eine Neupositionierung. Geschlechterhomogene Jungenberatung zielt auf die Möglichkeit ab, Jungen mit betroffenen Männern in Verbindung zu bringen, die ebendiese Problematik durchlebt haben und Lösungen vorleben können. Die Relativierung der hegemonialen Stellung des „Mannes“ kann von Betroffenen besprochen werden. Die Frage, ob die Risikogesellschaft selbst ein Männerbild kreiert und fordert, wird diskutiert. Die Jungenarbeit beschäftigt sich in der logischen Konsequenz mit der „Dekonstruktion der Geschlechter“ und steht vor dem scheinbar unlösbaren Problem Geschlechtlichkeit nicht binär zwischen männlich und weiblich erklären beziehungsweise hinterfragen zu wollen. Das Verlegen der Binarität (und ihrer Unzulänglichkeit im Hinblick auf Personen, die sich jenseits oder zwischen diesen beiden Polen entwickelt haben) ins Zentrum der Diskussion erscheint als mögliche Lösung, während andere Positionen (wie der Ansatz des einheitlichen Geschlechts nach Laqueur) fallen gelassen wurden. Die Ausweitung der Möglichkeiten des Einzelnen durch das Wegbrechen von geschlechtsspezifischen Zuweisungen und Dogmen soll als Ziel ein breiteres Handlungsspektrum und größere persönliche Freiheit garantieren. Außerdem sollte sich die VertreterInnen der Sozialen Arbeit die Frage stellen, wie ein Konzept, das per se auf die Vermeidung von rassistisch und sexistisch motivierter Unterdrückung abzielt, so modifiziert werden kann, dass die Gefahr einer Vereinnahmung sozialarbeiterischer Arbeit im Sinn der Gewinnmaximierung und des Neoliberalismus gleichermaßen verhindert. „Ein neues Verständnis von Vielfalt ergibt sich auch aus der Analyse der Konstruktionsmechanismen der sozialen beziehungsweise kulturellen Herstellung von Geschlecht (doing gender), der Konstruktionsprozesse von Kultur und Fremdheit (doing ethnic) oder der gesellschaftlichen Definition von Behinderung. Wenn diese Herstellung von Differenz und die dahinter liegenden Machtverhältnisse nicht dekonstruiert werden, wird Diversity Management zu einer affirmativen Strategie, die die sozialpolitisch zu verändernden Ausgrenzungsmechanismen gerade nicht in den Blick nimmt.“ (http:// www.b-b-e.de/uploads/media/nl20_schroeer.pdf S. 2) 8. Fazit - Warum brauchen Jungen Männer? Aufgrund der vielschichtigen Veränderungen nicht nur im Sozialisationsprozess, sondern auch in Bezug auf ständig veränderte Anforderungen an Jungen und heranwachsende Männer, ergeben sich Problematiken, die Jungen oftmals nicht alleine zu bewältigen wissen. Die Absenz des Vaters und damit der männlichen Vorbildfigur beginnt bereits im Abschnitt der Primärsozialisation und drängt Jungen zur Identitätsfindung mittels Abgrenzung zur „Weiblichkeit“. (s. S. 4) Diese negativ-Haltung des „männlich-seins“ durch „nicht-weiblich-sein“ legt die Vermutung nahe, dass eine Abwertung des „weiblichen“ Geschlechts als Konsequenz erwartet werden kann. Der „anti-sexistische“ Ansatz – und gleichzeitig ein wichtiger Entwicklungspunkt der Jungenarbeit zu Beginn der 80-er Jahre – bleibt in seinen Ansätzen gültig, da er das bestehende Rollenverständnis der Geschlechter hinterfragend beleuchtet und (nach Abschluss des Diskurses im Sinn der geäußerten feministischen Kritik, im Sinne von z. B. Heiliger, an der Jungenarbeit) zum Schluss kommt, dass ein verstehender Ansatz in der Jungenarbeit vonnöten ist um die Problemlagen rund um fehlende Väter, veraltete Geschlechterrollen und Geschlechterzuweisungen zu bewältigen. Die Erkenntnis dass Jungen nicht zwingend Vorteile daraus ziehen, dass Dennoch bleibt die Jungenarbeit in weiten Teilen defizitorientiert – ein Problem, das (ausgerechnet) von einem pseudowissenschaftlichen Ansatz aufgenommen wurde und einen Impuls in Richtung eines positiv-konnotierten Selbstverständnisses von Männlichkeit gibt. Für die Zukunft wird es unerlässlich sein, die Rahmenbedingungen der Jungenarbeit, nämlich die Termini „Gender-Mainstreaming“, „Diversity-Management“ und „Jugend“ genauer zu betrachten um die Frage beantworten zu können, inwieweit sie Strukturen bilden, die einem Arbeitsfeld schaden können, welches als Ziel nichts weniger verfolgt als das Schaffen einer akzeptierenden Koexistenz von Menschen. 21 Literatur verzeichnis Ottemeier-Glücks, Gerd: Neues aus dem Mekka der antisexistischen Jungenarbeit. Ein Blick in die Internet-Diskussion. In: Möller, Kurt (Hg.): Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und Männerarbeit. Weinheim/München: Juventa 1997 (Hg.), R. W. (1997). Nur Macher und Macho? Weinheim & München: Juventa. (Hrsg.), K. M. (1997). Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und Männerarbeit. Weinheim & München: Juventa. Badinter, Elisabeth: Der Konflikt. Die Frau und die Mutter. München: Beck 2010 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. 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Oktober 2011 in der FH Campus Wien Im ersten Vortrag führte PhD Raewyn Connell ihre Überlegungen zu globale Maskulinitäten und ihrem Kontext zu Bubenarbeit vor. Sie erklärte den derzeitigen Gender-Diskurs. Danach stellte Dipl. soz. Miguel Diaz das bundesdeutsche Netzwerk »Neue Wege für Jungs« vor und führte durch aktuelle Zahlen die Situation von Mädchen und Burschen am Arbeitsmarkt vor Augen. Die Tagung begann mit geringer Verspätung. Die Moderation wurde von der Journalistin und Buchautorin Sibylle Hamann sehr professionell und sympathisch durchgeführt. Nach einem angenehmen Mittagessen und regen Austausch unter den TeilnehmerInnen wechselten wir den Raum und Frau Hamann führte in das World Café ein. 18 TischgastgeberInnen konnten besucht werden, es gab 4 Runden. Die beiden offenen Tische wurden zu Beginn der Veranstaltung noch besetzt. Nach der Begrüßung durch FH-Prof.in Mag.a Ulrike Alker und Philipp Leeb, der stimmlos eine PowerPoint präsentierte, wurden die VertreterInnen Dennis Beck (WiG), Dr. Johannes Berchtold (BMASK), Mag.a Evelin Langenecker (BMUKK) und Mag. Richard Meisel (AK Wien) der fördergebenden Einrichtungen im Wordrap interviewt. Im Anschluss daran präsentierte Mag. Romeo Bissuti die neu aufgelegte BMUKK-Broschüre »Stark! Aber wie?« und führte daraus drei Übungen mit allen TeilnehmerInnen durch. Außerdem erklärte er den Ansatz gewaltpräventiver Arbeit als Vertreter von White Ribbon Österreich. Nach der Nachmittagspause eröffnete Jens Malmström einen intensiven Einblick (mittels Prezi) in die Arbeit des Onlineforums killfragor.se, dass Burschen die Möglichkeit gibt, niederschwellig sehr persönliche Fragen stellen zu können. Drei Interviewserien werden durch Walter Dickmanns, Lehrer am BORG I, Hegelgasse 12, vorgeführt. Die SchülerInnen seiner Medienklasse interviewten Menschen zu den Themen »Männlichkeiten/ Weiblichkeiten«. Gleich danach gab es eine abschließende Podiumsdiskussion mit den ExpertInnen. Die Veranstaltung wurde um 18:15 beendet. Es kamen etwa 150 Personen über den ganzen Tag verteilt. Der Anteil von Frauen und Männern lag bei jeweils 50%, was aus Sicht der Veranstalter ein sehr schönes Ergebnis ist. Philipp Leeb, Obmann Verein Poika (Quelle: www.poika.at) Relevante Poika-Links http://www.poika.at/tagung/ http://www.poika.at/einblicke/audio/ http://www.poika.at/tagung/videos-der-tagung/ 23 23 Der Idealbub ist ein Mädchen Am 7. Dezember 2011 veröffentlichte Aleid Truijens, Journalistin, Autorin und Kolumnistin der niederländischen »De Volkskrant« diese folgende Kolumne: AMSTERDAM, NIEDERLANDE – Einer der Ausgangspunkte im ursprünglichen Projektauftrag des Landes Salzburg war die Frage, ob Salzburg ein Kompetenzzentrum für Jungenarbeit brauche. Ein Zentrum, wo – neben spezifisches Fachwissen und Zielgerichte Aufklärungsarbeit und Beratung – vor allem auch internationale Vernetzung und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema einen Platz finden müssten. »Der Idealbub ist heutzutage ein Mädchen, und der einzig wahre Bub, hat ADHS.« »Ob es jetzt Zufall ist oder nicht, in den vergangenen Wochen traf ich drei Männer, die – im Gespräch über ihre Kinder – den Terminus »ADHS« verwendeten. Jedes Mal war ein Sohn das »Opfer«. »Na ja, der jüngere hat Schwierigkeiten in der Schule. Er hat ADHS.« »Der Mittlere war zu Hause wirklich unausstehlich. Hatte ADHS, verstehst du?« »Der Dreißiger sitzt schon seit Jahre zu Hause. Er wird, wegen seines ADHS, überall gekündigt.« Jedes einziges Mal wurden die Söhne nicht als Mensch mit einem Problem beschrieben, sondern einfach als »Typ mit ADHS«. Die Krankheit ist zur Identität geworden. Ein Blick auf aktuellen Entwicklungen in den Niederlanden zeigt, wie wichtig, informativ und konfrontierend internationale Vernetzung funktionieren könnte. Nur schon die Gedanke, ein Kompetenzzentrum in Salzburg wäre im Stande, europaweit Ansichten und Studien zu sammeln und verbreiten, ist eine aufregende Idee. So wird in den Niederlanden zur Zeit heftig über Sinn und Unsinn vom »Political Correctness« diskutiert. »Führt politisch korrektes Verhalten dazu,« fragt man sich, »dass – gerade in Konfliktbereichen, wie Gewalt, Jungenarbeit und Gender – Konfliktstoff einfach nicht diskutiert wird? Ist »Political Correctness« sozusagen ein Risikomeidendes Verhalten geworden? Und wird dadurch genau das unbesprochen gelassen, was dringend besprochen gehört? Opinion Leaders Wichtige Opinion Leaders in den Niederlanden, allen voran Kabarettisten, Sozialwissenschaftler und Journalisten, versuchen zu hinterfragen, ob unsere Gesellschaft nicht einfach extrem korrekt ins Reaktionäre abdriftet. Und somit höchst korrekt Platz fürs Extreme kreiert. Weltweit heißt es verhängnisvoll, es sei ein »großer Wandel« im Kommen. Tatsächlich? Und ist dieser »Wandel« dann möglicherweise nichts anders als eine Gemeinschaft, die endlich – unvorstellbar langsam – einfach versteht, dass wir unsere Probleme offen ins Auge sehen müssen? Dass wir Fragen wieder stellen dürfen (und uns trauen müssen sie uns zu stellen!), sogar wenn es vielleicht ein wenig Weh tut? Ein Perspektivenwechsel In dem Fall würden wir die Perspektive wechseln. In dieser Hinsicht, könnte die bereits angekündigte Veröffentlichung (voraussichtlich im März 2012) einer Sozialstudie der Historikerin Angela Crott in den Niederlanden höchstinteressant sein. Die Kolumne auf den nächsten Seiten wurde im Dezember 2011 in der niederländischen »De Volkskrant« veröffentlicht. Sie liefert ein weiterer Beitrag an diesem Themenpaket und ist nebenbei ein guter Beweis für die Notwendigkeit, die gerade mal aufgestartete Vernetzung der Männerwelten europaweit voran zu treiben. Es wäre «nur« einen weiteren Schritt in Richtung Kompetenzzentrum für Jungenberatung – ein Zentrum, das auch europaweite Inputs gezielt weiterleiten würde … 24 Letztes Jahr gab es Laura Batstra, eine Psychologin, die ihren Job in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kündigte, weil sie sich ärgerte über die einfache Art und Weise, womit Kinder die Diagnose »ADHS« aufgeklebt bekommen. »ADHS sagt etwas aus, über die Tragfähigkeit und Toleranz der gesellschaftlichen Umgebung des Kindes« sagte sie in der Zeitung »Trouw«. Noch etwas weiter wagte sich Kinderpsychiater Sjef Teuns – Gründer der medizinische Tagesbetreuung für Kinder, also keiner, der Verhaltensprobleme unterschätzen würde. Er nannte ADHS eine »Wahndiagnose, die die Realität verschleiert«. Wenn du nicht sauber mitmarchierst,« sagte Teuns, »kriegst du Ritalin.« Krankheit? ADHS ist keine Krankheit, sondern lediglich eine Verhaltensbeschreibung. Es gibt keine medizinische Ursache. Wer in einem Test punktet mit Symptomen, wie unkonzentriert sein, hektisch und sprunghaft, der »hat« es. Unvorstellbar viele Kinder haben es. In manchen Schulklassen die Hälfte, vor allem Buben. Obwohl es sich absolut nicht um eine Krankheit handelt, gibt es ein wirksames Heilmittel: Ritalin. Es bekämpft nicht die Ursachen des Verhaltens – welche auch immer – sondern unterdrückt die Symptome. »Hektische« Kinder werden auf Anhieb ruhig gestellt. Das Wundermittel ist dermaßen effektiv, dass die Versuchung, die Medikation zu verlangen, für Eltern und Lehrer besonders groß ist. Die pharmazeutische Industrie freut sich über Millionen Abnehmer. Es ist unbekannt, welche Effekte der jahrelange Konsum der Pillen mit sich bringt. Lausbubenverhalten Und jetzt taucht die Historikerin Angela Crott, mit einer kühnen Behauptung über ADHS auf: »Das diagnostizieren von hektischen Buben als ADHS-Patienten ist ein Auswuchs der bürgerliche Zivilisationsinitiative, die im 19. Jahrhundert angefangen hat« behauptet sie in ihrer Dissertation. Sie hofft am 21. Dezember mit der Untersuchung »Von Hoffnung des Vaterlandes bis zum ADHS-Fall« doktorieren zu können. Ich bin gespannt auf dem Buch, das ich bis jetzt nur in Zusammenfassung kenne. Crott sah nach in Erziehungsbücher – erschienen im Zeitraum 1882-2005 – wie sich das Gesellschaftsbild von Buben wandelte. Die Buben an sich veränderten sich über mehr als ein Jahrhundert nicht, konkludiert sie. Die blieben die lärmende, grobe, rabaukende, schlampige, impulsive, angeberische und herzergreifende Truppe von damals. Aber was vor hundert Jahr noch »Lausbubenverhalten« war, ist heutzutage lästig. Verzweiflung In jüngster Zeit wächst die Kritik an die epidemische Zunahme von ADHS. Dennoch zweifelt niemand daran, ob es die Symptome tatsächlich gibt. Wir kennen ja alle diese Kinder, die nicht eine Sekunde sitzen bleiben können. Nicht zuhören und sich im Bestfall zwei Sekunden mit Spielzeug beschäftigen. Jungs, vor allem, die sich rabaukend, schreiend und tobend ein Weg über den Schulplatz bahnen. Wir kennen auch ihre Eltern, machtlos warnend im Supermarkt, und die seufzende Lehrerin, die diese Störsender aus der Klasse schickt. Verständliche Verzweiflung. Diese Entwicklung geschah schleichend. Vor 1945 war der Bub noch »Erbprinz des Himmels«, der, nachdem er sich ausgetobt hatte, einfach Ernährer der ganzen Familie wurde. Nach dem Krieg, als die städtische Bevölkerung wuchs und die Macht der Eltern langsam verschwand, wurden Jungenstreiche (Halbstarken!) immer öfter für »Belästigungen« angesehen. Die Feministen in den 70-er Jahren nannten Bubenverhalten »aggressiv«. Seit den 80-er Jahren wurde Verhalten immer mehr in psychologischer Terminologie umschrieben, wodurch immer mehr »Abweichungen« festgehalten wurden. Außerdem gab es immer mehr Eineltern-Haushalte und immer weniger Männer unterrichteten an den (Volks)schulen. Daraus folgte, dass immer mehr Buben männliche »role models« abhanden kamen. Zu guter letzt lag der Schwerpunkt – in der Schule – bei selbständigem Arbeiten und Selbstreflektion: die Leistungen von Buben wurden ständig schlechter. Heutzutage ist deshalb der Idealbub ein Mädchen; und der einzig wahre Bub hat ADHS. Eine schöne, historische Analyse, die sehr gut ergänzt, was Erziehungsexperten, wie Louis Tavecchio, Martine Delfos und Micha de Winter, darüber bereits veröffentlichten. Es ist an der Zeit, Lösungen zu finden und Maßnahmen zu nehmen. Rettet den Buben, er verdient es. © Aleid Truijens, Volkskrant, 7. Dezember 2011 (Übersetzung aus dem Niederländischen: Bert van Leerdam) 25 Ein Junge ist ein Junge … ist doch kein Junge Südtirol – In Südtirol gibt es seit mehreren Jahren den AKM. »Im Arbeitskreis Männer und Bubenarbeit – AKM treffen sich Männer, welche in verschiedenen sozialen Einrichtungen arbeiten. Darin vertreten sind Jugenddienste, Jugendzentren, Caritas, Forum für Suchtprävention, Jugendhaus Kassianeum, Amt für Jugendarbeit, ... Es ist ein freier Zusammenschluss von Einrichtungen, welche unter anderem mit Jungen bzw. Männern arbeiten. Träger des Arbeitskreises ist das Jugendhaus Kassianeum. Dabei sind folgende Ziele vorrangig: » » » » » » Eine wichtige Veranstaltung der letzten Jahre in Südtirol war die Tagung »Geschlechtsbewußte Jugendarbeit« im November 2005. Das Referat von Armin Bernhard anlässlich der Tagung wird hier ungekürzt übernommen, da es eine sehr wesentliche Diskussion in der Jungenarbeit zusammenfasst. »Ein Junge ist ein Junge … ist doch kein Junge.« Bubenarbeit Von der antisexistischen Jugendarbeit bis zum Queer-Ansatz Eine Klasse von 13jährigen Jungen und Mädchen besucht eine Ausstellung. Um eine Weltkarte stehend drehen sie sich und zeigen einander den Rücken. Spielerisch sollen sie nun das Wetter auf den Schultern des anderen darstellen und es selbst empfinden. Der Sonnenschein, der einen wärmt, die zarten Regentropfen, ein leichter Sturm,... Alle genießen sichtlich dieses Spiel, das Streichen der Hände, das Berühren der Fingerspitzen. Doch als der leichte Sturm kommt, artet dieser bei den Jungen schnell zu einem heftigen Getöse aus, bei dem alle kräftig durchgebeutelt werden und jeder wieder acht geben muss, nicht von den Wirren der Witterung und mehr noch von den Angriffen der Kollegen überfallen zu werden. Die Jungen haben sich wieder mal bewiesen, dass sie »richtige Jungs« sind, dass sie mal Männer werden. Körpererfahrungen, bei denen es zuallererst um Wahrnehmung, Sensibilität und Achtsamkeit geht, entsprechen nicht den Erfahrungen, welche Jungen in der Realität, in der Gruppe, unter Gleichaltrigen machen. Dort gehen sie angespannt durchs Leben, immer auf der Hut, immer darauf bedacht sich keine Blöße zu geben, jederzeit gewappnet zu sein. Theoretische Auseinandersetzung mit der Geschlechterund Männerforschung Theoretische Ansätze der Bubenarbeit Ausarbeitung konkreter Konzepte zur Männer- bzw. Bubenarbeit Umsetzung von Männer- und Bubenarbeit in die jeweilige Praxis und Reflexion derselben Weiterbildung für in diesem Bereich Tätige Gesellschaftliches Thematisieren geschlechtskritischer Pädagogik Jungenarbeit – woher? Aufbauend auf die Annahme, dass Jugendarbeit eigentlich Jungenarbeit sei, weil sie an den Interessen von Jungen orientiert, entstand die Mädchenarbeit, welche eigene Räume und Inhalte schuf. Erst später, zuallererst in der Alten Molkerei Frille in Deutschland, entstanden erste Ansätze von (sogenannter »antisexistischer«) Jungenarbeit. Mitte der Neunziger Jahre, auf Initiative von Klaus Nothdurfter vom Amt für Jugendarbeit, entstand in Südtirol der Arbeitskreis Buben- und Männerarbeit, welcher sich sehr intensiv mit Theorie und Praxis der Jungenarbeit auseinandersetzte. Organisiert und durchgeführt wurden Tagungen, Weiterbildungen und Projekte, allerdings, so richtig durchgesetzt und einen ebenso starken Stellenwert wie die Mädchenarbeit hat die Jungenarbeit noch nicht bekommen. 26 indem ich mich so kleide, so gebe, usw. Dieses als »Doing Gender« Bezeichnete ist aber auch wandelbar und verändert sich auch im Laufe der Zeit. Jungenarbeit, welche sich am Konzept orientiert, dass Männer »gemacht« sind und Jungen auch Fähigkeiten außerhalb der »Jungenrolle« erlernen können, fördert neue Kompetenzen derselben. Sie dürfen Angst haben und auch mal weinen. Aber Jungen wollen und brauchen natürlich noch Abenteuer. Haben die Jungen wenig Interesse, unter Jungen zu sein? Geht es den Jungen gut, sodass sie diese nicht wollen? Gibt es zu wenig Männer, welche mit Jungen arbeiten? Oder fehlt es gar an Inhalten, Praxiskonzepten, welche umgesetzt werden könnten? Ist Jungenarbeit eine Forderung der Frauen und für Jungen und Männer nicht so wichtig? Schaut man sich die Statistiken an, so bekommt man den Eindruck, dass es schlecht um die Jungen steht. Zwei von drei Gewaltopfern sind Männer, die Täter zum überwiegenden Teil Männer, die Schulabbrecherrate unter Jungen ist viel höher, die Lebenserwartung ist niedriger, die Krankheitsrate höher – verkürzt gesagt, Mann-Sein ist gefährlich. Und bei solch einer Diagnose kommt die Jungenarbeit nicht so recht vom Fleck? Was sind die Ziele der Jungenarbeit? Soll die Jungenarbeit sich an den Problemen orientieren, welche die Jungen haben und welche sie machen? Soll sie die Jungen gesund und brav machen? Die praktische Arbeit des Arbeitskreises Buben- und Männerarbeit orientierte sich in den letzten Jahren seiner Tätigkeiten an diesen Ideen und versuchte das Kompetenzspektrum der Jungen, die Möglichkeiten der Konfliktverarbeitung, die verschiedenen Existenzweisen als Junge zu erweitern. Ziel war es, dass Jungen einerseits weniger Probleme hatten und andererseits auch weniger Probleme machten. So wurde z.B. eine Abenteuerwoche in Slowenien organisiert, während der die Jungen selbst kochen, als auch einen Orientierungslauf in einer unbekannten Gegend meistern konnten. Die Jungen wurden dabei in ihrem traditionellen Rollenbild ernst genommen, als auch anderen neuen Erfahrungen »ausgesetzt«, wie z.B. dem Brot backen, dem Sorgen für die gesamte Gruppe, ... Ausschlaggebend sind aber nicht die einzelnen Angebote, sondern die Art der Angebote und das Identitätsverständnis, aus dem heraus die Jungenarbeiter die Angebote formulieren, durchführen und auswerten. Die Jungenarbeiter unterstützen und tragen die Gleichheitsdebatte zwischen Frauen und Männern in der Gesellschaft mit und versuchen mit ihrer Arbeit, die vorhandenen Rollenklischees aufzubrechen und den Jungen die nötigen Kompetenzen mitzugeben, welche Jungen in einer veränderten Gesellschaft benötigen, in der sei es die Frauen als auch die Männer alles tun sollten oder dies zumindest können sollten. Jungenarbeit – wieso? Die Frauen- und Geschlechterforschung brachte das Thema des sozial konstruierten Geschlechts ein, das Geschlecht einerseits in »Sex«, das biologische Geschlecht, einteilte und andererseits in »Gender«, das kulturelle, das konstruierte, anerzogene, selbst angeeignete Mann- bzw. Frausein. Diese Position beschreibt das Geschlecht einerseits als natürlich, biologisch vorgegeben, in unserem Verhalten, Denken und Fühlen aber als sozial konstruiert und produziert. Ich inszeniere mich jederzeit als Mann, bzw. Frau neu, An diesem Konzept wird nun kritisiert, dass ein biologischer Mann sich nur als Gender- Mann sozialisieren kann und nicht als Gender-Frau. Das heißt, dass die Jungen zwar neue Kompetenzen erwerben und sich auch aneignen, aber doch in einem klaren Rollenverständnis bleiben. Jungen und Männer bleiben in einer zwar veränderten, aber doch abgegrenzten und definierten Männerrolle. Die Jungenarbeit, welche die Differenz und die Gleichberechtigung der Geschlechter fördert, bleibt in den vorherrschenden Dualitäten von Mann - Frau, von Hetero- und Homosexualität stecken und produziert demnach Männlichkeit und damit auch Hierarchie und Abgrenzung. Jungen versuchen sich von den Mädchen abzugrenzen, besonders von den Rollenattributen, die Mädchen zugeschrieben werden. Demzufolge arbeiten sie ständig daran, eine Mauer zu bauen, eine Mauer zwischen den Geschlechtern, 27 zurück, wie z.B. Gewalt. Für die konkrete Jungenarbeit heißt dies, dass sie bloß dadurch, dass sie gewisse Eigenschaften und Tätigkeiten dem Jungesein zuschreibt und fördert, auch bestimmt, was ein Junge ist. Mehr noch, die Aufteilung in Jungenarbeit und Mädchenarbeit Geschlechtsbewusste setzt voraus, dass es zwei klar voneinander unterscheidbare Geschlechter gibt, welche sich voneinander abgrenzen und abgrenzen müssen. Und genau dieses Sichabgrenzenmüssen führt die Jungen in eine Zwangslage, in der sie oft nicht mehr weiter wissen und auch von den Jungenarbeitern keine Hilfestellung mehr erhalten können. Jungenarbeit fördert mitunter die traditionelle Rollenaufteilung, auch wenn es die innerhalb einer Rolle möglichen Verhaltensweisen beträchtlich erweitert. um zu sehen, dass mann selbst ja auf der »richtigen« Seite steht. Dies erreicht mann am besten dadurch, dass mann sich selbst und anderen beweist, wie männlich im klassischen Sinn mann ist. Die »richtige« Seite ist in unserer Gesellschaft ja immer noch die Seite der Macht, des Einflusses und der verschiedenen Möglichkeiten, die in patriarchalen Systemen für Männer vorgesehen sind. Wieso sollen die Jungen nun ein Interesse daran haben, die Mauer, die sie so mühsam verteidigen, abzubauen? Um neue Kompetenzen, welche weiblich und schwach konnotiert sind, zu erwerben? Oder gar um den Mädchen Zutritt zu der »richtigen« Seite zu gewähren? Was soll für die Jungen daran attraktiv sein? Diese Kompetenzerweiterung der Jungen bedroht und verunsichert sie in ihrem ureigensten Jungesein, in ihrer Jungenexistenz. Es ist verständlich, dass sie sich nicht einen Pfeiler ihrer Identität nehmen lassen wollen. Solch Bemühen wird von keinem Erfolg gekrönt sein, solange seine Identität auf dem Pfeiler des Mann- bzw. Jungeseins steht. Jungenarbeit - welche? Bleibt Jungenarbeit in einem unlösbaren Widerspruch gefangen? Bedeutet das nun, dass keine Jungenarbeit die beste Jungenarbeit ist? Kann man überhaupt Jungenarbeit machen, welche kein klares Bild von Jungen als Ziel hat? Dass Mädchenarbeit sich dabei in einer gänzlich anderen Lage befindet, wird deutlich, wenn wir die Mädchen, die auf der anderen Seite der Mauer stehen, und ihre Interessen betrachten. Ziel der Mädchenarbeit in den vergangenen Jahren war es vielfach, die Kompetenzen der Mädchen zu erweitern, allerdings in die entgegengesetzte Richtung, zur »Jungenwelt« hin. Die Mädchen sollten das tun und tun wollen, was ihnen so lange verwehrt blieb. Sie sollten körperliche und geistige Höchstleistungen vollbringen, denn so können sie sich entfalten und noch dazu zur Entwicklung der Gesellschaft Wertvolles beitragen. Den Mädchen war es also auch aufgetragen, die Mauer zwischen den Geschlechtern abzubauen, mit dem einen Unterschied, dass die abgebrochene Mauer sie zu den oberen, gesellschaftlich angeseheneren Positionen brachte. Sie durften demzufolge stolz sein auf das, was sie »immer schon« konnten und noch stolzer auf das, was sie an neuen Kompetenzen sich aneigneten. Ihr Bedürfnis war dementsprechend mehr, es den Jungen gleichzutun, als sich von diesen abzugrenzen. Genau dieses Abgrenzen war aber immer schon die Aufgabe der Jungen und schlussendlich auch die Definition von Junge-Sein. Jens Krabel und Sebastian Schädler schreiben in ihrem Artikel » Das Ziel einer »nicht­identitären« Jungenarbeit wäre somit nicht der »andere Junge«, sondern gar kein Junge.« (Krabel, Jens und Schädler, Sebastian, S. 38) Geschlecht ist eine Orientierungslinie, die unsere Gesellschaft dem Einzelnen bietet, eine Zuordnungsmöglichkeit, Welche Möglichkeiten bleiben denn nun den Jungen, ihre Identität zu definieren, eine Identität, deren Grundpfeiler doch die Zugehörigkeit zum Geschlecht Junge und demzufolge im Gegensatz zum Geschlecht Mädchen steht? Ich finde, den Jungen bleibt nur eine Flucht nach hinten, mit dem Ziel, die Mauer als Schutz mitzunehmen. Angesichts von Mädchen, welche einerseits Mädchen sind, andererseits sich immer mehr Zuständigkeiten der Jungen aneignen, ziehen sich die Jungen oft umso mehr auf letzte »männliche« Domänen 28 mit der wir uns und alle gegenseitig strukturieren, einteilen und zuordnen. Diese Zuordnung ist eine, wenn nicht die erste, die wir bei jeder Begegnung ständig von neuem anlegen. Solange die Jungen ihre Identität auf diese Zuordnung konstruieren und demzufolge auf das Distanzieren und Abgrenzen müssen zu den Mädchen, kann aber eine wirkliche Gleichstellung nicht möglich sein. Wenn die eigene Identität nicht auf die Geschlechtszugehörigkeit aufbaut, vervielfältigt sich hingegen der Diskurs von Differenz und Gleichheit der Geschlechter, um sich anschließend vollends aufzulösen. Anstelle der Geschlechter und der Identität als solches tritt nun der Einzelne mit einer je eigenen Identität. Es geht dann in der Jungenarbeit nicht darum, das Feld zu erweitern, was ein Junge sein kann, und immer wieder neu Männlichkeit zu produzieren indem man zulässt, ein Mann darf auch weinen und darf auch schwach sein,... Es geht darum, an den gelebten Männlichkeiten zu arbeiten und diese zu hinterfragen. geschlechtliche oder sexuelle Identitäten, sondern prozessuale Identitäten (vgl. Hartmann 1998: 38) stehen im Mittelpunkt einer solchen Jungenarbeit. Ständig veränderbare, erweiterbare Identitäten, welche dem Einzelnen ermöglichen sich immer wieder zu gestalten, denn wir sind ständig ein Abbild der uns gegebenen Grenzen und zugleich »ein Experiment der Möglichkeiten ihrer Überschreitung« (Foucault, 1990, S. 53) Es gibt kein ein Mann ist so, eine Frau ist so, sondern vielmehr, ein Mann ist nicht nur so, er ist Vieles mehr. Was dabei herauskommt, ist eine Definition der eigenen Identität, welche sich ständig verändert. Genau dies versucht die »Queer Theorie«. Sie geht weder von Männlichkeit aus noch hat sie diese zum Ziel. »Queer Theorie stellt sich dabei als ein theoretischer Ansatz vor, der sich weigert, den geschlechtlichen und sexuellen Identitäten eineN BesitzerIn zuzuordnen und einer Ontologisierung von Geschlecht entgegensteht.« (Stuve, Olaf, 2001, S. 281) Das Umfeld, in dem die einzelnen Kinder und Jugendlichen sich jedoch befinden und mit dessen zur Verfügung stehenden Angeboten sie ihre Identität gestalten, ist geprägt von der Dualität, von der Einteilung in männlich und weiblich, in Mann und Frau. Das Arbeiten an der Auflösung dieser Normierung durch geringere Beachtung und Wertschätzung der Kategorie Geschlecht würde schlussendlich zu einer Verleugnung der gelebten Realitäten von Kindern und Jugendlichen führen. So sinnvoll es einerseits wäre, würden andererseits durch das Nicht-zum-Themamachen die Muster und Denkkategorien auch nicht in Frage gestellt und dadurch die in unserer Gesellschaft vorherrschende Geschlechterhierarchie gestärkt und gestützt. Bleibt die Möglichkeit, in den geschlechtshomogenen, bzw. in geschlechtsheterogenen Gruppen diese Normierung explizit zum Thema zu machen und an der Auflösung zu arbeiten. Bleibt das Ernstnehmen der gelebten Realität, das Aufdecken von Einteilungsmechanismen und der Versuch diese zu dekonstruieren und bewusst andere Möglichkeiten zu inszenieren, um zu einer größeren Freiheit der Gestaltung eigener, sich ständig wandelnder Individualität zu gelangen. Andrea Maihofer tritt für eine Definition des Geschlechts als »historisch bestimmte gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise« ein. (Maihofer, Andrea, 1994, S. 180) Damit versucht sie eine Balance zwischen Natur und Kultur, Körper und Geist, Materie und Bewusstsein zu schaffen. Würden wir aber diesem Diskurs strikt folgen, müssten wir die Mädchen- und Jungenarbeit sofort auflösen und in eine koedukative, »geschlechtsneutrale« Jugendarbeit zusammenführen, welche die Geschlechter und deren Ausdrucksweisen weder zum Thema macht noch ihren Blick darauf wirft. Diese Jugendarbeit wirft den Blick auf das einzelne Individuum und seinen individuellen Bedürfnissen und Wünschen nach Bildung einer Identität. Die Queer Theory versteht das Geschlecht als politische Kategorie. Das Geschlecht ist eine Normierung, eine Festschreibung der eigenen Identität neben vielen anderen. Judith Butler plädiert für eine Uneindeutigkeit, für das Offenhalten, für das ständige Verhandeln von Identitäten. Demzufolge ist es nicht Aufgabe der Jungenarbeit, Jugendliche auf der »Suche nach der eigenen Identität« zu unterstützen, oder sie auf dem Weg zum Mann-Sein zu begleiten. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, gerade diese Festlegungen zu vermeiden und scheinbar starre Kategorien immer wieder zu hinterfragen, deren Bedeutung zu öffnen und neu zu verhandeln. Mann-Sein, auch ein »neues« Mann-Sein kann nicht Ziel einer solchen Jungenarbeit sein. Nicht »Wir begreifen Geschlecht, Frau- oder Mannsein nur, wenn wir einen Begriff entwickeln, der sowohl das Imaginäre dieser Existenzweise, also Geschlechtlichkeit, Subjektivität, Identität und Körperlichkeit als gesellschaftlich-kulturell produzierte historisch bestimmte Selbstverhältnisse reflektiert, als auch die Realität dieser Existenzweise als gelebte Denk-, Gefühls- und Körperpraxen.«(Maihofer, Andrea, 1994, S. 185) 29 Damit eröffnen sich Fragen wie: Was macht Jugendliche zu Jungen oder Mädchen? Wie wird Männlichkeit und Weiblichkeit gelebt? Wie wird das Gelebte zu anerkannten Wirklichkeit? Wie hängt Geschlechtlichkeit und sexuelle Orientierung zusammen? »Es gibt keine endgültige Wegentscheidung, wenn ich Jungen Reisen anbiete, in das Gebiet, jenseits des Zauns, der normalen Weise vorherrschender Männlichkeit. Also in das Gebiet, wo eigentlich ein Schild steht: Sie betreten den unmännlichen Sektor. Ich biete Reisen in dieses Land an, in diesen Sektor und sage direkt dazu, ihr könnt jederzeit wieder zurück. Ihr könnt auch jederzeit sagen, nein, da gehe ich nicht hin. Es gibt Jungen die stellen sich mit dem Rücken zu diesem Sektor hin und sagen: das ist Quatsch. Da gibt es welche die schauen und sagen, das ist Blödsinn, das brauche ich nicht. Da gibt es welche, die gehen hinüber, kommen wieder zurück und sagen: das war Quatsch. Dann gibt es solche die sagen, das war schön. Und alle haben Erfahrungen mitgenommen.« (Karl, Holger, 1998, S. 58) Meines Erachtens ist dies ein möglicher Ansatzpunkt für die Praxis der Jungenarbeit. Das Einsetzen und das Arbeiten mit diesen und ähnlichen Fragestellungen gerade auch in der Jungengruppe. Das Aufzeigen der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit von Männlichkeit. Was geht noch als männlich durch, was nicht? Warum? Wo setze ich meine Grenzen? Was passiert, wenn ich mich anders gebe und verhalte? Wie reagiere ich, wenn ich Personen nicht zu einem Geschlecht zuordnen kann, wenn sie nicht in meine Abgrenzungen passen? Es geht um die Freiheit der Möglichkeiten, welche Jugendliche haben und sich nehmen, ihre Identität und ihre Lebensweisen zu gestalten. Jungenarbeit sollte Räume öffnen, Räume für neue Erfahrungen, den Blick öffnen, den Blick auf die Unterschiedlichkeit der Männlichkeitsentwürfe, auf die Randgruppen, welche am Rande der Männlichkeit stehen und so den Raum öffnen, sodass die Männlichkeit wie Sand durch die Finger zerrinnt und sich auflöst in einzelne unterschiedliche Sandkörner, in verschiedene Jugendliche, welche versuchen ihr Leben zu gestalten. Jungenarbeit muss verschiedene Jungen begleiten, ihnen Beziehung anbieten und ihnen neue Freiheiten anbieten. Freiheiten, welche sie spielerisch gestalten und ausprobieren können. Jungenarbeit – wohin? »Keine Defizitpädagogik, sondern selbstverständliche Hilfe zur Persönlichkeitsbildung« (Sielert, Uwe, 2002, S. 87). Es geht nicht darum, den Jungen neue, von der Gesellschaft geforderte, Kompetenzen »beizubringen«, sondern erstmal zu sehen, dass die Jungen nicht die Jungen sind. »Es geht ...um die Bewusstwerdung von großen Teilgruppen in ihrer Verschiedenheit« (Sielert, Uwe, 2002, S. 35). Kriterien für diese Teilgruppen können sein: Verhaltenstypen, Milieu, sexuelle Orientierung, Jungen aus anderen Ländern, traditionell auftretende Jungen, … Schlussendlich führt das zu einem Ernst»In diesem Spielen entsteht neben persönlichen Kreationen auch nehmen des einzelnen Jungen in seiner Lebenswelt, in dem was die Grundlage für unsere Teilhabe an kulturellen Produktionen ihn beschäftigt, was ihn erfreut, bedrückt, und seine Bedürfnisse MAWE_Anzeige_210x148_LINKS:Layout 1 26.03.2015 10:04 Uhr Seite 1 und Genüssen. … Im Spiel handelt es sich um scheinbar beliebige werden in den Mittelpunkt gestellt. Es gibt 1001 Gründe, den Halt zu verlieren. Oder sind es vielleicht 1001 Ausreden? Verein Männerwelten bietet kompetente Beratung von Männern für Männer. Mit mi�lerweile 15 Jahren Erfahrungskompetenz für mehr Sicherheit. +43 662 883 464 (Mo, Mi, Do 12 - 13 Uhr + Mi 17 - 18 Uhr) www.maennerwelten.at 30 und nicht zielorientierte Vorgehensweisen, alles allerdings Qualitäten, die einer Verflüssigung von starren Konzeptionen jeder Art entgegenkommen würden.« (Musfeld, Tamara, 2001, S. 155) Das Spiel ist aber im Laufe der Zeit vollständig aus dem pädagogischen Alltag verschwunden, ja Pädagogik, z.B. Schule,... definiert sich allzu oft gerade in Abgrenzung zu Spiel, Spaß und Lust. Vielleicht gerade darum, weil das Spiel keinen klaren eindeutigen Weg kennt, als nicht zielorientiert definiert wird, und weil darin jegliche Grenzen von richtig und falsch sich auflösen, auflösen in Richtung unterschiedlicher Möglichkeiten. Das Spiel als ein Ort der Freiheit von Möglichkeiten in einem definierten Rahmen. Das Spiel, das keine Hierarchien kennt und ständig Eingefahrenes in Frage stellt und neue Wege und Deutungsmuster entwirft. So gibt uns gerade das Spiel viele Möglichkeiten mit Freiheiten und Entwürfen zu experimentieren. Spiel mit meiner virtuellen Realität im Internet, in Chaträumen, in Rollenspielen,... Dort kann ich ausprobieren, mich anders zu geben, anders zu reden. Spiel mit verschiedenen Männerbildern, mit Bildern aus Zeitschriften von Personen und der Kategorisierung in Männern und Frauen. Wie kategorisiere ich, nach welchen Kriterien? Was tue ich, wenn ich eine Person nicht klar zuordnen kann? Spiel mit neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellung, Ausprobieren neuer Rollen, sei es im Theater oder durch Verkleidung in der Wirklichkeit. Wie geht es mir dabei? Wie reagieren die anderen? Das Spielen und Wahrnehmen der eigenen Grenzen. Das Ernstnehmen und Achten eigener und fremder Grenzen. Das Anbieten von Neuland, von neuen Erfahrungen. Dazu braucht es wohl Jugendarbeiter, welche sich auf Jungen und ihre Lebenswelt einlassen wollen. Jugendarbeiter, welche erst mal ihre eigene Männlichkeit reflektieren, ihr Bild vom Mann Sein, ihre Grenzen. Männer, welche sich aktiv mit der Männer- und Geschlechterforschung auseinandersetzen und ihre eigene Position finden, denn, wie Uwe Sielert schreibt, »Mitarbeiter der Jungen- und Männerarbeit sind, ob sie es wollen oder nicht, immer Vorbilder, Modelle oder besser: Beispiele«. (Sielert, Uwe, 2002, S. 97) Die Einrichtungen müssen sich fragen, welche Jungen sie ansprechen, und welche Modelle diese Jungen ansprechen könnten, denn es gibt nicht die Jungenarbeit, wie es auch nicht die Jungen gibt. Jungenarbeit muss Neues probieren, Erfahrungsräume schaffen und behutsam vorgehen, um nicht ein Rollenbild durch ein neues Bild vom Jungen zu ersetzen. Literatur verzeichnis Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Berlin 1995 Lothar Böhnisch: Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Juventa Vg. 2004 Cornelißen, u.a.: Junge Frauen – junge Männer. Daten zur Lebensführung und Chancengleichheit. Opladen 2002 Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Stuttgart 1991 Erdmann, E./ Forst, R./ Honneth, A. (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Karl, Holger: Heimweh nach der Ferne. In: Jugendhaus Kassianeum und Amt für Jugendarbeit: SuperMänner!? 1. Fachkongress zur Bubenarbeit in Südtirol. S. 55 – 63. Brixen/Bozen 1998 Krabel, Jens und Schädler, Sebastian: Dekonstruktivistische Theorie und ihre Folgerungen für die Jungenarbeit Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise. In: Institut für Sozialforschung Frankfurt: Geschlechterverhältnisse und Politik. S.168 – 187. Frankfurt. Suhrkamp Verlag 1994 Musfeld, Tamara: Das Wissen, die Macht und das Spiel. In: Fritzsche, Bettina u.a. (Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik. S.149 – 159. Opladen. Leske + Budrich 2001 Frankfurt a.M. und New York 1990 Foucault, Michael (1990): Was ist Aufklärung. In: Erdmann, E./ Forst, R./ Honneth, A. (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a.M. und New York Goffman, Erving: Interaktion und Geschlecht. 1971 Hartmann, J. (1998): Die Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform. Widersprüchliche gesellschaftliche Entwicklungstendenzen und neue Impulse für eine kritische Pädagogik. In: Hartmann, J./ Holzkamp, Ch./ Lähnemann, L./ Meißner, K./ Mücke, D. (Hrsg.): Lebensform und Sexualität. Herrschaftskritische Analysen und pädagogische Perspektiven. Bielefeld Jantz, Olaf u.a.(Hg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Opladen 2001 Kreisjugendring München-Stadt (Hg. Dokumentation): Abschied von den Geschlechterrollen? 2001 Kreisjugendring München-Land (Hg.): Rahmenkonzept geschlechtsreflektierte offene Jugendarbeit. 2004 (siehe www.kjr-muenchen-land.de) 31 Andrea Schmidt: Balanceakt Mädchenarbeit. Beiträge zu dekonstruktiver Theorie und Praxis. Edition Hipparchia, 2002 Sielert, Uwe: Jungenarbeit. Praxishandbuch für die Jugendarbeit Teil 2, 3. völlig überarbeitete Auflage. Weinheim/München: Juventa Verlag 2002 Spannbauer, Christa: Das verquere Begehren. Sind zwei Geschlechter genug? Würzburg 1999. Stuve, Olaf: Jungenarbeit und Queer Theory – Versuch einer paradoxen Verbindung. In: Fritzsche, Bettina u.a. (Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik. S.281 – 294. Opladen. Leske + Budrich 2001 Aus: Arnin Bernhard, EIN JUNGE IST EIN JUNGE… IST DOCH KEIN JUNGE. Bubenarbeit von der antisexistischen Jugendarbeit bis zum Queer-Ansatz Tagungsdokumentation Geschlechterbewußte Jugendarbeit 2005 Südtirol (Seiten 17 – 26) http://www.provinz.bz.it/ kulturabteilung/download/ A_Geschlechtsbewusste_Jugendarbeit_Tagungsdokumentation.pdf Verstehende Jungenarbeit als gewaltpräventives Handlungskonzept Verstehende Jungenarbeit als Chance und Möglichkeit der Gewaltprävention Der Diskurs über geschlechtssensible Arbeit mit Jungen ist im deutschen Sprachraum speziell in Österreich bereits ein beträchtlicher und daher verweise ich an dieser Stelle auf die Literatur und im Besonderen auf zwei Publikationen, die einen Einblick in die Praxis und einen breiteren theoretisch Zugang ermöglichen: »Bubenarbeit in Österreich I + II« (2000), sowie »Gewaltprävention durch Mädchen- und Bubenarbeit in der außerschulischen Jugendarbeit« (1996). Diese beiden Schriften zeigen auch sehr deutlich die Geschichte und Teile des Werdeganges von geschlechtssensibler Arbeit mit Burschen im Sozialpädagogischen Feld. »Durch die Bemühungen der Frauenbewegung um die Mädchenerziehung und Mädchenstärkung sind nun die Defizite der Männer auf eine neue Art ins Blickfeld gerückt.« (G. SCHROFFENEGGER, A. SCHWEIGHOFER, A. GNAIGER, 2000) Da wir uns auf österreichische Projekterfahrungen stützen, werden wir die Begriffe Jungenarbeit und Burschenarbeit synonym verwenden. Die weibliche Schreibweise, bzw. die geschlechtsneutrale Formulierung mit dem großen »I«, verwenden wir nur dort wo tatsächlich weibliche und männliche Personen gemeint sind, wie z.B. SchülerInnen. Die von uns geforderte Reflexion eigener Interaktionen im Handlungsfeld, kann im besten Fall als Input im theoretischen Diskurs dienlich sein. Harald Burgauner & Rainer Konderla Unser Verständnis von Handlungskonzept Der vorliegende Beitrag zu einem Arbeitsfeld, das in ständiger Wandlung begriffen ist, hat den Anspruch, einen Baustein zu einem sich ständig konkretisierenden Ganzen zu liefern. Das Konzept kann in dem Handlungsfeld ohnehin nur eine Möglichkeitsvariante aufzeigen. Konzepte mit engen Handlungsspielräumen behindern Entwicklung. Und das ist, was wir dringend brauchen: Räume, in denen kreativ an der Entwicklung von Menschenbildern und Geschlechterrollen gearbeitet werden kann. Dies geschieht permanent. Uns ist es ein Anliegen, dass dies nach den Kriterien von Gender Mainstreaming erfolgen soll. Dies bedeutet in knappen Worten, dass eigenes Handeln im Hinblick auf dessen Auswirkung auf das eigene und das andere Geschlecht reflektiert und bewertet wird. Vor wenigen Tagen wurde ich von einer geschätzten Kollegin gefragt, ob wir denn das gesamte Konzept veröffentlichen würden? Ja, soweit wir dazu in der Lage sind, waren wir bemüht, in überschaubarer Weise transparent zu machen, worin Gewaltpädagogik als geschlechtssensible Intervention bestehen kann. Das »ganze Konzept« als fertige Handlungsanleitung ist nicht unser Ziel. Jene, die es schaffen, aus jungen Männern Selbstmordattentäter zu machen, arbeiten leider nach alten, bewährten und »ganzen« Konzepten. Uns ist bewusst, dass diese Aussage verkürzt und problematisch ist, jedoch ist es uns ein Anliegen unsere Position deutlich von jeglicher Radikalisierung und Fanatisierung abzugrenzen und daher die Grenze zu Ideologisierungen zu wahren. Wir wollen mit unserer Arbeit ermutigen, dort anzusetzen, wo die Möglichkeit geboten wird, dass Burschen und heranwachsende Männer mit Männern gestaltend an den Bildern vom »ganzen Mann« arbeiten. Männer, die selbstverantwortlich und gesellschaftsfähig sind. Wenn es damit gelingt, einen Beitrag zu leisten, der zur Verständigung dient, kann Gewalt vermieden werden. 32 Tabus brechen Geschlechtsspezifische Prävention- und Interventionsarbeit mit Burschen im Einzelsetting und in Gruppen ist ein Praxisfeld, das Kraft aus Netzwerken schöpft. Daher ist es an dieser Stelle angebracht allen jenen Männern und Frauen zu danken, die uns in unserer Arbeit ermutigt, begleitet, kritisiert, inspiriert und ergänzt haben. Jungenarbeit findet in Schulen, Jugendzentren und nicht zuletzt in der Einzelarbeit mit männlichen Jugendlichen statt. Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit man von geschlechtssensibler Arbeit mit Jugendlichen sprechen kann? Methoden und Haltungen in der Arbeit, die in diesem Artikel angesprochen werden, sind in unserer internen Qualitätsprüfung feste Bestandteile der laufenden Diskussionen. Wie in sehr vielen Tätigkeitsfeldern, sind die Wandlungen auch in diesem Arbeitsbereich zum Teil sehr schnellen Rhythmen unterworfen und durch externe Ereignisse mitbestimmt. Aktuelle Ereignisse und der öffentliche Diskurs darüber spielen häufig in die Projekte hinein. Was die Arbeit mit Mädchen betrifft, könnte einen als Mann der glatte Neid packen. Da können die Frauen auf über Jahrzehnte erarbeitete und gereifte Theorie und Praxis zurückgreifen. Der Feminismus bietet ideologische Rückendeckung. Zudem ist die Perspektive der Mädchen auf das gerichtet, was es noch zu erreichen gilt. Demgegenüber steht bei den Burschen oft das Gebot, was sie alles aufgeben sollen. Jedoch ist Neid als Gefühl genauso gut wie jedes andere, die Hauptsache mann merkt es. Und damit sind wir auch schon an dem Punkt, den wir in der Arbeit von großen Männern mit kleinen bzw. jungen Männern für den zentralsten halten: Gefühle, sind das Tabu, das es in der Arbeit mit Burschen zu brechen gilt. Der Zweck heiligt nicht die Mittel, jedoch sollten die Mittel dem Zweck immer wieder aufs neuen angeglichen werden. Das Ziel unserer Arbeit in der sekundären und tertiären Präventionsarbeit ist klar formuliert: Wir wollen mit Buben, Burschen und jungen Männern Wege zu einer nachhaltigen, den Kriterien des Gender Mainstreaming folgenden, und effizienten Prävention von Gewalt erarbeiten. Idealistische Ziele müssen jedoch an den realen Machbarkeiten gemessen werden. Machen heißt Methoden anwenden. Haltungen sind auf Personen angewiesen, die sie einnehmen. Seit einiger Zeit erhalten wir bezüglich Burschenarbeit immer wieder ähnliche Anfragen, die letztlich Fragen zur Methodik sind. Der Methoden-Katalog für die »richtige Burschenarbeit« liegt noch nicht auf und wird es hoffentlich nie. Geschlechtssensible Burschenarbeit fängt zunächst bei uns Männern selbst an. Mann muss seine »Männlichkeiten« reflektieren, um mit Burschen daran arbeiten zu können, selbst gestaltend ihre Geschlechterrollen zu entwerfen und zu leben, denn... Uns ist bewusst, dass die Forderung nach klaren Haltungen und das Aufzeigen der Risiken, aus der Erfahrung des Scheiterns neben den Erfolgen resultiert. Wir kennen die Erfahrung, dass ein festhalten an einer Methode, einen Prozess beengt, bremst, zu sehr beschleunigt und im schlimmsten Fall eskaliert. Das Eingeständnis eigenen Scheiterns lässt uns kritischer auf die Erfolge blicken und letztlich Möglichkeiten für Korrekturen erkennen. Dies trifft auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen, die Kontakte mit Erziehungsverantwortlichen und den Kontakt zu den heranwachsenden Männern gleichermaßen zu. Es ist dies eine unmittelbare Einsicht aus der Workshoptätigkeit mit den jungen Männern. Daher gilt ihnen ein besonderer Dank. Die Burschen habe uns vieles lernen lassen, was wir vorher einfach nicht wussten, bzw. uns nicht bewusst war. Burschenarbeit ist Grenzarbeit Die Gratwanderung zwischen Empathie für den Buben einerseits und der klaren Beziehung zu den Jungen, erfordert Gespür für Grenzen. Grenzen sehen wir nicht als starre Linien, sondern eher wie Schutzhüllen mit denen man sehr behutsam umzugehen hat. Es bedarf dieses Sensoriums, um Respekt laufend zu praktizieren. Gerade im Kontakt unter Männern sind Grenzverletzungen oft Teil eines unreflektierten Habitus. Männer machen Männer Als wir Anfang der 90er Jahre mit dem Ansatz der feministischen Mädchenarbeit konfrontiert wurden, fragten wir uns, was denn mit den Burschen gemacht wird. Auf unserer Suche nach Arbeitsmodellen stießen wir auf die verstehende Jungenarbeit wie sie in Hamburg aus der Arbeit mit gewalttätigen Männern entwickelt wurde. Grenzarbeit meint aber zudem auch: Grenzen zu setzen, also den Blick und das Gefühl für die eigenen Grenzen nicht zu verlieren. Wie sollen werdende Männer denn wissen wo die Konturen des anderen sind, wenn er diese nicht aufzeigt? Binsenweisheiten – wie die eben genannten – bekommen gerade in diesem schwierigen Kontext eine sehr große Bedeutung und erweisen sich in der Umsetzung, gerade in einer Burschengruppe, als ein äußerst vielschichtiges Unterfangen. Wieder einmal zeigt sich hierbei wie wichtig es ist, dass der Mann hinter der Rolle des »Pädagogen«, »Vaters«, »Betreuers«, »Erziehers« etc. selbstreflexiv und authentisch ist. Verstehende Jungenarbeit bedeutet für uns solidarisch mit Burschen und heranwachsenden Männern zu sein, denn Burschen brauchen Männer zum Reifen. Burschenarbeit ist keine Auftragsarbeit für Frauen und Mädchen, sondern zunächst selbstbezogen. Dass diese Arbeit aus der Forderung von Frauen entstanden ist, verstehen wir als das Einfordern der Verantwortungsübernahme durch Männer. »Denn Frauen können aus Buben keine Männer machen.« In schillernder Abwesenheit kann man nichts tun, daher erfordert geschlechterreflektierende Burschenarbeit die Präsenz von Männern. 33 Gewalt ist ... Gewalt ist nicht Aggression Die von uns verwendete Gewaltdefinition bezieht sich auf Gewalt im engeren Sinn, also physische Gewalt. Wir definieren »Gewalt« im Sinne der »Hamburger Schule« als »jede Form von körperlicher Beeinträchtigung und ihre Androhung.« (LEMPERT/OELEMANN 2000, S.11) Rückführend auf seine etymologischen Wurzeln, bedeutet das Wort »aggredere« : auf (etwas oder jemanden) zugehen, sich nähern, hinbewegen (im Sinne von einem mutigen Draufzugehen). Beschreibend meint Aggression demnach eine Entschlossenheit oder das Zeigen von Initiative. Ursprünglich fehlt diesem Begriff der destruktive/negative Teil, der im normalen Sprachgebrauch üblich ist. Aggressiv zu sein in diesem Sinne hat sogar im Gegenteil einen konstruktiven Anteil, denn ein Problem, dass angegangen wird, wird zuvor als solches erkannt und verliert dadurch an Bedrohung. Es bedarf keiner gewalttätigen Handlung um es abzuwehren. Dies deckt sich mit der alltagssprachlichen Bedeutung dieses Begriffes. Auch die in Deutschland eingesetzte »Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt« – kurz »Gewaltkommission« genannt – definierte 1990 im Rahmen eines Gutachtens den Gewaltbegriff »als ... die zielgerichtet, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen« (SCHWIND 1990, S.36). Im weiteren Sinn lässt diese Kommission auch noch Vandalismus als Gewaltform gelten, klammert damit aber auch andere Gewaltdimensionen wie psychische oder strukturelle Gewalt aus. »Richtig eingesetzte Aggression bewahrt davor, gewalttätig zu werden.« (LEMPERT/ OELEMANN 2000, S.20) Die Erfahrungen aus der Praxis der Beratung von gewalttätigen Männern zeigt »dass der überwiegende Teil der Männer und Jungen, die massiv gewalttätig sind, aggressionsgehemmt sind.« (LEMPERT/OELEMANN 2000, S.20) Diese eingegrenzte Gewaltdefinition, die sich wie gesagt stark am Alltagsverständnis des Begriffs orientiert, ist im Sinne einer klaren Begriffsdefinition in der Beratungsarbeit mit gewalttätigen Männern einerseits und der Vermeidung einer inflationären Verwendung des Begriffs andererseits notwendig. Die klare Arbeitsdefinition von Gewalt ist eine Voraussetzung, damit konkrete Veränderung in Richtung Gewaltfreiheit möglich werden kann. Dass Gewalt auf das Phänomen der physischen Gewalt und deren Androhung reduziert wird, löst vielleicht bei manchen LeserInnen Widerstand aus. Darum ist es wichtig, an dieser Stelle festzuhalten, dass diese eingeschränkte Begriffsdefinition von Gewalt nicht der Bagatellisierung verletzender, erniedrigender, entwürdigender Verhaltensformen dienen soll, die Männer – als Mittel zur Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen – gegen Frauen, Kinder und andere Männer richten. Gewaltfreiheit in diesem eingeschränkten Sinn ist jedoch die Voraussetzung, um jenen »sicheren Ort« zu schaffen, wo andere Beziehungs- und Kommunikationsmuster überhaupt thematisiert werden können. In diesem Sinne ist unsere Gewaltprävention vorwiegend Sekundär- und Tertiärpräventiv. 34 Gewalt ist männlich Das erwartete und dann belohnte bzw. bestrafte Verhalten schaut bei Buben und Mädchen unterschiedlich aus. Buben dürfen wilder sein als Mädchen, gewaltbereites Verhalten wird eher toleriert und als typisch männliches Verhalten, das dazu dient, Konkurrenzsituationen zu bewältigen oder als spielerisches Kräftemessen, interpretiert. Das Erproben von Macht und Dominanz wird Buben eher zugebilligt wie Mädchen. Die gerichtlichen Strafakten sprechen eine eindeutige Sprache: ca. 80 % der Verurteilungen wegen körperlicher Gewalt (also ohne Erpressung, Nötigung etc.) werden gegen Männer ausgesprochen. Österreichische Gefängnisse sind zu über 90% mit Männern besetzt. Gewalt wird demnach zu einem überwiegend hohen Anteil von Männern ausgeübt, aber ... auch auf der Opferseite sind Männer überdurchschnittlich hoch repräsentiert. Man geht davon aus, dass 70% der Opfer von Gewalttaten männlich sind. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass Mädchen nur passiv bzw. gewaltfrei agieren. Während bei Jungen körperliche Gewalt dominiert, stehen bei Mädchen »spitze Bemerkungen«, »bloßstellen« und »verbale Gewalt« im Vordergrund. (Vgl. POPP 1999, S. 219). Wir legen wert darauf festzuhalten, dass die Verantwortung für eine Handlung durch eine »Provokation« von außen nicht geleugnet werden sollte. Denn die Delegation der Verantwortung an das Opfer ermöglicht die spiralige Dynamik der Gewalt. Auch in anderen Belangen gibt es signifikante geschlechtsspezifische Daten: Männer begehen drei mal häufiger Selbstmord als Frauen, weshalb der Suizid in Österreich an dritter Stelle der Todesursachen von Männern im erwerbstätigen Alter steht. Auch im Bereich der Suchtproblematik sind mehrheitlich Männer betroffen, ebenso wie bei den damit im Zusammenhang stehenden Folgen wie z. B. Wohnungslosigkeit. Männer sind in einem höheren Ausmaß als Frauen spiel- und arbeitssüchtig. Die im Laufe männlicher Sozialisation geprägten Persönlichkeitsmuster sind so individuell gefärbt, wie die einzelnen Entwicklungsgeschichten. Dennoch lassen sich ziemlich stabile Rollenfestschreibungen herausfiltern, die als typisch »männlich« bezeichnet werden können. Diese können (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) wie folgt umschrieben werden: Dieser kurze Exkurs soll verdeutlichen, dass es einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und gesellschaftlich (gesundheits- und sozialpolitisch) relevanten Fakten gibt. Dies gilt, wie anfangs beschrieben, auch und vor allem für den Bereich der Gewalt. Auffallend ist dabei zudem, dass gewalttätige Männer sich in kein soziologisches Schema pressen lassen. Gewalt wird unabhängig von Schulbildung , der sozialen Herkunft oder des Milieus ausgeübt. » Männer sollen Verantwortung übernehmen » Männer sollen trösten und in den Arm nehmen » Männer sollen souverän sein » Männer sollen stark und tapfer sein » Männer sollen immer alles unter Kontrolle haben »usw. Aus diesen Fakten lässt sich zusammenfassend folgender Schluss ziehen: Gewalt hat sehr viel mit dem »Männlichkeit« zu tun. Wie kommt es dazu? Wie werden männliche Verhaltensmuster erworben? Man geht davon aus, dass (männliches) Verhalten nicht nur angeboren – sozusagen genetisch determiniert ist – sondern anerzogen und angelernt wurde, dieser Prozess wird »Sozialisation« genannt. Prozess sowie Ergebnis des Hineinwachsens des Menschen in den gesellschaftlichen Struktur- und Interaktionszusammenhang (Familien, Gruppen, Schichten). Durch die Sozalisation formt das Individuum seine Persönlichkeitsmerkmale aus und erlernt soziales verhalten und gesellschaftlich verbindl. Normen, die seine Handlungsfähigkeit begründen.( Der BROCKHAUS, XIII, 1997, S. 159) Diese an Männer, bzw. auch schon an Buben herangetragenen Erwartungen formen die Persönlichkeit. Sie können sozusagen als Aufträge verstanden werden, die jeder werdende Mann mehr oder weniger ausgeprägt und direkt formuliert auf den Lebensweg mitbekommt. Durch die Überbetonung dieser Werte kann es zu einer schwächeren Ausprägung von kommunikativen und emotionalen Fähigkeiten kommen. Gerade diese Qualitäten sind jedoch in Konfliktsituationen wichtig. »Männliche« Strategien eskalieren oft deshalb gewaltvoll, weil sie bei einem Streit das Gefühl der Unterlegenheit und des Mangels nicht mehr anders kompensieren können, als durch Gewalt. Ohnmacht wahrnehmen zu dürfen, auszuhalten oder gar auszudrücken haben viele einfach nicht gelernt. Die Gewalttat soll das Bild des souveränen, starken Mannes, das während des Konfliktes in Gefahr geraten ist, wieder zurechtrücken. Auch um den Preis, dass dieser Effekt manchmal nur einen kurzen Moment erhalten bleibt. Dieses Hineinwachsen des Menschen in die Gesellschaft vollzieht sich ein Leben lang. Dabei sind die ersten Lebensjahre, also die Kindheit und Jugend von entscheidender Bedeutung. »Während der Sozialisation im Jugendalter sind soziale Erwartungen besonders folgenreich, denn die Auseinandersetzung mit und die Akzeptanz der eigenen Geschlechtsrolle gelten als wichtige Voraussetzung zur Erlangung des Erwachsenenstatus (Hurrelmann 1994). Mit Beginn der Pubertät, einer Zeit, in der Mädchen und Jungen von der Umwelt durch die Veränderung ihres äußerlichen Erschienungsbildes zunehmend als »Frauen« und »Männer« angesprochen und wahrgenommen werden und in der sich die Geschlechter füreinander zu interessieren beginnen, wird die Identitätsentwicklung zunehmend von Geschlechtsrollenerwartungen geprägt.« (POPP 1999, S.208) Fazit Gewalt ist jede Form von körperlicher Beeinträchtigung oder ihre Androhung. » Es ist wichtig zwischen den Begriffen »Aggression« und »Gewalt« zu unter» scheiden. Aggressionsfähigkeit kann Gewalttätigkeiten vermeiden. » Gewalt ist ein männliches Phänomen: 95% aller Gewalttaten werden von Männern, Jungen und heranwachsenden Männern verübt. Die Gründe und Ursachen dafür sind sehr vielfältig und konnten hier nur angedeutet werden. » 35 Gewalt ist eine Wiederholungstat Gewalttäter sind sehr häufig Wiederholungstäter. Wenn einmal das Zuschlagen als probates Mittel zum Lösen eines Konfliktes erlebt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es beim nächsten mal wieder angewandt werden wird. Dies liegt begründet in der Mechanik der Gewalt, die sich anhand folgenden Kreislaufes veranschaulichen lässt: »Die Abfolge der Phasen ist nicht kausal logisch zu sehen, das heißt, dass Phase vier nicht geschieht, weil sich Phase drei abgespielt hat. Die Anordnung ist zeitabhängig, wobei die Zeitabfolge in den allermeisten Fällen eingehalten wird. Die Zeitabschnitte zwischen den Gewalttaten hingegen verkürzen sich. Es ist auch zu beobachten, dass die Intensität der Gewalt steigt. Phase 1: Die Gewalttat Währenddessen spürt der Mann oder Junge höchstens ein Gefühl der Erleichterung und Befreiung. Eine Situation, die er ansonsten ohnmächtig und angstvoll erleben würde, ist er endlich wieder aktiv geworden. ... Er weiß nicht was er tut und kann sich oftmals an nichts erinnern. Die Entscheidung darüber, ob in einer Konfliktsituation, in der das Gefühl der Ohnmacht entsteht, Gewalt angewendet wird oder nicht, wird jedesmal aufs Neue getroffen. Gewalt wird also immer bewußt und willentlich eingesetzt. Der Täter ist für seine Tat verantwortlich und nie das Opfer. Phase 2: Aufwachen Plötzlich wird ihm bewusst, was er getan hat. ... Dieser Moment findet kurz nach der Gewalttat statt. Verstehende Jungenarbeit ist ... Phase 3: Reue und Scham Der Mann wünscht sich nichts mehr, als das Geschehene ungeschehen zu machen. Er bittet die Frau um Verzeihung und schwört, dass »so etwas« nie wieder vorkommt. ... Der Wechsel zwischen Gewalt und der netten, zuvorkommenden, liebevollen Art des Mannes ist für die Frau verwirrend. ... Das macht Angst. Die Beschäftigung mit werdenden Männern hat viele Namen: Burschenarbeit, Bubenarbeit oder Jungenarbeit werden die Adjektive geschlechtsspezifisch oder geschlechtssensibel beigefügt. Historisch betrachtet ist die Bubenarbeit als Folge der feministischen Mädchenarbeit zu sehen. Die Inhalte sind jedoch im Großen und Ganzen sehr ähnlich: Mittels Begleitung eines Erwachsenen sollen die Heranwachsenden angeleitet werden über die in ihrer Sozialisation angenommenen (Geschlechter-)Rollen nachzudenken und diese nach Möglichkeit zu erweitern. Die Gespräche drehen sich dabei im Wesentlichen um die Themen Sexualität, Gewalt, Freizeitgestaltung, Beruf, Beziehungen, Familie und die damit zusammenhängenden Rollen. Phase 4: Verantwortung abgeben Bis dahin ist dem Mann oder Jungen auch noch klar, dass er Gewalt ausgeübt hat. Aber diese Gewalt war `irgendwie´ über ihn gekommen, er war unkontrolliert, er wusste nicht, was er tat. ... Der Täter wird also anfangen darüber nachzudenken, wie es dazu kommen konnte. Er sucht nach Ursachen. ... In dieser Phase gibt er die Verantwortung ab, indem er die Schuld bei seiner Frau sucht. Beide unterscheiden nicht zwischen Verantwortung und Schuld. ... Wir benützen das Wort Verantwortung um auch eine Möglichkeit der Veränderung deutlich zu machen. Wenn von Schuld gesprochen wird, geht es nur um richtig oder falsch. ... Die Partnerin ist oft bereit, auf die Verantwortungsabwehr des Mannes positiv zu reagieren und nimmt die Verantwortung auf sich. ... Die Konsequenz davon ist, dass sich der Mann nicht mehr verantwortlich fühlt. Verstehende Jungenarbeit® geht von folgenden Prämissen aus: » Geschlechtstypisches Verhalten ist nicht angeboren, sondern anerzogen. Es ist gelernt und kann verändert werden. » Das vorherrschende Bild vom Mann, dem alle Männer nachstreben, ist eine »Idealisierung«, die kein Mann je erreicht. Selbst »Rambo« ist privat nur Silvester Stallone. » Sogenannte »männliche Tugenden«, wie Selbstbeherrschung, Gelassenheit (cool sein), festigkeit, Distanziertheit, Stärke, Überlegenheit, Neigung zur Gewalt, Strenge usw. machen in ihrer männlichen Idealisierung eine Panzerung des Gefühlslebens und des Körpers notwendig, so dass sich der Junge/Mann täglich selbst Gewalt antun muss um diese Fassade aufrecht zu erhalten. Phase 5: Schweigen Eine Auseinandersetzung über die Gewalt und die Konflikte, die ihr zu Grunde liegen wird vermieden. Es ... findet kein Gespräch über die Gewalt statt. ... Wenn die Phase des Schweigens erreicht ist, ist garantiert, dass es wieder zu Gewalt kommt. Es braucht nur einen erneuten Anlass zu geben. Phase 6: Ohnmachtsgefühl Die Erinnerung an die Gewalt ist noch präsent. Die alten – ungelösten – Konflikte erzeugen bald wieder die Gefahr von Gefühlen der Ohnmacht, die von Jungen und Männern durch Gewalt abgewehrt wird.« (LEMPERT/OELEMANN 2000, S. 86) 36 Das alltägliche Gefühlsleben bewusst in die eigenen Hände zu nehmen; ... » Sensibler zu werden für fremde und eigene Bedürfnisse, überhaupt für den zwischenmenschlichen Umgang; im psychologischen Sinn meint dies »Kontaktfähigkeit«. » Zu erfahren, dass auch Männer mit Gefühlen und Wärme begabt sind. » Durch Abbau der typisch männlichen Gefühlsabwehr neue Erfahrungen mit allen Sinnen, mit dem eigenen Körper zu machen um sich selbst besser wahrzunehmen.« (LEMPERT/ OELEMANN 2000, S. 91f) Das ist nicht nur unsere Chance für die Kontaktaufnahme mit Buben sondern auch unser wichtigstes Kapital in der Arbeit. »Man muss davon ausgehen, dass Jungen in der Regel sehr wenig geübt sind, ihre eigene Geschlechterrolle als Teil ihrer Identität zu erleben. In der Arbeit mit Jungen muss stärker noch als bei Mädchen am Anfang eine Sensibilisierung für das eigene Geschlecht stehen. Das vordringliche Ziel unserer Arbeit ist also, Jungen bewusst zumachen, welche Auswirkungen ihr eigenes, zum Teil gewalttätiges Verhalten für sie selbst, für andere Jungen, für Mädchen und Frauen hat.« (LEMPERT/ OELEMANN 2000, S.90) Verstehende Jungenarbeit meint also, den Burschen auf einer Ebene zu begegnen, die das gemeinsame Geschlecht und den damit verbundenen Erfahrungen, Raum gibt. Dieser Raum bietet den Rahmen für das Lernen am lebendigen Vorbild. Geschlechtssensible Burschenarbeit fängt zunächst bei uns Männern selbst an. Wir sollten wissen was für Männer und wie wir Männer sein wollen, um mit Burschen daran arbeiten zu können, selbst gestaltend ihre Geschlechterrolle zu entwerfen und zu leben. Verstehende Jungenarbeit® ist daher im Sinne eines »stehen für« zu verstehen, denn Buben brauchen die Solidarität von uns Männern zum Reifen. Kontaktfähigkeit kann nur im Kontakt mit anderen erlebt und erlernt werden. Vielen jungen/werdenden Männern fehlt es an erwachsenen Vorbildern (Stichwort »die abwesenden Väter«), die bereit sind authentisch zu vermitteln, was es heißt ein Mann (mit Stärken und Schwächen) zu sein. Denn den Burschen geht es grundsätzlich nicht so viel anders wie uns Männern. Sollte es einmal einen Katalog der Merksätze für die geschlechtsensible Burschenarbeit geben, dann sollte folgender Satz darin vorkommt: Wir haben mit den Burschen mehr gemeinsam als uns trennt. »Geschlechterreflektierte Arbeit mit männlichen Kindern und Jugendlichen ist eine psychologische, pädagogische und sozialarbeiterische Herangehensweise in der Jugendarbeit, die männliche Lebenswelten und männliche Sozialisation in Inhalten und Methoden berücksichtigt. Durch diese Grundhaltung wollen wir die Handlungsspielräume heranwachsender Männer erweitern. Wir fördern dadurch Buben und Burschen in ihrer Entwicklung zu emotional aufmerksamen, selbstbewussten und sozial verantwortlichen Persönlichkeiten. Wir sind solidarisch und parteilich mit Buben und Burschen und vertreten ein partnerschaftliches Miteinander der Geschlechter. Für diese Arbeit sind Männer unerlässlich.« (Positionspapier des Arbeitskreis Burschen Arbeit Salzburg, 2000) Das verlangt von uns Männern, die diese Arbeit leisten, die Bereitschaft unser Tun auch laufend neu zu reflektieren. Burschenarbeit ist Selbsterfahrung und setzt diese voraus. Die Fragen nach den Jungenarbeit, so wie wir sie verstehen, stellt einen Raum zur Verfügung, in dem Jungen lernen können: ... » 37 Das Erspüren können von momentanen Befindlichkeiten und diese ausdrücken zu können, heißt zu lernen aggressiv zu sein und dies wiederum bedeutet auf Gewalt verzichten zu können. Hierin haben viele junge Männer einen Nachholbedarf, den wir zu einem gewissen Teil in unseren Veranstaltungen erfüllen. Methoden und Rahmenbedingungen sind nicht unwichtig, aber sie sind zweitrangig und nach pragmatischen Gesichtspunkten veränderbar. »Jungenarbeit ist (...) keine Frage der Methodik, sondern eine Frage der Haltung. Haltung setzt ein hohes Maß an Selbsterfahrung voraus. Daraus resultiert, dass die männlichen Betreuer einen guten Kontakt zu dem kleinen Jungen in sich selbst haben müssen. Diese Nähe ist aber bei den meisten Männern verschüttet.« (LEMPERT/OELEMANN 2000, S. 93) Diese Nähe herzustellen, ist die Herausforderung in der Burschenarbeit. Überarbeitete Fassung 2011 Die Projektarbeit die uns die hier veröffentlichten Ansichten und Einsichten ermöglichte, wurde gefördert von: Salzburger Landesregierung, Stadt Salzburg, Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen. Verstehende Jungenarbeit ist gewaltpräventiv Dieser Artikel wurde in der ersten Fassung publiziert: Verstehende Jungenarbeit als gewaltpräventives Handlungskonzept, Harald Burgauner und Rainer Konderla In: Karin Lauermann, Gerald Knapp (Hrsg.) Sozialpädagogik in Österreich Perspektiven in Theorie und Praxis (Verlag Mohorjeva Hermagoras, Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/ Laibach – Wien/Dunaj) 2003. ISBN 3-85013-996-4 Aus all dem bisher Gesagten geht hervor, dass ... » » » » » der Gewaltkreislauf durchbrochen werden kann, wenn der Täter die Verantwortung für sein Handeln übernimmt. dies kann er dann, wenn er sich seinen Gefühlen stellt. das Wahrnehmen und Benennen von Gefühlen ist für Männer kaum möglich, weil es nicht zu typisch männlichen Qualitäten gehört und deshalb in der Erziehung kaum gefördert wird. diese Fähigkeiten können ins Geschlechtsrollenbild aufgenommen werden und die Kinder und Jugendlichen kontaktfähiger, sensibler, gefühlsbewusster und selbstbewußter werden. dadurch ist die Wahrscheinlichkeit, dass in Konfliktsituationen auf das Mittel der Gewalt zurückgegriffen werden muss, verringert. Literatur LEMPERT, J./ OELEMANN, B.: Endlich selbstbewusst und stark. Gewaltpädagogik nach dem Hamburger Modell – Ein Lernbrief. OLE Verlag. Hamburg 2000. Gewaltprävention ist Burschensache SCHWIND, H. D. (Hg.): Ursachen, Prävention, und Kontrolle von Gewalt: Analyse und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission). Bd.I, Berlin 1990. Wenn man der Prämisse folgen kann, dass Gewalt im engeren Sinne, also das Schlagen, Treten, Schubsen und ähnliches hauptsächlich von Männern und Burschen ausgeübt wird, dann ist klar, dass auch bei den vorbeugenden Maßnahmen das Augenmerk vornehmlich auf Männer gelegt werden muss. POPP, U.: Geschlechtersozialisation und Gewalt an Schulen, in: Holtappels, Heinz Günter u.a. (Hg.), Forschung über Gewalt an Schulen.Juventa.Weinheim/ München 1999 In der Durchführung unserer Gewaltpräventionsworkshops haben wir die Erfahrung gemacht, dass vielen jungen Männern die Sprache für ihr ureigenstes Selbst nämlich ihr »Mann-sein« fehlt. Das Bild, dass viele Jungen von sich haben ist geprägt von sexualisierten Vorurteilen und dem Begriff der »Coolnes«. Umfassend kann das Selbstbild dieser werdenden Männer mit dem Wort »Abwertung« beschrieben werden. Der Mann bestätigt sich als solcher im Tun und nicht im Sein. Er erweist sich als Mann durch das, was er leistet und nicht durch das was er fühlt. SCHROFFENEGGER, G. / SCHWEIGHOFER A. / GNAIGER A. : Bubenarbeit in Österreich I + II , Eigentümer und Herausgeber Republik Österreich, Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen, Wien, 2. Auflage, 2000 Diese einseitige Verengung auf quantitativ fassbare Ergebnisse birgt zwei große Gefahr in sich: PLATTFORM GEGEN DIE GEWALT IN DER FAMILIE, »Gewaltprävention durch Mädchenund Bubenarbeit in der außerschulischen Jugendarbeit« Eigentümer und Herausgeber Republik Österreich, Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen, Wien 1996 » nämlich, dass er in Situationen, deren er nicht mehr »Herr« werden kann, diese mit dem Mittel der Gewalt wieder für sich ins Lot bringt. » Die Quantifizierung hat zudem noch den Effekt der Messbarkeit, also der Vergleichbarkeit. Sehr schnell geht es dann darum besser zu sein. Also um Rangordnung. Immer wieder kann die Herstellung der »richtigen« Ordnung eskalieren und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. 38