Feuilleton Montag, 5. März 2007 Eigentlich hat man ja geschworen, nichts von dem zu erzählen, was sich da in Zürich auf der Bühne abgespielt hat. Alle haben es nachgesprochen. Niemals, so hat man gelobt, wollte man auch nur ein Wort über das verlieren, was der Geist von Hamlets Vater seinem Sohn offenbart hat. Andererseits hat man kurz zuvor noch mit jenem bösen Onkel die Becher erhoben und auf die Rückkehr seines Neffen angestoßen. Und ganz unter uns: Mörder und Frevler sehen anders aus, als dieser leicht überforderte, knochentrocken verstolperte Politiker, der sich redlich müht, den Text seines Redenschreibers daherzusagen. Der Redenschreiber heißt Shakespeare, Elisabeth Plessen hat seinen Hamlet-Text ins Deutsche übersetzt und der Situation angepasst, die der Regisseur Jan Bosse mit seinem Bühnenbildner Stéphane Laimé im Schiffbau des Züricher Schauspielhauses eingerichtet hat. Eine Mischung aus Tafelrunde und Parlament: in der zu beiden Seiten verspiegelten Halle sitzt man an langen gedeckten Tischen als Vertreter der Öffentlichkeit und Teil jenes Gemeinwesens, um das es zurzeit offensichtlich nicht zum allerbesten bestellt ist. Was genau schief läuft, dieses Geflecht von üblen Vorzeichen und schlechten Prognosen, erklärt ein dicklicher Herr in kurzen Anzugshosen und Kniestrümpfen auf Schweizerdeutsch, damit es auch ankommt. Es ist Horatio, der Freund und Vertraute von Juniorchef Hamlet. Eben saß er noch neben einem, ein aufmerksamer Zuhörer unter anderen, jetzt steht er vorn. Weitere aus dem Publikum werden ihm folgen. Im Schiffbau sitzen alle im selben Boot. Auf solcher Teilhabe beruht Erfolgsrezept des Theaters von Jan Bosse. Wie behauptet man sich gegenüber Übervätern und lächerlichen Menschen, wenn die einen im schlimmsten Fall mit den andern zusammenfallen, heißen sie nun Claudius, Hamlet Senior oder Shakespeare? Claudius in ZüDas ist hier die rich: Edgar Selge Frage. Um sie zu lösen zieht Joachim Meyerhoff sämtliche Register. Meyerhoff spielt Hamlet und macht genau diesen Prozess durchsichtig: den Versuch, der Rolle eines Scheiternden gerecht zu werden, in dem man an ihr scheitert. Ein großes Bühnenereignis ist daraus geworden. Denn aus dem, was im Leben misslingt, nährt sich das Theater. Hamlet ist insofern der geborene Schauspieler und Meyerhoff sein berufenster Interpret. Der melancholische Intellektuelle avant la lettre wird bei ihm zum Prototypen des heutigen Theatermenschen. Ein erregbares höheres Söhnchen, das mit der unerfreulichen Perspektivlosigkeit der Gegenwart nicht klar kommt, seine Hirn- und Vatergespinste spielerisch austobt, alles dekonstruiert und dabei doch immer nur den Falschen trifft: mit der Axt harmlose Mitläufer vom Schlage eines Polonius, mit der Wortkeule die unschuldige Ophelia, bis sie nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Meyerhoff ist immer beides zugleich, außer sich und doch ganz nah bei der Rolle. Seine Tragödie, die eines lächerlichen Mannes, verwandelt Jan Bosse in die Komödie der Klassikerinterpretation. „Ha, Ha, Hamlet“, keckert an einer Stelle der von Edgar Selge gespielte Claudius giftig, seinerseits als demolierter Thronusurpator wie als dämlicher Geist ein Virtuose im komischen Unterspielen des hochfahrenden Textes. Selten dürfte bei diesem nachtschwarzen Drama so gelacht worden sein. Selten wurde andererseits der makabre Irrwitz des Todestheaters der Kirchhofszene so irritierend entfaltet. So mischt sich Komisches und Erhabenes auch in dem großen Schlachten am Schluss. Zur wohl eigenartigsten Fechtszene der Rezeptionsgeschichte leert Franziska Walser, die als Königin Gertrud eher blass bleibt, den Giftbecher mit den Worten: „Ich habe noch Text“. Der tödlich getroffene Hamlet dagegen verweist, auf das Viele, das noch zu erzählen wäre. Bekanntlich aber ist der Rest Schweigen. Deshalb, nur deshalb sei das eingangs erwähnte Gelübde gebrochen: Um an einen großen Theaterabend zu erinnern und an Joachim Meyerhoff als den derzeit legitimen Herrscher im Hamletland. Weitere Vorstellungen: Heute, 14., 15., 17. 2.; Tel.: 0041 044 258 77 77 Der Fotograf und Dokumentarfilmer Raymond Depardon im Gespräch über Städte, Frauen und das Schöne am Chaos Der Franzose Raymond Depardon ist Dokumentarfilmer und Fotograf. Für seine Ausstellung „Villes / Cities / Städte“ hat der MagnumStar zwölf Metropolen besucht. Von New York bis Shanghai, von Berlin bis Tokio. In der Ausstellung, die bis 1. April in der Helmut-Newton-Stiftung im Berliner Museum für Fotografie zu sehen ist, werden zwölf Dokumentarfilme und 300 Fotos gezeigt. Mit Depardon sprach Johanna Schmeller. DIE WELT: Eines Ihrer berühmtesten Projekte widmete sich dem Leben der französischen Landbevölkerung. Nun stellen Sie Fotos aus, die in hektischen Weltstädten entstanden sind. Raymond Depardon: Meine Eltern waren Bauern. Ich bin aufgewachsen wie ein Mann des 19. Jahrhunderts. Als ich die Farm meiner Eltern verlassen habe, bin ich direkt nach Paris gezogen. Ich habe in Paris viele harte Filme gedreht, über die Polizei, die Psychiatrie. WELT: Sie waren Vorsitzender der Europäischen Magnum. Magnum oder Ostkreuz? Depardon: Wäre ich zwanzig Jahre jünger – ich würde sofort nach Berlin ziehen. Den Kurfürstendamm hasse ich zwar, der ist ein einziges großes Schaufenster. Aber ich würde für die Fotoagentur Ostkreuz arbeiten. Die Leute, die Frauen, die Flohmärkte beobachten. Berlin ist eine gute Schule für die Wahrnehmung. Mit all seinen Monumenten verleugnet Berlin die Vergangenheit nicht. Und zugleich ist Berlin nach vorn gerichtet: die Berlinale, die Museen, die großartigen, neuen Hotels. WELT: Wo steigen Sie ab: In Ost- oder West-Berlin? Depardon: Ich bin jedes Mal direkt in Berlin-Mitte gelandet. Als junger WELT: Wenn Sie sich entFotograf habe ich im scheiden müssten: Stadt Herbst 1961den Maueroder Land? bau bebildert. Ich war 19 Depardon: Eigentlich und habe spielende Kindachte ich, ich würde Raymond der fotografiert, über die Städte hassen. Doch seit Depardon Baustelle hinweg. Den ich jetzt zwölf weitere anderen Fotografen sind Großstädte bereist habe – ich war sie nicht aufgefallen, die haben in jeder Stadt nur drei Wochen – stur ihren Job gemacht. Das waren habe ich eine entspanntere Ein- meine ersten wirklich berühmten stellung zu Metropolen. Man ist Fotos. Weil ich die Mauer schon anonym, hat viele Freiheiten. Auf mal fotografiert hatte, sollte ich dem Land redet jeder über jeden. zehn Jahre später erneut hin, dann zum Mauerfall und so weiter. Ich WELT: Großstadt oder Weltstadt? spreche kein Wort deutsch und Depardon: Jedenfalls nicht New kaum englisch, das half nichts. York, soviel ist sicher. New York ist seit dem 11. September völlig para- WELT: Was inspiriert mehr: Berlin noid geworden. Ich mag Tokio und früher oder Berlin heute? Depardon: Ich werde Ihnen was erBuenos Aires. zählen: Als ich 1999 nach Berlin WELT: Tokio oder Buenos Aires? gereist bin, hatte ich eine junge Depardon: Dann Tokio. Buenos Ai- Assistentin dabei. Die war 1969 geres war mir neu, ich fand es über- boren – und fast dreißig Jahre jünraschend. Tokio bereise ich seit 30 ger als ich. Dieses Mädchen war Jahren. Das erste Mal hat es mir durch und durch Französin, eine überhaupt nicht gefallen. Heute richtige Pariserin eben. Sie hatte finde ich die Stadt faszinierend: In überhaupt keine Ahnung von Tokio wurden glücklicherweise ein Deutschland. Also spielte ich für paar einfache Viertel mit kleinen, sie den Fremdenführer. Wir fuhren alten Holzhäusern nicht – wie in mit dem Fahrrad durch die somShanghai – zerstört. Ich mag dieses merliche Stadt. Ich erklärte ihr algefällige Chaos: Dorf-Großstadt- les: Da, guck mal, hier war die Dorf-Großstadt. Mauer, hier konnte man nicht lang gehen, und da war es schrecklich. WELT: Ist die Stadt für Sie Motiv Plötzlich fühlte ich mich altmooder Kulisse? disch. Depardon: Eigentlich faszinieren mich Menschen. Ich fotografiere WELT: Altmodisch oder erfahren? gern das Leben. Leute, die mit ir- Depardon: Altmodisch. Dieses Mädgendetwas beschäftigt sind. Aber chen sah ein ganz anderes ich versuche, dabei nicht zu viel zu Deutschland vor sich. Es war schön und gut, die Vergangenheit tricksen. zu kennen, aber es schien an der WELT: Ein Fotograf, der Leute ab- Zeit, das Kapitel „Teilung“ zu lichtet, ohne dass sie es merken, ist schließen und nach vorn zu blidas mehr ein Künstler oder ein cken. Und ich machte mich in ihPaparazzo? ren Augen lächerlich mit meinen Depardon: Die Privatsphäre des veralteten Geschichten vom Check Einzelnen muss man respektieren. Point Charlie und vom BrandenIch erbitte im Nachhinein eine Ge- burger Tor. In der Gegenwart danehmigung, bevor ich die Bilder gegen gab es überall schöne junge veröffentliche. Aber es erstaunt Männer in schwarzen Hemden zu mich schon, dass so viele Leute bewundern. Viele Restaurants und Angst davor haben, sich zu zeigen. Bars hatten eröffnet. Die AtmoGanz langsam wird das besser. sphäre war sehr angenehm. Trotzdem bekomme ich manchmal regelrecht Komplexe, wenn ich ne- WELT: Letzte Frage. Wer hat Sie ben amerikanischen Kollegen ste- eigentlich zur Vernissage begleitet: he und ihre Arbeitsweise beobach- Ihre Gattin oder die Assistentin von damals? te. Depardon: Sind Sie verrückt? Sagen WELT: Falls Sie im nächsten Leben Sie doch nicht solche Sachen. Meiwählen dürfen: Amerikaner oder ne Frau natürlich. Die hätte mir Franzose? was erzählt! Seite 25 Hamburger Idyllen in der Falckenberg-Stiftung V ON JULIKA POHLE .............................................................................. Depardon: Die Unbefangenheit der Amerikaner macht mich zwar eifersüchtig. Aber ich bin eben Franzose. Franzosen sind zurückhaltender. Wir haben schließlich lateinische Wurzeln. Die Stadt als Kulisse für Menschen: Die waren Sehenswürdigkeiten der großen Städte sind für Raymond Depardon ihre Bürger Raymond Depardon in Berlin Ein bisschen Voyeurismus muss einem Fotografen schon gestattet sein, und der Magnum-Fotograf und Dokumentarfilmer Raymond Depardon hat eine große Schwäche: Frauen. Minutenlang hält er seine Kamera auf eine brasilianische Schöne. In einer ausgeblichenen Jeansjacke steht das kaum 20-jährige Mädchen vor einem taubenblauen Abendhimmel im Wind, im Hintergrund das Meer und die Skyline von Rio de Janeiro. Ungezwungen unterhält sie sich mit ihrer Mutter, streicht sich mit dem Ringfinger eine gelockte Haarsträhne aus dem Gesicht, löst ihre grell pinke Haarklammer. Den Mann mit der Kamera bemerkt sie zwar, sie blickt ihn direkt an, doch scheint er sie nicht zu stören, noch macht sie Anstalten, sich vor dem fremden Beobachter in Szene zu setzen. Und so entsteht weniger ein Kurzfilm, als vielmehr die Chronik einer intimen Beobachtung – typisch für die Arbeit des 69-Jährigen. Diese und andere Aufnahmen kann man nun erstmals im Museum für Fotografie in Berlin sehen. Zwölf riesige Leinwände hängen im abgedunkelten Kaisersaal auf Augenhöhe des Besuchers, auf jeder spielen sich in Lebensgröße Szenen ab aus den zwölf Metropolen, die der französische Foto-Künstler bereist hat. Impressionen von Berlin bis Rio, von Shanghai bis Dubai, von Addis Abeba bis New York treffen hier aufeinander. In ruhigen Sequenzen, jede etwa vier Minuten lang, verfolgt Depardon stets einzelne Personen. Sobald die bemerken, dass sie gefilmt werden, wendet er sich ab, lässt den Blick schweifen, findet ein neues Motiv, beißt sich fest, folgt einem anderen Protagonisten – nur, um sich anschließend wieder im Treiben der Großstadt zu verlieren. Oft sind es junge Frauen, die den Fotografen fesseln, meist mit hochgebundenem Haar, aus dem ein paar widerspenstige Strähnen auf die Schultern fallen. In Shanghai filmt Depardon den gebräunten Nacken eines jungen Asiaten, minutenlang, lässt die Kamera über den schlanken Rücken wandern, entdeckt dann das Gesicht von dessen Freundin, die sich durch ihr pechschwarzes Haar fährt. Und wie meist bildet die Stadt, die sich im Hintergrund erstreckt, lediglich eine Kulisse für das, was den stillen Beobachter nach eigener Aussage am meisten fasziniert: Den Menschen in seiner Umwelt. Im Nebenraum hängen diverse Fotografien Raymond Depardons, ohne Passepartouts sind sie aneinander gereiht als nahtlose Serie, Bild um Bild, Stadt um Stadt. Oft wirken die Motive zufällig, die Ausschnitte beliebig, und erst langsam erschließt sich auch hier der so charakteristische Blick des Künstlers: Depardon schätzt die Leere, und sogar in pulsierenden Metropolen fängt der Franzose seltene Momente ein, in denen die Stadt mal nicht hektisch nach Luft ringt, sondern entspannt Atem holt. Ein gelbes Licht taucht Tokio und Berlin, Rio und Paris in dieselbe satte Farbigkeit. Johanna Schmeller Bis 1. April, Museum für Fotografie, Berlin. Die alten Hominiden und ihre biblischen Verwandten im Geiste wären erstaunt, wie lange sich der Traum vom idyllischen Utopia bei den Nachkommen gehalten hat, wie weit er trug. In der Kunst, einem der Spiegel für menschliche Sehnsüchte, lebte die Idylle bis zum Beginn der Moderne als Gattung fort um dann zu expandieren: Überschaubarkeit gehört nicht länger zu ihren Merkmalen. Die zeitgenössische Kunst hat, den flammenschwertbewaffneten Cherubim zum Trotz, den Zaun um das Paradies eingerissen, Anti-Idyllen dringen von Außen nach Innen und machen sich im harmonischen Garten Eden breit. Im Gegenzug gelangt Inneres hinaus, das Ideal wird gezwungen, sich mit der Wirklichkeit zu verbrüdern. Eine Hamburger Ausstellung in den Räumen der Sammlung Falckenberg/Phoenix Kulturstiftung versammelt 50 Positionen von Gegenwartskünstlern und befasst sich mit dem Phänomen Idylle, die einerseits als Traumbild durch die Gemüter wabert, deren Stabilität sich andererseits seit Adams und Evas Fehltritt immer wieder als Trugschluss entpuppt. Die Künstler erweitern die ohnehin schon weitläufigen Ausstellungsfläche, auf der sie ihre landschaftlichen, urbanen, privaten und utopischen Idyllen aufschlagen, um vielfältige konzeptionelle Dimensionen; die Kuratoren Martje Schulz und Oliver Zybok ließen alle Genres zu. So wird der Betrachter in spießbürgerlich enge Ecken gedrängt, dann wieder in fantastische Architekturen erhoben, gegen die das Projekt Babel ein kleines Licht gewesen sein muss. Zu den visionären Werken gehört etwa die Arbeit von Inga Svala Thorsdottir, die eine fiktive Stadt entwickelt. In der Metropole „Borg“ gibt es Elfen und pure Sorglosigkeit, die schwankende, aus Schaukelbrettern kreierte Installation „Borgbrücke“ kann unsicheren Fußes überquert werden – Miltons „ungewisse Bahn“, auf der die Menschheit nach der Vertreibung durch Eden hinwandelt, bekommt eine neue Bedeutung. Die in Los Angeles lebende Koreanerin Won Ju Lim erfindet ein Utopia als konkretes Zitat auf den Traum vom Westen. „California Dreamin’“ heißt die raumgreifende Arbeit aus plexigläsernen Wohnblöcken, die unter Palmenprojektionen und farbigen Lichteffekten ein zwar schönes, doch menschenfeindliches Schattendasein fristen. Die Pfeiler der Zivilisation bilden den Rahmen für die Idyllen und durchlöchern sie wie nebenbei. Mit Umweltfragen setzen sich die Künstler indes nur peripher auseinander, stattdessen betrachten sie, oft witzig, den menschlichen Versuch, Vorgefundenes nach den eigenen, zweifelhaften Idealvorstellungen zu kultivieren. Das Paradies bleibt eine Fata Morgana; für den, der sich nähert, stellt sich der schöne Schein als heiße Luft heraus. Trotzdem ist Enttäuschung über den Verlust der Idylle und die Unmöglichkeit, in ihr aufzugehen, Fehl am Platz. Selbstironie wird zur gefragtesten Eigenschaft – im Künstlerkreis tritt sie die Nachfolge jener verschütteten Fähigkeit an, Gut und Böse zu unterscheiden. Bis 22. April Wo die Gold-Else auf der Fontäne schwebt Soviel Augenlust war nie: Mit Thomas Münstermanns „Rhythmus Berlin“ im Friedrichstadtpalast feiert die Berliner Revue eine furiose Wiedergeburt V ON CHRISTOPH STÖLZL .............................................................................. Einen Kilometer weiter rostet der Ex-Palast vor sich hin, längst kein politisches Denkmal mehr, sondern Zeugnis für den Doppel-Fluch des „Det jeht nich“ und des „Det dauert“, der über so vielem Tun der öffentlichen Hand lastet. Nichts gelingt, die Grüne Welle nicht und nicht die Lehrerversorgung, vom Arbeitsmarkt ganz zu schweigen. Und doch gibt es auch Inseln der Perfektion in Berlin, wo alles klappt, wo einem das Herz aufgeht vor Bewunderung über das scheinbar mühelose Zusammenspiel Hunderter von Menschen. Die Opern gehören dazu. Und das riesige Unterhaltungstheater am Bahnhof Friedrichstadt, das seinen Palast-Titel mit vollem Recht trägt, denn gibt es auch keinen König hier, so doch einen Hofstaat, zusammengesetzt aus Hunderten von Spezialisten für fürstliches Divertimento, mit Orchester und Ballett und Zauberern der Illusion. Keine Sekunde darf da geschlampt werden, so ähnlich wie auf einem Flugplatz. Denn es geht ums Abheben, ums Fliegen. Die Revue ist die luftigste aller Kunstformen – und also eine der schwersten. Darum ist sie fast überall auf der Welt ausgestorben, und geblieben sind nur vergilbte Archivphotos, die erstaunlicherweise immer noch elektrisieren. Denn die Revue war der Ort, wo wir, die modernen Großstadtmenschen, zum ersten Mal einen glitzernden Spiegel vorgehalten bekommen haben, wo das Oberflächliche und Flüchtige der Metropolen, ihre Zerstreuungslust, nicht pädagogisch verurteilt, sondern heiter auf den Punkt gebracht wurde. Und geblieben ist das Echo in der Klassischen Moderne: Picasso hat die Revue geliebt; Nolde, Kirchner und Pechstein sind durch die Berliner Variétés und Tingeltangel gepilgert auf der Suche nach sinnlichen Sensationen zur Beflügelung ihrer Kunst. Wer heute Revue macht, muss einen schwierigen Spagat hinkriegen: Er steht im Bann einer ehrwürdigen Tradition, zu der die Swingmusik wie die Girlsreihe gehören – und muss doch ein Publikum begeistern, das durch Rockmusik, Fernsehen und Computer-Virtualität andere Ohren und Augen, andere Phantasien bekommen hat als die Fans der Roaring Twenties. Thomas Münstermann und seinem Team ist mit „Rhythmus Berlin“ ein großer Wurf gelungen. Soviel Augenlust war nie: 24 Bilder, 600 Kostüme, fünf Komponisten, sieben Choreographen und vor allem der Mut, die traditionellen Trampelpfade der Zuschauererwartungen zu verlassen und neugierig auszuschwärmen in die Gegenwartskunst – es hat sich gelohnt. „Rhythmus Berlin“ knüpft ganz bewusst an den legendären Film von Walter Ruttmann „Berlin – Symphonie einer Großstadt“ von 1927 an. Mit einer furiosen Simultanprojektion von Ruttmannbildern, aus denen sich dann die Tanzszenen und Songs emanzipieren, beginnt die Schau. Die Story ist so alt wie die Welt und so neu wie jeder Tag in Berlin: Boy meets Girl, ein Hindernislauf, der 24 Stunden dauert und durch ganz Berlin führt. Man schaut und staunt. „Rhythmus Berlin“ ist ein Triumph der Kombinatorik von Vertrautem und Neuerfundenem. Die ehrwürdigen Berlin-Mythen der Architektur, des Stadtplans, der taghellen Nacht kommen vor, FOTO: DAVIDS/DARMER FOTO: DPA V ON STEFAN KISTER .............................................................................. „Berlin ist eine gute Schule für die Wahrnehmung“ FOTOS: DEPARDON/MAGNUM PHOTOS PARIS Selten so über Hamlet gelacht wie in Zürich DIE WELT Die Girlsreihe der „Rhythmus Berlin“-Revue darf auch mal sitzen + aber nie als braves Zitat, sondern immer verwandelt in TheaterÜberraschungen. So schwebt etwa die Gold-Else hoch in den Lüften, getragen nur von einer gewaltigen Wasserfontäne. Und der Platz am Großen Stern wird zur VogelschauPostkarte, in deren Mitte sich ein dunkles Loch als neue Bühne auftut. Videos spielen wie Kobolde während der ganzen Revue mit, sind mal Mensch, mal Ornament, sie kommen und gehen nach Laune und wischen sich, ein grandiose Pointe, am Schluss selbst weg. „Rhythmus Berlin“ ist auf der Höhe der Zeit. Es mixt die Errungenschaften der Avantgarde wie den Minimalismus des zeitgenössischen Tanztheaters und die erotischen Körperinszenierungen der Body Art mit immer neuen Wellen des klassischen Formationstanzes und mit dem Variété. Und heraus kommen unvergessliche Bilder wie jenes vom magisch leuchtenden Liebespaar in einer Wasserschale hoch droben, unter dem sich der blaue Planet durchs Weltall dreht. Oder das Museum, dessen Skulpturen auf erschreckend komische Weise zum Leben erwachen. Oder auch der Regen, der Kunstfiguren bildet. Großstadt ist Risiko, Steigen und Stürzen. Darum sind die akrobatischen Partien der Revue nicht Abwechslungs-Zutaten, sondern treibende Faktoren der Handlung. Genial übersetzt die russische „Tschass“-Truppe die Hektik der Metropolenzeit in eine atemberaubende Performance an einer riesigen Uhr. Und Standing Ovations gibt es für die Velez-Brothers, die mit Oben und Unten, mit dem Körper im Raum, ja mit den Gesetzen der Schwerkraft ihren lebensgefährlichen Spott treiben, wie es sonst nur der Computer in virtuellen Welten kann. Mut zum Risiko hat auch die Musik. Nicht Berliner Evergreens lächeln am Wege, sondern ein durchgehend neu komponierter Musik-Strom trägt die Ereignisse: dämonischer Swing trifft schneidenden HipHop und raffinierte Balladen, auf die zu hören sich lohnt. Wermutstropfen: Von den Songtexten war kaum etwas zu verstehen. Aber ein kleines Pech im großen Glück der Revue – was macht das schon?