Berlin ist eine gute Schule für die Wahrnehmung

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Feuilleton
Montag, 5. März 2007
Eigentlich hat man ja geschworen,
nichts von dem zu erzählen, was
sich da in Zürich auf der Bühne
abgespielt hat. Alle haben es nachgesprochen. Niemals, so hat man
gelobt, wollte man auch nur ein
Wort über das verlieren, was der
Geist von Hamlets Vater seinem
Sohn offenbart hat. Andererseits
hat man kurz zuvor noch mit jenem bösen Onkel die Becher erhoben und auf die Rückkehr seines
Neffen angestoßen. Und ganz unter
uns: Mörder und Frevler sehen anders aus, als dieser leicht überforderte, knochentrocken verstolperte Politiker, der sich redlich
müht, den Text seines Redenschreibers daherzusagen.
Der
Redenschreiber
heißt
Shakespeare, Elisabeth Plessen hat
seinen Hamlet-Text ins Deutsche
übersetzt und der Situation angepasst, die der Regisseur Jan Bosse
mit seinem Bühnenbildner Stéphane Laimé im Schiffbau des Züricher Schauspielhauses eingerichtet hat. Eine Mischung aus Tafelrunde und Parlament: in der zu
beiden Seiten verspiegelten Halle
sitzt man an langen gedeckten Tischen als Vertreter der Öffentlichkeit und Teil jenes Gemeinwesens,
um das es zurzeit offensichtlich
nicht zum allerbesten bestellt ist.
Was genau schief läuft, dieses Geflecht von üblen Vorzeichen und
schlechten Prognosen, erklärt ein
dicklicher Herr in kurzen Anzugshosen und Kniestrümpfen auf
Schweizerdeutsch, damit es auch
ankommt. Es ist Horatio, der
Freund und Vertraute von Juniorchef Hamlet. Eben saß er noch neben einem, ein aufmerksamer Zuhörer unter anderen, jetzt steht er
vorn. Weitere aus dem Publikum
werden ihm folgen. Im Schiffbau
sitzen alle im selben Boot. Auf solcher Teilhabe beruht Erfolgsrezept
des Theaters von Jan Bosse.
Wie behauptet man sich gegenüber Übervätern und lächerlichen
Menschen,
wenn die einen
im schlimmsten
Fall mit den andern
zusammenfallen, heißen sie nun
Claudius, Hamlet Senior oder
Shakespeare?
Claudius in ZüDas ist hier die
rich: Edgar Selge
Frage. Um sie
zu lösen zieht
Joachim Meyerhoff sämtliche Register. Meyerhoff spielt Hamlet und
macht genau diesen Prozess durchsichtig: den Versuch, der Rolle eines Scheiternden gerecht zu werden, in dem man an ihr scheitert.
Ein großes Bühnenereignis ist daraus geworden. Denn aus dem, was
im Leben misslingt, nährt sich das
Theater. Hamlet ist insofern der
geborene Schauspieler und Meyerhoff sein berufenster Interpret.
Der melancholische Intellektuelle avant la lettre wird bei ihm zum
Prototypen des heutigen Theatermenschen. Ein erregbares höheres Söhnchen, das mit der unerfreulichen Perspektivlosigkeit der
Gegenwart nicht klar kommt, seine
Hirn- und Vatergespinste spielerisch austobt, alles dekonstruiert
und dabei doch immer nur den
Falschen trifft: mit der Axt harmlose Mitläufer vom Schlage eines
Polonius, mit der Wortkeule die
unschuldige Ophelia, bis sie nicht
mehr weiß, wo ihr der Kopf steht.
Meyerhoff ist immer beides zugleich, außer sich und doch ganz
nah bei der Rolle. Seine Tragödie,
die eines lächerlichen Mannes, verwandelt Jan Bosse in die Komödie
der Klassikerinterpretation. „Ha,
Ha, Hamlet“, keckert an einer
Stelle der von Edgar Selge gespielte Claudius giftig, seinerseits als
demolierter Thronusurpator wie
als dämlicher Geist ein Virtuose im
komischen Unterspielen des hochfahrenden Textes. Selten dürfte bei
diesem nachtschwarzen Drama so
gelacht worden sein. Selten wurde
andererseits der makabre Irrwitz
des Todestheaters der Kirchhofszene so irritierend entfaltet.
So mischt sich Komisches und
Erhabenes auch in dem großen
Schlachten am Schluss. Zur wohl
eigenartigsten Fechtszene der Rezeptionsgeschichte leert Franziska
Walser, die als Königin Gertrud
eher blass bleibt, den Giftbecher
mit den Worten: „Ich habe noch
Text“. Der tödlich getroffene Hamlet dagegen verweist, auf das Viele,
das noch zu erzählen wäre. Bekanntlich aber ist der Rest Schweigen.
Deshalb, nur deshalb sei das eingangs erwähnte Gelübde gebrochen: Um an einen großen Theaterabend zu erinnern und an Joachim Meyerhoff als den derzeit legitimen Herrscher im Hamletland.
Weitere Vorstellungen: Heute, 14.,
15., 17. 2.; Tel.: 0041 044 258 77 77
Der Fotograf und Dokumentarfilmer Raymond Depardon im Gespräch über Städte, Frauen und das Schöne am Chaos
Der Franzose Raymond Depardon
ist Dokumentarfilmer und Fotograf. Für seine Ausstellung „Villes
/ Cities / Städte“ hat der MagnumStar zwölf Metropolen besucht.
Von New York bis Shanghai, von
Berlin bis Tokio. In der Ausstellung, die bis 1. April in der Helmut-Newton-Stiftung im Berliner
Museum für Fotografie zu sehen
ist, werden zwölf Dokumentarfilme und 300 Fotos gezeigt. Mit Depardon sprach Johanna Schmeller.
DIE WELT: Eines Ihrer berühmtesten
Projekte widmete sich dem Leben
der französischen Landbevölkerung. Nun stellen Sie Fotos aus, die
in hektischen Weltstädten entstanden sind.
Raymond Depardon: Meine Eltern
waren Bauern. Ich bin aufgewachsen wie ein Mann des 19. Jahrhunderts. Als ich die Farm meiner
Eltern verlassen habe, bin ich direkt nach Paris gezogen.
Ich habe in Paris viele
harte Filme gedreht, über
die Polizei, die Psychiatrie.
WELT: Sie waren Vorsitzender der
Europäischen Magnum. Magnum
oder Ostkreuz?
Depardon: Wäre ich zwanzig Jahre
jünger – ich würde sofort nach Berlin ziehen. Den Kurfürstendamm
hasse ich zwar, der ist ein einziges
großes Schaufenster. Aber ich würde für die Fotoagentur Ostkreuz
arbeiten. Die Leute, die Frauen,
die Flohmärkte beobachten. Berlin
ist eine gute Schule für die Wahrnehmung. Mit all seinen Monumenten verleugnet Berlin die Vergangenheit nicht. Und zugleich ist
Berlin nach vorn gerichtet: die
Berlinale, die Museen, die großartigen, neuen Hotels.
WELT: Wo steigen Sie ab:
In Ost- oder West-Berlin?
Depardon: Ich bin jedes
Mal direkt in Berlin-Mitte gelandet. Als junger
WELT: Wenn Sie sich entFotograf habe ich im
scheiden müssten: Stadt
Herbst 1961den Maueroder Land?
bau bebildert. Ich war 19
Depardon:
Eigentlich
und habe spielende Kindachte ich, ich würde Raymond
der fotografiert, über die
Städte hassen. Doch seit Depardon
Baustelle hinweg. Den
ich jetzt zwölf weitere
anderen Fotografen sind
Großstädte bereist habe – ich war sie nicht aufgefallen, die haben
in jeder Stadt nur drei Wochen – stur ihren Job gemacht. Das waren
habe ich eine entspanntere Ein- meine ersten wirklich berühmten
stellung zu Metropolen. Man ist Fotos. Weil ich die Mauer schon
anonym, hat viele Freiheiten. Auf mal fotografiert hatte, sollte ich
dem Land redet jeder über jeden.
zehn Jahre später erneut hin, dann
zum Mauerfall und so weiter. Ich
WELT: Großstadt oder Weltstadt?
spreche kein Wort deutsch und
Depardon: Jedenfalls nicht New kaum englisch, das half nichts.
York, soviel ist sicher. New York ist
seit dem 11. September völlig para- WELT: Was inspiriert mehr: Berlin
noid geworden. Ich mag Tokio und früher oder Berlin heute?
Depardon: Ich werde Ihnen was erBuenos Aires.
zählen: Als ich 1999 nach Berlin
WELT: Tokio oder Buenos Aires?
gereist bin, hatte ich eine junge
Depardon: Dann Tokio. Buenos Ai- Assistentin dabei. Die war 1969 geres war mir neu, ich fand es über- boren – und fast dreißig Jahre jünraschend. Tokio bereise ich seit 30 ger als ich. Dieses Mädchen war
Jahren. Das erste Mal hat es mir durch und durch Französin, eine
überhaupt nicht gefallen. Heute richtige Pariserin eben. Sie hatte
finde ich die Stadt faszinierend: In überhaupt keine Ahnung von
Tokio wurden glücklicherweise ein Deutschland. Also spielte ich für
paar einfache Viertel mit kleinen, sie den Fremdenführer. Wir fuhren
alten Holzhäusern nicht – wie in mit dem Fahrrad durch die somShanghai – zerstört. Ich mag dieses merliche Stadt. Ich erklärte ihr algefällige Chaos: Dorf-Großstadt- les: Da, guck mal, hier war die
Dorf-Großstadt.
Mauer, hier konnte man nicht lang
gehen, und da war es schrecklich.
WELT: Ist die Stadt für Sie Motiv Plötzlich fühlte ich mich altmooder Kulisse?
disch.
Depardon: Eigentlich faszinieren
mich Menschen. Ich fotografiere WELT: Altmodisch oder erfahren?
gern das Leben. Leute, die mit ir- Depardon: Altmodisch. Dieses Mädgendetwas beschäftigt sind. Aber chen sah ein ganz anderes
ich versuche, dabei nicht zu viel zu Deutschland vor sich. Es war
schön und gut, die Vergangenheit
tricksen.
zu kennen, aber es schien an der
WELT: Ein Fotograf, der Leute ab- Zeit, das Kapitel „Teilung“ zu
lichtet, ohne dass sie es merken, ist schließen und nach vorn zu blidas mehr ein Künstler oder ein cken. Und ich machte mich in ihPaparazzo?
ren Augen lächerlich mit meinen
Depardon: Die Privatsphäre des veralteten Geschichten vom Check
Einzelnen muss man respektieren. Point Charlie und vom BrandenIch erbitte im Nachhinein eine Ge- burger Tor. In der Gegenwart danehmigung, bevor ich die Bilder gegen gab es überall schöne junge
veröffentliche. Aber es erstaunt Männer in schwarzen Hemden zu
mich schon, dass so viele Leute bewundern. Viele Restaurants und
Angst davor haben, sich zu zeigen. Bars hatten eröffnet. Die AtmoGanz langsam wird das besser. sphäre war sehr angenehm.
Trotzdem bekomme ich manchmal
regelrecht Komplexe, wenn ich ne- WELT: Letzte Frage. Wer hat Sie
ben amerikanischen Kollegen ste- eigentlich zur Vernissage begleitet:
he und ihre Arbeitsweise beobach- Ihre Gattin oder die Assistentin
von damals?
te.
Depardon: Sind Sie verrückt? Sagen
WELT: Falls Sie im nächsten Leben Sie doch nicht solche Sachen. Meiwählen dürfen: Amerikaner oder ne Frau natürlich. Die hätte mir
Franzose?
was erzählt!
Seite 25
Hamburger Idyllen
in der
Falckenberg-Stiftung
V
ON JULIKA POHLE
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Depardon: Die Unbefangenheit der
Amerikaner macht mich zwar eifersüchtig. Aber ich bin eben Franzose. Franzosen sind zurückhaltender. Wir haben schließlich lateinische Wurzeln.
Die Stadt als Kulisse für Menschen: Die waren Sehenswürdigkeiten der großen Städte sind für Raymond Depardon ihre Bürger
Raymond Depardon in Berlin
Ein bisschen Voyeurismus muss einem Fotografen schon gestattet
sein, und der Magnum-Fotograf und
Dokumentarfilmer Raymond Depardon hat eine große Schwäche: Frauen. Minutenlang hält er seine Kamera auf eine brasilianische Schöne.
In einer ausgeblichenen Jeansjacke
steht das kaum 20-jährige Mädchen
vor einem taubenblauen Abendhimmel im Wind, im Hintergrund das
Meer und die Skyline von Rio de
Janeiro. Ungezwungen unterhält sie
sich mit ihrer Mutter, streicht sich
mit dem Ringfinger eine gelockte
Haarsträhne aus dem Gesicht, löst
ihre grell pinke Haarklammer. Den
Mann mit der Kamera bemerkt sie
zwar, sie blickt ihn direkt an, doch
scheint er sie nicht zu stören, noch
macht sie Anstalten, sich vor dem
fremden Beobachter in Szene zu
setzen. Und so entsteht weniger ein
Kurzfilm, als vielmehr die Chronik
einer intimen Beobachtung – typisch für die Arbeit des 69-Jährigen.
Diese und andere Aufnahmen kann
man nun erstmals im Museum für
Fotografie in Berlin sehen. Zwölf
riesige Leinwände hängen im abgedunkelten Kaisersaal auf Augenhöhe des Besuchers, auf jeder spielen
sich in Lebensgröße Szenen ab aus
den zwölf Metropolen, die der französische Foto-Künstler bereist hat.
Impressionen von Berlin bis Rio,
von Shanghai bis Dubai, von Addis
Abeba bis New York treffen hier
aufeinander. In ruhigen Sequenzen,
jede etwa vier Minuten lang, verfolgt Depardon stets einzelne Personen. Sobald die bemerken, dass
sie gefilmt werden, wendet er sich
ab, lässt den Blick schweifen, findet
ein neues Motiv, beißt sich fest,
folgt einem anderen Protagonisten
– nur, um sich anschließend wieder
im Treiben der Großstadt zu verlieren. Oft sind es junge Frauen, die
den Fotografen fesseln, meist mit
hochgebundenem Haar, aus dem
ein paar widerspenstige Strähnen
auf die Schultern fallen. In Shanghai filmt Depardon den gebräunten
Nacken eines jungen Asiaten, minutenlang, lässt die Kamera über den
schlanken Rücken wandern, entdeckt dann das Gesicht von dessen
Freundin, die sich durch ihr pechschwarzes Haar fährt. Und wie
meist bildet die Stadt, die sich im
Hintergrund erstreckt, lediglich eine
Kulisse für das, was den stillen
Beobachter nach eigener Aussage
am meisten fasziniert: Den Menschen in seiner Umwelt.
Im Nebenraum hängen diverse Fotografien Raymond Depardons, ohne
Passepartouts sind sie aneinander
gereiht als nahtlose Serie, Bild um
Bild, Stadt um Stadt. Oft wirken die
Motive zufällig, die Ausschnitte beliebig, und erst langsam erschließt
sich auch hier der so charakteristische Blick des Künstlers: Depardon
schätzt die Leere, und sogar in pulsierenden Metropolen fängt der
Franzose seltene Momente ein, in
denen die Stadt mal nicht hektisch
nach Luft ringt, sondern entspannt
Atem holt. Ein gelbes Licht taucht
Tokio und Berlin, Rio und Paris in
dieselbe satte Farbigkeit.
Johanna Schmeller
Bis 1. April, Museum für Fotografie,
Berlin.
Die alten Hominiden und ihre biblischen Verwandten im Geiste wären erstaunt, wie lange sich der
Traum vom idyllischen Utopia bei
den Nachkommen gehalten hat,
wie weit er trug. In der Kunst,
einem der Spiegel für menschliche
Sehnsüchte, lebte die Idylle bis
zum Beginn der Moderne als Gattung fort um dann zu expandieren:
Überschaubarkeit gehört nicht
länger zu ihren Merkmalen. Die
zeitgenössische Kunst hat, den
flammenschwertbewaffneten Cherubim zum Trotz, den Zaun um das
Paradies eingerissen, Anti-Idyllen
dringen von Außen nach Innen und
machen sich im harmonischen
Garten Eden breit. Im Gegenzug
gelangt Inneres hinaus, das Ideal
wird gezwungen, sich mit der
Wirklichkeit zu verbrüdern. Eine
Hamburger Ausstellung in den
Räumen der Sammlung Falckenberg/Phoenix Kulturstiftung versammelt 50 Positionen von Gegenwartskünstlern und befasst sich
mit dem Phänomen Idylle, die einerseits als Traumbild durch die
Gemüter wabert, deren Stabilität
sich andererseits seit Adams und
Evas Fehltritt immer wieder als
Trugschluss entpuppt.
Die Künstler erweitern die ohnehin schon weitläufigen Ausstellungsfläche, auf der sie ihre landschaftlichen, urbanen, privaten
und utopischen Idyllen aufschlagen, um vielfältige konzeptionelle
Dimensionen; die Kuratoren Martje Schulz und Oliver Zybok ließen
alle Genres zu. So wird der Betrachter in spießbürgerlich enge
Ecken gedrängt, dann wieder in
fantastische Architekturen erhoben, gegen die das Projekt Babel
ein kleines Licht gewesen sein
muss. Zu den visionären Werken
gehört etwa die Arbeit von Inga
Svala Thorsdottir, die eine fiktive
Stadt entwickelt. In der Metropole
„Borg“ gibt es Elfen und pure
Sorglosigkeit, die schwankende,
aus Schaukelbrettern kreierte Installation „Borgbrücke“ kann unsicheren Fußes überquert werden –
Miltons „ungewisse Bahn“, auf der
die Menschheit nach der Vertreibung durch Eden hinwandelt, bekommt eine neue Bedeutung. Die
in Los Angeles lebende Koreanerin
Won Ju Lim erfindet ein Utopia als
konkretes Zitat auf den Traum
vom Westen. „California Dreamin’“ heißt die raumgreifende Arbeit
aus plexigläsernen Wohnblöcken,
die unter Palmenprojektionen und
farbigen Lichteffekten ein zwar
schönes, doch menschenfeindliches Schattendasein fristen.
Die Pfeiler der Zivilisation bilden den Rahmen für die Idyllen
und durchlöchern sie wie nebenbei. Mit Umweltfragen setzen sich
die Künstler indes nur peripher
auseinander, stattdessen betrachten sie, oft witzig, den menschlichen Versuch, Vorgefundenes
nach den eigenen, zweifelhaften
Idealvorstellungen zu kultivieren.
Das Paradies bleibt eine Fata Morgana; für den, der sich nähert,
stellt sich der schöne Schein als
heiße Luft heraus. Trotzdem ist
Enttäuschung über den Verlust der
Idylle und die Unmöglichkeit, in
ihr aufzugehen, Fehl am Platz.
Selbstironie wird zur gefragtesten
Eigenschaft – im Künstlerkreis
tritt sie die Nachfolge jener verschütteten Fähigkeit an, Gut und
Böse zu unterscheiden.
Bis 22. April
Wo die Gold-Else auf der Fontäne schwebt
Soviel Augenlust war nie: Mit Thomas Münstermanns „Rhythmus Berlin“ im Friedrichstadtpalast feiert die Berliner Revue eine furiose Wiedergeburt
V
ON CHRISTOPH STÖLZL
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Einen Kilometer weiter rostet der
Ex-Palast vor sich hin, längst kein
politisches Denkmal mehr, sondern
Zeugnis für den Doppel-Fluch des
„Det jeht nich“ und des „Det dauert“, der über so vielem Tun der
öffentlichen Hand lastet. Nichts
gelingt, die Grüne Welle nicht und
nicht die Lehrerversorgung, vom
Arbeitsmarkt ganz zu schweigen.
Und doch gibt es auch Inseln der
Perfektion in Berlin, wo alles
klappt, wo einem das Herz aufgeht
vor Bewunderung über das scheinbar mühelose Zusammenspiel
Hunderter von Menschen.
Die Opern gehören dazu. Und
das riesige Unterhaltungstheater
am Bahnhof Friedrichstadt, das
seinen Palast-Titel mit vollem
Recht trägt, denn gibt es auch keinen König hier, so doch einen Hofstaat, zusammengesetzt aus Hunderten von Spezialisten für fürstliches Divertimento, mit Orchester
und Ballett und Zauberern der Illusion. Keine Sekunde darf da geschlampt werden, so ähnlich wie
auf einem Flugplatz. Denn es geht
ums Abheben, ums Fliegen. Die
Revue ist die luftigste aller Kunstformen – und also eine der
schwersten. Darum ist sie fast
überall auf der Welt ausgestorben,
und geblieben sind nur vergilbte
Archivphotos, die erstaunlicherweise immer noch elektrisieren.
Denn die Revue war der Ort, wo
wir, die modernen Großstadtmenschen, zum ersten Mal einen glitzernden Spiegel vorgehalten bekommen haben, wo das Oberflächliche und Flüchtige der Metropolen, ihre Zerstreuungslust, nicht
pädagogisch verurteilt, sondern
heiter auf den Punkt gebracht
wurde. Und geblieben ist das Echo
in der Klassischen Moderne: Picasso hat die Revue geliebt; Nolde,
Kirchner und Pechstein sind durch
die Berliner Variétés und Tingeltangel gepilgert auf der Suche
nach sinnlichen Sensationen zur
Beflügelung ihrer Kunst. Wer heute Revue macht, muss einen
schwierigen Spagat hinkriegen: Er
steht im Bann einer ehrwürdigen
Tradition, zu der die Swingmusik
wie die Girlsreihe gehören – und
muss doch ein Publikum begeistern, das durch Rockmusik, Fernsehen und Computer-Virtualität
andere Ohren und Augen, andere
Phantasien bekommen hat als die
Fans der Roaring Twenties.
Thomas Münstermann und seinem Team ist mit „Rhythmus Berlin“ ein großer Wurf gelungen. Soviel Augenlust war nie: 24 Bilder,
600 Kostüme, fünf Komponisten,
sieben Choreographen und vor
allem der Mut, die traditionellen
Trampelpfade der Zuschauererwartungen zu verlassen und neugierig auszuschwärmen in die Gegenwartskunst – es hat sich gelohnt. „Rhythmus Berlin“ knüpft
ganz bewusst an den legendären
Film von Walter Ruttmann „Berlin
– Symphonie einer Großstadt“ von
1927 an. Mit einer furiosen Simultanprojektion von Ruttmannbildern, aus denen sich dann die
Tanzszenen und Songs emanzipieren, beginnt die Schau.
Die Story ist so alt wie die Welt
und so neu wie jeder Tag in Berlin:
Boy meets Girl, ein Hindernislauf,
der 24 Stunden dauert und durch
ganz Berlin führt. Man schaut und
staunt. „Rhythmus Berlin“ ist ein
Triumph der Kombinatorik von
Vertrautem und Neuerfundenem.
Die ehrwürdigen Berlin-Mythen
der Architektur, des Stadtplans,
der taghellen Nacht kommen vor,
FOTO: DAVIDS/DARMER
FOTO: DPA
V
ON STEFAN KISTER
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„Berlin ist eine gute Schule für die Wahrnehmung“
FOTOS: DEPARDON/MAGNUM PHOTOS PARIS
Selten so über
Hamlet gelacht
wie in Zürich
DIE WELT
Die Girlsreihe der „Rhythmus Berlin“-Revue darf auch mal sitzen
+
aber nie als braves Zitat, sondern
immer verwandelt in TheaterÜberraschungen. So schwebt etwa
die Gold-Else hoch in den Lüften,
getragen nur von einer gewaltigen
Wasserfontäne. Und der Platz am
Großen Stern wird zur VogelschauPostkarte, in deren Mitte sich ein
dunkles Loch als neue Bühne auftut. Videos spielen wie Kobolde
während der ganzen Revue mit,
sind mal Mensch, mal Ornament,
sie kommen und gehen nach Laune
und wischen sich, ein grandiose
Pointe, am Schluss selbst weg.
„Rhythmus Berlin“ ist auf der
Höhe der Zeit. Es mixt die Errungenschaften der Avantgarde wie
den Minimalismus des zeitgenössischen Tanztheaters und die erotischen Körperinszenierungen der
Body Art mit immer neuen Wellen
des klassischen Formationstanzes
und mit dem Variété. Und heraus
kommen unvergessliche Bilder wie
jenes vom magisch leuchtenden
Liebespaar in einer Wasserschale
hoch droben, unter dem sich der
blaue Planet durchs Weltall dreht.
Oder das Museum, dessen Skulpturen auf erschreckend komische
Weise zum Leben erwachen. Oder
auch der Regen, der Kunstfiguren
bildet.
Großstadt ist Risiko, Steigen und
Stürzen. Darum sind die akrobatischen Partien der Revue nicht
Abwechslungs-Zutaten, sondern
treibende Faktoren der Handlung.
Genial übersetzt die russische
„Tschass“-Truppe die Hektik der
Metropolenzeit in eine atemberaubende Performance an einer riesigen Uhr. Und Standing Ovations
gibt es für die Velez-Brothers, die
mit Oben und Unten, mit dem Körper im Raum, ja mit den Gesetzen
der Schwerkraft ihren lebensgefährlichen Spott treiben, wie es
sonst nur der Computer in virtuellen Welten kann.
Mut zum Risiko hat auch die
Musik. Nicht Berliner Evergreens
lächeln am Wege, sondern ein
durchgehend neu komponierter
Musik-Strom trägt die Ereignisse:
dämonischer Swing trifft schneidenden HipHop und raffinierte
Balladen, auf die zu hören sich
lohnt. Wermutstropfen: Von den
Songtexten war kaum etwas zu
verstehen. Aber ein kleines Pech
im großen Glück der Revue – was
macht das schon?
Zugehörige Unterlagen
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