Band 135 Aus der Schriftenreihe "Beiträge aus der Forschung“ Freie Wohlfahrtspflege im Modernisierungsprozess: organisationsund personalpolitische Herausforderungen und Konsequenzen - Dokumentation des Workshops vom 14. März 2003 in Düsseldorf - Dortmund, 2003 Impressum: Beiträge aus der Forschung, Band 135 ISSN: 0937-7379 (Auflage: 500) Layout: Marita Schöfer Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund (sfs) Evinger Platz 17 D-44339 Dortmund Tel.: +49 (0)231 – 85 96-2 41 Fax: +49 (0)231 – 85 96-1 00 e-mail: [email protected] http://www.sfs-dortmund.de Inhaltsverzeichnis Volker Grünewald Vorbemerkung der Hans-Böckler-Stiftung 5 Harald Giesecke Stellungnahme der Gewerkschaft ver.di 6 Heinz-Jürgen Dahme Norbert Wohlfahrt Gertrud Kühnlein Zwischen Wettbewerb und subsidiärer Leistungserbringung: die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege im Modernisierungsprozess Zwischenergebnisse eines Forschungsprojekts 8 Forschungsdesign und Vorgehensweise der Studie 8 Die sozialwissenschaftliche Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege (Heinz-Jürgen Dahme) 11 Organisation im Umbau? Thesen zur Organisationsentwicklung der Freien Wohlfahrtspflege (Norbert Wohlfahrt) 17 Soziale Dienstleistungen zwischen Kostendruck, neuen beschäftigungspolitischen Rahmenbedingungen und tarifpolitischen Herausforderungen (Gertrud Kühnlein) 28 Uwe Schwarzer Strategisches Management als Antwort auf die organisations- und qualitätspolitischen Herausforderungen für die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege 38 Wolfgang Schuth Entwicklungstrends in der Wohlfahrtspflege in Ostdeutschland 52 Rainer Brückers Haben wir das „richtige“ Personal? Probleme und neue Wege der Personalrekrutierung, Personaleinsatzstrategien, Personalentwicklungsinstrumente 59 Beiträge aus der Forschung 3 Wolfgang Herbertz Die Qualität sozialer Dienstleistungen als Problem von Dienstleistern, Politik und Arbeitnehmern - Ein Kommentar 69 Hejo Manderscheid Was bedeutet Werteorientierung für die modernisierte Freie Wohlfahrtspflege? 76 „Anforderungen an ein zeitgemäßes - anforderungsund leistungsadäquates - Entgeltsystem“ - ein Streitgespräch 89 Moderation: Anna Stefaniak 4 Beiträge aus der Forschung Vorbemerkung Soziale Dienstleistungen wie die häusliche Pflege geraten zunehmend in eine Finanzierungs- und Legitimationsfalle. Auf der einen Seite steht der Anspruch, einen menschenwürdigen und Lebensqualität sichernden Service anzubieten, etwa in der Pflege alter Menschen nach dem Prinzip „ambulant vor stationär“. Andererseits werden die Dienstleistungen durch enge betriebswirtschaftliche und zeitökonomische Vorgaben tendenziell auf eine Minimalversorgung zurückgefahren. Gefragt sind neue Kooperationsformen zwischen Kranken- und Pflegekassen, Wohlfahrtsträgern und koordinierenden staatlichen Stellen. Auch die Mobilisierung und Integration bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagements bietet sich als Entlastung und Ergänzung an. „Vom Wohlfahrtssektor zur Sozialwirtschaft“ heißt ein von HeinzJürgen Dahme, Gertrud Kühnlein und Norbert Wohlfahrt bearbeitetes Forschungsprojekt, das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wird. Es untersucht neue Steuerungsformen wie das Kontraktmanagement, schaut aber auch auf die Arbeitsbedingungen und Qualifikationsanforderungen der Beschäftigten. Das Projekt soll einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme leisten. Im Frühjahr 2003 fand in Düsseldorf ein Transferworkshop statt, dessen Dokumentation nun vorliegt. Das Projektteam und die Hans-Böckler-Stiftung möchten durch die Veröffentlichung ausdrücklich zu einem breit angelegten Diskurs anregen und einladen. Volker Grünewald Hans-Böckler-Stiftung Im September 2003 Beiträge aus der Forschung 5 Harald Giesecke, ver.di-Bundesverwaltung Stellungnahme der Gewerkschaft ver.di Das Verhältnis zwischen staatlichen Stellen, öffentlichen Trägern und Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege verändert sich in den letzten Jahren massiv. Das Forschungsprojekt „Vom Wohlfahrtsstaat zur Sozialwirtschaft“ bietet nun erstmals die Möglichkeit, diese Veränderungen und ihre Auswirkungen systematisch für das Feld der sozialen Dienste zu untersuchen und einer gewerkschaftlichen Bewertung zugänglich zu machen. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat daher ein hohes strategisches Interesse an den Erkenntnissen dieses Projektes. Mit der Einführung der Neuen Steuerungsmodelle in den Kommunen ergaben sich Rückwirkungen auf das Verhältnis von Kommunen zu freien Trägern. Verstärkt wurde dieser Prozess, der insbesondere neue vertragsrechtliche Beziehungen zwischen den öffentlichen Kostenträgern und den Dienstleistungserbringern beinhaltet, im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe durch die Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1999. Entsprechende gesetzliche Rahmenveränderungen gibt es aber auch für andere Teilbereiche personenbezogener Dienstleistungen. Mittlerweile sind Verfahren des Kontraktmanagements im Bereich Sozialer Arbeit auf dieser Grundlage weiter fortgeschritten und für die unterschiedlichsten Teilbereiche ausdifferenziert. Sie zu untersuchen ist insbesondere unter Betrachtung des Zusammenhangs und Zusammenwirkens von Qualität der Dienstleistung auf der einen Seite und Leistungsvereinbarungen auf der anderen Seite sinnvoll. Zu untersuchen und anschließend aus gewerkschaftlicher Sicht zu bewerten ist hierbei insbesondere, ob eine Ökonomisierung des Sozialsektors mit ihren Auswirkungen auf die Strukturen des deutschen Sozialstaates tatsächlich zu einer Verbesserung der Dienstleistung für die LeistungsbezieherInnen und NutzerInnen geführt hat. Gerade unter der aktuellen finanzpolitischen Misere der Kommunen stellt sich diese Frage in verschärfter Form. Von besonderem Interesse ist aus unserer Sicht hierbei, dass das Projekt neben den strukturellen Veränderungen der Wohlfahrtsverbände selbst den Wandel von Arbeitsbedingungen und Qualifikationsanforderungen untersucht. In den Fokus treten somit die Auswirkungen der skizzierten Entwicklungen auf die Beschäftigten. Nach unserer Beobachtung nimmt derzeit der Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse deutlich zu. In wieweit die ökonomischen Steuerungsmechanismen hier direkten Einfluss haben, ist für die sozialen Dienste wissenschaftlich wenig untersucht. In direktem Zusammenhang hierzu steht auch die Frage, in wie weit beziehungsweise in welcher Weise das professionelle Selbstverständnis der betroffenen Berufsgruppen sich unter diesen Entwicklungen wandelt. 6 Beiträge aus der Forschung Auch tarifpolitisch ergeben sich aus diesen Veränderungsprozessen heikle Fragen. Unter dem fortschreitenden Rationalisierungsund Kostenminderungsdruck der Wohlfahrtsverbände entwickelt sich ein tarifpolitisches Gefälle zwischen den öffentlichen Trägern und den Wohlfahrtsverbänden, sowie zwischen den verschiedenen Wohlfahrtsverbänden, im weiteren auch hin zu den nicht verbandsgebundenen Trägern. Aus unserer Sicht aber hängt die Qualität der Arbeit gerade bei personenbezogenen Dienstleistungen in besonderer Weise von den Rahmenbedingungen der Arbeit ab. Aus gewerkschaftlicher Sicht stellt sich die dringende Frage, in wie weit tarifliche Standards oder gesetzliche Vergabebedingungen dazu beitragen können, den Beschäftigten im gesamten Arbeitsfeld bei öffentlichen, freien und privaten Trägern qualitativ gute Arbeit zu ermöglichen und damit ihrem eigenen Anspruch an ihre Arbeit gerecht werden zu können. Nur wenn dies gelingt, werden die Wohlfahrtsverbände auch in Lage sein, gutes und zuverlässiges Personal langfristig zu halten. Beiträge aus der Forschung 7 Zwischen Wettbewerb und subsidiärer Leistungserbringung: die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege im ModernisierungsprozessZwischenergebnisse eines Forschungsprojekts Forschungsdesign und Vorgehensweise der Studie Soziale Dienstleistungen sind sozialrechtlich nach § 11 SGB I neben Geld- und Sachleistungen die “dritte Leistungsart” des bundesrepublikanischen Sozialleistungsrechts. Zu den sog. “Dienstleistungen” im sozialrechtlichen Sinn gehören alle persönlichen und erzieherischen Hilfen, d. h. alle Formen der Beratung von Hilfeempfängern oder Hilfesuchenden, die Weitervermittlung, das Herstellen von Verbindungen zu Personen oder Einrichtungen/Institutionen sowie allgemein die persönliche Betreuung. Aus diesem Dienstleistungsauftrag des Sozialgesetzgebers haben sich eine bunte Vielfalt und Vielzahl sozialer Dienste entwickelt, die in öffentlicher, freigemeinnütziger und – zunehmend auch – in privater, d. h. erwerbswirtschaftlicher Trägerschaft erstellt und erbracht werden, wobei den Kommunen eine besondere Rolle bei der Bereitstellung sozialer Dienste zukommt. Bis Anfang der 90er Jahre bestanden die Besonderheiten bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen in der BRD in dem Sicherstellungsauftrag des Staates beziehungsweise der Kommunen, einer Vorrangstellung der freien Träger und einer am Selbstkostendeckungsprinzip ausgerichteten Preisgestaltung in den Einrichtungen und Diensten. Seitdem wurden eine Reihe von Neuregelungen durchgesetzt. Darunter sind der Abbau des Vorrangs freier Träger, der im SGB XI bis hin zum völligen Wegfall führte, die Einführung prospektiver Pflegesätze sowie die verbindlich zu vereinbarenden Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfungen. Durch die Einführung von Wettbewerb und neue vertragsrechtliche Beziehungen verstehen sich die Leistungserbringer im Bereich sozialer Dienste nun in immer stärkerem Maße als Dienstleistungsunternehmen. Insbesondere die auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips dominanten Dienstleistungserbringer (Träger und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege) befinden sich daher derzeit in einem umfassenden organisatorischen Modernisierungsprozess. Dieser beinhaltet organisationspolitische wie beschäftigungspolitische Aspekte; Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen, Aufgaben und (Qualifikations-)Anforderungen an die Beschäftigten im Bereich sozialer Dienste verändern sich nachhaltig, was auch erhebliche Konsequenzen für die Tarifpolitik in diesem Sektor hat. Dabei sind ganz unterschiedliche Strategien bei der Bewältigung dieser neuen Herausforderungen möglich, die sich zudem wechselseitig in ihren Wirkungen beeinflussen (können). 8 Beiträge aus der Forschung Neue wettbewerbliche Rahmenordnung Organisationspolitik Ù ArbeitsorganisationÙ Entgeltpolitik Ù Qualifizierungsanforderungen Je nachdem, welche Strategien von den Trägern und Einrichtungen gewählt werden, welche unterschiedlichen Akzentuierungen sie bei ihren Modernisierungsbemühungen setzen, ändern sich damit auch die Grundlagen für die Neu-Gestaltung der Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen, für Personalentwicklung und für das gesamte Tarifgefüge in diesem Sektor. Die mittel- und langfristigen Auswirkungen dieser Entwicklungen können vor diesem Hintergrund bisher nur grob abgeschätzt werden. Erst auf der Grundlage empirischer Kenntnisse über den Verlauf und die Intensität der ausgelösten binnenorganisatorischen Modernisierungsprozesse lassen sich genauere Aussagen über die künftigen Anforderungen an eine Verbesserung und Neujustierung der Arbeitsplatzgestaltung, der Arbeitsorganisation, der Personalauswahl und der Personalentwicklung treffen. Im Rahmen des hier vorgestellten Forschungsprojekts soll daher überprüft und präzisiert werden, wie sich die durch mehr Wettbewerb veränderte Organisationspolitik der Träger und Einrichtungen im sozialen Sektor darstellt und welche Konsequenzen sich daraus für die Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne ergeben. In unserem explorativen Forschungsprojekt werden die aktuellen Transformationsprozesse in der Freien Wohlfahrtspflege auf zwei Ebenen untersucht: a) Durch eine qualitative Expertenbefragung aller Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege (mit Ausnahme der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden) und ausgewählter Träger und Einrichtungen im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege werden die zentralen Modernisierungsschritte innerhalb der Freien Wohlfahrtsverbände erhoben und organisations- und personalpolitische Veränderungen analysiert. Diese Expertenbefragung ist im vergangenen Jahr durchgeführt worden und es wurden insgesamt etwa 40 Akteure auf der Bundes- und Landesebene der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bzw. ausgewählte Trägervertreter qualitativ befragt. Auf diesem Untersuchungsschritt basieren im Wesentlichen auch die im Folgenden dargestellten Ergebnisse. b) Durch Fallstudien bei ausgewählten Trägern der Freien Wohlfahrtspflege werden Veränderungen an die Qualifikationsprofile der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, neue Führungsstruk- Beiträge aus der Forschung 9 turen und die Modernisierung von Sozial- und Personalmanagement untersucht. Dabei sollen in Form von "best practice" Beispielen innovative Lösungen auf Trägerebene herausgearbeitet werden. Gegenwärtig werden diese Fallstudien zu folgenden Themen in Angriff genommen: - Kontraktmanagement und seine Folgen im Verhältnis Kommune – Freie Träger; - Qualitätsentwicklung und Qualitätsmanagement; - Fusion, Kooperation, Vernetzung; - Veränderung von Arbeitsbedingungen im Bereich sozialer Arbeit. Die Fallstudien sollen im Jahr 2003 durchgeführt werden. Im Folgenden möchten wir zunächst die aktuelle beschäftigungspolitische Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege verdeutlichen, die als Träger sozialer Dienste und Einrichtungen einen Großteil der sich entwickelnden Sozialwirtschaft repräsentiert (Heinz-Jürgen Dahme). In den beiden folgenden Beiträgen (N. Wohlfahrt und G. Kühnlein) werden auch erste Ergebnisse aus unseren empirischen Untersuchungen vorgestellt. Dazu wurde zum Workshop ein Thesenpapier vorgelegt, auf das in einigen der nachfolgenden Referate ausdrücklich Bezug genommen wird. 10 Beiträge aus der Forschung Prof. Dr. Heinz-Jürgen Dahme, Hochschule Magdeburg-Stendal Die sozialwirtschaftliche Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege 1 sind in allen Bereichen sozialer Arbeit präsent. Ob es sich um Kindergärten handelt, um Krankenhäuser, Altenpflegeheime oder Dienste der offenen Hilfe, ein erheblicher Anteil von ihnen ist einem Verband der Freien Wohlfahrtspflege angeschlossen. Nach eigenen Angaben (BAGFW) gilt dies für annähernd 94.000 Einrichtungen und Dienste, in denen fast 1,2 Millionen Mitarbeiter/innen hauptamtlich beschäftigt sind (Datenstand: 1.1.2000). Gemeinsam mit nebenberuflich Tätigen sowie Ehrenamtlichen und Freiwilligen tragen die Beschäftigten zur Gesamtleistung bei, die von der Freien Wohlfahrtspflege für die Gesellschaft erbracht wird. Wie hoch diese Leistung ist, wird nirgendwo exakt beziffert. Die Verbandsstatistik gibt hierüber keine Auskunft. Wie in allen Verbänden, so erfolgen auch die Meldungen zur Statistik der Sozialverbände auf freiwilliger Basis, und ihre Finanzen legen Unternehmen i. d. R. nur ungern offen. Verbände sind eben keine Konzerne. In der amtlichen Statistik finden sich ebenfalls keine konkreten Angaben, denn die Freie Wohlfahrtspflege ist kein eigenständiger Wirtschaftszweig, dessen Umsatz oder Wertschöpfung in einer volkswirtschaftlichen Statistik isoliert ausgewiesen wird. Dennoch gibt es Datenmaterial, das Schlüsse über den Umfang des Engagements der Freien Wohlfahrtspflege in verschiedenen Tätigkeitsbereichen und über Marktanteile zulässt. Darüber hinaus existieren differenzierte Schätzungen über die gesamtwirtschaftliche Leistung der Freien Wohlfahrtspflege, die allerdings nicht ohne weiteres fortgeschrieben werden können. Bedeutung der verschiedenen Arbeitsbereiche für die Freie Wohlfahrtspflege Einen Überblick über das Leistungsangebot der Freien Wohlfahrtspflege gibt die Verbandsstatistik (BAGFW-Statistik). Neben der Anzahl der Einrichtungen und bereitgestellten Plätze bzw. Betten finden sich Angaben über die Mitarbeiterzahl in den verschiedenen Arbeitsbereichen. Die Verbandsstatistik unterscheidet die Bereiche Krankenhäuser, Jugendhilfe, Familienhilfe, Altenhilfe, Behinderteneinrichtungen sowie sonstige Einrichtungen und Dienste. Zudem sind Aus-, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen für soziale und pflegerische Berufe nachgewiesen. Welche ökonomische Bedeutung die einzelnen Bereiche für die Freie Wohlfahrtspflege 1 Der Begriff Freie Wohlfahrtspflege bezieht sich im Folgenden auf die sechs Spitzenverbände Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk der EKD, Paritätischer Wohlfahrtsverband und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammen arbeiten. Beiträge aus der Forschung 11 haben, lässt sich aus diesen Daten nicht definitiv bestimmen, denn es fehlt ein einheitlicher Bewertungsmaßstab. Nach der Anzahl der Einrichtungen zu urteilen, ist die Jugendhilfe der größte Arbeitsbereich (36% aller Einrichtungen). Allerdings wird bei dieser Betrachtung von Differenzen in der Einrichtungsgröße abgesehen und von Unterschieden in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit selbst gleich großer Einrichtungen. Alternativ lässt sich die Bedeutung der einzelnen Arbeitsbereiche für die Freie Wohlfahrtspflege anhand der Angebotskapazitäten in Form von verfügbaren Betten oder Plätzen beurteilen. Dieses Kriterium vermittelt einen etwas anderen Gesamteindruck. Zwar ist auch danach die Jugendhilfe der größte Bereich, die „Bedeutung“ ist aber Bereiche EinrichtunBetten/ Beschäftigte deutlich gestiegen Plätze gen: Der Anteil %-Anteil an Insgesamt der Jugendhilfe Krankenhäuser 1,3 6,7 27,3 an den gesamJugendhilfe 36,3 56,1 22,0 ten PlatzkapaziFamilienhilfe 10,1 1,8 7,7 täten liegt bei 56%. Auch dieAltenhilfe 16,3 14,7 20,4 ser Maßstab Behindertenhilfe 13,3 10,5 13,5 weist erheblisonstige Einrichtungen und 21,0 6,6 7,6 che Defizite auf, Dienste denn beim VerAus-, Fort- und Weiterbildungs1,7 3,5 1,4 gleich der Betstätten ten- bzw. PlatzInsgesamt: 100,0 100,0 100,0 kapazitäten Nachrichtlich: Anzahl in Tsd. werden alle EinInsgesamt: 94 3.271 1.164 richtungen aus der BetrachQuelle: BAGFW Gesamtstatistik Stand 01.01.2000 tung ausgeklammert, die über solche Angebote nicht verfügen. Dies sind insbesondere Einrichtungen der offenen Hilfe wie Beratungsstellen aber auch die ambulanten Pflegedienste gehören dazu. Darüber hinaus ignoriert die Gleichsetzung von Plätzen bzw. Betten in unterschiedlichsten Einrichtungen, dass sich die Plätze in Bezug auf die mit ihnen verbundenen ökonomischen Leistungen erheblich unterscheiden; unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt ist ein Krankenhausbett anders zu bewerten als ein Kindergartenplatz. Von den verfügbaren Angaben der Verbandsstatistik ist die Anzahl der Beschäftigten der beste Indikator zur Beurteilung der Relevanz der verschiedenen Arbeitsbereiche für die Freie Wohlfahrtspflege. Danach dominieren die Krankenhäuser. Jeder vierte Beschäftigte der Freien Wohlfahrtspflege arbeitet in einem Krankenhaus, jeder fünfte in der Jugendhilfe, ein ähnlich hoher Anteil in der Altenhilfe. In der Behindertenhilfe sind 13,5% des hauptamtlichen Personals tätig. Diese Anteilswerte spiegeln die wirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Bereiche aber ebenfalls nur näherungsweise wider. So wird gänzlich vom Kapitaleinsatz abgesehen, der sich auf die Arbeitsproduktivität auswirkt. Auch Unterschiede in der Arbeitszeit zwischen den verschiedenen Arbeitsbereichen bleiben unberücksichtigt. Eine Bereinigung um den Effekt unterschiedlicher 12 Beiträge aus der Forschung Arbeitszeiten2 verändert die Gewichte, wirkt sich bei den hier getroffenen Annahmen aber nicht auf die Rangordnung aus. Stellenwert der Freien Wohlfahrtspflege in einzelnen Arbeitsbereichen Mit ihren Einrichtungen und Diensten ist die Freie Wohlfahrtspflege einer von mehreren Anbietern sozialer Dienstleistungen. Wie ist die Freie Wohlfahrtspflege in diesem Markt positioniert? Für einzelne Tätigkeitsfelder lässt die amtliche Statistik Rückschlüsse auf die Marktanteile freigemeinnütziger, öffentlicher und privater Einrichtungen zu 3. Einrichtungsstatistiken gibt es für die großen Bereiche der Jugendhilfe, der Krankenhäuser, der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen sowie der Pflegeeinrichtungen (stationär und ambulant). Angaben zu Behindertenheimen finden sich in der Heimstatistik des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Mehr als die Hälfte aller Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und annähernd 80% aller in der Verbandsstatistik ausgewiesenen Plätze bzw. Betten gehören diesen Bereichen an, für die es (alternative) Angaben in der amtlichen Statistik gibt. In ihnen sind ca. 80% der Mitarbeiter/innen der Wohlfahrtsverbände beschäftigt. Einen Überblick über die Marktanteile – gemessen an der Anzahl der Einrichtungen in den verschiedenen Bereichen – gibt die folgende Tabelle. Da sich die Einrichtungen zum Teil erheblich in der Größe unterscheiden, sind die Angaben zu den Plätzen bzw. Betten je Einrichtung ergänzt4. Bezogen auf die Angebotskapazitäten existieren in einzelnen Bereichen erstaunliche Differenzen in der Personalausstattung. Dies lässt sich an der ausgewiesenen Größe „Beschäftigte je 100 Plätze“ ablesen5. 2 Da keine exakten Angaben über die tatsächliche Arbeitszeit vorliegen, sind nur äußerst grobe Schätzungen möglich. Hier wurde unterstellt, dass Teilzeitbeschäftigte im Mittel 50% der Normalarbeitszeit leisten. 3 Nicht in allen Statistiken sind Angaben zur Freien Wohlfahrtspflege verfügbar. Daher beziehen sich die Ausführungen in diesem Abschnitt grundsätzlich auf alle freigemeinnützigen Träger. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Bereiche in der amtlichen und in der Verbandsstatistik nicht identisch abgegrenzt sind. Die Angaben aus den verschiedenen Statistiken lassen sich also nicht ineinander überführen. 4 Ambulante Pflegedienste haben weder Betten noch Plätze, aber sie haben betreute Pflegebedürftige. Diese Angaben wurden als Proxi für die Angebotskapazitäten verwendet. 5 Für Behinderteneinrichtungen liegen keine Angaben über die Mitarbeiterzahl vor. Beiträge aus der Forschung 13 Den niedrigsten Marktanteil – gemessen an der Zahl der Einrichtungen – haben freigemeinnützige Träger bei Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen. Hier dominieren die privaten Anbieter den Markt mit einem Anteil von 58%. Die privaten Einrichtungen sind im Mittel sehr viel größer als die der Mitbewerber. Der Anteil privater Einrichtungen an der gesamten Leistung im Vorsorge- und Rehabilitationsbereich wird folglich deutlich über 58% hinausgehen. Ambulante Pflegedienste sind ein weiterer Bereich, in dem private Träger über sehr viele Einrichtungen verfügen (51%). Im Marktanteile, Einrichtungsgröße und Personaleinsatz in verschiedenen Arbeitsbereichen Jahr Einrichtung FG Einrichtungen öffentl. privat 5 Plätze je Einrichtung Beschäftigte je 100 Plätze FG öffentl. privat FG öffentl. privat % an der jew.Einrichtungsart 1 Kindertageseinrichtungen 1,2 Jugendhilfeeinr.sonst 3 Krankenhäuser(Allgemein) 3 Vorsorge- und RehaEinr. Stationäre Pflegeeinricht. Ambulante Pflegedienste 4 Behindertenheime 1998 1998 2000 2000 1999 1999 1999 48,1 63,4 40,6 26,6 56,6 47,2 86,4 41,7 10,4 37,1 15,4 8,5 2,0 4,0 10,2 26,2 22,3 58,0 34,9 50,9 9,6 Anzahl 66,2 31,4 246,8 91,3 81,1 51,0 39,5 69,3 33,3 381,1 128,3 96,2 37,0 80,3 Anzahl je 100 Plätze 35,9 39,4 87,4 159,0 53,9 27,0 35,7 11,9 36,4 130,0 63,6 70,8 44,2 11,6 32,2 172,9 75,7 66,8 44,1 16,2 20,9 118,2 58,0 62,8 43,8 Abkürzung: FG = freigemeinnützig Anmerkungen: 1 Freigemeinnützige Träger (FG) = Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, sonstige Religionsgemeinschaften öffentl.Rechts und Jugendgruppen, -verbände und - ringe. Private Träger = Wirtschaftsunternehmen sowie sonstige juristische Personen und andere Vereinigungen; 2 Ausschließlich Einrichtungsarten mit Angaben zu Plätzen und deren Mitarbeiter;3 Plätze = aufgestellte Betten; 4 Keine Angaben zur Mitarbeiterzahl verfügbar; 5 Bei ambulanten Pflegediensten: betreute Pflegebedürftige Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie (FS) 13, Reihe (R) 6.3, FS 12 R 6.1, Kurzbericht: Pflegestatistik 1999; BMFSFJ: Heimstatistik 2000 Unterschied zu den Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen sind in diesem Tätigkeitsfeld die Dienste privater Anbieter aber eher klein. Freigemeinnützige ambulante Pflegedienste betreuen im Mittel fast doppelt soviel Pflegebedürftige wie private Anbieter; insgesamt nehmen mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen die Leistungen freigemeinnütziger Dienste in Anspruch. Mit Ausnahme der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen liegt der Marktanteil (Einrichtungen) freigemeinnütziger Träger in den betrachteten Bereichen zwischen 41% (Krankenhäuser) und 86% (Behindertenheime). Die Heterogenität selbst gleicher Einrichtungsarten wird in den teilweise großen Unterschieden in der mittleren Einrichtungsgröße (Plätze je Einrichtung) augenfällig. Die ausgewiesene Größe „Beschäftigte je 100 Plätze“ ist ein weiteres Indiz für die zum Teil erheblichen Disparitäten zwischen gleichen Einrichtungsarten. Inwieweit diese Differenzen auf unterschiedliche Arbeitszeiten bei den verschiedenen Einrichtungsträgern, auf Abweichungen in der Arbeitsproduktivität oder aber auf Unterschiede in der Einrichtungsart, die hier zu gröberen Kategorien zusammengefasst sind, zurückzuführen sind, lässt sich auf dieser Aggregationsebene nicht beurteilen. Die Leistung der Freien Wohlfahrtspflege im gesamtwirtschaftlichen Vergleich Die anschaulichen Einrichtungsstatistiken sind durchaus geeignet, eine Vorstellung über die Bedeutung einzelner Arbeitsbereiche für die Freie Wohlfahrtspflege und über ihre Positionierung gegenü- 14 Beiträge aus der Forschung ber Konkurrenten zu gewinnen. Unter ökonomischem Aspekt ist solch ein Vergleich zwischen unterschiedlichen Einrichtungsarten und zwischen verschiedenen Trägern allerdings unzulänglich, da sich die Einrichtungen in der Größe, in dem speziellen Angebot, in der Klienten- und in der Beschäftigtenstruktur usw. unterscheiden. Gänzlich versagen Einrichtungsstatistiken, wenn die Beziehung zu anderen Wirtschaftseinheiten (bspw. Wirtschaftszweigen) beurteilt werden soll. Hierzu ist eine Bewertung der Leistung notwendig, die in den Einrichtungen von den Beschäftigten mit ihren unterschiedlichen Qualifikationen, Arbeitszeiten und Entgelten erbracht wird. Eine solche Bewertung, die auch den Kapitaleinsatz einschließen muss, kann in Anbetracht der Datenlage nur eine mehr oder weniger gute Schätzung sein. Sie muss mit Annahmen operieren und Daten aus verschiedensten Quellen zusammentragen. Eine sehr differenzierte Schätzung hat das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) vorgenommen (Ottnard/Wahl/Miegel 2000). Folgt man dieser Studie, dann trägt die Freie Wohlfahrtspflege mit ca. 1,9% zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung bei (1997). Damit ist die gesamtwirtschaftliche Leistung der Freien Wohlfahrtspflege vergleichbar der relevanter Wirtschaftszweige des Produzierenden Gewerbes wie dem Ernährungsgewerbe und der Tabakverarbeitung, der Chemischen Industrie, dem Papier-, Verlagsund Druckgewerbe oder der Energie- und Wasserversorgung. Als Dienstleistungsanbieter erbringt die Freie Wohlfahrtspflege die Leistung mit einem deutlich höheren Arbeitskräfteeinsatz als die zum Vergleich herangezogenen Branchen des Produzierenden Gewerbes. In der Freien Wohlfahrtspflege sind gut doppelt soviel sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter/innen beschäftigt als bspw. in der Chemischen Industrie. Allerdings arbeiten in den Einrichtungen und Diensten der Freien Wohlfahrtspflege sehr viel mehr Beschäftigte mit reduzierter Arbeitszeit als in den Wirtschaftszweigen des Produzierenden Gewerbes. Die Unterschiede im tatsächlichen Arbeitseinsatz (Stunden) fallen also etwas moderater aus als es der Vergleich der Beschäftigtenzahlen suggeriert. Die gesamtwirtschaftliche Leistung der Freien Wohlfahrtspflege kann unter verschiedenen Aspekten beurteilt werden. Für einen direkten Leistungsvergleich mit anderen ökonomischen Einheiten Wirtschaftliche Bedeutung der FW im Vergleich (1999) 4 3 2 1 0 Freie Wohlfahrtspflege (Schätzung) Ernährungsgewerbe Papier-, Verlagsund und Druckgewerbe Tabakverarbeitung Anteil am BIP Chemische Industrie Energie- und Wasserversorgung Anteil an sozialversicherungspfl.Beschäftigten Beiträge aus der Forschung 15 (hier: Wirtschaftszweige) sind die gleichen Bewertungsmaßstäbe anzulegen, wie sie für den marktwirtschaftlichen Bereich gelten. Bezogen auf den Faktoreinsatz bedeutet dies, dass ausschließlich die bezahlte Arbeitsleistung berücksichtigt wird. Bekanntlich tragen in der Freien Wohlfahrtspflege aber auch viele Ehrenamtliche und Freiwillige zur Gesamtleistung bei. Zudem verfügen die Verbände über Kapital, das in sozialen Einrichtungen gebunden ist und für dessen Nutzung sie keine Kosten (Verzinsung) in Rechnung stellen. Würde auch der unentgeltlich bereitgestellte Einsatz von Arbeit und Kapital berücksichtigt, dann fiele die (fiktive) Wertschöpfung der Freien Wohlfahrtspflege deutlich höher aus6. Die Leistungen der Freien Wohlfahrtspflege für die Gesellschaft unterscheiden sich von der anderer ökonomischer Einheiten durch das Nebeneinander von bezahltem und unbezahltem Faktoreinsatz sowie durch den speziellen Inhalt der Leistungen und die Form der Leistungserstellung. Bei einer rein ökonomischen Betrachtung, in der die Leistungen wie in einer Unternehmensbilanz bewertet werden, wird nur ein Teil der Gesamtleistung berücksichtigt. Spiegelhalter (1999) plädiert daher dafür, die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung um eine sozialwirtschaftliche Bilanz zu ergänzen, die auch die materiellen Zusatzleistungen und die immateriellen Leistungsbeiträge der Freien Wohlfahrtspflege einschließt. Erst eine solche Bilanz reflektiert den tatsächlichen Leistungsumfang, der von der Freien Wohlfahrtspflege für die Gesellschaft erbracht wird, angemessen. Über eine rein ökonomische Betrachtung geht solch eine Sozialbilanz weit hinaus. Bei der Umsetzung taucht allerdings das Problem auf, einen geeigneten Bewertungsmaßstab für nichtmaterielle Leistungen zu finden. 6 16 Das IWG schätzt eine um ca. 1/3 höhere Wertschöpfung bei Berücksichtigung der unentgeltlichen Leistung (Ottnard/Wahl/Miegel 2000, S. 57.) Beiträge aus der Forschung Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, Ev. Fachhochschule RWL Organisation im Umbau? Thesen zur Organisationsentwicklung der Freien Wohlfahrtspflege Im Folgenden möchten wir thesenartig den gegenwärtigen Diskussionsstand um die Veränderung organisatorischer Strukturen in den Verbänden zusammenfassen. Dieser verdeutlicht zugleich, dass die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sich aktuell in einem intensiven Modernisierungsprozess befinden, der teilweise die Wurzeln des eigenen Organisationsverständnisses berührt und in seinen Folgewirkungen bislang noch nicht abgeschätzt werden kann. 1. Die bundesdeutsche Dienstleistungsmixtur Unabhängig von den gegenwärtig diskutierten Szenarien über die zukünftige Entwicklung sozialer Dienste ( Privatisierungsszenario: quantitatives Wachstum durch Mobilisierung privater Ressourcen; zivilgesellschaftliches Szenario: wachsende Beiträge zivilgesellschaftlicher Akteure zur Bedarfsdeckung im Bereich sozialer Dienste; Verrechtlichungsszenario: Stärkung des sozialen Dienstleistungssektors durch Vereinheitlichung und Verrechtlichung sozialer Dienste) lässt sich feststellen, dass Quantität und Qualität sozialer Dienstleistungen in ihrer Entwicklung pfadabhängig sind. Diese ist wesentlich durch die Sozialstaatsgestaltung nach dem 2. Weltkrieg bestimmt, wo im Ergebnis an die Strukturentwicklung der Weimarer Republik angeknüpft wurde: die Doppelstruktur von staatlich organisiertem Versicherungssystem und örtlich organisierten subsidiären Hilfeleistungen nach dem Fürsorgeprinzip. Auch die besondere Rolle der „freien Wohlfahrtspflege“ als Träger von sozialen Dienstleistungen wurde bestätigt. Die spezifische bundesdeutsche Dienstleistungsmixtur wird durch verschiedene Vorentscheidungen bestimmt: hierzu gehört die eher randständige Berücksichtigung des Dienstleistungsbereichs in der sozialrechtlichen Kodifizierung und die Konzentration auf Geldleistungen. Hierzu gehört auch die Entscheidung für oder gegen eine Dienstleistungsstrategie (gegenüber einer Einkommensstrategie), z. B. ausgedrückt durch die Leitlinie Reha vor Rente oder Prioritätensetzungen innerhalb des Dienstleistungsbereichs, ausgebildet durch die Leitlinie „Ambulant vor stationär“. In den letzten Jahren ist mit der Etablierung neuer Stellschrauben das System der Dienstleistungsproduktion noch komplexer geworden und informelle Unterstützungsnetzwerke sind verstärkt in den Prozess der Leistungserstellung einbezogen worden. Mit der spezifischen Konstruktion der Pflegeversicherung wird eine neue Stellschraube gesetzt: Einerseits wird zwar dem Pfad der Sozialversicherungsarchitektur gefolgt (obwohl privatwirtschaftliche und Beiträge aus der Forschung 17 steuerfinanzierte „Lösungen“ in der Diskussion waren), andererseits wird eine Wettbewerbskonstellation in die Dienstleistungserbringung eingeführt, die seitdem systematisch auf andere Dienstleistungsbereiche ausgedehnt wurde. Inzwischen wird sogar schon von einer Änderung der GovernanceStruktur des Wohlfahrtsstaats gesprochen, die darin besteht, das „Wettbewerbsmodell des Marktes für die Erstellung öffentlicher Dienstleistungen nutzbar zu machen“. Wachsende Konkurrenz um knappe Ressourcen kennzeichnet seitdem das System sozialer Dienste und die Strategie der Durchmarktung führt zu einer ökonomistischen Funktionslogik, die das institutionelle Arrangement der Dienstleistungsproduktion grundlegend verändert. Diese Veränderungen beziehen sich u. a. – auf die Wohlfahrtsmixtur, also das Verhältnis privater, gemeinnütziger und staatlicher Dienstleistungsangebote; – auf die Organisationspolitik der Verbände und Einrichtungen im Dienstleistungsbereich; – auf die Qualität und „Kundengerechtigkeit“ sozialer Dienste, – auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in sozialen Dienstleistungsorganisationen, die Anforderungen an Personalpolitik und Tarifstrukturen. 2. Vermarktlichung und Effizienzorientierung Das wichtigste Argument zur Einführung bzw. Konstruktion von Marktsituationen im öffentlichen Sektor und im sozialen Dienstleistungssektor war und ist, dass Märkte bei der Allokation knapper Ressourcen effizienter sind als bürokratische Regeln. Effizienzorientierung soll einerseits helfen, Kosten zu senken und man erwartet, dass Vermarktlichung zu einem Kostenwettbewerb auf Seiten der Anbieter führt und somit zur Erstellung kostengünstiger sozialer Dienstleistungen beiträgt. Andererseits wird unterstellt, dass durch Vermarktlichung die Kundenperspektive bei der Produktion von Gütern und Diensten zunehmend an Bedeutung gewinnen wird, so dass Effizienzdenken letztlich auch zu einer Steigerung der Kundenorientierung in den sozialen Diensten wie zur Kundenzufriedenheit mit den sozialen Dienstleistungsangeboten führen wird. Unterstellt wird, dass Produzenten sozialer Dienstleistungen in Folge von Effizienzkalkülen Kundenwünsche besser und schneller erkennen und befriedigen können als dies im Rahmen des traditionellen „bürokratisch-professionellen Regimes“ möglich war. Im Hinblick auf die Eckpfeiler der Einführung von marktähnlichen Verhältnissen im Bereich sozialer Dienste wird in allen fortgeschrittenen Industrieländern eine weitgehende Übereinstimmung der wesentlichen Zieldimensionen des Modernisierungsprozesses festgestellt (Abbau von Hierarchien; Dezentralisierung der Aufgabenund Ressourcenverwaltung; Aufwertung der Konsumentenorien- 18 Beiträge aus der Forschung tierung). Betrachtet man allerdings die konkreten Umsetzungsprozesse, dann zeigt sich eine starke Abhängigkeit des Ausmaßes und der Intensität des Marktbezugs von den jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen und den Arbeitsbeziehungen im sozialen Dienstleistungssektor. Mit Blick auf die OECD-Länder ist deshalb von „qualitativen Modernisierungsprofilen“ gesprochen worden, die nachhaltige Konsequenzen auf die zukünftige Gestaltung sozialer Dienste, deren Wachstum und Nutzungsqualität haben können. So stellte Frieder Naschold in seiner diesbezüglichen Studie fest, dass das Modernisierungsprofil in Deutschland in einigen wenigen historischen und Kontextbedingungen sowie im politischen Kräfteverhältnis begründet ist; die stark dezentrale Grundstruktur des deutschen Staatsaufbaus hat im Unterschied zu den weit stärker zentralistischen Systemen von Großbritannien und Modernisierungen nicht stimuliert. 3. Modernisierung von Staat und Verwaltung Mit Beginn der 1990er Jahre begann in der Bundesrepublik Deutschland ein Modernisierungsdiskurs, der in anderen westlichen Ländern schon wesentlich früher geführt wurde. Mit aller Macht drängt seitdem das Thema „Modernisierung von Staat und Verwaltung“ auf die Tagesordnung und hat immer mehr Teilbereiche der Gesellschaft und gesellschaftliche Institutionen erfasst. Da insbesondere der Wohlfahrtsstaat parteiübergreifend und in immer breiteren Kreisen als reformbedürftig gilt, verwundert es nicht, dass auch der Bereich der sozialen Dienste (als Teilbereich des Wohlfahrtsstaates) zunehmend in den Sog des Modernisierungsdiskurses geraten ist. Das Verhältnis zwischen öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege, das lange Zeit als durch das im Sozialrecht verankerte Subsidiaritätsprinzip geklärt betrachtet wurde, die Finanzierung sozialer Dienste, die Effektivität und Effizienz sozialer Arbeit, die Organisation der Dienstleistungsproduktion ebenso wie die Entgeltsysteme für den Einkauf sozialer Dienste durch den öffentlichen Träger wie aber auch für die Entlohnung der Beschäftigten und einiges mehr gelten seitdem als dringend reformbedürftig und stehen auf der Modernisierungsagenda ganz weit oben. 4. Strukturprinzipien auf dem Prüfstand Das bundesdeutsche (konservative) Sozialstaatsmodell ist durch verschiedene Strukturprinzipien gekennzeichnet, die durch die Modernisierung des Sozialsektors auf den Prüfstand gestellt werden. Hierzu gehört einerseits das Subsidiaritätsprinzip, andererseits die besondere Betonung des Zusammenwirkens öffentlicher und freier Beiträge aus der Forschung 19 Träger. Seit der Weimarer Republik ist soziale Arbeit in Deutschland geprägt durch das korporatistische Aushandlungssystem zwischen öffentlichen und freien Trägern. Diese duale Struktur ist gekennzeichnet durch gesetzliche Bestands- und Eigenständigkeitsgarantien der Freien Träger und einer gleichzeitigen Förderverpflichtung und Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger. Dies hat im Ergebnis zu einer engen Anlehnung der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege an staatliche Strukturen und zu einer hohen Abhängigkeit von staatlichen Finanzierungen der Träger und Einrichtungen geführt. Verbunden war dies mit dem Tatbestand des kontinuierlichen Wachstums sozialer Dienste in freigemeinnütziger Trägerschaft und einer stetigen Professionalisierung der Dienstleistungsarbeit. Die schrittweise Ersetzung dieses korporatistischen Arrangements durch Wettbewerbselemente führt zugleich dazu, dass die verschiedenen Funktionen der Freien Wohlfahrtspflege, die sich im traditionellen System relativ mühelos integrieren ließen, neu gewichtet werden. Die Funktion der Wohlfahrtsverbände als soziale Dienstleister wird aufgewertet, die Funktion der Wohlfahrtsverbände als sozialpolitische Interessenvertretung wird in Frage gestellt und die Funktion der Wohlfahrtsverbände als Agenturen des freiwilligen Engagements wird erheblich kritischer eingestuft als dies in der Vergangenheit der Fall war. Die verbandliche Strategie der Multifunktionalität wird auf diesem Weg prinzipiell in Frage gestellt und eine stetige Differenzierung der verschiedenen Verbandsfunktionen ist in Folge dessen zu beobachten. 5. Vom Sozialsektor zur Sozialwirtschaft Die mit der Initiierung von Trägerkonkurrenz und neuen vertragsrechtlichen Beziehungen zwischen Dienstleistungserbringern und öffentlichen Kostenträgern (Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip) eingeleitete Ökonomisierung des Dienstleistungssektors führt dazu, dass sich im Sozialsektor eine Sozialwirtschaft zu entwickeln beginnt, in der sich die traditionellen subsidiären Leistungserbringer zu (Sozial)Unternehmen transformieren, die in Geschäftsfeldern operieren und die versuchen, die traditionelle territorial bestimmte Anbieterstruktur abzustreifen. Das Aufkommen einer Sozialwirtschaft führt auch dazu, dass die bisherigen Formen der tariflichen Bezahlung, der Qualifizierung und der Einbindung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Frage gestellt werden und zunehmend klassische Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen etabliert werden. Die Wohlfahrtsverbände, als dominante Leistungsanbieter, sind mit der Frage der Neuordnung ihrer Kernfunktionen als Träger sozialer Dienste und Sozialanwalt und Nukleus freiwilligen Engagements konfrontiert, die innerverbandlich zuwachsenden Spannungen führt. Die Dominanz der Trägerorganisationen und die damit verbundene Hierarchisierung der Funktionen zuungunsten des Engagements und der Sozialanwaltschaft nimmt weiter zu und scheint sich im Rahmen der traditionellen Organisationsmodelle nicht lösen zu lassen. 20 Beiträge aus der Forschung 6. Modernisierung nur auf der Mittelebene Die gegenwärtig zu beobachtenden organisatorischen Veränderungen in den Wohlfahrtsverbänden sind (im wesentlichen) nicht das Resultat einer Stärken-Schwächen-Analyse durch die Mitglieder, sondern von außen, insbesondere durch die staatlich initiierte Trägerkonkurrenz, ausgelöst. Die Wohlfahrtsverbände sehen sich einem Anpassungsdruck ausgesetzt, der sich fundamental auf alle Verbandsfunktionen bezieht und damit die Anforderung einer Organisationsentwicklung auf verschiedenen Ebenen produziert. Der Prozess dieser Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen wird als „Modernisierung“ gekennzeichnet. Dabei lässt sich feststellen, dass die Entwicklungslinie der Modernisierung (die Zweckebene) wesentlich von außen vorbestimmt ist, die Modernisierung sich also gegenwärtig primär auf die Ebene der Mittel bezieht – eine auf Dauer problematische Entwicklung. Denn solange nicht das Ziel der Modernisierung benannt ist, können auch die Mittel immer nur reaktiv verändert werden. 7. Neujustierung des Verhältnisses von Trägern und Verbänden Durch die Einführung von Wettbewerb im Sozialsektor und die zunehmende staatliche Regulierung der Dienstleistungserstellung haben sich in allen Wohlfahrtsverbänden tiefgreifende Veränderungen vollzogen. Diese Veränderungen zeigen sich insbesondere in der Neujustierung des Verhältnisses von Trägern bzw. Einrichtungen und dem Gesamtverband. Insbesondere die großen Träger sind durch den Prozess einer ökonomisch orientierten Reorganisation der Dienste und Einrichtungen erheblich aufgewertet worden und der hierdurch eingeleitete Prozess von Fusionen und Bildung größerer Betriebseinheiten ist in vollem Gange. Diese Entwicklung betrifft mehr oder weniger alle Wohlfahrtsverbände. Gleichzeitig führt die Aufwertung der betrieblichen Ebene auch zu der Frage ihrer zukünftigen Stellung im Gesamtverband. Auch hier lässt sich zunächst feststellen, dass die Frage, welche Einflussmöglichkeiten den Trägern und Einrichtungen in den Verbänden zukommt bzw. zukommen soll, Gegenstand vielfältiger Diskussionen ist und der Prozess einer Stärkung der Position der Einrichtungen (insbesondere der großen Träger) im Verband sich immer stärker dynamisiert. 8. Organisatorischer Umbau auf allen Ebenen Charakteristisch für die Freien Wohlfahrtsverbände in der BRD ist ihre Multifunktionalität. Sie sind nicht nur Dienstleistungserbringer, sondern auch Lobbyisten, Anwälte der Betroffenen und Mitgestalter der Sozialpolitik. Diese Vielfalt der Funktionen macht gleichzeitig einen organisatorischen Umbau auf verschiedenen Ebe- Beiträge aus der Forschung 21 nen erforderlich, der sämtliche Verbandsfunktionen umfasst. Einige der zentralen Herausforderungen, denen sich die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege gegenübergestellt sehen, sind folgende: Die Verbände sehen sich selbst gelegentlich als „Gemischtwarenladen“. Eine „Portfoliobereinigung“ auf der Grundlage eines neuen Leitbildes, bei Klarheit über die eigenen Kernkompetenzen und im Wissen um die Risiken und Chancen des Umfeldes wird deshalb vielfach für notwendig erachtet. Auch die oft als zu vielfältig angesehen Aufgaben/Angebote sollen dabei überprüft werden. Die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit soll dadurch gestärkt werden, dass prinzipiell eine Angebotspalette „aus einer Hand“ für die Kunden angeboten wird. Ein wesentlicher Vorteil der Verbände im Verhältnis zu den gewerblichen Anbietern wird darin gesehen, eine vorhandene breite Leistungsvielfalt auf den Bedarf einer Zielgruppe hin vernetzen zu können. Die kleinen territorialgefassten Allzweckstrukturen (Orts- und Kreisverbände) werden als Hindernis einer effizienten und effektiven Erbringung bestimmter Leistungen angesehen. Diesteigenden Anforderungen an die Leistungserbringung führen aus Sicht vieler Verbände in den kleinen Gliederungen zu Überlastungen, die vorhandenen Betriebsgrößen sind unwirtschaftlich, Fachlichkeit und leistungsfähiges Management können aus Kostengründen nur begrenzt vorgehalten werden. Bezogen auf einen Gesamtverband ergeben sich in den bestehenden Strukturen bei dieser Konstellation kostenträchtige Mehrfacharbeit in den einzelnen separat agierenden kleinschnittigen Gliederungen sowie eine große Heterogenität in Erscheinungsbild, Leistungsangebot, Qualität und der Präsenz auf dem „Sozialmarkt“. Die traditionelle Art und Weise verbandlicher Leistungspolitik, die bestehende Arbeitsteilung zwischen den verbandlichen Territorialgliederungen, zwischen diesen und den Fachverbänden, die fehlende leistungs-/marktbezogen spezialisierte Aufgabenbündelung sowie die überkommene Art der Erbringung interner Dienstleistungen reichen aus Sicht der Verbände nicht mehr aus, um Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und die Mission/das Leitbild einzulösen. In den einzelnen territorialen Gliederungen eines Verbandes sind die Leistungen in Bezug auf Angebot, Qualität, Betriebsergebnis, Managementkompetenz sehr unterschiedlich ausgeprägt. Eine gemeinsame durchgängige strategische Ausrichtung und Zielverfolgung für die einzelnen Leistungsangebote ist in den Verbänden durchorganisatorische Parzellierung und unangemessene Entscheidungsstrukturen meist nur sehr schwach ausgeprägt bzw. nicht vorhanden und soll deshalb durch die Implementierung von strategischem Management hergestellt werden. Die traditionellen Koordinierungsinstrumente der Verbände werden – so die vielfach anzutreffende Selbstwahrnehmung - den spezifischen Anforderungen und somit auch den Steuerungsnotwendigkeiten der vielfältigen Tätigkeitsfelder eines Verbandes nicht mehr gerecht. Die Vorstandssitzungen wie auch die Geschäftsführerkonferenzen sind aufgrund der Allzuständigkeit und der 22 Beiträge aus der Forschung entsprechenden Vielfältigkeit der Leistungsangebote, der alles umgreifenden Themenpalette und nicht immer klarer Prioritätensetzung oftmals Hindernisse, die eine fundierte und ziel-/ergebnisorientierte Steuerung der einzelnen Tätigkeitsfelder erschweren. Zudem sind auch die Aufeinanderbezogenheit und die Vermittlung zwischen diesen drei Ebenen unzulänglich. Eine an den spezifischen Erfordernissen der einzelnen Leistungen/Märkte ausgerichtete ziel-/ergebnisorientierte Steuerung ist nicht im heute erforderlichen Maße ausgeprägt. 9. Diskrepanz zwischen Leitbild und Umsetzung Es liegt auf der Hand, dass jeder Organisationsumbau und jede Organisationsentwicklung nicht nur als technische Veränderung angesehen werden kann, sondern unmittelbar die Frage berührt, welchem Leitbild die Veränderungen folgen. Zugleich muss der Veränderungsprozess in seinen Folgewirkungen auf (mindestens) 3 Ebenen analysiert werden: auf der Ebene der Organisation; auf der Ebene der Funktion als verantwortlicher Arbeitgeber und (bei kirchlichen Verbänden) auf der Ebene des Verhältnisses von Kirche und Verband. Die ungenügende Verständigung über die Zweckebene der Modernisierung macht es schwierig, die jeweiligen organisatorischen Veränderungen auf die Frage der Leitidee zu beziehen und lässt viele Änderungen als notwendige Anpassungen an von außen gesetzte Rahmenbedingungen erscheinen. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass damit implizit oder explizit immer auch Fragen der Identität als Wohlfahrtsverband berührt werden und organisatorische Umbauprozesse nicht getrennt von der Profilierung des Verbandes als Wohlfahrtsverband diskutiert und gehandhabt werden können. Es ist also jeweils zu klären, welche Position warum gestärkt, welche ausgegliedert, welche geschwächt werden soll usw., und dies gilt es mit Blick auf die Folgewirkungen abzuschätzen. Die bislang – auch dieses Problem gilt mehr oder weniger für alle Wohlfahrtsverbände – festzustellende Diskrepanz zwischen Leitbild und Umsetzung des Leitbilds reflektiert den Tatbestand, dass der organisatorische Umbau auch als ein Prozess verstanden und gehandhabt werden kann, in dem das Leitbild immer mehr zur formalen Klammer auseinandertretender Interessen degradiert wird und zur bloßen Legitimationsinstanz interessenpolitisch begründeter Veränderungen absinkt. 10. Eine "halbierte Modernisierung" Bilanzierend lässt sich vorläufig festhalten: Die Modernisierung der freien Wohlfahrtspflege hat bisher zu einer einseitigen „Modernisierung“ der ökonomischen Funktionen der Träger und Einrichtungen geführt, während dagegen verbands- und trägerpolitisch Beiträge aus der Forschung 23 weiterhin das Festhalten am traditionellen – korporatistisch geprägten – Sozialstaatsmodell überwiegt, d.h. Modernisierung im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege findet z. Z. hauptsächlich auf der Mittelebene und weniger auf der Zweckebene statt. Die aktuell beobachtbare betriebswirtschaftliche Modernisierung (Mittelmodernisierung) darf jedoch kein Selbstzweck bleiben; die Ökonomisierung auf der Mittelebene eröffnet Chancen, denn neue Mittel können und müssen auch zu einer Zieldiskussion führen. Die Diskussion von Ziel und Zweck der freien Wohlfahrtspflege in einem sich überall „modernisierenden“ Staat ist überfällig, will diese die Zieldiskussion nicht allein Staat und Verwaltung überlassen und sich durch diese dann instrumentalisieren lassen oder zu einem Anhängsel ihrer eigenen Einrichtungen werden. Gegenwärtig wird versucht, die Modernisierung der Betriebsmittel und Betriebsressourcen mit aller Macht voran zu treiben, aber gleichzeitig wird der Versuch unternommen, am bisherigen Status des Systems der Freien Wohlfahrtspflege festzuhalten, ohne jedoch die damit verbundenen Konsequenzen einer sozialpolitischen Entwertung der Verbände und ihrer neuen Funktionszuschreibung als instrumentelle Dienstleistungserbringer strategisch zu bewerten. Insofern handelt es sich hier sozusagen um eine „halbierte Modernisierung“, bei der wesentliche Modernisierungsaspekte und Modernisierungsdimensionen außer Acht gelassen werden. 11. Elemente eines neuen Regulierungsmodells Für die zukünftige Entwicklung des sozialen Dienstleistungssektors und seiner spezifischen Organisation in der BRD ergeben sich hieraus verschiedene Konsequenzen: Das bisherige System staatlich privilegierter Spitzenverbände, die in ihrer Multifunktionalität gefördert werden und als Partner des Sozialstaats fungieren, scheint überholt. Ähnlich wie in anderen europäischen Staaten wird dieses Modell schrittweise durch ein neues Regulierungsmodell des sozialen Dienstleistungssektors ergänzt, in dem der Staat und die Administration die soziale Dienstleistungserstellung unmittelbar regulieren und die Leistungserbringung steueren und kontrollieren. Die Leistungserbringer werden damit Auftragnehmer des Staates, die im Wettbewerb um Qualität und Kosten stehen. Damit wird sich auf Dauer auch eine Integration verschiedener Verbandsfunktionen nur auf Kosten der sozialpolitischen Interessenvertretung, der sozialanwaltschaftlichen Parteilichkeit und der wertebezogenen Begründung sozialer Arbeit aufrechterhalten lassen. Die sozialpolitischen Vorteile des bundesrepublikanischen Modells könnten sich auf diesem Weg schnell in erhebliche Nachteile angesichts einer zunehmend residualen Sozialstaatspolitik verwandeln. Es steht zur Diskussion, inwiefern eine Neuorganisation im Sinne einer stärkeren Differenzierung bzw. Trennung der unterschiedlichen Verbandsfunktionen erforderlich ist. 24 Beiträge aus der Forschung Die personal- und tarifpolitischen Probleme, die sich aus dem Entstehen einer Sozialwirtschaft ergeben, scheinen im Rahmen der vorhandenen Strukturen kaum lösbar. Erforderlich wären nicht nur neue tarifvertragliche Vereinbarungen, in denen die bislang existierende Vielfalt und Unübersichtlichkeit tariflicher Strukturen gemindert wird; es werden in diesem Zusammenhang auch die überkommenen Verhandlungssysteme zu reformieren sein. Die von manchen ausgesprochene Empfehlung, den „Dritten Weg“ tarifpolitisch zu verallgemeinern, würde angesichts der damit verbundenen Festschreibung des Streikverbots ein prinzipielles Ungleichgewicht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern schaffen und die Gefahr beinhalten, dass sich im Sozialsektor weitaus stärker als bislang ein Niedriglohnsektor durchzusetzen beginnt. Dem einseitigen Gebrauch der Vorteile des Dritten Weges als Wettbewerbsinstrument zur Kostensenkung kirchlicher Dienste und Einrichtungen widerspricht im übrigen die von den Kirchen geforderte angemessene Bezahlung der im Sozialsektor Beschäftigten. 12. Probleme der ehrenamtlichen Arbeit Trotz der wichtigen und zentralen Rolle, die die Wohlfahrtsverbände bei der Aktivierung von Engagement einnehmen, ist ein unüberhörbar kritischer Ton in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion um die Fähigkeit der Verbände, Engagement zu stärken und zu integrieren, zu registrieren. So wird den Wohlfahrtsverbänden vorgehalten, durch eine Politik des Ausbaus staatlicher Leistungen dazu beigetragen zu haben, die „Fähigkeit, vor allem aber auch die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, anderen auf privater Ebene Hilfe zu leisten“, zu schwächen (so das Gutachten von Ottnad, Wahl und Miegel, 2000, S. 82). An die Verbände wird die Anfrage gerichtet, inwiefern sie als intermediäre Organisationen, die sich zwischen dem Sozialstaat auf der einen und der Lebenswelt der Bürger auf der anderen Seite befinden, noch in der Lage sind, Gemeinsinn und soziale Anteilnahme zu wecken und freiwilliges Engagement anzuregen, zu organisieren und zu stabilisieren (vgl. Steinbecher 2000). Kritisch wird dabei darauf hingewiesen, dass die Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände in den Sozialstaat inzwischen so weit fortgeschritten sei, dass es diesen immer weniger gelingt, direkt freiwilliges Engagement und gesellschaftliche Solidarität in ihren Einrichtungen, Diensten und Vereinsgliederungen anzuregen. Auch wenn diese Kritik manchmal ohne Benennung der Ursachen geäußert wird und manchmal der Wunsch nach einer Rückkehr zu vorprofessionellen Hilfeformen durchscheint, trifft sie doch einen Tatbestand, den auch die Wohlfahrtsverbände registrieren und im Kern als bestandsgefährdend empfinden (müssen): Aus Sicht der Verbände hat der Zwang, sich auf die Refinanzierung der Kosten zu konzentrieren, dazu geführt, dass Ehrenamtliche aus dem Blick geraten sind. Wenn im Gegensatz zu früher Dienstleistungen Punkt für Punkt abgerechnet werden, bedeutet dies eine Beiträge aus der Forschung 25 Abkehr von einer ganzheitlichen Betrachtung und führt zu einer Verengung der Aufgabenwahrnehmung. Viele Fachverbände klagen über fehlenden ehrenamtlichen Nachwuchs. Der Mangel an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern steht dabei oftmals im Zusammenhang mit veränderten Notlagen, mit denen die Gemeinden und Basisorganisationen konfrontiert sind, wie Arbeitslosigkeit, Armut und die Folgen der Migration. Probleme, die zur Beeinträchtigung von Engagement führen, existieren auf verschiedenen Ebenen: hierzu gehört das Übertragen des diakonischen Auftrags der Gemeinde auf den Verband bei den kirchlichen Verbänden ebenso wie die oftmals spannungsreiche Kooperation von Hauptberuflichen und Ehrenamtlichen (die Hauptberuflichen sind die „Profis“, die Ehrenamtlichen die „Helfer“). Ein besonderes Konfliktfeld ist aus Sicht der Verbände die unentgeltliche und bezahlte Arbeit. Nicht selten kommt es vor, dass in bestimmten Arbeitsfeldern die gleichen Tätigkeiten von Ehrenamtlichen unentgeltlich und von anderen Mitarbeitern gegen Bezahlung geleistet werden. Die Fähigkeit von verbandlichen Großorganisationen, das Potenzial ehrenamtlichen Engagements an sich zu binden und im Sinne eigener Ziele zu organisieren, nimmt nach Einschätzung einiger Verbände tendenziell zugunsten nichtorganisierter Träger und selbstorganisierter Gruppen ab. Diese abnehmende Fähigkeit zur Bindung von Ehrenamt wird dadurch begründet, dass ein punktuelles, kurzfristiges, lediglich projektbezogenes und befristetes Mitwirken kaum oder nur erschwert möglich ist. Dies wird auf die überkommenen Mitglieder- und Organisationsstrukturen des Verbandes und die mangelnde Fähigkeit, gewandelte Motive und Wertvorstellungen in die Organisationskultur zu übernehmen, zurückgeführt. Die Leitbilddiskussion in den Verbänden hat gezeigt, dass auch für professionelle Dienstleistungen nur eine erfolgreiche Zukunft denkbar ist, wenn dem Verband eine Neubelebung und Aktivierung ehrenamtlicher Arbeit gelingt. Die in den letzten Jahren immer unübersehbarer gewordenen Spannungen zwischen Mitgliederorganisation und professionellen Diensten und Einrichtungen machen es für die Wohlfahrtsverbände zu einer Existenzfrage, inwieweit es ihnen gelingt, den unumkehrbaren Professionalisierungsprozess im Bereich der Leistungserstellung mit einer Reaktivierung ihrer gemeinwesenbezogenen Orientierung und bürgerschaftlichen Verankerung zu verbinden. Es geht also im Kern um mehr als die bloße Gewinnung Freiwilliger und ihre produktive Verwendung in sozialen Diensten und Tätigkeitsfeldern. Erforderlich ist demgegenüber die Blickverengung auf eine Form von Engagement – die regelmäßige Mitarbeit – aufzugeben und der Vielfalt anderer Möglichkeiten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Feststellung klingt selbstverständlich, aber es muss berücksichtigt werden, dass politisches Handeln zu Gunsten von Engagement bisher dieser Tatsache nur sehr beschränkt Rechnung getragen hat. Denn entsprechende Forderungen und ausgewiesene Initiativen haben sich konzentriert auf Fragen der Förderung, Ermunterung 26 Beiträge aus der Forschung und sozialen Unterstützung von engagementbereiten Bürgern (Fragen der Gewinnung und Vermittlung, der sozialen Absicherung, Vergütung und Begleitung). Zu wenig bedacht worden ist oft, wie Organisationen und Einrichtungen bei sich vorhandenes Engagement erneuern bzw. überhaupt erst einführen und zu einer den Geist der Organisation prägenden Größe machen können. 13. Kombinatorik unterschiedlicher Modernisierungsmodelle Die Ergebnisse unserer empirischen Erhebungen zeigen, dass die Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege in der BRD pfadabhängig ist. Trotz der zahlreichen Veränderungen in den letzten Jahren, die eine Verstärkung wettbewerblicher Elemente im Sozialsektor zum Ziel hatten und haben, bilden die subsidiären und korporatistischen Strukturen des sozialen Dienstleistungssektors eine nachhaltige Rahmenbedingung des Modernisierungsprozesses. Insofern befindet sich das System sozialer Dienstleistungen in der BRD gegenwärtig in einer „Mischstruktur“ zwischen Korporatismus und Wettbewerb. Dies führt insbesondere auf kommunaler Ebene dazu, dass unterschiedliche Modernisierungsmodelle beobachtet werden können, in denen die partnerschaftliche Zusammenarbeit öffentlicher und freigemeinnütziger Träger mit Anbieterwettbewerb und Kontraktmanagement kombiniert wird. Es stellt sich damit die Frage, welche „Kombinatorik“ unter den gegebenen Bedingungen als best practice anzusehen ist und welche Folgewirkungen den jeweiligen Kombinationen zugerechnet werden kann. Diese Frage steht im Mittelpunkt der weiteren empirischen Untersuchungen – insbesondere mit Blick auf die Konsequenzen für das beschäftigte Personal. Beiträge aus der Forschung 27 Dr. Gertrud Kühnlein, Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund Soziale Dienstleistungen zwischen Kostendruck, neuen beschäftigungspolitischen Rahmenbedingungen und tarifpolitischen Herausforderungen Jürgen Dahme hat in seinem Referat Daten zur Größe, zur Entwicklung des Wohlfahrtssektors und zu den Beschäftigtenzahlen sowie zur sozialwirtschaftlichen Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege vorgestellt. Ich knüpfe an diese Ausführungen an, wobei im Vordergrund bei mir vor allem die Forschungsdefizite über Soziale Arbeit resp. personenbezogene Dienstleistungen7 sowie erste Ergebnisse aus unserem Projekt stehen werden. Ich möchte im folgenden einen Einblick geben in die verschiedenen wissenschaftlichen und (bildungs-, tarif)politischen Diskurse, die zum Verständnis der Beschäftigungsbedingungen in diesem Sektor von zentraler Bedeutung sind. Dass es so schwierig ist, aussagekräftiges statistisches Material zu erhalten über die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und für den gesamten Bereich sozialer Dienste, ist komplementär zu der Tatsache zu sehen, dass die sozialen Dienstleistungen in den öffentlichen Debatten um die Entwicklung der modernen Dienstleistungsgesellschaft eine bemerkenswert marginale Rolle spielen. „Personenbezogene Dienstleistungen“ - so stellt Helga Krüger (1999), fest - sind „ein expandierender Arbeitsmarkt mit sieben Siegeln“. Das bedeutet auf der einen Seite: Personenbezogene Dienstleistungen haben in den Arbeitsmarktanalysen und in relevanten Reformdebatten und -projekten keinen definierten Platz. Die Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen sind durch eine mangelnde Systemzuordnung - zum Regelsystem der beruflichen Bildung ebenso wie im Beschäftigungssystem - gekennzeichnet. So wird das Berufsfeld „Sozial- und Erziehungsberufe“ z. B. in der Berufssystematik des IAB („Berufe im Spiegel der Statistik“) anders eingegrenzt als in der Klassifizierung der Berufe durch das Statistische Bundesamt oder in anderen amtlichen Statistiken. Personenbezogene Dienstleistungen weisen „als einzigen Bezugspunkt ihrer, auch statistischen, Erfassung die Heterogenität auf, die entweder durch Aufzählungen von dazu gehörigen Tätigkeiten“ (Erziehen, Pflegen, Helfen, Betreuen, Versorgen ...) oder aber „als metaphorische Einordnungen in eine ‚geräumige Schublade‘ beschrieben werden“ (Krüger 1999: 263). 7 28 Ich verwende im folgenden die Begriffe soziale, personenbezogene und personennahe Dienstleistungen synonym, wohl wissend, dass sie in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich konnotiert sind. Doch ist die begriffliche Unschärfe gerade für dieses Tätigkeitsspektrum kennzeichnend (vgl. Bauer 2001). Beiträge aus der Forschung Auf der anderen Seite gilt der Dienstleistungssektor in allen Expertisen, deutschland- und europaweit, als einer der wesentlichen Motoren der Arbeitsmarktentwicklung der Zukunft. Trotz oder gerade wegen dieser Unbestimmtheit des Sektors werden die personenbezogenen Dienste - und zwar ausdrücklich im Unterschied zum industriellen Bereich - als der „Job-Motor für Wachstum“ (Parmentier 2000: 10), als „Beschäftigungsmotor“ (Schulz 2000: 55) apostrophiert. Insbesondere werden entscheidende Wachstumsimpulse von den so genannten „einfachen Dienstleistungstätigkeiten“ erwartet, die in öffentlichen und privaten sozialen Einrichtungen angesiedelt sind. Als unabdingbare Voraussetzung dafür gilt jedoch in der Regel, dass diese Beschäftigung im „Niedriglohnbereich“ angesiedelt sein müsse. Unterstellt ist hierbei ganz pauschal, dass es sich bei der Arbeit mit Menschen im wesentlichen um „Jedermanns-Tätigkeiten“ handle oder – um hier auf den Punkt zu kommen – um „Jede-FrauTätigkeiten“. Gegen diese Zuschreibung – die „ärgerliche Verbindung zum sog. Niedriglohnsektor“ (Rawert und Zauner) - laufen daher Arbeitsmarkt- und BerufsbildungsforscherInnen seit Jahren Sturm: Gerade bei der sozialen Arbeit handle es sich ausdrücklich um eine hochqualifizierte, professionelle, wenngleich oft unterschätzte Tätigkeit. „Es sind ‚niedrigproduktive‘ Tätigkeiten, weil sie arbeitsintensiv sind, aber in den meisten Fällen sind es nicht ‚niedrigqualifizierte‘ Tätigkeiten, sondern qualifizierte, die als solche aber oft unterbewertet und unterbezahlt sind.“ (Nickel 2000, S. 253). Ob die Beschäftigten im sozialen Bereich über- oder unterqualifiziert, über- oder unterbezahlt sind, wird – nicht nur zwischen den Tarifpartnern, sondern auch in wissenschaftlichen Diskursen und Gutachten – extrem unterschiedlich eingeschätzt. In keinem anderen Arbeitsmarkt- und Berufssegment, so meine Überzeugung, gelten Tätigkeiten gleichen oder ähnlichen Zuschnitts als so unterschiedlich anspruchsvoll, schwanken die Einschätzungen so stark zwischen professioneller, „hoch qualifizierter“ und „einfacher“ Anlerntätigkeit. Dabei kann und soll hier selbstverständlich überhaupt nicht bestritten werden, dass es bei den sozialen, erzieherischen und pflegerischen Berufen unterschiedlich hoch qualifizierte und entsprechend unterschiedlich hoch dotierte Tätigkeiten gibt und weiterhin – u. U. auch als Konsequenz der sich verändernden Anforderungen – geben wird. Bezweifelt wird hier allerdings, dass Anforderungsprofile, Qualifikationen und Vergütung in einem überprüfbaren und angemessenen Verhältnis zu einander stehen. Soziale Dienstleistungen als typische Frauenberufe „Erwerbsberufe zweiter Klasse?“ Ungeachtet der fachlichen und sachlichen Spezifika dieses vielfältigen Tätigkeitsspektrums und trotz der gravierenden Veränderun- Beiträge aus der Forschung 29 gen in den jeweiligen Anforderungsprofilen gelten die personenbezogenen, sozialen Dienstleistungen auch heute noch nicht bloß als traditionelle „typische“ Frauenberufe, sondern als für Frauen qua Geschlecht bzw. sozialisationsbedingt in besonderem Maße geeignet (Stichwort: Mütterlichkeit als Beruf; Sachße 1986). Und relativ ungebrochen gelten sie auch heute noch vielfach als Allerweltstätigkeiten, für deren Ausübung Formalqualifikationen nicht unbedingt vonnöten seien, weil gleichwertig ersetzbar durch einschlägige Erfahrungen von Frauen in der „Familienarbeit“. Je nach konjunktureller Lage bewegt sich vor diesem Hintergrund die Rekrutierungspraxis für die gleiche Arbeit zwischen den Polen „qualifizierte Arbeit in geregelten Arbeitsverhältnissen“ und „familialer oder nachbarschaftlicher unentgoltener Dienstleistung“. „Erkennbar ist dies an der Rekrutierungspolitik für die gleiche Tätigkeit. In aktuellen Zeitungsannoncen, vor allem in Verbindung mit Mehrbedarf an qualifizierter Arbeit im personenbezogenen Dienstleistungsbereich, lesen wir (Weser-Kurier vom 13.05.2000), dass der Bremer Senat (Staat) sucht: ‚Qualifizierte Betreuungskräfte‘. Bewerben können sich: ‚Erzieher/Erzieherin oder Personen mit anderer pädagogischer Ausbildung oder umfänglichen Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern (Eltern, Student/innen usw.)‘ Alle drei Gruppen sind für die gleiche Tätigkeit vorgesehen, der sozialen Arbeit und Förderung von Kindern – in einer Gruppengröße von bis zu 25 Kindern.“ (Krüger 2001, S. 14) Zur Erklärung dieses Phänomens machen viele WissenschaftlerInnen darauf aufmerksam, dass die herabsetzenden Zuschreibungen typischer „Frauenberufe“ bereits eine sehr lange Tradition haben: Sie haben ihre Wurzeln in den überkommenen und noch immer vorherrschenden Geschlechtsrollenstereotypen: FamilienernährerLohnpolitik für Männer, unbezahlte Zuständigkeiten der Frauen für Familien- und Nachbarschaftsarbeit. Die Debatten um die diskriminierenden Effekte, die sich aus den Besonderheiten dieses Arbeitsmarktsegments ergeben, sind also keineswegs brandneu, sie erhalten aber vor dem Hintergrund der sich verändernden gesellschafts- und finanzpolitischen Rahmenbedingungen eine besondere Aktualität. Denn die gesellschaftliche Wertschätzung der Sozialen Dienste und die Bewertung der sozialen Dienstleistungen gehen Hand in Hand. In der Einschätzung des sozialen Bereichs als einem Niedriglohnsektor spiegelt sich m.a.W. auch ein Urteil über dessen Stellenwert, also eine Geringschätzung der Arbeit für und mit hilfebedürftigen Menschen wider. Um sich wirkungsvoll gegen die „Satt-Sauber-Trocken“-Qualität eines Niedriglohnsektors abgrenzen zu können, muss daher versucht werden, den Zusammenhang zwischen der Qualität sozialer Dienstleistungen und entsprechenden Qualifikationen oder Kompetenzen argumentativ zu belegen. Denn angesichts veränderter Zuwendungsbedingungen - und damit Finanzierungsmodalitäten - genüge es heute, so ein Gesprächspartner, nicht mehr, etwa für Kindergärten oder Altenpflegeeinrichtungen nach einem bestimmten Schlüssel (etwa 50:50) „qualifiziertes Personal“ zu beantragen, 30 Beiträge aus der Forschung sondern es müsse für den Kontraktpartner künftig genau dargelegt werden, für welche Anforderungsprofile welche Kompetenzprofile erforderlich sind. Es müsste also belegt werden, dass und inwiefern die überkommenen Zuschreibungen der sozialen Tätigkeiten als speziell „weiblichen“ Kompetenzen - die als Gratisleistungen abgerufen werden - heute, angesichts veränderter Tätigkeitsprofile, weniger wirklichkeitsgerecht sind als je zuvor. Ein solcher Nachweis aber bewegt sich im Moment in mehrfacher Hinsicht auf unsicherem Boden, weil man es mit zu vielen unbekannten Faktoren zu tun hat. Dies betrifft die vorhandenen Qualifikationsprofile ebenso wie die sich verändernden Anforderungsprofile, dies betrifft aber auch Fragen der tarifpolitischen Bewertung, insbesondere bei der Suche nach neuen Entgeltsystemen. Veränderte Anforderungsprofile als Folge der Vermarktlichung der sozialen Dienste Die von Norbert Wohlfahrt skizzierten Trends zur Modernisierung und Ökonomisierung sozialer Dienste haben gravierende Auswirkungen auf den Kern der sozialen Dienstleistungen, den Umgang mit Menschen resp. „Kunden“. Mit der organisatorischen Umstrukturierung der Freien Wohlfahrtspflege deutet sich ein Paradigmenwechsel an, der auch zu einem Neuzuschnitt der Arbeitsaufgaben und der Arbeitsteilung in den Einrichtungen führt. Mit der Vermarktlichung sozialer Dienste nimmt insbesondere die Bedeutung von administrativen bzw. betriebswirtschaftlichen Arbeiten erheblich zu. Dazu zählen Verhandlungen mit den Kontraktpartnern, neue Verfahren der Antragstellung, Kostenaufstellung, Abrechnung, aufwändigere Falldokumentationen, die Einführung und Pflege von Qualitätssicherungssystemen, aber auch Strategien zur Kundenwerbung, Marktbeobachtung etc.. In diesem Zusammenhang verändern und erweitern sich auch die Geschäftsführungs- und Managementfunktionen. Inwiefern diese zusätzlich zu erbringenden Leistungen tatsächlich die originären Tätigkeitsfelder, z.B. der SozialarbeiterInnen, überlagern, können wir im Moment noch nicht ausreichend belegen. Zu vermuten ist allerdings, dass es sich hier um Veränderungen handelt, die nicht nur additiv zur bisherigen Sozialen Arbeit hinzutreten, sondern - insbesondere vor dem Hintergrund des allgemeinen Kostendrucks - zu einer Neudefinition des Berufsbildes Sozialer Arbeit führen. Ersten Schilderungen von MitarbeitervertreterInnen, Betriebsräten und Beschäftigten können wir entnehmen, dass die für soziale Tätigkeiten charakteristische „Beziehungsarbeit“, die Arbeit am und mit Menschen, zunehmend droht, an den Rand gedrängt zu werden. Damit kann gemeint sein, dass reine Verwaltungsaufgaben stärker als früher den Arbeitsalltag bestimmen, es kann bedeuten, dass wegen der allgemein vorherrschenden Personalknappheit zunehmend „berufsfremde“ Aufgaben mit übernommen werden müssen, was - im Falle einer Übernahme niedriger bewerteter Tätigkeiten - auch zu Herabstufungen führen kann. Die Gruppe der Beiträge aus der Forschung 31 SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen, so ist den bisher vorliegenden Erfahrungsberichten zu entnehmen, gilt offenbar als besonders flexibel einsetzbar. So fungieren sie in Qualifizierungseinrichtungen, bei denen die sozialpädagogische Begleitung und Betreuung vielfach ersatzlos gestrichen worden sind, als eine Art „Vermittlungscoach“, deren Aufgabe vor allem in der Kontaktpflege zu Betrieben als potentiellen Arbeitgebern besteht; in Altenpflegeheimen, in denen durch die gedeckelten Pflegesätze Personalkosten einzusparen sind, übernehmen sie vorwiegend Verwaltungsaufgaben usw. usf. Es zeichnet sich ab, dass sich für Sozialpädagogen, Sozialarbeiter die Tätigkeitsfelder und Anforderungen je nach Einrichtung resp. Trägertyp sehr stark auseinander entwickeln; sie werden zur „Allround-Fachkraft“. Damit präsentiert sich das Berufsbild als diffuser denn je. Zu beobachten ist, dass in allen Wohlfahrtsverbänden generell darüber nachgedacht wird, die Tätigkeiten mehr zu zergliedern und - damit zusammenhängend - eine stärkere Spreizung der Lohn- und Gehaltsgruppen (Anlern- und Hilfsberufe mit eigenen Vergütungssystemen) einzuführen. Von vielen Experten wird daher eine zunehmende Polarisierung von Funktionen (ausführende Sozialarbeit oder „bloße“ Pflege-, Erziehungstätigkeiten versus Managementfunktionen) erwartet. Damit - so steht zu vermuten - wäre eine „weitere Verstärkung der Geschlechterdifferenzierung und des Geschlechtergefälles“ verbunden (Brückner 2000), also eine noch stärkere Zuschreibung von weiblich dominierten, geringer qualifizierten Tätigkeiten und männlich dominierten Führungskräfteaufgaben. Disparate Ausbildungsgänge und das Fehlen von einheitlichen Berufsbildern kennzeichnen den sozialen Sektor Schon seit vielen Jahren wird von ExpertInnen (Meifort 1999, Krüger 1999) kritisiert, dass es kein in sich geschlossenes System beruflicher Aus- und Weiterbildung der sozialen Berufe gibt. Schon der Versuch, einen Überblick über alle beruflichen Bildungsgänge zu erhalten, erweist sich angesichts der Besonderheiten der Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitsberufe daher als eine Sisyphusaufgabe. „Nach vorläufigen Schätzungen (so bilanziert die GEW, Diskussionspapier, 2000) dürfte die Zahl der ‚berufsähnlichen Qualifikationsabschlüsse‘ allein im Gesundheits- und Sozialwesen deutlich über 1000 liegen.“ Kennzeichnend sind hier also die Heterogenität von Berufsbildern und Berufsabschlüssen incl. Berufsbezeichnungen für gleiche oder ähnliche Tätigkeiten (keine eindeutigen Berufsprofile, unklare Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Berufen) sowie die Vielfalt der Ausbildungsgänge. Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Zugangsbedingungen (wie Alter oder Eingangsqualifikationen), Durchführungsregelungen und -qualität sowie ihrer Bildungsabschlüsse erheblich - nicht nur von Bundesland zu Bundesland, 32 Beiträge aus der Forschung sondern auch von einem Bildungsträger zum nächsten. Nur einige wenige Berufsausbildungen - seit 1. August 2003 neuerdings auch in der Altenpflege - finden im Bereich des Berufsbildungsgesetzes statt, d.h. nach einheitlichen staatlichen Regelungen, die eine bundesweit gültige Entsprechung von Qualifikationsprofilen und Berufsbezeichnung implizieren. Der weit überwiegende Teil der beruflichen Erstausbildung findet jedoch als „Schulausbildung“ statt, d.h. Fachkräfte-Ausbildung in vollzeitschulischen zwei-jährigen Ausbildungsgängen an sozialpflegerischen Berufsfachschulen (verschiedene Assistenz-, Helfer- und Pflegeberufe). Die Krankenpflege-Ausbildung wird an Schulen des Gesundheitswesens in privater, öffentlicher und freigemeinnütziger Trägerschaft angeboten (in der Regel fällt dafür Schulgeld an). Erziehungs- und Heilerziehungsberufe werden an Fachschulen oder Fachakademien ausgebildet (d. h. nicht als berufliche Erstausbildung, sondern als Fortbildung, die „grundsätzlich den Abschluss einer einschlägigen Berufsausbildung oder eine entsprechende praktische Berufstätigkeit“ voraussetzt). Die Ausbildung von SozialarbeiterInnen und -pädagogen findet seit den 70er Jahren an Fachhochschulen bzw. an Universitäten sowie an Berufsakademien statt. Nicht einmal in kleineren Einheiten (z. B. in Bezug auf die speziellen kirchlichen Aus- und Weiterbildungseinrichtungen: Diakonie und Caritas verfügen zusammen über mehr als 1000 Ausbildungsstätten für soziale Berufe im weitesten Sinne, also gesundheitspflegerische, pädagogische und hauswirtschaftliche Berufe) können nach Angaben der von uns befragten Experten empirisch abgesicherte Antworten auf bildungs- und arbeitsmarktpolitisch relevante Fragen über Qualität und Verwertbarkeit der dort erworbenen Qualifikationen zu geben. Auch die zentrale Frage, wie in den einzelnen Berufsbildern die Qualifikations- entsprechend den veränderten Anforderungsprofile wird in diesem Bildungsbereich nirgendwo systematisch überprüft (vgl. in diesem Sinne auch die Ergebnisse der Fachtagung „Die Zukunft der sozialen Berufe“ vom Okt. 2002). Als „bildungspolitischer Sonderweg“ stehen diese Berufsausbildungsgänge daher seit vielen Jahren in der bildungspolitischen Kritik (vgl. Kühnlein 1997), weil sie gegenüber den männlich und technisch dominierten Facharbeiter- resp. Ingenieursberufen in vielerlei Hinsicht im Nachteil sind. Dazu gehören die geschilderte Disparität der Bildungsgänge und der Abschlüsse, die mangelnde Anschlussfähigkeit zu anderen, ähnlichen Berufen oder Berufsfeldern („Nischenqualifikationen“) ebenso wie die geringe Durchlässigkeit von Bildungsgängen - horizontal, zwischen benachbarten Berufen, wie vertikal, also aufstiegsbezogen („Sackgassenberufe“). Vollends verwirrend ist die zur Zeit zu beobachtende Tendenz unter Verweis auf die gestiegenen Qualitätsansprüche und komplexeren Anforderungen an das Pflege- und Erziehungspersonal -, eine Akademisierung der Pflege- und Erziehungsberufe zu voranzutreiben, während auf der anderen Seite - unter Verweis auf die notorisch „knappen“ Finanzmittel - in diesen Bereichen vermehrt Beiträge aus der Forschung 33 nur noch Hilfs- und Anlernkräfte, auch Ehrenamtliche eingestellt werden. Und dies wohlgemerkt ohne eine entsprechende Differenzierung der jeweiligen Aufgaben- und Einsatzgebiete. Es fehlt hier zur Zeit jeglicher Überblick, zudem mangelt es an wechselseitig abgestimmten Verfahren und Strategien. Bezweifelt werden darf vor diesem Hintergrund, dass die angestrebten Ziele mehr Professionalität, höhere Attraktivität der Berufe, Europatauglichkeit der Abschlüsse - erreicht werden. Und dies erst recht, wenn man bedenkt, dass im Bereich der Erzieherinnen bereits laut darüber nachgedacht wird, die avisierte Höherqualifizierung von einer entsprechenden tariflichen Eingruppierung abzukoppeln. Bewertung und Vergütung sozialer Dienstleistungen Mit dem Systemwechsel bei der Refinanzierung der sozialen Dienstleistungen (Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip und vom Selbstkostendeckungsprinzip) stehen die bisherigen Finanzierungs- und Vergütungsmodelle zur Disposition. Im gesamten Bereich der Freien Wohlfahrtspflege ist der BundesAngestelltentarifvertrag, BAT, deutlich in Bewegung geraten, seine normierende Kraft wird immer stärker in Zweifel gezogen: So gibt es Tendenzen, z. B. eigene Tarifverträge abzuschließen, die sich nur noch lose am Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes orientieren (der aktuelle AWO-Tarifvertrag), es lassen sich zunehmend Strategien der Tarifflucht feststellen (Outsourcing einzelner Arbeitsfelder, insbesondere betrifft dies Reinigungsdienste, Kantinen etc.), besonders gravierend in den östlichen Bundesländern. Es werden verstärkt Sonderregelungen für einzelne Einrichtungen (Öffnungsklauseln), abhängig von deren finanzieller Situation, vereinbart. Neuerdings zeichnet sich zudem ein deutlicher Trend zur Trennung von Formalqualifikation und Eingruppierung nach BAT ab (vgl. Berger 2002). Auch die Kirchen - Diakonie und Caritas - denken über eine Neugestaltung ihrer Gehaltsstrukturen nach, die bisher als „BAT-KF“ (kirchliche Fassung des Bundesangestelltentarifs) eng an den BAT angelehnt waren. Hier stehen erhebliche Veränderungen ins Haus, deren Resultate bisher noch nicht abzusehen sind. Die zu erwartenden Konsequenzen reichen von einer verstärkten Abkoppelung der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen vom BAT über die Ausgliederung bestimmter Teilbereiche - theoretisch bis zu einer völligen Abkehr vom „Dritten Weg“. Evangelische Kirche und Diakonie betätigen sich zur Zeit als Vorreiter bei der Einführung neuer Lohnund Gehaltssysteme, die in Rheinland-Westfalen-Lippe ausgerechnet für die niedrigsten Vergütungsgruppen bereits eingeführt worden sind8 und für diese Beschäftigten zu erheblichen Einkom8 34 „Vergütungsregelungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in besonderen Arbeitsbereichen (BA-Gruppen) ab 1.1.2002“. Diese beinhalten eine Abschaffung der Lebensaltersstufenregelung und die Einführung von Leistungsentgelten „bei erheblich überdurchschnittlichen Leistungen“; diese werden nicht weiter spezifiziert Beiträge aus der Forschung mensreduzierungen führen; davon seien – so die Kritik des Frauenreferats, Feldhoff 2002 – überwiegend weibliche Beschäftigte in Küchen- und Reinigungsdiensten betroffen. Aber nicht nur von den Randbereichen her wird der BAT in Frage gestellt. Eine grundlegende Reform des Tarifsystems BAT wird von allen Tarifpartnern, auf Arbeitgeberseite ebenso wie auf Gewerkschaftsseite, als überfällig erachtet und praktisch auch betrieben. Soziale Dienste als Seismographen gesellschaftlicher Umbruchprozesse? Unter dem derzeitigen Druck der „knappen Kassen“ (Budgetierung der Ausgaben), hat die Vermarktlichung des sozialen Sektors bisher überall vor allem dazu geführt, an der Stellschraube „Personal“ zu drehen, um Kosten einzusparen. Vor diesem Hintergrund steht die Diskussion darum, wie soziale Dienstleistungen angemessen zu bewerten sind - die Frage nach qualifikations- und anforderungsgerechten sowie diskriminierungsfreieren Entgeltstrukturen derzeit sicherlich unter sehr schwierigen Vorzeichen. Dabei stellt insbesondere die Tatsache, dass die Bezahlung des Personals nach dem „Beamtentarif“ BAT durch die gängige Deckelung der Personalkosten und Absenkung der Fallpauschalen zunehmend in Frage gestellt wird, einen gravierenden Faktor dar. Damit aber schließt sich der Kreis: Einer systematischen „Aufwertung von Frauentätigkeiten“ – von der Gewerkschaft OTV/ver.di seit Jahren gefordert – steht die politisch inszenierte und gewollte Weichenstellung einer generellen Abwertung der „Humandienstleistungen“ eindeutig entgegen. Diese grundsätzliche Problematik bestimmt nicht nur die Debatten zur „Modernisierung des BAT“ oder - weitergehend - zur Frage „Was kommt nach dem BAT?“, sondern zeitigt bereits jetzt gravierende Folgen für die Beschäftigten. So bezieht sich bspw. die EKD-Studie „Soziale Dienste als Chance“ ausdrücklich auf das Problem, dass die – angestrebte und teilweise bereits umgesetzte – Absenkung der Tariflöhne und -gehälter für „einfache“ Tätigkeiten dazu führen wird, dass viele der (überwiegend weiblichen) Beschäftigten dann „kein existenzsicherndes Erwerbseinkommen“ mehr erhalten würden (s.o.). Hier sei dann, so die EKD-Studie weiter, „die Gesellschaft“ gefordert, weil für diese Beschäftigten ein Lebensunterhalt unterhalb der Armutsgrenze ohne staatliche Zuschüsse dann nicht mehr gewährleistet sei (S. 27). Damit aber wäre die Frage einer leistungs- und anforderungsgerechten Vergütung von den Tarifpartnern weg und in die Verantwortung von Gesellschaft und Staat verlagert. Praktisch käme dies einem politischen Verschiebebahnhof gleich. Beiträge aus der Forschung 35 Literatur Bauer, Rudolph, 2001: Personenbezogene soziale Dienstleistungen. Begriff, Qualität und Zukunft. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden Berger, Rainer, 2002: Neuere Entwicklungen in den Studiengängen des Sozialwesens. In: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit. Nr. 5/2002. S. 377-384. Brückner, Margrit, 2000: Sozialarbeit – ein Frauenberuf? In: neue praxis. Heft 6/2000, S. 539-543. Deutscher Caritas-Verband e.V., Diakonisches Werk (Hrsg.), 2003: Dokumentation: Fachtagung „Die Zukunft sozialer Berufe“ Fulda, 10.10.2002. Freiburg. Feldhoff, Kerstin, 2002: Gerechtigkeit für Frauen in der kirchlich-diakonischen Arbeitswelt!? In: Lila Blätter Nr. 25. Mai 2002, S. 58-60. GEW-Diskussionspapier, 2000: Eckpunkte zur Aus- und Weiterbildung für personenbezogene Dienstleistungsberufe. März 2000. Frankfurt/Main. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hrsg., 2002: Soziale Dienste als Chance. Eine Studie der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung . Hannover (zitiert als: EKDStudie). Krüger, Helga, 1999: Personenbezogene Dienstleistungen. Schlüsselqualifikationen eines Niedriglohnsektors? In: Senatsverwaltung für berufliche Arbeit, Bildung und Frauen. Berlin. Kompetenz, Dienstleistung, Personalentwicklung. Welche Qualifikationen fordert die Arbeitsgesellschaft der Zukunft (2. erweiterte und überarbeitete Ausgabe). Berlin. S. 261-280 Kühnlein, Gertrud, 1997: Qualität und Quantität der Berufsausbildung. Brennpunkte der aktuellen Auseinandersetzung. Graue Reihe - Neue Folge Bd. 127 (Hrsg: HBS). Düsseldorf. Meifort, Barbara, 1999: Berufsbildung außerhalb des dualen Systems vollzeitschulische Berufsbildung im Strukturwandel. In: Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen (Hg.): Expertisen für ein Berliner Memorandum zur Modernisierung der Beruflichen Bildung. Berlin. S. 141-166. Naschold, Frieder, 1995: Ergebnissteuerung. Wettbewerb. Qualitätspolitik. Entwicklungspfade des öffentlichen Sektors in Europa. Berlin Nickel, Hildegard Maria, 2000: Ist Zukunft feministisch gestaltbar? Geschlechterdifferenz(en) in der Transformation und der geschlechtsblinde Diskurs um Arbeit. In: Lenz, Ilse; Nickel, Hildegard Maria; Riegraf, Birgit (Hrsg.): Geschlecht-Arbeit-Zukunft. Münster. S. 243-268. Ottnad, Adrian, Wahl, Stefanie, Miegel, Meinhard, 2000: Zwischen Markt und Mildtätigkeit. München. Parmentier, Klaus, 2000: Erwerbsarbeit im Spiegel der BIBB/IAB-Erhebungen 1999/1992. In: Dostal, Werner, Jansen, Rolf, Parmentier, Klaus: Wandel der Erwerbsarbeit: Arbeitssituation, Informatisierung, berufliche Mobilität und Weiterbildung. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung BeitrAB 231. S. 9-38. Rabe-Kleberg, Ulla, 1993: Verantwortlichkeit und Macht. Ein Beitrag zum Verhältnis von Geschlecht und Beruf angesichts der Krise traditioneller Frauenberufe. Bielefeld. 36 Beiträge aus der Forschung Rauschenbach, Thomas, 1999: Soziale Berufe – Motor oder Sand im Getriebe des Arbeitsmarktes? Sozial-, Erziehung- und Gesundheitsberufe auf dem empirischen Prüfstand. In: In: Senatsverwaltung für berufliche Arbeit, Bildung und Frauen. Berlin. Kompetenz, Dienstleistung, Personalentwicklung. Welche Qualifikationen fordert die Arbeitsgesellschaft der Zukunft (2. erweiterte und überarbeitete Ausgabe). Berlin. S. 107-126. Rawert, Mechthild; Zauner, Margit, 2000: Personenbezogene Dienstleistungsberufe. Ein konkretes Handlungsfeld von Frauenpolitik und gender-Mainstreaming. spw – Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft. Bd. 114/2000. Zit. nach www.globalcare.de - Dokumentation Sachße, Christoph, 1996: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1971-1929. Frankfurt/Main. Schulz, Andreas, 2000: Beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitische Potenziale deutscher Wohlfahrtsverbände zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Arbeit und Sozialpolitik: Heft 7-8/2000. S. 54-61. Spiegelhalter, F., 1999: Die sozialwirtschaftliche Bilanz der Freien Wohlfahrtspflege. Hrsg.: Bank für Sozialwirtschaft. Köln. Beiträge aus der Forschung 37 Uwe Schwarzer, Diakonisches Werk der EKD Strategisches Management als Antwort auf die organisations- und qualitätspolitischen Herausforderungen für die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege Einleitung Sehr geehrte Damen und Herren, ich danke herzlich für die Einladung zu diesem Workshop und für die Beteiligung am gesamten Projekt „Vom Wohlfahrtssektor zur Sozialwirtschaft“. Ich muss diesen Dank nicht gesondert begründen, geht es doch auch bei jedem Wohlfahrtsverband wie auch bei jedem Wirtschaftsunternehmen darum, sich immer wieder neu über gesellschaftliche Entwicklungen zu verständigen und daraus notwendige Konsequenzen für die Bereitstellung neuer Produkte, im Falle der Wohlfahrtsverbände sozialer Dienstleistungen zu ziehen. Alle Wohlfahrtsverbände haben – auch im Dialog mit Verbändeforschern – diesen Prozess in den letzten Jahren viel aktiver als früher gestaltet. Das haben sie auch sehr prägnant in ihrem gemeinsamen Buch „Die Freie Wohlfahrtspflege – Profil und Leistungen“ formuliert. Dort heißt es auf dem Klappentext der Rückseite: „Die aktuelle Situation ist aber auch ein Ausgangspunkt für selbstkritische Reflexion und Weiterentwicklung: Soziale, ökonomische und ökologische Prozesse – zumal nicht mehr nur bei nationalen, sondern europäischen und auch weltweiten Entwicklungen – müssen immer wieder einer Gesamtschau standhalten. Diese ist unersetzlich, wenn es darum geht, auf der Mikroebene neue Hilfekonzepte und Dienstleistungen zu entwickeln sowie auf der Markoebene die soziale Dimension des zusammenwachsenden Europas mit Ideen und Leben zu füllen.“ Dabei kann sich die Bilanz der Dienstleistungserbringung der Verbändearbeit durch Wohlfahrtsverbände sehen lassen: Die PrognosAG hatte in ihrem Gutachten 2000 die Zukunft der Verbände anders beschrieben: Im nationalen wie auch im internationalen Zusammenhang, also dem Wettbewerb sozialer Dienstleistungsanbieter in Europa, wurden den deutschen Wohlfahrtsverbänden geringe Chancen der Wettbewerbsfähigkeit eingeräumt. Bisher ebenfalls nicht eingetreten ist die im Gutachten 1991 (Freie Wohlfahrtspflege im zukünftigen Europa) angedeutete Vision, dass zukünftig Träger von Einrichtungen und selbständige Anbieter von sozialen Dienstleistungen aus dem Ausland nach Deutschland kommen und dass dabei vor allem auch in Deutschland die stärksten Auswirkungen des Binnenmarktes auf das Sozialsystem sichtbar werden. Daraus leitete Prognos auch die These ab, dass die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland weder national noch europäisch diesem 38 Beiträge aus der Forschung Wettbewerbsdruck standhalten kann, weil sie „nur unzureichend gerüstet ist.“ (a.a.O., Seite 31) Prognos empfahl damals den Verbänden sowohl national als auch europäisch eine strategische Planung. (a.a.O., Seite 40) Dieser Hinweis war richtig: In meinem Beitrag möchte ich darstellen, wie dieser Prozess in der Diakonie abgelaufen ist. Ich bin dankbar, dass nun auch die im Projekt der Hans-BöcklerStiftung skizzierten Thesen zur Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege erneut einen Anlass bieten, um über die derzeitige Situation und die Perspektiven sozialer Arbeit in Deutschland nachzudenken. Gestatten Sie mir hier aber schon einen ersten kritischen Hinweis. Auch wenn die Tendenz zu einer Sozialwirtschaft in Deutschland durchaus vorhanden ist, so scheint mir doch erwähnenswert, dass die Situation sehr viel differenzierter und z. T. auch widersprüchlicher ist, weil wir natürlich auch Trends und Gegentrends in der politischen Diskussion über die Entwicklung sozialer Dienste nachweisen können. Wir haben dies in unserer EKD-Schrift „Soziale Dienste als Chance“ ein Stück weit beschreiben: „Insgesamt ist die Lage widersprüchlich. Es gibt Trends und Gegentrends zu gleicher Zeit. Begrüßenswerte und problematische Entwicklungen liegen eng beieinander und sind oft miteinander verbunden. Zum einen setzen die gestaltenden Kräfte in Gesellschaft und Staat auf einen Weg zu mehr Markt und Wettbewerb, zum anderen kommt es zu einer wachsenden Bürokratisierung mit vermehrten Vorgaben und stärkeren Kontrollen. Zum einen wird auf mehr Verantwortung und Eigenentscheidung vor Ort, z. B. in den Kommunen, gesetzt, zum anderen werden auch die finanziellen Lasten nach unten weitergegeben. Zum einen vollzieht sich ein Trend zu qualitativ hochwertigen Angeboten, vor allem im medizinischen Bereich und in der Altenhilfe, zum anderen führt der Wettbewerb zu einem Druck auf die Standards und zu Billigangeboten, vor allem in den ambulanten Diensten. Zum einen nehmen die Bedarfe zu, zum anderen stagniert die Bereitschaft, entsprechend öffentliche Mittel bereit zu stellen. Mehraufwendungen konzentrieren sich überwiegend auf den privaten Bereich.“ 1. Strategisches Management braucht eine Zielformulierung Das Diakonische Werk der EKD wie auch alle anderen Wohlfahrtsverbände haben sich in ihrem strategischen Management auf die Visionen und Prognosen von Verbändeforschern seit den 80er Jahren eingelassen. Dabei haben z. T. auch sehr enge Kooperationen stattgefunden. Grundvoraussetzung für ein strategisches Management war das Setzen von Zielen. So hat das Diakonische Werk der EKD in einem kontinuierlichen Prozess des strategischen Managements die Zieldiskussion sowie auch die Ableitung entsprechender Handlungsoptionen über viele Jahre hinweg geführt. Beiträge aus der Forschung 39 1.1 Strategische Ziele So wurden im Jahr 2001 folgende Ziele ermittelt: – Profilierung der Diakonie als evangelischer Wohlfahrtsverband – Anwaltschaftlichkeit für die Menschen und Interessenvertretung der Einrichtungen unter Wahrung der Partizipation – Die Stärkung der nationalen und internationalen Zusammenarbeit nicht staatlicher Organisationen – Diakonie als Motor einer Gestaltung des Sozialen im nationalen und globalen Maßstab – Gemeinwohlorientierung als Charakteristikum diakonischer Dienstleistungen – Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit diakonischer Einrichtungen Dieses Ziel (wie auch alle anderen Ziele) haben wir natürlich differenzierter beschrieben. Ich will mich hier allerdings auf die Beschreibung der Wettbewerbsfähigkeit beschränken: „Diakonie befindet sich im Wettbewerb mit privatgewerblichen Anbietern sozialer Dienstleistungen und mit anderen gemeinwohlorientiert Handelnden sowohl in Deutschland als auch zunehmend in Europa. Der Wettbewerb umfasst vorwiegend das Angebot der Einrichtungen und Dienste aber auch Spenden und Projekte. Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit dient der Zukunftssicherung der Diakonie. Es ist Aufgabe des Bundesverbandes, dafür Sorge zu tragen, die Rahmenbedingungen für diakonisches Handeln in Einrichtungen, Diensten und Verbänden möglichst günstig zu gestalten und die Position der Diakonie im Wettbewerb durch ergänzende Strategien zu stärken. Dazu gehört zum einen, kritische Auswirkungen von Markt und Wettbewerb für Betroffene bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen zusammen mit den anderen Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege zu thematisieren. Zum anderen hat ein institutionelles Empowerment von Initiativen, Diensten und Einrichtungen zu erfolgen. Diesbezüglich ist auch eine möglichst wirtschaftliche Erstellung der Leistungen von großer Bedeutung.“ Mit den strategischen Zielen wird versucht, der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass zum Bestehen eines Wettbewerbs bei zunehmender Marktorientierung es nicht mehr allein ausreicht, wenn z. B. Führungskräfte Effektivität und Effizienz ihre Einrichtungen erfolgreich sichern. So weisen auch Menninger und Wanke in ihrem Beitrag in der „Sozialwirtschaft aktuell“ (Januar 2003, Seite 2) darauf hin, dass die neuen Herausforderungen eine Integration von traditioneller Sozialwohl- und Wettbewerbsstrategie verlangen. 40 Beiträge aus der Forschung 1.2 Strategische Aufgaben der Führung Dementsprechend sind auch die Aufgaben der Führung einer modernen Dienstleistungsorganisation beschreibbar: So gibt es bei den Wohlfahrtsverbänden einen deutlichen Konsens, dass zu den Aufgaben eines strategischen Managements – die strategische Analyse – Strategieentwicklung – Vermittlung der Strategien in der Organisation – Strategierealisierung und – Strategiesicherung gehören. (Sozialwirtschaft aktuell, a.a.O., Seite 2) 2. Handlungsoptionen Zu allen genannten strategischen Zielen ergeben sich zahlreiche Handlungsoptionen hinsichtlich der Erreichung der Ziele. Handlungsoptionen können dabei auf unterschiedlichen Ebenen formuliert werden. Sie können verschiedene Dimensionen haben. Ich will dies stellvertretend für eine Vielzahl an Optionen an der Qualitätsoffensive der Diakonie verdeutlichen. 2.1 Qualitätsoffensive/höhere Dienstleistungsqualität als Wettbewerbselement Eine höhere Wettbewerbsfähigkeit sozialer Dienste und Einrichtungen kann auf unterschiedliche Art erreicht werden. Auch bei sozialen Dienstleistungen spielt dabei das Preis-Leistungs-Verhältnis eine große Rolle. Angesichts der Tatsache, dass bei der Ausschöpfung aller Spar- und Rationalisierungspotentiale letztendlich nur noch die Qualität gesenkt werden kann, um den Preis zu reduzieren, hat sich die Diakonie dafür entschieden, die Qualität als zentralen Faktor im Preis-Leistungs-Wettbewerb in den Vordergrund zu stellen. 2.2 Qualitätswettbewerb als Wettbewerbsstrategie bei der weltweiten Liberalisierung von Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS) Die Welthandelsorganisation WTO hat mit der weltweiten Liberalisierung bei Dienstleistungen eine neue Runde des Wettbewerbs auch bei sozialen Dienstleistungsanbietern eingeläutet. Auch wenn noch ungewiss ist, in welchen Arbeitsfeldern eine solche Liberalisierung stattfinden wird (zunächst einmal war auch an Pflege- und Erziehungsleistungen gedacht), so brauchen wir eine Strategie, um Beiträge aus der Forschung 41 sog. potentiellen Billiganbietern im Sozialbereich in Deutschland zu begegnen. Als eine zentrale Strategie wird dabei die Qualitätsstrategie angesehen: Es muss für die sozialen Arbeitsfelder in Deutschland beschrieben werden, welche Qualität für eine humane und würdevolle Betreuung von Menschen in Notsituationen angezeigt ist. Wir meinen, dass wir mit dieser Strategie auch in anwaltschaftlicher Weise für Menschen tätig sind. 3. Entwicklung von Instrumenten Zumal für einen Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege, für den eine zentrale verbandliche Umsetzung von Strategien in praktisches Handeln eine besondere Schwierigkeit bedeuten kann, stellt sich die Frage nach entsprechenden Instrumenten. 3.1 Qualitätsrahmenhandbücher als zentrales Steuerungsinstrument In der Vergangenheit gab es für einen Spitzenverband kaum Möglichkeiten, verbindlich für alle Dienste und Einrichtungen Verbandsstrategien durchzusetzen. Die Qualitätsoffensive als strategisches Verbandsziel sowie auch die Qualitätsdiskussion der letzten sieben Jahre haben zu der Entwicklung eines Instruments beigetragen, das diese Verbindlichkeit herstellt. Dabei erweisen sich Handbücher auf Bundesebene auch über die Definition von Qualität hinaus als ein Steuerungsinstrument, das auch eine ganze Reihe anderer verbandspolitisch wichtiger Steuerungswirkungen erzielt. Dabei wird insbesondere dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass die hier diskutierte Frage der Wettbewerbsfähigkeit zusammen mit anderen Wettbewerbselementen genannt werden muss. Von Bedeutung sind dabei insbesondere – die Werteorientierung eines Verbandes als Wettbewerbselement (Leitbild, Leitsätze etc.) – die wirtschaftliche Erbringung der Dienstleistungen – die umweltverträgliche Leistungserbringung (Bewahrung der Schöpfung) – die Partizipation und Zufriedenheit der Klienten/Patienten/ Kunden 4. Entwicklung von Standards Die Standardentwicklung kann dabei als eine wichtige (neue) Aufgabe eines Spitzenverbandes identifiziert werden. Wichtige Voraussetzung für das Gelingen ist allerdings, dass in einem Bottomup-Prozess Dienste und Einrichtungen der Organisationen auf Landes- und Fachverbandsebene intensiv beteiligt werden. 42 Beiträge aus der Forschung Auch die Standardentwicklung kann sich zur Erreichung größtmöglicher Wettbewerbsfähigkeit dabei nicht nur auf die natürlich im Zentrum liegende Qualität der Dienstleistung selbst beziehen, sondern muss auch die wirtschaftliche und ökologische Leistungserbringung mit berücksichtigen. Ebenso bedeutsam ist dabei auch die Gewinnung und Qualifizierung von Fachpersonal. 4.1 Entwicklung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität Dabei scheint es wichtig, Standards zu beschreiben, die in der jeweiligen Einrichtung zwar als verbindlich angesehen werden, aber durchaus auch Spielräume für die jeweils individuelle einrichtungsspezifische Ausgestaltung ermöglichen. Dies kann am Beispiel Seelsorge verdeutlicht werden: Die Seelsorge als Angebot eines diakonischen Trägers leitet sich aus den Leitbildaussagen und der Leistungsbeschreibung der Einrichtung ab. In der Diakonie erwarten wir deshalb von unseren Einrichtungen differenzierte Aussagen über – Seelsorgeziele – das Seelsorgeverständnis und personelle Qualifikationen der Seelsorger/-innen (Strukturqualität) – der Prozesskriterien der Seelsorge (Prozessqualität) – die Wünsche und Zufriedenheit der Adressaten der Seelsorge (Ergebnisqualität). 5. Qualitätsmanagement als Beitrag kontinuierlicher Organisationsentwicklung Die Organisation einer Einrichtung muss sich entsprechend der Bedarfs- und auch der Wettbewerbssituation kontinuierlich anpassen. Das in den Bundesrahmenhandbüchern zur Qualität immanente Qualitätsmanagementsystem kann dabei als eine sehr wichtige Voraussetzung für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess gesehen werden. Dabei gilt es immer wieder neu z. B. die Strukturqualität der Dienstleistungserbringung (der Organisation) auf den Prüfstand zu stellen. Kontinuierliche Evaluation der Aufgabenwahrnehmung sowie kontinuierliche Auditierung der Organisationsprozesse sichern dabei einen hohen Grad professioneller interner Organisationsentwicklung und machen im Übrigen einen Teil externer Organisationsberatung überflüssig. 6. Verbindlichkeit durch externe Zertifizierung Es muss die Frage gestellt werden, wie ein Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege bei seinen Diensten und Einrichtungen hinsichtlich der Einhaltung von Standards Verbindlichkeit herstellen Beiträge aus der Forschung 43 kann. Eine Möglichkeit ist die Vergabe von Zertifikaten. So wird am Bundesrahmenhandbuch Qualität in der Pflege deutlich, wie hoch das Interesse der ambulanten Dienste und Pflegeeinrichtungen ist, ein solches Zertifikat zu erhalten, insbesondere wenn es einerseits ein Zertifikat darstellt, das die werteorientierten Erwartungen eines konfessionellen Verbandes erfüllt und gleichzeitig aber auch anerkannte Verfahren des Qualitätsmanagements berücksichtigt wie die ISO und Elemente des EFQM. 7. Modernisierung freier Wohlfahrtspflege Die Einführung eines strategischen Managements sowie eines internen Qualitätsmanagements hat dort, wo es praktiziert wurde, zu einem Modernisierungsschub in der Diakonie geführt. Modernisierung muss aber sicherlich auch noch im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Prozessen gesehen werden. Im Projekt der Hans-Böckler-Stiftung „Vom Wohlfahrtssektor zur Sozialwirtschaft“ werden eine ganze Reihe von Thesen zur Modernisierung der freien Wohlfahrtpflege aufgestellt, die ich anschließend – wenn auch nur kurz – aufgreifen möchte: 7.1 Veränderungen der Arbeitsinhalte Es ist natürlich richtig, dass Veränderungen in der Finanzierung der sozialen Arbeit oder auch nur einzelner Dienstleistungen auch den Inhalt der Arbeit verändert. Diese Veränderungen sind auch in der Organisation des Dienstes wahrnehmbar. So haben sich natürlich die vielen kirchlichen Aktivitäten zur Betreuung und Begleitung Sterbender in der Hospizarbeit sehr deutlich mit der Einführung einer Finanzierungsgrundlage des SGB V (§ 39 a) verändert. Aus diesen Veränderungen heraus lassen sich in diesem und anderen Arbeitsfeldern aber nicht unbedingt Konsequenzen ableiten, wie sie im Thesenpapier angedeutet werden: So macht die Praxis deutlich, dass in den Arbeitsfeldern bei einer Sozialmarktorientierung nicht unbedingt aus dem e. V. eine gGmbH oder GmbH folgen muss. Bürgerschaftliches Engagement und ehrenamtliche Arbeit kann dabei auch in den gGmbH’s ein Kennzeichen der Arbeit eines werteorientierten konfessionellen Verbandes sein. 7.2 Sozialwirtschaftliches Handeln und gesellschaftliche Verantwortung Die Bedeutung des sozialwirtschaftlichen Sektors, in dem sich Anbieter freier Wohlfahrtspflege in der Organisationsform einer gGmbH mit anderen sog. privaten Anbietern im Wettbewerb verhalten müssen, ist zwar gestiegen. Dennoch darf der Blick nicht darauf verstellt werden, dass es viele soziale Arbeitsfelder gibt, in 44 Beiträge aus der Forschung denen es eine gesicherte kontinuierliche Finanzierung nicht gibt und bei denen es dann meist auch keinen Wettbewerb gibt. Welcher private Anbieter würde denn einen Dienst zur Betreuung von Frauen als Opfer von Prostitution und Menschenhandel aufbauen, ohne von vornherein die Gewissheit zu haben, dass eine kontinuierliche Finanzierung gesichert ist. Die Wohlfahrtsverbände haben in ihrer Schrift „Die Freie Wohlfahrtspflege – Profil und Leistungen“ deshalb ganz bewusst auch diese Arbeitsfelder einschließlich deren Finanzierungsgrundlagen aufgeführt. Wenn nunmehr private Dienstleistungsanbieter, Politik und Wirtschaft über die für sie natürlich aus unterschiedlichsten Gründen wichtigen sozialen Dienstleistungen sprechen, so sind dies in der Regel die über die sozialen Sicherungssysteme entgeltfinanzierten Leistungsbereiche, die im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die aus den Statistiken der Wohlfahrtsverbände ablesbaren anderen umfänglichen Arbeitsfeldern und Leistungen werden von dieser Diskussion aber nicht erfasst und z. T. ja sogar auch verbal diffamiert, indem man z. B. von der „schmutzigen Diakonie“ spricht, wenn es z. B. um die Betreuung von Obdachlosen und Prostituierten geht. Deshalb muss auch noch einmal sorgfältig geprüft werden, ob tatsächlich die Gemeinwohlfunktion gegenüber der Dienstleistungsfunktion ins Abseits gerät. Aus den Statistiken der Diakonie ist nicht unbedingt ablesbar, dass der nicht unmittelbar dienstleistungsbezogene Funktionsbereich zurückgedrängt wird. Wenn wir auf die Entwicklungen der letzten drei Jahre schauen, so lassen sich die Behauptungen, dass traditionelle Handlungsfelder der Diakonie außerhalb von Dienstleistungen, die über gesicherte Finanzierungsgrundlagen erbracht werden zusammenbrechen, nicht oder nur zum Teil bestätigen. Das Bild ist zumindest ambivalent: Da gibt es einerseits Arbeitsfelder mit einem deutlichen Zuwachs an diakonischen Leistungen, wie z. B. ambulantes betreutes Wohnen in der Altenhilfe, Jugendhilfe oder Behindertenhilfe, während andererseits die Zahl der Selbsthilfe- und Helfergruppen z. T. erheblich eingebrochen ist. Deutlich wird aber auch, dass die Wohlfahrtsverbände heute gesellschaftliche Funktionen anders und moderner erfüllen. Quartiersmanagement durch die Diakonie ist so ein Beispiel: Da gibt es Projekte, in denen ausgehend von einer Kindertagesstätte unterschiedlichste Aufgaben wie z. B. Koordinationsangebote sowie Partizipationsmöglichkeiten im Quartier übernommen werden (soziale Hilfen, Hausaufgabenbetreuung, Wohnungsvermittlung etc.). In einem anderen Projekt werden die auf kommunaler Ebene sich organisierenden Interessengruppen unterschiedlichster Art beraten, begleitet und z. T. koordiniert. Hier hat die Diakonie vollständig ihre Funktion als Träger einer Einrichtung zugunsten einer in den Sozialraum hineinwirkenden gesellschaftlichen Funktion bzw. Gemeinwesenfunktion aufgegeben. Diese neuen Formen diakonischen gesellschaftlichen Engagements vor Ort entsprechen auch neuen Organisationsformen auf Bundesebene: So ist die Diakonie mit Vertretern örtlicher Gemeinwe- Beiträge aus der Forschung 45 senprojekte z. B. in der Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit präsent: Hier entstehen zusammen mit anderen Kooperationspartnern auf Bundesebene fachliche Zusammenschlüsse, die für die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zwar transparent, aber doch in neuen Organisationsformen stattfinden. 7.2.1 Ehrenamtliches/freiwilliges Engagement Keinesfalls einverstanden sind die Verbände damit, dass die ehrenamtliche Arbeit zur finanziellen Entlastung der öffentlichen Haushalte instrumentalisiert wird. So gibt es Beispiele, an denen deutlich wird, dass Ehrenamtliche – die ihre Arbeit als qualitativ zusätzlich zur hauptamtlichen Arbeit definieren – ihre Arbeit aufgeben, wenn sie entdecken, dass sie Teil des Pflegesatzes sind. Hauptamtliche professionelle Arbeit kann nicht durch ehrenamtliche Arbeit ersetzt werden. Allein diese Behauptung diffamiert soziale Arbeit noch einmal zusätzlich. In vielen anderen Bereichen von Politik und Gesellschaft wären entsprechende Fragen verpönt: Sollte ein Politiker im Parlament diese Arbeit nicht ehrenamtlich machen oder vielleicht auch die im Bildungsbereich tätigen Lehrerinnen und Lehrer? Ich denke nicht. Verkannt wird dabei auch die hohe volkswirtschaftliche Bedeutung bezahlter Arbeit im Sozialbereich: Sie trägt immerhin auch zu einem hohen Beschäftigungsniveau und zu einem hohen Bruttoinlandsprodukt bei. In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und stagnierender Wirtschaftsentwicklung ist dies nicht unbedeutend. Bei der Diskussion von Haupt- und Ehrenamtlichkeit entdecken wir in letzter Zeit aber auch ganz neue Phänomene: So wird bei einem diakonischen Praxisprojekt deutlich, dass sich eine Vielzahl von Frauen aufgrund ihres hohen sozialen Engagements nur wenige Planstellen untereinander aufteilen. Auch im Sozialbereich tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen mit ihren Einkünften ihre Existenz sichern. Dies bleibt unbestritten. Da dies mit einer 0,4-Stelle in einer Großstadt oft nicht möglich ist, erfahren wir von den Frauen des genannten Projekts, dass sie ihre Existenzgrundlage durch Anstellungsverhältnisse in finanziell lukrativen Arbeitsfeldern (z. B. als Computerfachfrau) sichern. Diese Lösung scheint eine für die betroffenen Frauen wohl akzeptable Lösung darzustellen; diese Arbeit aber völlig unentgeltlich ehrenamtlich zu leisten, dafür hätten die Frauen aber sicherlich zu Recht kein Verständnis. 7.3 Neue Formen anwaltschaftlichen Handelns Mit der umstrittenen These, dass die Gemeinwohlfunktion der Verbände ins Abseits gerät, wird immer auch vermutet, dass die anwaltschaftliche Funktion ins Hintertreffen gerät. Dem ist entgegen zu halten, dass das Eintreten für die Interessen Betroffener heute z. T. anders stattfindet: So bedeutet anwaltschaftliche 46 Beiträge aus der Forschung Interessenvertretung und konkret auch die Ermittlung von Bedürfnissen von Lebenslagen in Not geratener Menschen zunehmend mehr Engagement auf der verbandlichen Ebene z. B. der Landesverbände oder Bundesgeschäftsstellen. So wurden die Armutsuntersuchungen der Spitzenverbände (s. die Habilitationsschrift von Prof. Winter) positiv erwähnt. Auf der Einrichtungsebene wird zunehmend mehr nach Wegen der stärkeren Partizipation und Mitgestaltung der Betroffenen gesucht. So haben die Wohlfahrtsverbände die Beteiligung der Nutzer bei der Weiterentwicklung der Einrichtung und des Dienstleistungsangebotes im Rahmen ihrer QM-Strategien vorangetrieben, ergänzt von kontinuierlichen verpflichtenden Fragen nach Zufriedenheit sowie auch der Einrichtung eines Beschwerdemanagements. Die vielfältigsten Publikationen der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes der EKD haben diese Entwicklungen öffentlichkeitswirksam dargestellt, um damit auch einen wirksamen Beitrag der Verbesserung der Patientenrechte bzw. Verbraucherrechte zu erbringen. 7.4 Finanzierung und Vergütung sozialer Arbeit Richtig ist die These, dass die Produktion sozialer Dienste in einem Dilemma steckt zwischen stärkerer Professionalisierung einerseits und Refinanzierungsproblemen andererseits. Refinanzierungsprobleme sind den Verbänden allerdings seit je her bekannt. Es gibt dviele Arbeitsfelder, in denen es keine gesicherte Finanzierungsgrundlage gab, um ein kontinuierliches Fortbestehen des Dienstleistungsangebotes zu ermöglichen. Neu ist derzeit allerdings, dass sog. traditionelle Dienstleistungsangebote, die bisher über die sozialen Sicherungssysteme finanziert wurden wie z. B. die häusliche Krankenpflege nicht mehr refinanzierbar sind, weil Personalkosten z. B. in Höhe von 42 Euro die Stunde nicht mehr von Entgelten von 33 Euro gedeckt werden. Diese Situation betrifft aber sog. private Anbieter gleichermaßen. Gerade in jüngster Zeit haben letztere mit den Verbänden Freier Wohlfahrtspflege und auch Bundesbehörden Kontakt aufgenommen mit dem Signal, dass offensichtlich für alle Anbieter im Pflegebereich die finanziellen Grundlagen für eine sachgerechte Arbeit nicht mehr ausreichend sind. Hier stellt sich somit ein neues Problem: Es geht also nicht mehr nur darum, wie ein Träger einer häuslichen Krankenpflege seine Wettbewerbsfähigkeit erhöht, sondern wie alle Träger einer Branche vor dem finanziellen Ruin bewahrt werden können. Wenn in diesem Zusammenhang immer wieder von einer leistungsgerechten Vergütung die Rede ist, so intendieren viele Befürworter dieser These im Kern eine zukünftig schlechtere Bezahlung gerade auch von Krankenschwestern. Dies diffamiert noch einmal die Bedeutung und Professionalität sozialer Arbeit. Zudem stellt sich sofort die Frage nach den Bewertungskriterien für eine leistungsgerechte Vergütung. Leistungsgerechte Vergütung könnte dabei z. B. bedeuten, dass eine junge, leistungsfähige Krankenschwester besser vergütet wird als eine vergleichbare 45-jährige, die schon in ihrem Beruf z. B. mit einem defekten Rücken eine Be- Beiträge aus der Forschung 47 einträchtigung ihrer Gesundheit erlitten hat. Auch wenn man hier Aspekte wie gesellschaftliche Anerkennung für jahrzehntelange soziale Arbeit einmal außer Acht lässt, so hat unsere Gesellschaft für andere Berufsgruppen zumindest Regelungen geschaffen, die ab einem höheren Alter existenzsichernde Funktionen haben: Ein 41-jähriger Pilot der Bundeswehr z. B. erhält bei eingeschränkter Leistungsfähigkeit eine entsprechende Pension; Lehrerinnen und Lehrer wiederum mit gesundheitlichen Einschränkungen werden heutzutage überwiegend vor Erreichen der offiziellen Altersgrenze pensioniert. Beiden genannten Berufsgruppen ist gemein, dass sie nach entsprechenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit der Pension nicht nur ihre Existenz sichern können, sondern dass sie ganz selbstverständlich bis zum Ausscheiden Gehaltssteigerungen nach dem BAT erwarten konnten. Leistungsorientierte Kriteri en wurden nicht berücksichtigt. 7.5 Weiterentwicklung der Verbände Im Thesenpapier zur Modernisierung wird unter der Ziffer 9 erneut eine Darstellung möglicher Entwicklungspositionen für die Verbände der freien Wohlfahrtspflege dargestellt. Diese Diskussion ist schon sehr alt und wurde vor weit über einem Jahrzehnt bereits vom Finanzwissenschaftlichen Institut der Universität Köln (Prof. Hansmeier) und vom Miegel-Institut geführt. Meiner Meinung nach sind die Fragen zu diesen Entwicklungspositionen aber bereits beantwortet: Natürlich ist es so, dass sich die Diakonie zunehmend am Markt orientiert. Meine Aussagen zur Wettbewerbsfähigkeit und die Statistik der Dienste und Einrichtungen machen deutlich, dass hier Wettbewerb nicht nur existiert, sondern dass die Dienste und Einrichtungen diesen Wettbewerb auch bestehen. Dies heißt indes nicht, dass die Diakonie nicht auch eine eigenständige Rolle zwischen Markt und Staat in Bezug auf Stärkung des Wertebezugs, Sachzieldominanz und Einbindung von bürgerschaftlichem Engagement in ihrer Arbeit inne hat. Hier denke ich insbesondere nur an die Ergebnisse unserer Tagung „Soziale Stadt“. Es wird deutlich, dass Quartiersmanagement und Sozialraumorientierung eine Wachstumsbranche ist, bei der die Diakonie gerade diesen (Frei-)Raum zwischen Staat und Markt ausfüllt. Und letztlich: Natürlich sieht sich die Diakonie nicht als Juniorpartner des Sozialstaates. Dennoch ergeben sich natürlich immer auch gute und notwendige Kooperationen vor Ort, wenn es darum geht, gemeinsam bestimmte soziale Entwicklungen voranzutreiben oder durch Projekte an Problemlösungen zu arbeiten. Prof. Wohlfahrt hatte vor einiger Zeit bei unserer Rolandseck-Tagung selber darauf hingewiesen, dass hier die Verbände natürlich auf die Finanzierungsstrukturen öffentlicher Träger bzw. Kommunen angewiesen sind. Hier erweist sich allerdings eine enge Kooperation mit Kommunen oft als schwierig, weil in der Tat auch staatliche Strukturen sei es hinsichtlich Gestaltung sowie Finanzierung sozialer Arbeit berücksichtigt werden müssen. Diese Strukturen erweisen sich häufig als nicht flexibel und praxistauglich. Bürokratisch inflexib- 48 Beiträge aus der Forschung le staatliche Arbeitsabläufe und Regelungen werden auf den Kooperationspartner im Sozialbereich übertragen. 7.6 Modernisierung Die These einer nur halben Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege und zwar vornehmlich bei ökonomischen Funktionen der Träger muss uns einerseits zufrieden, aber auch nachdenklich stimmen: Wir sind mit der Bewertung einerseits einverstanden, weil deutlich wurde, dass wir bei der wirtschaftlichen Betriebsführung und wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit unsere Hausaufgaben gemacht haben. Prognos würde heute in einem Gutachten die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Verbände nicht mehr so in Zweifel ziehen. Dennoch hatte das damalige Gutachten natürlich wichtige Impulse für die darauffolgenden Veränderungsprozesse gesetzt. Aber natürlich darf die im Thesenpapier thematisierte „aktuell beobachtbare betriebswirtschaftliche Modernisierung (Mittelmodernisierung) kein Selbstzweck bleiben.“ Natürlich muss die Freie Wohlfahrtspflege an ihren bisherigen gesellschaftlichen Funktionen festhalten. Richtig ist dabei auch, dass die Freie Wohlfahrtspflege gesellschaftliche Zieldiskussionen nicht allein Staat und Verwaltung überlassen kann. Hier muss sich Freie Wohlfahrtspflege immer wieder neu an Zieldiskussionen beteiligen und auch immer wieder ihre gesellschaftliche Rolle sowie ihre Funktionalität überprüfen und ggf. verändern. Selbstverständlich sind die Verbände etwas mehr als hier formuliert davon überzeugt, dass sie sich immer wieder in die aktuelle gesellschaftliche Zieldiskussion einbringen, wie z. B. bei den Armuts- und Ausgrenzungsfragen (z. B. bei der Forderung einer Kindergrundsicherung). Die sehr gute Beschreibung auch der gesellschaftlichen Rolle der Wohlfahrtsverbände durch den Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU lässt aber vielleicht erkennen, dass sie europäisch anders wahrgenommen werden als in Deutschland. 8. Schlussbetrachtung Veranstaltungen und Projekte wie hier der Hans-Böckler-Stiftung sind wichtig und notwendig. Der Böckler-Stiftung sei für dieses Projekt gedankt. Den Verbänden einen Spiegel hinzuhalten und auf zu erwartende Entwicklungen hinzuweisen, ist wichtig, allein schon um möglichen bedenklichen Tendenzen vorzubeugen. Hier hatten auch die Prognos-Studien der Vergangenheit – trotz ihrer immanenten Verbändekritik – eine wichtige Funktion. Heute ist die Situation der Verbände – im Gegensatz zu früher – aber weitaus komplizierter; und hier stehen wir nicht allein. So wird ganz offensichtlich, in welch schwierigen Rahmenbedingungen sich die gesamte soziale Arbeit in Deutschland befindet. Verbände der Wohlfahrtspflege, private Anbieter sowie auch Kommunen mit ihren Beiträge aus der Forschung 49 sozialen Angeboten sitzen in einem gemeinsamen Boot; und die See wird immer rauher. Literatur Bundesrahmenhandbuch Diakonie-Siegel Pflege, 2003 Diakonie und Qualität, Grundsätze, Methoden, Erfahrungen, Diakonie-Jahrbuch 2001 Diakonisches Werk der EKD: Strategisches Management als Spitzenverbandsaufgabe Die Freie Wohlfahrtspflege – Profil und Leistungen, Herausgeber, 2002: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Lambertus, 2002 Menninger, Oswald, Hans-Jürgen Wanke, 2003: Strategie 2003, Sozialstaat im Wandel, Sozialwirtschaft aktuell, 1 – 2/2003 Ottnad, Adrian, Stefanie Wahl, Meinhard Miegel, 2000: Zwischen Markt und Mildtätigkeit, die Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege für Gesellschaft, Wirtschaft und Beschäftigung, eine Studie des IWG Bonn, Olzog Soziale Dienste als Chance, Dienste am Menschen aufbauen, Menschen aktivieren, Menschen Arbeit geben, EKD-Texte 75, eine Studie der Kammer der EKD für soziale Ordnung, 2002 Wendt, Wolf Rainer, 2003: Wohlfahrtspflege sozialwirtschaftlich buchstabieren lernen, Sozialwirtschaft aktuell 3/2003 50 Beiträge aus der Forschung Strategisches Management Strategisches Management als kontinuierlicher Prozess Review Formulierung strategischer Ziele Ziele Formulierung von Handlungsoptionen Optionen Entwicklung von Instrumenten Instrumente Umsetzung Praxisumsetzung Evaluation Evaluation 0 1 2 3 4 5 Jahre Zeitschiene Jahre Uwe Schwarzer / Abteilung Strategisches Management und Projektkoordination Diakonisches Werk der EKD: Strategisches Management als Spitzenverbandsaufgabe Strategisches Management Ziele Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Qualitätswettbewerb Nachhaltigkeit Qualitätsoffensive/ höhere Dienstleistungsqualität Optionen optimales PreisLeistungs-Verhältnis Qualitätsrahmenhandbücher auf Bundesebene (Pflege-QM-Handbuch 1999) Instrumente Praxisumsetzung als Vorgabedokument Statistische Erhebung der Umsetzung in die Praxis Standarteinführung in Pflegepraxis + Zertifizierung Evaluation 0 Review Strategisches Management als kontinuierlicher Prozess Evaluation u. a.: Auswertung der statistischen Erhebung , Befragung von Diensten u. Einrichtungen durch externe Zertifizierungsunternehmen 1 2 3 4 Zeitschiene Überarbeitetes Pflegequalitätshandbuch (2/2003) 5 Jahre Uwe Schwarzer / Abteilung Strategisches Management und Projektkoordination Beiträge aus der Forschung 51 Wolfgang Schuth, AWO Landesverband Sachsen-Anhalt Entwicklungstrends in der Wohlfahrtspflege in Ostdeutschland Die zunehmende Ökonomisierung der Sozialarbeit ist in den Unterlagen zum Projekt beschrieben als Ausgangspunkt zukünftiger Veränderungsnotwendigkeiten und -strategien für die Freie Wohlfahrtspflege.Der wachsende Wettbewerbsdruck und die Konkurrenz mit gewerblichen, kommunalen und staatlichen Anbietern im Allgemeinen ist dargestellt, wenn er auch für unterschiedliche Geschäftsfelder der sozialen Arbeit unterschiedlich gewertet werden muss. Die Situation auf dem Pflegemarkt wird kaum gleich zu setzen sein mit dem Kindererziehungsmarkt oder dem Suppenküchenmarkt, dem Erziehungsberatungs- oder Suchtberatungsmarkt. Die Wohlfahrtspflege Ost wie West ist von den Veränderungsphänomenen gleichermaßen betroffen. Die Veränderungen stoßen nur auf unterschiedliche Vorerfahrungen, Vorbedingungen für einzelne Geschäftsfelder und andere gesellschaftliche Entwicklungen. Der Aufschwung und die eigene stabile wirtschaftliche Basis fehlt In den alten Ländern konnten sich die Verbände nach dem Krieg 40, vielleicht 50 Jahre in einer Zeit des gesellschaftlichen Wiederaufbaus und des wirtschaftlichen Aufschwungs langsam entwickeln. Dagegen ist die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation in den neuen Ländern grundverschieden gewesen und sie ist es zum Teil noch heute. Wirtschaftlich hat es nicht die Stunde Null gegeben, von der aus es nur eine positive Entwicklung geben konnte. Bei der Währungsreform 1948 ist die Reichsmark dramatisch abgewertet worden. Die D-Mark war bis in die 70er Jahre unterbewertet, was die Exporte gefördert hat. In den neuen Ländern ging es andersherum. Die Währung und die Löhne sind eins zu eins umgestellt worden und in der Folge kräftig gestiegen. Die Wirtschaftswissenschaftler sprechen von eine 400 %igen Anhebung der realen Arbeitskosten. Die früheren DDR-Firmen hatten damit nicht den Hauch einer Chance. Demographie Die enormen demographischen Veränderungen in den neuen Ländern nach der Wende und die daraus resultierenden absehbaren Veränderungen für die Rekrutierung von Arbeitskräften tangieren den Gegenstand der Untersuchung direkt. Mit der Wende hat sich die Geburtenzahl halbiert. In Sachsen-Anhalt von ca. 36.000 (1989) auf 52 1990 31.387 1991 19.459 Beiträge aus der Forschung 1992 16.284 1993 14.610 1994 14.280 1995 14.568 1996 16.152 1997 17.194 1998 17.513 1999 18.176 2000 18.723 2001 18.073 Während also derzeit bei hoher Arbeitslosigkeit noch starke Geburtenjahrgänge auf den Lehrstellen- und Ausbildungsmarkt drängen, wird die Situation mit den Jahren 2008 folgende ein gänzlich anderes Bild zeigen. War der Bevölkerungsbaum in Sachsen-Anhalt 1990 aus Sicht des Westens erstrebenswert, werden wir binnen 20 Jahren nach der Wende – also zum Jahr 2010 – die positive Bilanz völlig in eine negative umgekehrt haben und all die Vergreisungstendenzen aufweisen, die für den Westen der Republik erst für 2040 vorhergesehen werden. Dies ist dem Geburtenrückgang und der Abwanderung vorwiegend junger Familien geschuldet. Das wird, so ist leicht zu erkennen, sowohl Auswirkungen auf die Entwicklung einzelner Geschäftsfelder wie auf die Rekrutierung des Personals haben müssen. Finanzschwache Kommunen und Länder Die Finanzschwäche der Kommunen und Länder ist eklatant mit Folgen für die Verlässlichkeit der Kommunen und des Landes hinsichtlich der Gewährleistung der Finanzierung sozialer Aufgaben verbunden. Will das Land den Trägern doch derzeit klarmachen, dass es weniger Geld gebe, dafür aber mehr Freiheit in der Verwendung. Wir müssen erkennen, dass wir in einzelnen Bereichen die Stellen kaum so schnell abbauen können, wie die öffentlichen Hände die Refinanzierung entziehen. Die dann verbleibenden niedrigeren Standards werden in einzelnen Fällen mittelfristig zur Schließung von Angeboten führen. Die Kommunalisierung bisher vom Land wahrgenommener Aufgaben wird die von Finanzschwäche gezeichneten Kommunen möglicherweise wegen der damit verbundenen Finanzzuweisung freuen. Allerdings ist kaum eine freiwillige Leistung zu sichern oder die erhoffte Verzahnung von ambulanten und stationären Angeboten, wie dies in der Behindertenhilfe wünschenswert wäre, zu erwarten. Beiträge aus der Forschung 53 Einrichtungsübernahme Viele Einrichtungen sind in den letzten 12 Jahren aus staatlicher oder kommunaler Trägerschaft auf die Freien Träger oder gewerbliche Träger übertragen worden. Ausgehend z. B. von einer flächendeckenden Versorgung mit Kindertageseinrichtungen ist mit den neuen Trägern in den letzten Jahren die Bedarfsanpassung nach unten betrieben worden. Die Halbierung der Geburtenzahl hat sich sofort ausgewirkt. Mit der Folge, dass sich überwiegend die älteren Kolleginnen in den Einrichtungen gehalten haben und kaum Neuentwicklung stattfindet. Entwicklung Tageseinrichtungen für Kinder Sachsen-Anhalt Jahr Anzahl d. aufgenomme- davon unter Einrichtungen ne Kinder 1 Jahr Anzahl d. Erzieherinnen 1993 2.419 128.567 885 19.464 1994 2.171 111.630 775 17.293 1995 1.961 97.521 958 14.922 1996 1.775 82.438 900 12.411 1997 1.609 72.914 - 11.376 1998 1.692 85.401 1.050 11.907 1999 1.653 86.840 1.349 10.627 2000 1.623 86.919 1.296 10.507 2001 2.044 104.995 1.319 11.856 Die Trägerlandschaft hat sich dabei am 31.01.2003 wie folgt dargestellt: Kommunale Träger 72.493 69,32 % AWO 4.048 3,87 % Caritas 1.672 1,60 % DRK 2.012 1,92 % Diakonie 3.776 3,61 % DPWV 6.115 5,85 % 14.467 13,83 % Sonstige Zur Strukturanpassung kam es ferner auf Grund der Finanzknappheit und des vermeintlichen Benchmarkings des Landes SachsenAnhalt mit anderen Bundesländern, insbesondere mit Sachsen. Die 54 Beiträge aus der Forschung Standardanpassung nach unten kam zunächst 1999 und nun haben wir mit dem Kinderförderungsgesetz die nächste Senkung der Personalstandards und der Betreuungszeiten, was nur bedeutet, wieder Personal abbauen zu müssen. Im Geschäftsfeld mit sinkenden Anteilen muss die Kunst vollbracht werden, bei Personalabbau doch eine gute Altersmischung der Teams zu bekommen. Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe mussten die Großeinrichtungen der DDR in Klein- und Kleinsteinrichtungen umgebaut werden. Altenhilfe Der Bereich der Altenhilfe ist graphisch im Vergleich zwischen NRW und Sachsen-Anhalt dargestellt (Schaubild s. Anlage). Die Verteilung der Einrichtung stellt sich in der Pflegestatistik 2001 ähnlich dar und ist vergleichbar mit den Bundeszahlen des KDA für 1999. Danach waren die Heimplätze zu 8% in öffentlicher Trägerschaft, 57% in frei-gemeinnütziger und 35% in privat-gewerblicher Trägerschaft. In der Entwicklung ist insbesondere eklatant, wie die gemeinnützigen Träger das Feld der ambulanten Pflege zu verlieren scheinen. Vor 10 Jahren war der Marktanteil hier in Sachsen-Anhalt nahe an 100%. Verbände der Hauptamtlichkeit Es ist die Freie Wohlfahrtspflege eher in einer Situation gegründet worden, in der freiwilliges Engagement – oder genauer die Mitgliedschaft in einer Organisation – verpönt war. Das erinnert doch alles an die DDR, wo auch jeder in allen möglichen Organisationen mitmachen musste. Die Arbeitsteilung, wie sie als korporatistisches Aushandlungssystem zwischen öffentlichen Verwaltungen und der freien Wohlfahrtspflege beschrieben wird, war nicht bekannt. Die bis heute anhaltende Verschlankung des Staates erfolgt durch Ausgliederung der Betriebe – Trägerwechsel ist angesagt. Es entstanden hauptamtliche Verbände, die schneller Mitarbeiter als Mitglieder gewannen. Die Freie Wohlfahrtspflege ist Träger von Einrichtungen geworden, derer sich der Staat entledigen wollte, ohne dass die Verbände häufig die Ressourcen hatten, die übernommene Last zu tragen, gleichwohl aber in die Verantwortung genommen wurden. Uckermünde-Effekt: Hier hatte die Diakonie eine ziemlich abgewirtschaftete Behinderteneinrichtung übernommen, mit dem Effekt, wenige Wochen nach den Übernahme für die katastrophalen Verhältnisse verantwortlich gemacht zu werden. Beiträge aus der Forschung 55 Der Gesetzgeber hat seit der Wende das Seine getan – wie in den Papieren dargestellt –, die Beziehungen zwischen Staat und Kommunen auf der einen Seite und den Verbänden auf der anderen Seite, zwischen Leistungsanbietern und Anbietern sozialer Dienstleistung, Kostenträger und Leistungserbringer zu ändern. Kein Wunder, dass die Ökonomisierung der Verhältnisse auch das Verhalten ändert. Während allerdings das Wirtschaftswunder von der Zunahme der zu verteilenden Güter lebte, kam die Wende schon in die Zeit des Um- und /oder Abbaus der Leistungen und Güter, die zu verteilen waren. Allein die kurze Euphorie der Wende kann über vieles, aber nicht über den Tatbestand der Arbeitslosigkeit hinwegtäuschen. Was haben die Verbände zu tun? Vor dem Hintergrund der skizzierten Situation müssen sich die Verbände in ihrer Rolle als Idealverein und als Unternehmen entwickeln. Die Stichworte sind: – Idealverein – Leitbildentwicklung – Marketing zur Mitgliederwerbung – Vom Lebenspartner-Mitglied Abschied nehmen und den Lebensabschnittspartner gewinnen – Die Anwaltfunktion entwickeln – Unternehmer / Zweckbetriebe – Vom Verein zur Sparten-GmbH – Von der Kameralistik zur doppelten Buchführung – Vom altruistischen Angebot zur kalkulierten Dienstleistung – Von der Monopolsituation zur Konkurrenz mit den anderen Verbänden, den gewerblichen und kommunalen Trägern – Von der Parteilichkeit zur Qualität der Dienstleistung – Von der Selbstkostendeckung zur Bildung prospektiver Preise – Von der Gleichsetzung mit dem öffentlichen Dienst – vor allem im Hinblick auf die an den Beamtenstaat angelehnte Vergütung - zur Neubestimmung des Produktionsfaktors Arbeit – Von der Gratifikation zur leistungsgerechten Entlohnung – Von gut gemeint zu gut gemacht Die Tarife müssen Entwicklungen und Veränderungen unterzogen werden, damit sie überhaupt akzeptabel werden. Dazu gehören: – die Veränderung der Bewertungs- und Entgeltstufen, – die Abschaffung der Lebensaltersstufenregelung und Honorierung der Betriebszugehörigkeit, 56 Beiträge aus der Forschung – die Abschaffung der Bewährungsaufstiege, – die Veränderung der Zulagen und Zuschläge für Erschwernisse und Einführung der leistungsbezogenen Vergütung, – die Abschaffung der Orts- und Sozialzuschläge mit dem Ziel, gleiche Arbeit auch gleich zu vergüten, – die Arbeitszeitregelungen zu modernisieren, hin zu Arbeitszeitkonten und Jahresarbeitszeitregelungen. Wir werden nicht nur über Qualitätssicherung die Arbeit sichern. Wir müssen auch den Produktionsfaktor Arbeit verbessern. In der Pflege z. B. werden wir nicht nur am Siegel des TÜV für unsere Erfüllung der ISO-Norm bestehen, sondern auch dadurch, dass wir die gegebene Pflege für die zu pflegenden Personen optimal organisieren. Wir können schon lange nicht mehr alle Pflegebedarfe erfüllen – die Kritik ist in der Diskussion um die Verbesserung der Pflegeversicherung anzubringen. Allerdings brauchen wir zwischen 126 und 130 bezahlter Stunden, um 100 Stunden Pflege an der Person geben zu können. Ist das gut? Ist das schlecht? In einem Vergleich mit Kolleginnen in der Schweiz und Kanada mussten wir feststellen, dass die dieselbe Leistung mit 114 Std. bewerkstelligen. Mehr Pflege an der Person ist weniger Stress und eine höhere Qualität der Dienstleistung. Beiträge aus der Forschung 57 Trägerschaft der ambulanten Pflegedienste in Sachsen Anhalt und in Nordrhein-Westfalen 0,7 63,50% 0,6 privat S-A 53,10% freigemeinnützig S-A 0,5 46,10% öffentlich S-A privat NRW 0,4 35,10% freigemeinnützig NRW öffentlich NRW 0,3 0,2 0,1 1,4% 0,80% 0,0 privat S-A freigemeinnützig S-A öffentlich S-A privat NRW freigemeinnützig NRW öffentlich NRW Trägerschaft der Altenpflegeheime in Sachsen Anhalt und in Nordrhein Westfalen 0,7 66,40% 58,9% 0,6 privat S-A 0,5 freigemeinnützig S-A öffentlich S-A 0,4 34,6% privat NRW 27,90% 0,3 freigemeinnützig NRW öffentlich NRW 0,2 0,1 6,5% 6,5% Quelle: Pflegestatistik 2001 58 Beiträge aus der Forschung N R W öf fe nt lic h N R W fr ei ge m ei nn üt zi g NR W pr iv at Slic nt fe öf fr ei ge m ei nn üt zi pr iv at g h S- SA A A 0,0 Rainer Brückers, AWO Bundesverband Haben wir das „richtige“ Personal? Probleme und neue Wege der Personalrekrutierung, Personaleinsatzstrategien, Personalentwicklungsinstrumente Zum ersten Teil des Themas: Haben wir das „richtige“ Personal? Die Frage, ob wir das richtige Personal in der Freien Wohlfahrtspflege haben, impliziert den Umkehrschluss, dass momentan das vermeintlich oder tatsächlich falsche Personal die Geschicke der Sozialwirtschaft lenkt. Diese auf lediglich zweierlei Kategorien basierende Denkweise reicht – wie wir wissen – sowohl im Generellen als auch im Speziellen nicht aus, komplizierte Zusammenhänge zu erklären, geschweige denn zu regeln. Ebensowenig reicht die polarisierende Vereinfachung aus, die Wechselseitigkeit zwischen veränderten politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen, Strukturwandel in der Sozialwirtschaft und fachpersonellen Anforderungsnotwendigkeiten solide und gründlich zu analysieren. Die eigentliche Frage müsste deshalb lauten: Wie gelingt eine auf allen Ebenen professionelle Anpassungsfähigkeit des Personals an zukunftsorientierte Träger- und Vereinsinteressen, um den unternehmerischen und sozialen Auftrag der Wohlfahrtspflege zu garantieren? Diese Frage muss in erster Linie, wenn nicht gar ausschließlich, das Führungsmanagement der Wohlfahrtspflege beantworten. Das setzt Gestaltungswillen und Engagement voraus, aber auch in mancherlei Hinsicht ein Umdenken und Dazulernen in Hinblick auf Führungsverhalten, Führungsqualität und Führungskompetenz. Grundständige Ausbildungen und Studiengänge wie z.B. Sozialarbeit, Verwaltungslehre und Betriebswirtschaft allein reichen bei weitem nicht mehr aus, dem Katalog von neuen Aufgaben und Anforderungen in der Sozialwirtschaft gerecht werden zu können. Dieser Sachverhalt ist nicht neu, bekommt jedoch durch immer notwendiger werdende Steuerungs- und Kontrollverfahren in Organisationen und Unternehmen der Wohlfahrtspflege eine andere Dimension. Zudem muss man konstatieren, dass sich das quantitative Wachstum in der AWO – und dies vermute ich in anderen Wohlfahrtsverbänden ebenso – vollzog, ohne dass zeitgleich eine adäquate Anpassung der organisatorischen Strukturen und der Führungskonzepte an die qualitativ veränderten Anforderungen erfolgte. Die Wohlfahrtsverbände sind komplexe Organisationstypen mit einem multidimensionalen Anforderungsprofil an das (Führungs)Personal. Die Verbändeforschung spricht von intermediären Organisationen, die zwischen „Markt“, „Staat“ und „Bürgern“ agieren (Backhaus/Olk 1996). Beiträge aus der Forschung 59 ¾ So erbringt die AWO soziale Dienstleistungen für Kinder und Jugendliche, Familie und alte Menschen, Behinderte, Migranten, Menschen in sozialen Schwierigkeiten. ¾ Die AWO ist gleichzeitig eine politische Organisation. Sie bezieht Stellung zu sozialpolitischen Entscheidungen und Entwicklungen und übernimmt somit eine sozialanwaltschaftliche Interessensvertretung. ¾ Als Organisation mit einer sozialen und demokratischen Werteorientierung tritt die AWO für soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Chancengleichheit und Partizipation ein. Sie verfolgt hiermit so genannte normative Zielsetzungen nach innen und außen. ¾ Schließlich ist die AWO eine Agentur des Ehrenamts und der Freiwilligen Sozialen Arbeit, in dem sie in ihren Einrichtungen, Diensten und Vereinsstrukturen interessierten Bürgern die Gelegenheit bietet, sich freiwillig und gemeinwohlorientiert zu engagieren. Mit dieser Organisationsform gehen Funktionen einher, die das Führungspersonal verinnerlicht haben sollte. Diese Funktionen können im einzelnen so beschrieben werden: Führungskräfte als Imageträger Das Ansehen sozialer Arbeit und die Unverwechselbarkeit Sozialer Diensteistungen der AWO werden maßgeblich dadurch geprägt, wie es Führungskräften gelingt, die normative Wertorientierung und die ökonomisch-operativen Effizienz- und Effektivitätsziele des Verbandes in der Öffentlichkeit gleichwertig zu transportieren. Führungskräfte als Qualitätsverantwortliche Führungskräfte sind treibende und verändernde Kräfte von Qualität. Für sie gilt, jene Faktoren heraus zu arbeiten, die das Spezifische einer AWO-Dienstleistung ausmachen und sie in das Erfordernis eines Nachweises zu bringen, wenn diese Dienstleistung in mit der AWO-Organisation – vor allem mit ihrem Namen und Logo – geleistet wird (Brückers 2001). Führungskräfte als Personalverantwortliche Die Rolle der Führungskräfte sollte sich darauf konzentrieren, passende Mitarbeiter/- innen für das jeweilige Systemgefüge auszuwählen, zu fordern, zu bestärken, zu fördern und zu (ver)binden. Wie engagiert und qualifiziert Mitarbeiter/- innen ihre Arbeitskraft einsetzen können, hängt maßgeblich von ihrer Leitung ab. All diese Funktionen sind inzwischen dem Wettbewerb und der Konkurrenz ausgesetzt. Anders ausgedrückt: Die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit haben sich durch die Einführung von Marktmechanismen verändert, weshalb Anschlussfähigkeit zu wichtigen Funktionssystemen der Gesellschaft hergestellt werden muss. 60 Beiträge aus der Forschung Funktionssystem Soziale Arbeit Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es, Hilfe für Menschen in Not sicherzustellen. Es geht darum, Menschen in die Gesellschaft zu integrieren oder zu reintegrieren, wobei die Soziale Arbeit davon abhängig ist, dass öffentliche Kostenträger die notwendigen Ressourcen für die Leistungserbringung zur Verfügung stellen. Funktionssystem Verwaltung Eine Führungsperson der Sozialen Arbeit muss die rechtlichen Rahmenbedingungen kennen und mit ihnen konstruktiv arbeiten, um von den öffentlichen Trägern Gelder für die eigene Einrichtung erhalten zu können. Sie muss sich also mit Gesetzen, Erlassen und Verordnungen auseinandersetzen. Funktionssystem Politik Wenn Führungskräfte für die Soziale Arbeit Ressourcenflüsse sicherstellen wollen, müssen sie politisch agieren und Kontakte zur jeweiligen demokratisch gewählten politischen Macht herstellen. Dies kann im Rahmen von Parteiarbeit oder im Bereich von Lobbys, Verbänden und informellen Netzen erfolgen. Politische Aktionen, Demonstrationen, öffentliche Rede oder gute Kontakte zu Medien können sich positiv auf Ressourcenflüsse auswirken. Funktionssystem Wirtschaft Soziale Einrichtungen und Dienste, die durch Sponsoring oder Public Private Partnership mithelfen, die Effektivität und Effizienz oder die Marktstellung von erwerbswirtschaftlichen Unternehmen zu verbessern, können aus dem Funktionssystem der Wirtschaft Ressourcen bekommen. Wirtschaftliche Regeln gelten zunehmend auch im Innenverhältnis sozialer Einrichtungen und Dienste. Es geht darum, kostengünstig zu arbeiten und Gewinne zu erzielen (Kolhoff, 2002). Durch die neuen Anforderungen, die sich an Führungskräfte der Sozialen Arbeit stellen, wenn sie mit den oben angeführten Funktionssystemen im Außenverhältnis konstruktiv agieren, ergibt sich im Innenverhältnis der Organisationen selbst eine neue Form des Managements. Es umfasst die Führung der Organisation und des Personals. Zur Führung der Organisation gehört die Gestaltung der Aufbau- und Ablauforganisation und die Fähigkeit, Prozesse zu steuern, d. h. prozessorientiert und zielorientiert zu agieren und Organisationen permanent neu zu organisieren. Die Führung des Personals ist in erster Linie ein Kommunikationsprozess, aus dem Verhaltensänderungen und neue Handlungsstrukturen folgen. Beiträge aus der Forschung 61 Zum zweiten Teil des Themas: Personalrekrutierung, Personaleinsatzstrategien, Personalentwicklungsinstrumente 1. Grundüberlegungen zur wirkungsvollen Personalentwicklung in der Sozialwirtschaft „Unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind unser wichtigster Erfolgsfaktor“, so oder so ähnlich heißt es in vielen Leitsätzen der Sozialwirtschaft (in der gewerblichen Wirtschaft im übrigen auch). Aber wie sieht die Praxis aus? Viele Organisationen, Unternehmen und soziale Dienstleistungen stehen unter einem enormen Veränderungsdruck: Umstrukturierungen, ausufernde Kosten, neue gesetzliche Regelungen, schwer zu besetzende Funktionen, internationale Ausrichtung und ähnliches führt zu einem Getriebensein, das oft wenig Zeit für systematische Personalentwicklung lässt. Der Kosten- und Ergebnisdruck für alle, die sich um PE kümmern, ist immens. Allein die Bewältigung des Organisationsalltages stellt immer höhere Anforderungen an die Führungskräfte ebenso wie an Mitarbeiter/-innen auf fachlichem, methodischem und persönlichemTerrain. Trotz alledem oder gerade deswegen kann eine wirkungsvolle und umsetzungsorientierte PE erfolgsentscheidend sein. Für alle, die Personalverantwortung haben und Personalentwicklung gestalten, ist maßgebend, dass sie in der Lage sind, die Organisation und die in ihr tätigen Menschen bei der Zielerreichung und Aufgabenbewältigung zu unterstützen. Dies erfordert die Kenntnisse zeitgemäßer Instrumente und Methoden, aber auch die Fähigkeit, sich eine eigene Haltung zur Entwicklung von Mensch und Organisation zu erarbeiten. PE ist immer träger- und organisationsgebunden. Deshalb kann es kein unabhängiges Vorgehen geben. Bezogen auf die Wohlfahrtsverbände haben sich PE-Konzepte grundsätzlich an dem Leitbild, den Grundsätzen des Verbandes und der Unternehmensphilosophie zu orientieren. Im operativen Bereich der PE ist zu berücksichtigen, dass die vielseitigen Ziele der komplexen Systeme sozialwirtschaftlicher Unternehmen und Organisationen durch Mitarbeiter/-innen als bloße Funktionsträger (Aufgabenerfüllung) nicht mehr zu erreichen sind. Vielmehr sind die MA gefordert, ihre innovativen und kreativen Kräfte zu mobilisieren, um verantwortlich Ziele zu erreichen. Das Motto muss lauten: Gestalten statt verwalten. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die Aufmerksamkeit kurz auf den Berufsbildungsbericht 2001 des BMBF zu lenken, in dem Folgendes nachzulesen ist: "Für die Entwicklung innovativer, geeigneter Lösungen muss – über die unabdingbare Fachkompetenz hinaus – ein gewisses Maß an Veränderungsinteresse und der Glaube an Gestaltungsmöglichkeiten vorausgesetzt werden (Selbst- 62 Beiträge aus der Forschung kompetenz). Diese können allerdings nur vorhanden sein, wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Maßnahmen planen und Lösungen in Unternehmen umsetzen. Die Konsequenzen für die Personal- und Organisationsentwicklung sind erheblich. Selbstregulation und Eigeninitiative müssen entfaltet und genutzt, die Kompetenzentwicklung in den Innovationsprozess selbst verlagert werden. Das setzt Freiräume und Möglichkeiten zum Ausprobieren im konkreten Verwertungszusammenhang voraus. Nicht die Summe kompetenter Fach- und Führungskräfte allein macht Handlungserfolge aus, sondern diese hängen darüber hinaus von der Einbindung in Informations- und Materialflüsse, von der Arbeitsorganisation sowie von der technischen Ausstattung ab. Diese organisatorische Kopplung wirkt gleichzeitig auf die eigene Kompetenzentwicklung zurück". 2. Welche Konzepte lassen sich in der Personalentwicklung unterscheiden? Angebotsorientierte Konzepte Prioritätensetzung: Der Schwerpunkt der angebotsorientierten Konzepte der PE liegt in der Entwicklung und Erstellung von Ausund Fortbildungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter eines Betriebes. Sie werden ergänzt durch die Entwicklung, die Konzipierung und Betreuung von Mitarbeiterbeurteilungssystemen. Bedarfs- bzw. anpassungsorientierte Konzepte Prioritätensetzung: Diese Konzepte sind mit einer stärkeren Individualisierung von Qualifizierungsprozessen verbunden. Im Zentrum steht hier der Mitarbeiter in seinen jetzigen und zukünftigen Aufgabenfeldern. Bedarfsorientierte Konzepte der PE übernehmen wesentliche Anforderungen einer strategischen Ausrichtung. Insbesondere über detaillierte Bedarfsanalysen wird sichergestellt, dass Unternehmens- bzw. Geschäftsbereichsziele Grundlage für Personalauswahl- und Qualifizierungsprozesse werden. Strategische und leitbildorientierte Konzepte Prioritätensetzung: PE wird in ihrer Verbindung zur „strategischen Marschrichtung“ eines Unternehmens, d. h. zu den Unternehmenszielen gesehen und zu einem Instrument der Strategieumsetzung. Leitfragen in diesem Zusammenhang sind: Welche Ziele verfolgt das Unternehmen? Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die PE? PE und Weiterbildung werden zu einer „Strategie- und Synergieschmiede“. Bei der Auswahl der jeweiligen Konzepte kommt es auf eine bedarfsgerechte und passgenaue Anwendung an. Es kann also durchaus sinnvoll sein, eine Mischung von allen Konzepten vorzunehmen oder der Zeit und den Rahmenbedingungen entsprechend Beiträge aus der Forschung 63 das eine oder das andere präferieren. Anders ausgedrückt: Aus strategischen Gründen ist die aktive PE eine gezielte Zukunftsinvestition. Aktive PE ist jedoch auch ein wichtiger Beitrag zur Qualifizierung der Sozialwirtschaft – und das sollte man nicht gering schätzen. 3. Ziele der Personalentwicklung Erstens: Die Leistungsfähigkeit sozialwirtschaftlicher Unternehmen steigern, indem der Wirkungsgrad vorhandener Ressourcen erhöht wird. Zweitens: Systematische Führungskonzeption, qualifizierte Führungskräfte, selbstverantwortlich handelnde Mitarbeiter, geeignete Organisationsstrukturen. 4. Instrumente der Personalentwicklung (Quantitative und qualitative Personalarbeit) Im Nachfolgenden findet eine Auflistung der gängigsten Instrumente der PE statt, zum größten Teil versehen mit Kommentaren und Erfahrungen aus der praktischen Umsetzung im AWO-Bundesverband. Personalbestandsaufnahme Anzahl der Mitarbeiter, Größe und Zusammensetzung der Abteilungen, Funktion- und Branchenprofile, Altersstruktur, Fluktuation, Teilzeitarbeit etc. Systematische Bedarfsermittlung Analysen von Kennzahlen, Befragung, Beobachtung etc. Personalplanung Anzahl der notwendigen neuen Mitarbeiter, Freisetzungen, Kündigungen, Umstrukturierung, Personaleinsatzplanung etc. Bemerkung: Es macht Sinn, hierbei die Mitarbeiterschaft und ggf. den Betriebsrat aktiv mit einzubeziehen. Notwendige Veränderungsprozesse, seien sie strukturell-organisatorischer oder personeller Art, lösen bei Mitarbeitern Verunsicherung, mitunter Ängste aus. Diese gilt es ernst zu nehmen und darauf einzugehen. Andererseits muss aber auch deutlich zum Ausdruck gebracht werden, dass Veränderungen von jedem Einzelnen nicht nur reaktives Handeln abverlangt, sondern auch die Mobilisierung von Gestaltungspotentialen. Neben einer gründlichen Analyse und Reflexion geänderter Rahmenbedingungen sollte deshalb auch immer, z. B. im Rahmen von Strategietagungen, so wie wir sie durch- 64 Beiträge aus der Forschung führen, das Herausarbeiten von Handlungsoptionen und Alternativen im Vordergrund stehen. Stellenbeschreibung und Anforderungsprofil Einordnen in die Organisationsstruktur, Aufgaben, Kompetenzen und Fähigkeiten, Bezahlung etc. Bemerkung: Die Stellenbeschreibung sowie die präzise Definition von Funktion und Anforderungsprofil sind das A und O einer nachfolgenden Personalrekrutierung. Diese sind mit den Zielen, den Erwartungen und der Strategie eines Unternehmens oder einer Organisation abzugleichen und überein zu bringen. Darüber hinaus bietet sich an, bereits an dieser Stelle über Anreizsysteme für die jeweilige Funktion nachzudenken. Da die monetären Honorierungen in der Sozialbranche vergleichsweise begrenzt sind, müssen andere Offerten gemacht werden: Attraktivität der Einrichtung, hohes Qualitätsniveau, Weiterbildungsmöglichkeiten, Arbeiten im Team, zum Beispiel. Personalbeschaffung Personalsuche, Stellenbörse, Personalmarketing, Personalrekrutierung Bemerkung: Know-how-Vorsprünge können erzielt werden, indem durch neue Wege des Personalmarketings die Personalsuche und –auswahl optimiert wird. Hierfür sind die Informations- und Kommunikationstechnologien untentbehrlich. Das Internet als Medium ist für die Personalrekrutierung aus vielen Personalabteilungen nicht mehr wegzudenken. Viele Personalmanager schalten Stellenanzeigen mittlerweile nicht nur in den Printmedien, sondern auch im Internet. Hierbei sei insbesondere die elektronische Jobbörse genannt. Personalmarketing bezieht zwei Dimensionen ein: Interner Arbeitsmarkt (eigene Mitarbeiter) und externer Arbeitsmarkt (Arbeitskräfte außerhalb der Branche). Personalmarketing setzt voraus, seine Personalpolitik und entsprechende Maßnahmen sowie seine Struktur aus einer Marketingperspektive zu betrachten und zu bewerten, um seine Stellung auf dem internen und externen Arbeitsmarkt angemessen realistisch einschätzen, aufbauen und verbessern zu können. Personalauswahl Bewerbergespräche, Assessment-Center etc. Bemerkung: Der AWO-Bundesverband führt seit etlichen Jahren sogenannte Bewerbertage durch. Dies sind eintägige Bewerberrunden mit Instrumenten aus der AC-Methode. Mit dieser Praxis wird eine möglichst hohe Objektivität in der Bewerberauswahl erwartet. Zudem wird bei den Beobachter/-innen auf eine geschlechtspezifische Ausgewogenheit sowie eine hierarchieübergreifende Zusammensetzung Wert gelegt. Beiträge aus der Forschung 65 Einführung der Mitarbeiter Inplacement-Veranstaltungen, Mentorensysteme, Coach etc. Bemerkung: Die Einführung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter erhält leider oft zu wenig Aufmerksamkeit. In der AWO-Bundesgeschäftsstelle finden aus diesen Gründen regelmäßige Inplacement-Veranstaltung (Einführung in das Unternehmen) für Neue statt. Darüber hinaus gibt es von der Geschäftsführung einen Leitfaden, wie die neuen Kollegen zu „begleiten“ und einzuführen sind. Regelmäßige Personalbeurteilung und Mitarbeitergespräche Bemerkung: Mitarbeiter-Gespräche, auch Zielgespräch oder Mitarbeiter-Entwicklungsgespräch genannt, ist das Basisinstrument der PE. Die AWO-Bundesgeschäftsstelle hat hierfür einen Leitfaden für MAGespräche entwickelt, der als Grundlage für dieses Instrument gilt. Qualifizierung von Mitarbeiter/-innen Bemerkung: Zum zentralen Kern der PE gehört die Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter, vermittels derer die Qualifikationen und Kompetenzen erhöht bzw. weiterentwickelt werden sollen. Fort- und Weiterbildung können ein weites Spektrum inner- und außerbetrieblicher Maßnahmen umfassen. Auch wenn es auf der Hand liegt, so gilt es dennoch immer wieder zu betonen, dass es zukünftig für alle Unternehmen mehr denn je darauf ankommt, einen fortlaufend hohen Qualifikationsstandard der Mitarbeiter zu sichern, gleichzeitig aber die Kosten der Weiterbildung in einem wirtschaftlich vertretbaren Rahmen zu halten sind. Dies kann durch ein kontinuierliches Bildungscontrolling gewährleistet werden, das u.a. mit Hilfe unterschiedlicher Evaluationsverfahren die Verwertbarkeit und Passgenauigkeit von Fortbildungsveranstaltungen misst und bewertet. Im Übrigen wird Fort- und Weiterbildung allgemein nicht länger als eine „Bringschuld des Unternehmens“ betrachtet, sondern als eine „gemeinsame Aufgabe von Arbeitnehmern und Arbeitgeber“. An dieser Stelle möchte ich noch einmal kurz auf die Ergebnisse des Bildungsberichtes 2001 des BMBF eingehen. So wurde zum Beispiel erforscht, dass spezifisches Fach- und Methodenwissen, fachliche, methodische und soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten zu einem großen Teil erst am Arbeitsplatz erworben werden. Diese Aussage wird auch dadurch gestützt, dass der Anteil informellen Lernens am Arbeitsplatz im Verhältnis zu den zeitlichen Anteilen institutionalisierter Weiterbildung deutlich zunimmt. Es konnte nachgewiesen werden, dass fachliche, methodische, soziale und personale Kompetenzen in unterschiedlichem Ausmaß von der Ausprägung lernförderlicher Merkmale der konkreten Arbeitsaufgabe und der Unternehmenskultur abhängen. Dies gilt es natürlich bei der zukünftigen Planung von beruflicher Fort- und Weiterbildung im Rahmen der PE mit zu berücksichtigen. 66 Beiträge aus der Forschung Bei der Behandlung des PE-Themas kann der Fragekomplex der Lohnsysteme nicht ausgeklammert werden. Generell trifft die Aussage zu, dass Aufstiegsmöglichkeiten und adäquate Entlohnung, die Einrichtungen ihren Mitarbeitern bieten, Anreizfunktionen beinhalten. In der Freien Wohlfahrtspflege hat sich das an den öffentlichen Dienst anlehnende Entlohnungssystem BAT als zunehmend problematisch erwiesen. Die Kriterien für die Lohngestaltung sind daher sorgfältig mit Blick auf die konkrete Situation in Unternehmen, Betrieben und Organisationen sozialer Dienstleistung und mit Blick auf die aktuelle Form der Arbeitsorganisation, die Entwicklungsvorhaben und Unternehmensziele hin zu entwickeln und zu überprüfen. Zusammenfassung „Der einzige initiationsgeschützte Wettbewerbsfaktor ist die Qualität der Mitarbeiter, ihre Fähigkeit zu lernen und sich zu entwickeln sowie ihre Bereitschaft, diese Fähigkeiten für die Ziele des Unternehmens einzusetzen“ (Seidel, 2000). Dieses Zitat macht deutlich worauf es ankommt, wenn vom Erfolgsfaktor „Personalentwicklung“ die Rede ist. Wie diese Erfolgsstory aussehen kann, mag exemplarisch an einem Beispiel verdeutlicht werden: Kundenorientierung, Kundenzufriedenheit und Kundenbindung sind zu Begriffen geworden, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis der Sozialwirtschaft engagiert diskutiert werden. „Die ökonomische Wirkung einer hohen Kundenzufriedenheit mit einer erhöhten Kundenbindung werden dabei seit geraumer Zeit in unterschiedlichen Studien belegt“ (Karges, 2000). Dementsprechend ist ein kundenorientiertes Bewusstsein innerhalb der Sozialwirtschaft (der Freien Wohlfahrtspflege) erforderlich. PE kann durch Einzelmaßnahmen oder durch ein Bündel von strategischen Instrumentarien dazu beitragen, das Personal zu befähigen, entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben oder zu fördern, die dazu motivieren, kundenorientiert zu denken und vor allem zu handeln. PE zielt in diesem Zusammenhang darauf hin, erforderliche Wertemuster und Fähigkeiten, wie z. B. Beratung, Freundlichkeit und Vertrauen bei Mitarbeitern und Führungskräften zu generieren, um hierdurch eine strategische Erfolgsposition zu besetzen. Dieses „Fähigkeitsbündel“ (Karges) weist auf die Bedeutung der PE für den Erfolg der Unternehmensstrategie hin. Ein professionelles Personalmanagement – insbesondere die PE – bietet Chancen, organisatorische, fachliche und strategische Lücken zu schließen. Inwiefern die Chancen genutzt werden, steht auf einem anderen Blatt. Nebenbei:Eine Faustregel, die für unsere Führungsgrundsätze gilt, sei auch übertragbar auf Personalverantwortliche und deren Handhabung von Personalentwicklung: Beiträge aus der Forschung 67 „Achte darauf, ob etwas autoritär gefordert oder durch Vorbildfunktion gefördert wird!“ Um den Bogen zur Ausgangsfrage zu schlagen: Das „richtige“ Personal in der Freien Wohlfahrtspflege zu haben oder zu bekommen hängt maßgeblich vom „richtigen“ Personalmanagement ab. Oder anders herum: Wer falsche Analysen zum Zustand von Betrieben macht, falsche Konsequenzen aus politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zieht, wer falsche oder sträflicherweise gar keine Steuerungsmechanismen zur Effizienz und Effektivität von Unternehmen implementiert, der wird auch das „falsche“ Personal rekrutieren, nämlich eines, das den Glauben erhält, Veränderungen seien vermeidbar. Literatur Arbeiterwohlfahrt, Bundesverband: Unveröffentlichte Arbeitsmaterialien, Bonn 2000 Backhaus-Maul, Holger; Olk, Thomas: Vom Korporatismus zum Pluralismus? In: Lars Claussen (Hg.), Gesellschaften im Umbruch. Frankfurt a.M., 1996 Beck, R./Birkle W.: Personalmanagement als quantitative und qualitative Personalarbeit. FVL-Studienbrief. Berlin 2000 Beck, R./Schwarz G.: Personalmanagement – Tradition und aktuelle Herausforderung. FVL-Studienbrief. Berlin 2000 Beck, Martin: Wie entwickele ich mein Personal. In: Sozialmarkt, Januar 2001, S. 4-5 Brückers, Rainer: Erosion der Verbandsstrukturen durch Ausgliederung Sozialer Betriebe? In: TuP 12/99 Bundesministerium für Bildung und Forschung: Berufsbildungsbericht 2001. Bonn 2001/2002 Karges, R.: Markt- und kundenorientierte Personalentwicklung. In: Handbuch Personalentwicklung. Köln 2000, S. 1-26 Kolhoff L./Kriegel M.: Führungskräfte-Personalentwicklung. In: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit. Bonn 2002, S. 359 ff Kretschmer Harriet: Personalentwicklung. Lehrgang des regio-team, Bildungsmanagement. Hölstein (CH), 2003 Kriegel, Michael: Passgenaue Personalentwicklungskonzepte sind gefragt. Interview in: Praxisbuch SOZIALMANAGEMENT. Bonn/Berlin, 2002 Seidel, Gerhard: Die Rolle der Bildungsträger in der Welt von morgen. In Handbuch Personalentwicklung. Köln 2000, S.1-23 68 Beiträge aus der Forschung Wolfgang Herbertz, ver.di NRW Fachbereich Gemeinden Die Qualität sozialer Dienstleistungen als Problem von Dienstleistern, Politik und Arbeitnehmern – Ein Kommentar Die vorgestellten Zwischenergebnisse des Projektes sowie die darauf bezogenen Diskussionen im Rahmen des workshops haben sich bisher im wesentlichen auf die Seite der Leistungsanbieter konzentriert. Mein Tätigkeitsfeld, die gewerkschaftliche Interessenvertretung im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung, weist zwar nur wenige direkte Verbindungen zu den dargestellten betrieblichen Problemlagen in den verbandlich gebundenen Dienstleistungsorganisationen auf. Dennoch sind diese Informationen für unsere Arbeit von großem Interesse. Mit der Forschungsabsicht des Projekts „Vom Wohlfahrtssektor zur Sozialwirtschaft: Wandel der Arbeitsbedingungen und Qualifikationsanforderungen in sozialen Diensten durch Wettbewerb und Kontraktmanagement“ ist die Frage verknüpft, ob sich im Politikfeld der sozialen Dienstleistungen ein neuer qualitätsorientierter Regierungsstil (siehe Punkt 1) herausbildet und welche Probleme mit diesem Übergang verbunden sein könnten (siehe Punkt 2). Darüber hinaus lassen sich erste Rückschlüsse auf Hindernisse bei der Mobilisierung von Ressourcen für eine qualitätsorientierte Dienstleistungspolitik ziehen (siehe Punkt 3). 1. Ein neuer Regierungsstil oder Entlastungsversuche eines überforderten politischen Systems? Die Thesen des Forschungsteams und die Referate, die die Verbandsvertreter während des workshops präsentierten, zeigen, dass der Wandel im Feld sozialer Dienstleistungen mit einem erheblichen Druck zur Einführung betriebswirtschaftlicher Managementinstrumente verbunden ist. Dieser Druck resultiert aus einem gewandelten Verständnis von wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben (Damkowski 2003, Schmid 2002) bzw. einem neuen Regierungsstil (Hirsch 2001), der auch die kommunale Ebene einbezieht. Schlaglichtartig wird diese Neuorientierung gelegentlich als Übergang von „government“ zur „public governance“ (Schuppert u. a. 2002, Klenk 2003) beschrieben. Damit verbindet sich die Vorstellung eines politischen Managements, das spezifische staatliche, private und gemeinwohlorientierte Ressourcen zur Lösung sozialer Probleme in neuen Governancestrukturen (Klenk 2003, Evers u.a. 2002) zusammenführt. Mit dem Forschungsprojekt verknüpft sich aus gewerkschaftlicher Sicht die Hoffnung, empirische Aufschlüsse über die tatsächliche Leistungsfähigkeit dieses neuen Regierungsstils zu erhalten. Führt die gegenwärtige Entwicklung wirklich zu kreativen politischen Lösungen oder bürdet das politisch-administrative System lediglich politische Probleme zur eigenen Entlastung anderen gesellschaftlichen Akteuren auf? Ich möchte Beiträge aus der Forschung 69 zunächst das Phänomen der Verbetriebswirtschaftlichung von sozialen Dienstleistungen aufgreifen, das die Forscher beschreiben. Dabei interessiert mich die Frage, wie diese Entwicklung zu erklären ist und wie sie die gesellschaftliche Funktion und die Qualität sozialer Dienstleistungen beeinflusst. 2. Dienstleistungen – Soziale Funktion, gesellschaftliche Kosten, Qualitätsverantwortung Ich werde zunächst die gesellschaftliche Funktion sozialer Dienstleistungen beschreiben und anschließend auf das Problem der Kosten und der Qualität eingehen. Die gesellschaftliche Funktion sozialer Dienstleistungen In unserem Nachbarland Frankreich gibt es einen handfesten gesellschaftlichen Skandal. Auslöser sind die Folgen der sommerliche Hitzewelle. Sie kostete über 11000 älteren Staatsbürgern das Leben. Etwa die Hälfte lebte in französischen Altenheimen. Auch in Deutschland hat es so etwas gegeben; so etwa in Darmstadt und Karlsruhe. Dem Anschein nach blieben die Fälle aber regional begrenzt. Ein Aufschrei blieb in unserem Lande aus. Die Situation wurde nicht als Krise empfunden. Noch - so ist zu vernehmen – werde in Deutschland insgesamt mehr Geld für die Krankenpflege ausgegeben, während man in einigen Nachbarländern lebensbedrohliche Gesundheitszustände älterer Menschen oft schon nicht mehr ärztlich und/oder pflegerisch behandeln würde. Vor allem aber sei in Deutschland die Ausbildung besser. Der Fall Frankreich zeigt: Dienstleistungen halten soziale Systeme zusammen. Sie sichern deren Funktionsfähigkeit selbst in Notfällen. Angelehnt an die Behandlung von Gemeinkosten in der Betriebswirtschaft könnte man die Kosten für soziale Dienstleistungen als Kosten der gesellschaftlichen Betriebsbereitschaft behandeln. Das aber führt zu einem Dilemma. Es ist nicht exakt zu bestimmen, welche Produktionskapazitäten vorgehalten werden müssen, um auch in Krisensituationen handlungsfähig zu bleiben. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für komplexe Gesellschaften. Die französische Gesellschaft hat die Kosten für die Betreuung älterer Menschen in einer Ausnahmesituation zu niedrig angesetzt und muss nun die dramatischen Konsequenzen dieser Fehlkalkulation bewältigen. Deutschland war bereit, höhere Dienstleistungskosten gesellschaftlich zu akzeptieren und konnte die Notlage besser meistern. Es ist zu fragen, wie lange das noch zutreffen wird. Die Forscher des Projektes berichten von einer sehr eingeschränkten Modernisierungsperspektive in sozialen Dienstleistungsorganisationen. Sie stellen in ihrer vorläufigen Bilanz fest, dass Modernisierung nur auf der Mittelebene stattfindet (s. den Beitrag von N. Wohlfahrt, These 10). Im Klartext heißt das: Durch den politisch gewollten Wandel vom Wohlfahrtssektor zur Sozialwirtschaft werden die Dienstleistungsorganisationen faktisch zu einer Fixierung auf betriebswirtschaftliche Kostengesichtspunkte 70 Beiträge aus der Forschung gezwungen. Das untergräbt den öffentlichen Charakter sozialer Dienstleistungen als Instrument der Funktionsfähigkeit des sozialen Systems. Das Problem der (gesellschaftlichen) Kosten Wie oben bereits angedeutet, ist aus meiner Sicht mit dem Projekt zumindest implizit die Frage verbunden, wie ein Bestand an sozialen Dienstleistungen gesichert werden kann, der es erlaubt, auch mit gesellschaftlichen Krisensituationen fertig zu werden. Dies ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die von den Dienstleistungsorganisationen allein nicht bewältigt werden kann. Statt einer Reformperspektive, die darauf abzielt, die Struktur eines problembezogenen Systems der Public Governance zu gestalten, scheint die Reform eher einseitig Versatzstücken neoliberaler Theorien des öffentlichen Handelns zu folgen. Das macht eine politisch gewollte Reduktion auf die Kostenstrukturen der Dienstleistungsorganisationen verständlich. An dieser Stelle ist eine Überlegung zur Behandlung von Dienstleistungskosten in Unternehmen und Gesellschaft nützlich. Dienstleistungen stellen immer eine kostenrechnerisches Problem dar. Dies ergibt sich bereits aus ihren Eigenschaften als immaterielle Güter (nicht übertragbar, nicht lagerfähig, nicht transportierbar). Hinzu kommen die Probleme der Unsicherheit bezüglich der Bestimmung eines ausreichenden Dienstleistungspotenzials, das auch Notfälle abdeckt. Mit der steigenden Bedeutung von Dienstleistungen in Unternehmen erhöht sich der Druck, entsprechende Kosten verursachungsgerecht zuzuordnen. Dies aber wäre Voraussetzung eine wichtige Voraussetzung für Kosteneffizienz. Kostenrechner in Wirtschaftsunternehmen haben mittlerweile Methoden wie die Gemeinkostenwertanalyse oder die Prozesskostenrechnung entwickelt, die allerdings recht kompliziert und aufwendig zu implementieren sind. Das Problem bleibt in der Betriebswirtschaft aktuell. Auf gesellschaftlicher Ebene stellt sich das Problem ähnlich dar. Es ist unmöglich, ein kosteneffizientes Niveau für öffentliche Dienstleistungen festzulegen. Neoliberale Ökonomen sprechen von dem Unvermögen, eine „social welfare function“ zu bestimmen. Das Problem der verursachungsgerechten Kalkulation von Dienstleistungskosten in Privatunternehmen wird andererseits heruntergespielt. Für Unternehmen kann zumindest im theoretischen Modell eines vollkommenen Marktes eine optimale Kosten/Nutzenfunktion kalkuliert werden. Deshalb steht öffentliche Dienstleistungsproduktion für Neoliberale generell unter Verschwendungsverdacht (Dunleavy 1987). Es liegt demnach nahe, soziale Dienstleistungen von Organisationen bereitstellen zu lassen, denen man Kosteneffizienz unterstellt. Das gilt für Wirtschaftsunternehmen per se, obwohl die empirischen Befunde der Sozialwissenschaften diese Vermutung keineswegs stützen (z.B. Kühl 2002). Für gemeinnützige Organisationen entsteht so ein erheblicher Druck, sich Wirtschaftsunternehmen durch die Übernahme von Managementkonzepten möglichst anzuähneln. Beiträge aus der Forschung 71 Und wo bleibt die Qualität? Eine qualitätsbezogene öffentliche Politik müsste demgegenüber den Gesamtzusammenhang zwischen effizienzsteigernden Maßnahmen in der Dienstleistungsorganisation, die Kooperationsbeziehungen der Dienstleister mit anderen Anbietern und Kunden/ Klienten sowie die politischen Steuerungsstrategien und Instrumente in den Blick nehmen. Dies geschieht in der gegenwärtigen Situation nicht. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe, die sich gegenseitig bestärken: • In der Bundesrepublik - darauf weist der Begriff „Wohlfahrtssektor“ hin - hat es im Bereich der sozialen Dienstleistungen schon immer eine mixed economy of welfare gegeben, deren Ergebnisqualität sich öffentlicher Aufmerksamkeit und Kontrolle in einem beträchtlichen Ausmaß entzog. Umgekehrt stand Dienstleistungsqualität nicht im Zentrum sozialstaatlicher Steuerung und Regulierung. Die aktuellen Vorgaben im Rahmen der sogenannten Gesundheitsreform setzen diese Tradition fort. Obwohl Qualitätssteigerungen nur durch Strukturreformen erreicht werden könnten, die die Leistungserbringer in ein qualitätssicherndes Governancesystem einbinden, halten deutsche Reformer diesbezüglich an ihrer ordnungspolitischen Abstinenz fest. • Die Ausblendung von Qualitätsaspekten zugunsten der betrieblichen Kostenperspektive könnte durch „Kontraktmanagement“ noch unterstützt werden. Dieser Begriff aus dem Vokabular des „New Public Management“ suggeriert öffentliche politische Handlungsfähigkeit selbst dort, wo diese schon gegen Null tendiert. Gegenwärtig sind vor allem die Kommunen von leeren Kassen geplagt. In Zeiten öffentlicher Armut ist die Gefahr groß, dass Kontraktmanagement als bloße Kostenschraube begriffen und gehandhabt wird, die man bei den um die knappen Fördertöpfe konkurrierenden Dienstleistungsorganisationen bis zur äußersten Schmerzgrenze anzieht. Wenn die Kosten- und die Qualitätsproblematik als reines Problem der Leistungserbringer behandelt werden kann, entlastet dies das politisch-administrative System kurzfristig. Mittelfristig blockiert dieses Vorgehen soziale Ressourcen zur Absicherung der Dienstleistungsqualität. 3. Negative Auswirkungen der Kostenfixierung auf Qualitätsressourcen – Drei Einwände Die Engführung von Reformperspektiven im Sinne einer einseitigen Betonung der Kosten/Mittelebene könnte mit einem hohen politischen Preis verbunden sein, weil Möglichkeiten der Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen systematisch verstellt werden. Erstens erfasst eine eingeengte Kostenperspektive den besonderen Charakter des Dienstleistungsprozesses und die damit verbundenen Managementprobleme nur ungenügend. In der Folge geraten insbesondere die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in 72 Beiträge aus der Forschung sozialen Dienstleistungsorganisationen unter Druck. Dadurch werden die Voraussetzungen zur Produktion qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen weiter verschlechtert. Zweitens vernachlässigt der Fokus auf betriebswirtschaftliche Prozesse den Gesamtkontext, in dem soziale Dienstleistungen produziert und konsumiert werden. Dies führt zur Blockade gesellschaftlicher Problemlösungsressourcen. Drittens verstärkt der Kostendruck die seit vielen Jahren zu beobachtende gesellschaftliche Tendenz, Frauenarbeit insbesondere im Bereich der sozialen Dienstleistungen niedriger zu bewerten als vergleichbare immaterielle Arbeit in anderen Arbeitsmarktsegmenten und stoppt so den notwendigen Prozess der Professionalisierung der sozialen Dienstleistungsarbeit. Ich will diese drei Einwände abschließend näher ausführen: • Dienstleistungen sind immaterielle Güter. Ihre Produktion und Konsumtion fallen zeitlich zusammen. Es handelt sich also um einen Interaktionsprozess zwischen den Dienstleistungsproduzenten und den Konsumenten. Die Qualität dieser Interaktion bestimmt die Qualität des Dienstleistungsergebnisses. Der Arbeitsprozess im Bereich sozialer Dienstleistungen ist darum nicht trennbar von der Interaktion mit dem Kunden. Dies gilt nicht nur für soziale Dienstleistungen. Auch in der zunehmend marktnäher arbeitenden Industrie oder bei der Softwareprogrammierung geht es nicht mehr ohne kundenorientierte Dienstleistungen. Die fachliche bzw. technische Arbeit wird mit der Beziehungsarbeit am Kunden/Klienten zu einer professionellen Tätigkeit verbunden. Im sozialen Dienstleistungsbereich wird v.a. die Forderung nach der personenbezogenen Vernetzung aktivierender Hilfen den Dienstleistungsprozess komplexer machen und die Interaktion zwischen den Dienstleistenden und den Kunden intensivieren. Während so die gesellschaftliche Bedeutung professioneller Beziehungsarbeit wächst, führt gleichzeitig der Kostendruck zu einer Tendenz, insbesondere die Personalkosten zu reduzieren. Das bedeutet: Hohe Dienstleistungsqualität soll sich nicht mehr in einem entsprechenden Entgelt für die Dienstleistenden niederschlagen. Ich sehe hier die tieferliegende Quelle der gängigen Kritik am BAT und gleichzeitig die Gefahr einer konfliktorischen Zuspitzung. Die Gewerkschaft ver.di verschließt sich nicht der Forderung nach einer Modernisierung des BAT. Im Gegenteil, mit den öffentlichen Arbeitgebern ist ein Modernisierungsprozess vereinbart. Kaum akzeptabel ist jedoch die Zumutung an professionelles Personal, sich tarifvertraglich „unter Wert“ zu verkaufen. • Will man die Verantwortung für die Dienstleistungsproduktion exklusiv in den betrieblichen Bereich von sozialen Dienstleistungsorganisationen verschieben, entsteht die Gefahr, dass gesellschaftliche Problemlösungsressourcen blockiert statt mobilisiert werden. Dies betrifft zunächst jene Dienstleistungen, die durch die öffentliche Hand nicht mehr bereitgestellt werden und privatisiert bzw. auf gemeinnützige Organisationen übertragen werden sollen. Ein staatlicher Rückzug aus der direkten Dienstleistungsproduktion führt nicht automatisch zu neuen problembezogenen Governancestrukturen. So wird Beiträge aus der Forschung 73 durch den Rückzug das Element Markt u.U. sogar suboptimal entwickelt. Nicht nur fehlen am Ende des Prozesses kompetente öffentliche Wettbewerber. Die gemeinnützigen Verbände werden ebenfalls geschwächt. In diesem Zusammenhang befürchten die Forscher eine Schwächung der Funktion gemeinnütziger Verbände als „Idealverein“ und Sozialanwälte (vgl. den Beitrag von N. Wohlfahrt). Ich gehe darüber hinaus davon aus, dass mit der Relativierung weltanschaulicher Bindungskraft auch Probleme bei den Bemühungen entstehen werden, zusätzliche lebensweltliche Ressourcen in der Form von Ehrenamtlichkeit für die Produktion sozialer Dienstleistungen zu erschließen und diese mit professionellen Dienstleistungen sinnvoll zu koppeln. Insofern wird die Chance der Einbindung des sogenannten Sozialkapitals in neue Governancestrukturen misslingen. Dies bestätigt die Ergebnisse international vergleichender Forschungen, nach der ein aktiver Wohlfahrtsstaat die Voraussetzung für die erfolgreiche Mobilisierung von Gemeinwohlkapitalressourcen ist (Putnam 2001). Insbesondere das Drama der Gemeindefinanzreform zeigt aus meiner Sicht, wie weit sich die öffentliche Politik in Deutschland von solchen Gedanken entfernt hat. Die Gewerkschaft ver.di hat in NRW gemeinsam mit gemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden und anderen gesellschaftlichen Akteuren das Bündnis „Soziale Bewegung“ geschlossen, um solchen zivilgesellschaftlichen Argumenten und Zielen in der politischen Auseinandersetzung wieder Geltung zu verschaffen. • Schließlich ist ein zentrales gesellschaftliches Problem mit den Versuchen verbunden, Ressourcen für kostengünstige Dienstleistungsarbeit zu erschließen. Soziale Dienstleistungsarbeit besteht in erster Linie in der Herstellung und Stabilisierung zwischenmenschlicher Kontakte, Kommunikation und Interaktion. Dienstleistungsarbeit produziert generell Affekte und soziale Kohärenz. Sie gilt deshalb in marketinggeleiteten Organisationen als ein relevanter Bestandteil der Wertschöpfungskette. (Hardt 2002) Die Frauenforschung hat auf die strukturelle Ähnlichkeit solcher affektiven Tätigkeiten mit der traditionellen Frauenarbeit im Bereich der personenbezogenen Dienste hingewiesen. (Möller o.J.) Beziehungsarbeit von Frauen ist jedoch nicht selten niedrig bezahlte oder unbezahlte Arbeit. Man kann hier von einer neuen Qualität geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung im Sinne einer sozialen Spaltung reden. Das Anziehen der Kostenschraube in sozialen Dienstleistungsorganisationen wird zu Versuchen führen soziale Dienstleistungsarbeit wieder zu „entprofessionalisieren“, um Frauen verstärkt in Niedriglohnsegmenten beschäftigen zu können. Dieser Versuche einer weiteren gesellschaftlichen Abwertung der sozialen Dienstleistungsarbeit von Frauen steht im Widerspruch zur Aufwertung affektiver Arbeit (kommunikativer und sozialer Kompetenzen) in den Führungsebenen der privaten Wirtschaft. Es steht zu erwarten, dass sich die unterschiedliche Bewertung von Dienstleistungsarbeit im sozialen Dienstleistungssektor reproduziert. In seinen Thesen scheint das Projektteam diese Befürchtung in 74 Beiträge aus der Forschung Ansätzen zu bestätigen, wenn es auf eine sich abzeichnende Polarisierung von (männlicher) Managementtätigkeit und (weiblicher) ausführender Arbeit hinweist (s. dazu den Beitrag von G. Kühnlein). Literatur: Damkowski, W.; Rösner, A. (2003): Auf dem Weg zum Aktivierenden Staat. Vom Leitbild zum umsetzungsreifen Konzept. Berlin Dunleavy, P; O´Leary, B. (1987): Theories of the State. The Politics of Liberal Democracy. Houndsmills et.al. (MacMillan) Evers, A.; Rauch, U. u.a. (2002): Von öffentlichen Einrichtungen zu sozialen Unternehmen. Hybride Organisationsformen im Bereich sozialer Dienstleistungen. Berlin Folke Schuppert, G.; Neidhardt, F. (2002) Gemeinwohl – Auf der Suche nach der Substanz. (WZB-Jahrbuch 2002) Berlin Hardt, M. (2002): Affektive Arbeit. (www.mur.at) Hirsch, J.; Jessop, B. u.a. (2001): Die Zukunft des Staates. Hamburg Kühl, St. (2002): Exit. Wie Risikokapital die Regeln der Wirtschaft verändert. Frankfurt/New York Klenk, T.; Nullmeier, F (2003): Public Governance als Reformstrategie. Düsseldorf Möller, C. (o.J.): Immaterielle Arbeit. Die neue Dominante in der Wertschöpfungskette. (www.labournet.de) Putnam, R.D. (Hrsg.) (2001): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gütersloh Reis, C.; Schulze-Böing, M, (1998): Planung und Produktion sozialer Dienstleistungen. Berlin Schmid, J. (2002): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Opladen Beiträge aus der Forschung 75 Hejo Manderscheid, Diözesan-Caritasverband Limburg Was bedeutet Werteorientierung für die modernisierte Freie Wohlfahrtspflege? Ansätze und Perspektiven für eine Modernisierung der nichtökonomischen Interessen von Wohlfahrtsverbänden Als Bilanz aller im Rahmen des Forschungsprojektes „Vom Wohlfahrtsstaat zur Sozialwirtschaft“ durchgeführten Interviews wird im vorgelegten Thesenpapier eine halbierte Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege diagnostiziert. Darunter wird eine einseitige Modernisierung der ökonomischen Funktionen der Träger sozialer Einrichtungen verstanden, der zugleich verbands- und trägerpolitisch ein Festhalten an korporatistischen Strukturen und Zielen gegenübersteht. Damit wächst das Interesse an Perspektiven für die entsprechende Modernisierung dieser nicht primär sozialwirtschaftlich determinierten Verbandsarbeit und -politik. Aus der Perspektive des Caritasverbandes für die Diözese Limburg e.V. will ich die These der halbierten Modernisierung zunächst durch Praxisbeobachtungen untermauern, einige Auswirkungen dieser gegenwärtigen Modernisierungsprozesse auf die MitarbeiterInnen skizzieren und anschließend Ansätze einer Modernisierung der Verbandspolitik auf Diözesan- und Landesebene darstellen, die neben den sozialwirtschaftlichen auch nicht-ökonomische, primär also werteorientierte Interessen in den Blick nimmt. Bei alldem liegt der Akzent auf einer spezifischen Perspektive aus dem Blickwinkel eines (quasi) Landesverbandes. Dies kann dazu beitragen, in der Diskussion um Modernisierungsprozesse der Freien Wohlfahrtspflege zwischen den verschiedenen Ebenen der jeweiligen Verbände (Ortsebene als Trägerorganisation, Landes- und Bundesebene als Dach- und Spitzenverband) zu differenzieren. Die gegenwärtigen Modernisierungsprozesse verlaufen nämlich innerhalb der Verbände zwischen den Organisationsebenen durchaus unterschiedlich, mitunter auch äußerst widersprüchlich. 1. Beobachtungen zur halbierten Modernisierung Die durch den Trend zur Sozialwirtschaft sich wandelnden Anforderungen an das Management sozialer Einrichtungen führen zu Veränderungen sowohl in den Organisationsstrukturen der Einrichtungsträger selbst, wie auch in ihren Kooperationsbeziehungen zu ihren spitzenverbandlichen Dachorganisationen. 76 Beiträge aus der Forschung 1.1 Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wird ausschlaggebendes konstitutives Merkmal für Zahl und Größe von Trägerorganisationen Die Caritasstrukturen sind über viele Jahre hinweg vorrangig nach dem Prinzip der Präsenz in der Fläche, parallel zu den kirchlichen Strukturen auf- und ausgebaut worden. In den letzten Jahren sind deutliche Konzentrationsprozesse zu beobachten, die insbesondere kleinere Organisationseinheiten zugunsten größerer leistungsfähiger Strukturen zurückdrängen. Konkurse bzw. drohende Konkurse begünstigen vielerorts Betriebsübergänge oder Fusionen in größere Verbandseinheiten oder die Ausgründung in neue leistungsfähigere Strukturen wie etwa Bistums- oder landesweite Stiftungen oder GmbHs. Leider stehen für die Bundesebene der Caritas keine entsprechenden Zahlen als Beleg zur Verfügung – ich gehe aber davon aus, dass die Anzahl der Träger bei wachsenden Zahlen von Einrichtungen und Diensten kontinuierlich zurückgeht. Im Bistum Limburg wird die Zahl der örtlichen Caritasverbände derzeit von 10 auf 8 reduziert, örtliche Vereine als Träger von Einrichtungen haben sich aufgelöst und die Einrichtungen in die bestehenden Verbände integriert. Diese Tendenzen dürften eher den Beginn als den Abschluss eines nachhaltigen Konzentrationsprozesses darstellen. 1.2 Die Träger wachsen im Sektor der Sozialwirtschaft und schrumpfen bei den Basisaktivitäten und sozialen Diensten Innerhalb der Trägerorganisationen kommt es durch eine neue Gewichtung der Einrichtungstypen zu Veränderungen ihrer Schwerpunktsetzungen. Die sogenannten „marktfähigen Einrichtungen“ machen einen immer größer werdenden Teil des Umsatzes aus, umfassen die größere Anzahl von MitarbeiterInnen und beanspruchen ein höheres Maß an Managementkompetenz und Aufmerksamkeit in der strategischen Steuerung als die übrigen eigen- und zuschussfinanzierten Dienste. Die sozialunternehmerischen Aktivitäten der Träger folgen einer spezifisch sozialwirtschaftlichen Logik. Ähnliche Tendenzen spielen sich in den „nicht-marktfähigen“ Diensten dort ein, wo Kostenträger differenzierte Leistungsverträge einführen. In der Sozialwirtschaft unterliegt die Qualität und der Erfolg der sozialen Arbeit somit immer stärker den alleinigen Kriterien von Wettbewerb und Kostendeckung, im leistungsfinanzierten übrigen Bereich unterliegt sie der Qualitätsüberprüfung durch die Kostenträger und nurmehr in einem immer geringer werdenden Restsektor unterliegt die soziale Arbeit überwiegend den wertorientierten Erfolgs- und Qualitätskriterien des Trägers. Innerhalb der Caritasverbände im Bistum Limburg (sicherlich nicht nur dort) werden diese Prozesse begünstigt durch die Umstellung einer ehemals stellenbezogenen Förderung der Caritasarbeit durch Kirchensteuerzuwendungen (= Eigenmittel) auf eine institutionelle Förderung, die den Trägern die Verwendung der Mittel freistellt. Beiträge aus der Forschung 77 Dies hat den Weg freigemacht zur abschließenden Kostenstellenrechnung mit einer lückenlos verursachungsgemäßen Zuordnung aller Kosten über alle Einrichtungstypen hinweg. Wo also früher vermeintlich ausfinanzierte Basisdienste existierten, weist heute die Gewinn- und Verlustrechnung die Zuschussbedarfe aus. Damit geht auch die jahrzehntelange Praxis von offener oder verdeckter Quersubventionierung innerhalb der Trägerorganisation zu Ende. Als Konsequenz wird die Herausbildung geschäftsfeldspezifischer und damit unterschiedlicher strategischer Steuerungslogiken unausweichlich. Früher trafen beispielsweise wirtschaftliche Einbussen – etwa die Kürzung von Kirchensteuerzuschüssen – prinzipiell alle Personalstellen in einem Verband gleichermaßen. Heute ist es so, dass es innerhalb des gleichen Verbandes prinzipiell MitarbeiterInnen unterschiedlicher Kategorien gibt. Ein genereller Stellenstopp für alle Einrichtungen macht keinen Sinn mehr. Es ist vielmehr an der Tagesordnung, dass Verbände in einigen Geschäftsfeldern expandieren und gleichzeitig in anderen schrumpfen. Entsprechend wird personalwirtschaftlich unterschiedlich verfahren. Als Folge bedarf es für die Aufrechterhaltung einer Dienstgemeinschaft in einem Verband besonderer Anstrengungen. Analog dieser Partialisierung von Mitarbeitern innerhalb der Trägerorganisation - sichere und prinzipiell krisenanfällige Arbeitsplätze bei gleichen Arbeitsverträgen und gleichem Tarifsystem kommt es auch zu Partialisierungen von Ortsverbänden. Deren Entwicklung ist maßgeblich von der Refinanzierung durch örtliche Kostenträger bzw. der auf der Basis von Konkurrenz abhängigen Chance zur Erzielung kostendeckender Entgelte abhängig. Eine koinzidente, gewissermaßen gleichförmige Entwicklung von Ortsverbänden in einem Bistum ist nahezu ausgeschlossen. 1.3 Aufbau eines mittleren Managements auf Ortsebene In den örtlichen Verbänden ist ein steter Auf- und Ausbau des sogenannten mittleren Managements (Abteilungsleitungen) zu beobachten. Über viele Jahre hinweg gab es eher flache Organisationsstrukturen: Geschäftsführer – Einrichtungsteams – mitunter auch -leitungen. Die Dachverbände haben mit ihren Fachreferenten viele Aufgaben der fachlichen Begleitung und Qualifizierung wie auch der wirtschaftlichen Beratung wahrgenommen. Die Modernisierung in den 70er Jahren brachte in den Ortsverbänden die typische Konstruktion des sogenannten „Leitenden Sozialarbeiters“. Neben der Verwaltungsleitung (sofern die nicht ebenfalls von der Geschäftsführung in Personalunion wahrgenommen wurde) etablierte sich also unterhalb der Geschäftsführung eine (weitere) fachliche Leitungsebene. In den letzten Jahren kommt es nun zu einem weitergehenden Ausbau der Funktion des leitenden Sozialarbeiters in Abteilungsleitungen, deren Professionalität für die geänderten Anforderungen des Managements unabkömmlich sind. 78 Beiträge aus der Forschung Für die MitarbeiterInnen bedeutet das, dass sie sehr viel stärker als früher in ihrer Arbeit externen Evaluierungen unterliegen. Die Freiräume sind deutlich begrenzter. Soziale Arbeit findet sehr viel stärker als früher unter unmittelbarer Dienst- und Fachaufsicht sowie unter Kriterien von Effizienz und Wirtschaftlichkeit statt. Die Definition von Qualität wird vermehrt nicht mehr den MitarbeiterInnen selbst überlassen. Des weiteren verändern sich mit der Etablierung eines mittleren Managements die Beziehungen zwischen Orts- und Dachverband. Der Fachreferent des Dachverbandes muss stärker als früher mit einrichtungsübergreifenden Leitungspersonen kooperieren als unmittelbar mit den Fachkräften. 1.4 Sinkende Eigenanteile in der Finanzierung verstärken die Abhängigkeit von Kostenträgern In den Caritasverbänden im Bistum Limburg sind etwa 85% aller Aktivitäten dem Bereich der Sozialwirtschaft zuzuordnen. Es handelt sich dabei um entgeltfinanzierte Dienste und Einrichtungen; 15% der Aktivitäten sind Basisaktivitäten und soziale Dienste. Es gibt also eine deutliche Dominanz der Sozialwirtschaft, die damit natürlich auch eine herausragende Bedeutung für die wirtschaftliche Basis der Verbände darstellt. In der Refinanzierung der 15% nicht sozialwirtschaftlichen Aktivitäten schlagen die Eigenmittel aus Kirchensteuerzuschüssen durchschnittlich mit ca. 30% zu Buche. Letztere sind deutlich rückläufig. Auf die Gesamtcaritas bezogen tendiert der Anteil der Kirchensteuermittel an der Finanzierung in Richtung 5%. 1.5 Auswirkungen auf das Verhältnis Orts- zu Diözesanebene Mit der wachsenden Autonomie der örtlichen Ebene durch leistungsfähigere Strukturen, höhere Refinanzierung über Entgelte und stärkere Abhängigkeiten vom lokalen Markt wie auch der kommunalen Haushalte wachsen Konflikte mit dem Anspruch des Diözesanverbandes auf Steuerung und Aufsicht. So werden zum einen die alten Aufsichtsinstrumente und –rechte immer weniger akzeptiert, weil diese vor allem in ihrer punktuellen Intervention (Genehmigung von Haushalts- und Stellenplänen, von Investitionen, von Rechtsprozessen u. ä.) einem sozialwirtschaftlichen Untenehmen nicht mehr gerecht werden. Ferner wird die Wahrnehmung der Interessenvertretung auf der überörtlichen Landesebene kritisch betrachtet, wenn solche Verhandlungen nicht basismandatiert verlaufen. Fachlich geht es hier also um die Kündigung des Landesreferenten als Obersozialarbeiter und die Kündigung der Haushaltsaufsicht als intervenierende und kontrollierende punktuelle Eingriffsgenehmigung. Beiträge aus der Forschung 79 2. Die Aporien im ausbalancierten System CaritasKirche-Sozialstaat wachsen Die zentrale Aufgabenstellung von NPO´s liegt in der Herausforderung, tendenziell nicht kompatible Systemumwelten (Wirtschaft – Soziales – Religion) im eigenen System so auszubalancieren, dass Sinn- und Wertorientierung der Organisation gegenüber ihrer Umwelt allgemein und insbesondere gegenüber ihren unmittelbaren Referenzsystemen behauptet und aufrecht erhalten werden kann. Deshalb können sich NPO´s oftmals viel besser negativ beschreiben, also was sie alles nicht sind, als positiv: bspw. kein Wirtschaftsunternehmen, kein Staat, keine fundamentalistische Kirche etc. Diese Negativdefinition lässt in der Organisation einen breiten Gestaltungsraum, der von MitarbeiterInnen auch schon immer als attraktiver Freiraum anerkannt wird. Diese Uneindeutigkeit war über lange Jahre zugleich Stärke und Schwäche der NPO´s allgemein wie auch der Caritasverbände. Derzeit sieht es so aus, dass die veränderten Rahmenbedingungen eine solche unbestimmte und damit eine wertorientierte Eigendefinition ermöglichende Sinnkonstruktion immer weniger ermöglichen. Die Durchsetzung der Sozialwirtschaft verlangt eine Selbstdefinition als wirtschaftliches Unternehmen und verbietet tendenziell die gleichzeitige Verfolgung davon abweichender Interessen, weil sonst die wirtschaftliche Basis des Unternehmens gefährdet wird. Damit wachsen allerdings die Konflikte zwischen den Wohlfahrtsverbänden und den Organisationen der Milieus, aus denen sie hervorgegangen sind. Dies wird in der Regel thematisiert als Konflikt zwischen Idealverein und Trägerorganisation. In der Caritas zeigen sich solche wachsenden Aporien bspw. in folgenden Symptomen: Die sozialwirtschaftliche Logik verlangt zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit eine andere Allokation von Unternehmensstrukturen als dies eine Pastoralstruktur verlangt, die kirchliche Grundfunktionen flächendeckend absichern soll. Somit wird es immer schwieriger, Caritas- und Kirchenstrukturen parallel zu organisieren. Die Pfarrei ist keine Größe für die Entscheidung, ob hier eine Trägerorganisation wirtschaftlich sinnvoll ist oder nicht. Im Zuge der Ökonomisierung der früher gemeindlichen Sozialstationen sinkt die Bereitschaft der Kirchengemeinden, für ihre Sozialstationen Förderkreise aufzubauen und regelmäßig zu spenden. Sozialwirtschaft und Spendenunterstützung passen mental nicht zusammen. Es wird eher Entfremdung als Solidarität wahrgenommen. Die Partialisierung – also wachsende Autonomie örtlicher Träger bzw. größerer Trägereinheiten gegenüber den Dachverbänden auf Bistums- und Bundesebene - verschärft die Diskussion um die Durchsetzung eines Markenschutzes. Die Bereitschaft der Bistümer als Konkursabwender in die Bresche zu springen sinkt drastisch. Ebenso sinkt die Bereitschaft, für Investitionen der Caritas kirchliche Eigenmittel oder Vermögen 80 Beiträge aus der Forschung (Grundstücke) zur Verfügung zu stellen. So wie in den Trägerorganisationen selbst, verschwinden auch zwischen Kirche und Caritas die Unzahl verdeckter Subventionen. Auf der Hintergrundfolie dieser Entwicklungen wächst naturgemäß die Herausforderung, das, was sich sozialwirtschaftlich abspielt, weiterhin als typisch kirchlich zu definieren. Die Abbrüche zum traditionellen Selbstverständnis wachsen auch in den gerade derzeit neu entstehenden arbeitsrechtlichen Grundsatzdiskussionen zur Weiterentwicklung des 3. Weges. Mit dem Aufbrechen der Tarifsystematik des öffentlichen Dienstes, der sukzessiven Einführung von Branchen- und Regionaltarifen, gerät die Arbeitsrechtliche Kommission des Caritasverbandes unter Druck, der inzwischen seit längerer Zeit zu einer ausweglosen Reformunfähigkeit führt und die Einführung neuer Regelwerke in eigens ausgegründeten Teilunternehmen befördert. Im bundesrepublikanischen Sozialstaatsverständnis ändert sich zudem das für die Wohlfahrtsverbände seit ihrer Gründung fundamentale Verständnis von der Notwendigkeit pluraler Angebote. Für die relativ homogene Großgruppengesellschaft bis in die 60er Jahre war das Wunsch- und Wahlrecht eine folgerichtige Ableitung: jeder sollte die Einrichtung wählen können, die seinem Wertemilieu entsprach. In einer weitgehend individualisierten Gesellschaft verändert sich dieses Postulat und stützt nun nicht mehr primär die Freiheit des Trägers, sein Angebot wertorientiert für die Klientel gestalten zu können, die dies so in Anspruch nehmen will. Vielmehr verlangt das neue Verständnis von jedem Träger grundsätzlich eine bedarfgerechte Ausgestaltung seiner Dienstleistungen mit individuell auszuarbeitenden Hilfeplänen. Die Wertorientierung lässt sich also immer weniger in der spezifischen Ausgestaltung des Angebots realisieren, wenn Kundenzufriedenheit von Seiten des Klienten und Effektivität und Effizienz von Seiten des Kostenträgers zu den obersten Qualitätsmerkmalen werden. 3. Wie reagieren die Dachverbände? Seit den 90er Jahren hat die Frage nach einer Optimierung der Steuerung sozialer Arbeit zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dies erfolgte vor allem im Zuge der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte und verfolgte vorrangig die Absicht, die Sozialetats der Kommunen in den Griff zu bekommen. Innerhalb der Wohlfahrtsverbände wird die Frage der Steuerung in einem etwas anderen Kontext thematisiert: sie stellt sich hier eher im Gewand der Frage nach der Konstruktion von Profil, der Aufrechterhaltung von Systemgrenzen und erkennbarer Wertezugehörigkeit. Wie oben bereits angedeutet, vollzieht sich in gewisser Analogie zum gesellschaftlichen Prozess der Individualisierung ein Prozess der Partialisierung, also des Auseinanderfallens der Großverbände – sowohl schmelzen die Solidaritäten zwischen Bundes-, Bistums- und Ortsebene, zwischen örtlichen Trägern und großen caritativen Unternehmen, wie auch zwischen verfasster Kirche und Verband. In Anlehnung an die Individualisierungsthese von Ulrich Beck könnte Beiträge aus der Forschung 81 man auch hier von Prozessen der Auflösung traditionaler Einbindungen und der Freisetzung sprechen. Damit verbunden ist die Herausbildung neuer Muster von Wiedereinbindung in nunmehr institutionsabhängigen Individuallagen. Freigesetzt aus dem Wertemilieu und der Einbindung in Kirche finden sich Caritasträger nunmehr in neuer Einbindung und Abhängigkeit in die Logik der Sozialwirtschaft. Die Reaktionsmuster der Dachverbände lassen sich u.a. auf der Folie dessen, wie sie sich Wiedereinbindung (Integration) als Steuerung erklären bzw. vorstellen, in etwa folgender Weise systematisieren: Es gibt nach wie vor viele, die an die Steuerungsfähigkeit durch entsprechende Maßnahmen glauben; es gibt eine weitere Gruppe, die sich umorientiert und daran arbeitet, dass die Dachverbände sich strikt dienstleistungs- und kundenorientiert neu gestalten, sich somit also gewissermaßen von unten steuern lassen und es gibt eine weitere Strategie, die vom systemischen Verständnis her, von der Erkenntnis ausgeht, dass sich komplexe Systeme selbst entwickeln und dass man diese Entwicklung bestenfalls durch Störungen beeinflussen kann – nicht aber steuern oder gar beherrschen kann. Die Literatur spricht hier mitunter auch von kontextueller Steuerung. Ausgehend von diesen Prämissen sind u.a. folgende Modernisierungsstrategien zu beobachten: 3.1 Verstärken der Steuerungsphilosophie Auf Bistums- wie auf Bundesebene lassen sich Merkmale einer defensiven Modernisierung in Form der Stärkung einer Steuerungsphilosophie beobachten, die grundlegend von der Prämisse ausgeht, die durch sozialwirtschaftliche Rahmenbedingungen sich partikularisierende Basis wäre durch Nachbesserungen der Steuerungsinstrumente und –verfahren nach wie vor erfolgreich zentralistisch steuerbar. So gibt es auf Bundesebene Versuche, die Illusion eines Gesamtvereines, der quasi Konzernstruktur habe, zu stärken; es wird über die Stärkung von Verbindlichkeit für alle Gliederungen des Verbandes, über Ausschlusskriterien für Mitglieder und über nachhaltigen Markenschutz diskutiert. Die Bischöfe erarbeiten neue Kriterien für eine wirksamere Aufsicht der Caritasorganisationen. In der Schaffung zentraler Instanzen bspw. der Qualitätssicherung bzw. der Zertifizierung werden neue Formen einer zentralen Steuerung gesucht. In der Tradition früherer bundeszentraler Fachkonzepte entwickeln manche Verbände heute Qualitätshandbücher mit dem Anspruch, dass diese für alle Ebenen des Verbandes Verbindlichkeit besitzen sollen. 3.2 Verstärkung der Dienstleistungsphilosophie Daneben lassen sich Merkmale einer stärkeren Dienstleistungsausrichtung der Dachverbände beobachten. Die Wahrnehmung beispielsweise, dass sich Verbandsmitglieder selbst neben dem 82 Beiträge aus der Forschung Dachverband organisieren, vgl. AcU (Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen), führt dazu, dass –zwar defensiv – über neue Angebote nachgedacht wird, die eine Zersplitterung des Verbandes abwenden können. Diese – meist offensiv – betriebene Modernisierungsstrategie geht von der Anerkennung einer Autonomie und autonomen Entwicklung der Trägerorganisationen innerhalb eines Verbandes aus und orientiert sich an einem Modell des Verbändeverbandes. Dabei kommt dem Dachverband vor allem Service- und Unterstützungsfunktion zu. Mitgliederbeiträge werden als Leistungsvergütung betrachtet und legitimiert. Zu solchen Angeboten kann man beispielsweise auch die Etablierung einer PflegesatzverhandlungsGmbH oder einer EDV-GmbH oder das Angebot von Geschäftsbesorgungsverträgen rechnen. 3.3 Modernisierung durch Rollenklärung und differenzierte Professionalisierung Eine weitere Strategie setzt bei der Einschätzung an, dass sich komplexe Systeme weitgehend selbst entwickeln und geht somit von einer Philosophie der „Organisation der Selbstorganisation“ aus. Für diese Organisationen ist die Definition vorrangig, dass die Steuerung einem Subsystem nicht gegenüber steht, sondern selbst Teil des Systems ist. Ob die Steuerung steuert oder gesteuert wird – hat beides Geltung. Von Bedeutung ist, dass Bistums- oder Bundesebene zur Trägerebene in einer systemischen Feedbackschleife stehen und somit jede Ebene die jeweils andere Ebene beeinflusst. Ziel dieser Strategien ist zum einen, die Rollen, Zuständigkeiten und Funktionen zu differenzieren. So arbeitet bspw. der Deutsche Caritasverband seit ca. 3 Jahren exemplarisch in der Jugendhilfe an einem Funktionsbild, mithilfe dessen die unterschiedlichen Zuständigkeiten und Kompetenzen der Orts-, Bistums- und Bundesebene wie auch der Caritas- und Fachverbände beschrieben werden. Auch der neue Satzungsentwurf für den Deutschen Caritasverband unterscheidet in der Aufgabenbeschreibung sehr viel präziser nach Bundes-, Bistums- und Ortsebene. Daneben wächst im Verband die Offenheit, deutlicher als bisher das Lobbying für die Dienste und Einrichtungen von der Anwaltschaft für Benachteiligte zu trennen. Dies ermöglicht für beide Funktionen jeweilige Professionalisierungen. Solche Strategien fragen nicht nur danach, wie man auf der Trägerebene Werte sichern kann oder nach Möglichkeiten, wie man Werte anbieten kann, sondern sie entwickeln sich selbst zu wertorientierten Teilsystemen des Gesamtverbandes, die über systemische Schleifen und Störungen, beispielsweise über die Stärkung des Verbraucherschutzes oder die bewusste Polarisierung gegensätzlicher Interessen das Gesamtsystem unter Strom halten, somit also immerwährend Impulse zur Selbstreflexion und daraus resultierender Selbstorganisation aufrechterhalten. Beiträge aus der Forschung 83 4. Verbandsentwicklung im DiCV Limburg und in der Hessen-Caritas 4.1 Ausgangsdiagnose Im Diözesancaritasverband (DiCV) Limburg haben wir im Zuge einer Organisationsentwicklung Lösungen für eine Modernisierung sowohl der Trägerfunktionen wie auch des Idealvereins entwickelt. Die Ausgangssituation war geprägt von einem Prozess der Dezentralisierung, in dem die 5 bislang noch nicht rechtlich verselbständigten Bezirksverbände je eigene e. V. wurden. Damit gab es dann 10 rechtlich eigenständige Untergliederungen. Diesen wurden die bisher vom DiCV getragenen Dienste und Einrichtungen mit Ausnahme der pflegesatzfinanzierten Einrichtungen übertragen. Nach der formell erfolgten Dezentralisierung mussten nun im neuen System die Rollen, Kooperationen und Abläufe neu strukturiert und geklärt werden. In der Ausgangsdiagnose wurde für den DiCV deutlich, dass er sich von seiner bisherigen Rolle als mittleres Management mit direktem Zugriff in die jeweiligen Einrichtungen und Dienste verabschieden muss und mehr Leistungen aufbauen muss, mit denen er in der Lage ist, die Problemlösungsfähigkeit der jeweiligen autonomen Trägersysteme zu sichern und zu erhöhen. Dafür sollte die Spezialisierung der Referenten zulasten der Generalisierung erhöht werden; originäre Landesaufgaben definiert werden; Vermischungen von Beratung, Aufsicht und Interessenvertretung aufgelöst werden. 4.2 Vision und Ziele Im DiCV ging es somit vorrangig um eine strukturelle Entflechtung von Aufgaben und Interessen, die in sich oftmals konfliktträchtig sind, deren Lösung aber in die jeweiligen Personen hinein delegiert und somit dem verbandlichen Diskurs nicht zugänglich waren. Deshalb wurden zunächst die Grundfunktionen des Verbandes in drei Geschäftsbereichen abgebildet: Träger, Spitzenverband und Verwaltung. Im Spitzenverband wurden die üblichen Fachreferatskompetenzen wie Beratung, Fortbildung, Interessenvertretung für Einrichtungen, Anwaltschaft für Benachteiligte, Engagementförderung strukturell getrennt. Neben den bisherigen Fachreferaten, die in ihrer Aufmerksamkeit jeweils nur auf Teilaufgaben der jeweiligen Subsysteme ausgerichtet waren, wurde eine Abteilung Verbandsentwicklung geschaffen, die die Herstellung leistungsfähiger Systeme in Selbstorganisation unterstützen sollte. Parallel wurde auf Landesebene mit den anderen in Hessen agierenden DiCV´en (Mainz und Fulda) die Kooperation intensiviert und die Prämissen der Interessenvertretung auf Landesebene modernisiert. Im Zuge der Stärkung der unternehmerischen Belange der Trägerorganisationen haben die Verbände beschlossen, sich von dem bisherigen Monopol der Interessenvertretung auf Landese- 84 Beiträge aus der Forschung bene zugunsten eines sogenannten koordinierten Selbstvertretungsmodells zu verändern. Hessenweit – über drei Diözesen – wurden spartenbezogene Landesarbeitsgemeinschaften, CLAG´s (Caritas-Landesarbeitsgemeinschaft), konstituiert, denen nunmehr die fachpolitischen Vertretungsaufgaben delegiert werden. Die DiCV´e konzentrieren sich demzufolge stärker auf die Aspekte der Verbandsentwicklung im jeweiligen Bistum, auf das Lobbying für Benachteiligte, die Engagementförderung und auf Grundsatzfragen der Caritas. Die leitende Idee liegt in der Absicht, durch Rollentrennung – fachpolitische Vertretung und Einrichtungslobbying durch die Träger und grundsätzlich wertorientierende Prägung durch die Spitzenverbände – beides zu stärken. Die im Anhang beigefügten Organigramme des DiCV Limburg und der Hessen-Caritas verdeutlichen die eingeschlagenen Reformschritte. 4.3 Erfahrungen Noch ist es zu früh, die Ergebnisse und Erfahrungen auszuwerten. Es zeichnet sich aber ab, dass wir im Lobbying für Benachteiligte und in Fragen der Sozialpolitik deutlich an Profil gewonnen haben. Durch die organisatorische und funktionale Trennung vom Einrichtungslobbying bei gleichzeitiger Verortung im Verband wächst die Glaubwürdigkeit der anwaltsbezogenen Werteorientierung. Wir suchen also einen Weg, die Interessenskonflikte zwischen Träger- und Idealverein nicht durch Trennung des Verbandes (vgl. Malteser-Hilfsdienst), sondern durch Trennung der Funktionen im Verband zu realisieren. Im Bereich der Verbandsentwicklung ist der DiCV zunehmend mehr in der Lage, zusätzlich zu eher symptombezogenen Einzellösungen bei defizitären Einrichtungen, Interventionen zu setzen und Angebote zu unterbreiten, die die Problemlösungsfähigkeit der Subsysteme insgesamt stärken. Die koordinierte Selbstvertretung in den CLAG´s führt zu einer höheren Akzeptanz durch die Träger, erhöht die Problemnähe und den Problemdruck in der politischen Auseinandersetzung. Die Etablierung der CLAG´s führt zu einer deutlichen Optimierung der sozialwirtschaftlichen Interessenvertretung. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Modernisierung durch Rollenklärung in den Kooperationsbeziehungen mit den relevanten Umwelten zu zahlreichen Konflikten führt, weil sie im Gesamtdickicht der Freien Wohlfahrtspflege nicht anschlussfähig ist. Des weiteren setzt diese Trennung hohe Kompetenzen auf der örtlichen Ebene voraus. Das noch nicht ausformulierte neue Selbstverständnis der Dachverbände führt zu Ängsten und Widerständen in der Umsetzung. Man muss dabei aber auch gerade beachten, dass die spitzenverbandliche Funktion der Diözesanverbände in Hessen – bspw. völlig anders als in Nordrhein-Westfalen – durch Landesrecht und -politik kaum gestützt ist. Im Zuge stringenter Kommunalisierung der Steuerung sozialer Infrastruktur in Hessen Beiträge aus der Forschung 85 verlieren die Landesebenen der Wohlfahrtsverbände in erheblichem Umfang an Bedeutung. 5. Schlussbemerkungen / Ausblick 5.1 Die wachsende sozialwirtschaftliche Organisation unseres Sozialstaats führt auf der Trägerebene zu Konzentrationsprozessen. Das Kriterium der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wird zum bestimmenden Indikator für die Bildung und Beschaffenheit von Trägerorganisationen. Die Herauslösung aus traditionalen wertebezogenen Gesamtverbandsstrukturen in partikularisierte örtliche Trägereinheiten wird begleitet von Einbindungen in eher verbandsfremde Systemumwelten. Kundenverhalten und Anforderungen der Kostenträger bestimmen stärker die Trägerentwicklung und das Trägerselbstverständnis als das Herkunftsmilieu. 5.2 Das Kriterium der Leistungsfähigkeit führt auch auf der übergeordneten Verbandsebene zu neuen Formen der Kooperation. Auf Dauer werden in einem Bundesland bestimmte Dachverbandsaufgaben nicht mehr parallel in mehreren Bistümern gleichzeitig vorgehalten werden können. Das Einrichtungslobbying wird von den Trägern weitgehend selbst organisiert und aus Umlagen der Einrichtungen refinanziert werden. Darin liegt nicht zuletzt auch eine Chance für die zumeist kirchensteuerfinanzierten Diözesanverbände, sich auf Verbandsentwicklung, wertebezogene Grundsatzaufgaben und die Entwicklung von Kompetenzzentren zu konzentrieren. 5.3 Die Ziele und Anliegen des Idealvereins lassen sich künftig nur dann aufrecht erhalten, wenn sie von den Anliegen des Trägervereins getrennt und konfliktiv wahrgenommen werden. Werteorientierung gehört gewissermaßen als Kernaufgabe in Form systemischer Störung in den Idealverein. Sie hinterfragt permanent, ob die sozialwirtschaftliche Eigenlogik mit dem Zweck des Idealvereins noch kompatibel ist. 5.4 Die Entwicklungen auf der Kostenträgerseite sind widersprüchlich und ungleichzeitig. Somit werden die verschiedensten Mischformen nebeneinander existieren: vom Markt bis zum Korporatismus. Es wird keine geradlinige Entwicklung in die Sozialwirtschaft geben. Die bestehenden Strukturen und Systeme werden in die Transformationsprozesse ihre Werte einbringen und ihre Bestandssicherungsinteressen soweit möglich durchsetzen. 5.5 Für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Freien Wohlfahrtspflege werden systemische Kriterien die zentralen sein: Organisation von Selbstorganisation. Insofern wird die Marke nicht durch Vorgaben von oben durchgesetzt, sondern durch Koordination von unten immer wieder neu als Wirklichkeit konstruiert. Organisationen lassen sich nicht durch die Summe der in ihr handelnden Personen beschreiben, sie bestehen vor allem aus Kommunikationen, Werten, Regeln und Routinen. Mit diesen Mitteln schaffen sich Organisationen eine eigene Welt, indem sie permanent die Komplexität, die es zu bearbeiten gilt, reduzieren. So ge- 86 Beiträge aus der Forschung sehen sind Organisationen autopoietisch (selbstorganisierend) und werden auf dem Weg in die Sozialwirtschaft – mit und ohne Störung durch die Dachverbände – ihre wertbezogene Konstruktion von Wirklichkeit aufbauen. Beiträge aus der Forschung 87 Caritasverband für die Diözese Limburg e.V. Referentin des Direktors Haushaltsaufsicht Tina Hofmann Peter Kirchberg - 121 Direktion Diözesancaritasdirektor - 120 Öffentlichkeitsarbeit Dr.Hejo Manderscheid Justitiariat Petra Schubert - 100 Martin Ebach - 110 - 117 Geschäftsbereich Verwaltung Geschäftsbereich Spitzenverband Geschäftsbereich Träger Hubert Schneider Dr.Hejo Manderscheid Joachim Tschakert - 240 - 100 - 307 Rechnungswesen Rudolf Seck Lobbying für Dienste und Einrichtungen Verbandsentwicklung Engagementförderung Lobbying für Benachteiligte Einrichtungen in Hessen - 244 Angelika Kennel Jörg Klärner Andreas Gesing Othmar Hicking - 170 - 270 - 184 - 309 Personal Peter Eingärtner Migration Verbandsentwicklung - 130 Martina Schlebusch Jörg Klärner - 181 - 270 Mark Schmitz Wohnungslosenhilfe Schuldnerberatung Qualitätsmanagement - 271 Jürgen Malyssek - 173 Dr.Barbara Blattert - 109 Caritas-Werkstätten Westerwald/Rhein-Lahn Bernhard Zepf - 179 Fortbildung Erwin Peetz Radegundis Glenzer - 200 Jugendhilfe 02601 / 1307 0 Bernhard Schnabel - 430 Soziale Sicherung Armutsfragen Dr. Karl Koch - 310 Jürgen Hartmann-Lichter Allgemeine Verwaltung - 202 Infothek Norbert Theis Familienhilfe Marie-Jeanne Wendt - 174 - 478 Waltraud Maier - 176 EU Förderung Kinderhilfe Hartmuth Haag - 178 Architekt Sonja Hees - 274 Edith Kramm - 204 Martin Ringer - 406 - 307 - 184 Migrationspolitik Ulrike Jung - 186 Mark Schmitz - 123 / -124 Joachim Tschakert Andreas Gesing ALB - Soziale Stadt EDV Einrichtungen in Rheinland-Pfalz Martin Serafin - 203 Behindertenhilfe Dr. Elke Groß - 183 Altenhilfe Hausadresse: Katharina-Kasper-Haus Graupfortstraße 5 65549 Limburg / Lahn Achim Eng - 185 Ambulante Dienste Andreas Eichmann - 182 Krankenhäuser 0 64 31 / 997 - 0 [email protected] Peter Römer - 150 Betriebswirtschaft N.N. - 0 Stand: April 2003 Caritas- Landesarbeitsgemeinschaften Hessen - Caritas V o l l Dr. Hejo Hejo Manderscheid Caritas Direktor DiCV Limburg e.V. Angelika Angelika Kennel Kennel Abteilungsleiterin DiCV Limburg e.V. v e r s a m m l u n g V o r s t a n d Vorsitzender: Peter Deinhart Stellv. Gesch äftsführer DiCV Mainz e.V. Gerhard Sü Sündermann ndermann Tina Hofmann Caritas Direktor DiCV Fulda e.V. Josef Gebauer Referatsleiter DiCV Fulda e.V. Dr. Guido Amend Referentin des Direktors GF und Justitiar des DiCV Limburg e.V. Kommissariats der Kath. Bischöfe in Hessen Wiesbaden Caritas Landesarbeitsgemeinschaften in Hessen Kinder-, Jugend-, und Familienhilfe Altenhilfe / Pflege Vorsitzende(er): Vorsitzende(er): Rainer Rainer Wolf Wolf Dr. Werner Veith Haus der Volksarbeit Gesch äftsführer Geschäftsführung: J. Hartmann-Lichter DiCV Limburg Referatsleitung Behindertenhilfe/ Psychiatrie Sucht Vorsitzende(er): Vorsitzende(er): Steffen Hensel Josef Gebauer Barbara Barbara Handke Handke Caritasverband Darmstadt Direktor Frankfurter Werkgemeinschaft Bereichsleiter Geschäftsführung: Geschäftsführung: Ernst-Paul Walter DiCV Fulda Referatsleiter Achim Eng DiCV Limburg Referent Soziale Sicherung Vorsitzende(er): AG Katholischer Krankenhäuser Vorsitzende(er): Hanno Hanno Heil Heil Diözesancaritasverband Fulda Referatsleiter Caritasverband Wiesbaden Direktorin Vorsitzender Diözesancaritasverband Limburg Geschäftsführung: Geschäftsführung: Geschäftsführung: Hermann Hermann Ohler Ohler DiCV Mainz Referent Benno Rehn DiCV Mainz Referent Peter Peter RRömer mer DiCV Limburg Gesch äftsführer der Arbeitsgemeinschaft Stand: Juni 2003 88 Beiträge aus der Forschung caritas Controlling Gemeindecaritas Freiwilligenarbeit Sozialpastoral „Anforderungen an ein zeitgemäßes anforderungs- und leistungsadäquates Entgeltsystem“ - ein Streitgespräch Moderation: Dr. Anna Stefaniak, Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund Eine Podiums- und Publikumsdebatte bildete den Abschluss der Fachtagung. In einem Streitgespräch zwischen Vertretern der Tarifparteien und der Verbände sollte noch einmal die Thematik der gesamten Fachtagung resümiert werden. Dabei stand im Mittelpunkt die Frage, wie sich aus der Sicht unterschiedlicher Akteure (Verbände, Gewerkschaft, Arbeitgeberseite) die Suche nach neuen - anforderungs- und leistungsadäquaten - Entgeltstrukturen darstellt. Angesprochen waren damit zwei sehr unterschiedliche Dimensionen: Denn die Frage nach einer anforderungs- und leistungsgerechten Gestaltung von Entgeltsystemen beinhaltet sowohl die tariflichen Vergütungsstrukturen als auch den Gesamtkontext der Erbringung und Vergütung sozialer Dienstleistungen durch die freigemeinnützigen und privaten Träger im Rahmen staatlicher Vorgaben. Zum einen war damit also der Bereich der Bezahlung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gemeint, d.h. die Suche nach neuen Entgeltsystemen im Sinne neuer tarifvertraglicher Modelle. Hier ging es in erster Linie um die Modernisierung des BAT, aber auch allgemeiner um die Frage, wie die neuen Tätigkeits- und Kompetenzprofile der MitarbeiterInnen adäquat bewertet und vergütet werden können. Zum anderen ging es um dieNeuorientierung der finanziellen Grundlagen für die Träger, die Dienstleistungen im sozialen Bereich erbringen. Denn mit dem zunehmenden Wegfall des Selbstkostendeckungsprinzips, unter dem Druck von Budgetierung und Wettbewerb, sind in den letzten Jahren schrittweise andere Entgeltsysteme zum Ausgleich für erbrachte Dienstleistungen entwickelt worden, an die sich Träger anpassen müssen. Hier muss daher auch darüber diskutiert werden, wie Qualitätsstandards eingeführt und garantiert werden können, um einen bloßen Preiswettbewerb zu verhindern. Auf Einrichtungsebene haben diese veränderten Rahmenbedingungen praktische Konsequenzen für die Organisation von Arbeit und für die Qualität der Dienstleistungen, sie haben aber auch Konsequenzen für die Anforderungen und Belastungen an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zugleich sind diese Entwicklungen tarifpolitisch wie gesellschaftspolitisch von hoher Brisanz. Denn längst verhandeln nicht mehr nur die Tarifparteien um die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, um Tarife und Entgeltstrukturen, sondern die Politik sitzt sozusagen bei den Sozialen Diensten immer mit am Verhandlungstisch. Die Diskussionsrunde wurde eröffnet durch kurze Statements der drei Podiumsteilnehmer: Thomas Niermann, Hauptreferent beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, Wolfgang Altenbernd, Geschäftsführer des Bezirksverbandes der Arbeiterwohlfahrt West- Beiträge aus der Forschung 89 liches Westfalen, AWO WW und Rainer Friebertshäuser, Tarifsekretariat der Gewerkschaft ver.di. Thomas Niermann, Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e. V. Sehr geehrte Damen und Herren, auf der letzten Seite des Thesenpapiers zur Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege werden Fragen zu den Konsequenzen für die künftige Entwicklung der Freien Wohlfahrtspflege erörtert. Ich möchte meine kurzen Ausführungen auf die Fragenkomplexe ”Neue Anforderungen an Träger und Einrichtungen“ sowie ”Politische Gestaltungsnotwendigkeiten“ konzentrieren. Bevor wir uns mit neuen Anforderungen und politischen Gestaltungsnotwendigkeiten befassen, sollten wir uns über den Sinn und den Zweck freigemeinnütziger sozialer Arbeit vergewissern. Wir haben es mit Menschen zu tun, die hilfebedürftig sind und möchten mit unseren Dienstleistungen einen Beitrag zur Selbstbestimmung leisten. Aus diesem Grunde haben wir unsere sozialen Dienstleistungen am Bürgerstatus der hilfebedürftigen Menschen zu orientieren und zu akzeptieren, dass sie als produktive Nutzerinnen und Nutzer den Hilfeprozess weitgehend steuern. Hieran sind die unterschiedlichen professionellen Handlungskonzepte und die Organisation des Hilfeprozesses einschließlich des Personaleinsatzes auszurichten. Anders formuliert: Über die Adäquanz einer Vollzeitstelle oder eines Minijobs entscheiden keine tarifpolitischen Ideologien, sondern die Anforderungen des Hilfeprozesses. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind auf Bundes-, Landes- und Ortsebene sozialanwaltschaftlich tätig. Die Armutsbekämpfung, der Einsatz für die Rechte behinderter Menschen oder die Verbesserung der Lebensbedingungen von Migrantinnen und Migranten seien als Beispiele genannt. Seit einigen Jahren stehen zudem auch Einrichtungen und Dienste der sozialen Arbeit vor sozialanwaltschaftlichen Aufgaben. Oftmals werden hilfebedürftigen Menschen notwendige Leistungen durch den zuständigen Sozialleistungsträger verweigert. Leistungsbescheide sind falsch oder unzureichend. Die Freie Wohlfahrtspflege und Einrichtungen und Dienste sollten dann die individuelle Beratung über sozialrechtliche Ansprüche organisieren. So hat ein größerer Freier Träger derBehindertenhilfe im Süden Hessens eine Rechtsanwältin eingestellt, die Menschen mit Behinderungen und die Betreuerinnen und Betreuer berät, bei der Formulierung eines Widerspruchs behilflich ist und ggf. den Weg zu einer Klage vor der Sozial-oder Verwaltungsgerichtsbarkeit ebnet. Die sozialanwaltschaftliche Interessenvertretung wird eine Anforderung werden, deren Bedeutung auch für Praxis der sozialen Arbeit Freier Träger zunimmt. Die fundierte Hilfeplanung - unter Beteiligung des Hilfebedürftigen - ist nicht nur wesentliche Voraussetzung für die Organisation des Hilfeprozesses sondern auch für sozialanwaltschaftliche Aktivitäten. Erst wenn alle Beteiligten wissen, welche Hilfen erforderlich sind, 90 Beiträge aus der Forschung kann beurteilt werden, ob die bewilligten Leistungen hinreichend sind. Die Träger von Einrichtungen und Diensten der sozialen Arbeit haben in den vergangenen Jahren erhebliche ”Lernanstrengungen“ vollzogen. Die Grundlagen für die mit den Kostenträgern auszuhandelnden Leistungs-, Vergütungs- und Qualitätsvereinbarungenwaren zu schaffen. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass die konzeptionelle Arbeit ein kontinuierlicher Prozess sein sollte, so dass jeder Zeit die Notwendigkeit des Leistungsangebotes und der damit verbundenen Kosten begründet werden kann. Wenn Einrichtungen und Dienste über ihr Leistungsspektrum und die mit einzelnen Leistungen einhergehenden Kosten differenziert informiert sind, sind sie für die Anforderungen der rigider werdenden Verhandlungsrunden gerüstet und werden sozialpolitisch handlungsfähig. Die Transparenz von Leistungen und Kosten ist notwendig, um beispielsweise die Vergütungsverhandlung einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen mit einem Sozialhilfeträger aus dem ”stillen Kämmerlein“ herauszuholen. Die Einrichtung könnte dann nachweisen, dass unzureichende Vergütungssätze zur Streichung bestimmter Leistungen führen und durch Lobby- und Medienarbeit dazu beitragen, dass Einschnitte in die Lebensqualität hilfebedürftiger Menschen bzw. Qualitätsverschlechterungen in der sozialen Arbeit politisch diskutiert werden. Aus zeitlichen Gründen erwähne ich nur die Bedeutung praxistauglicher Instrumente der Qualitätssicherung sowie einrichtungsübergreifender Standards, verzichte aber auf Ausführungen. Herr Dr. Manderscheid ist auf diese Themen eingegangen. Eine weitere Anforderung ist die Kooperation mit den Vertretungen der Bewohnerinnen und Bewohner (Heimbeiräte) der gemeinnützigen Einrichtungen bzw. Nutzerinnen und Nutzer der Dienste. Das Heimgesetz und die Mitwirkungsverordnung sehen die Beteiligung der Heimbeiräte an Verhandlungsrunden der Einrichtungen und Kostenträger vor. Wir benötigen diese ”Dritte Bank“. Erste Erfahrungen zeigen, dass wir uns mit der Entwicklung von Partizipationskonzepten befassen sollten. Bedauerlicherweise findet in dem Projektantrag des heute erörterten Forschungsvorhabens nur eine mögliche Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Erwähnung, nicht aber die der Heimbeiräte. Langsam, aber in Zukunft hoffentlich gewaltig, interessieren sich Träger für die Förderung des Freiwilligen Engagements in ihren Einrichtungen und Diensten. Alle Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege haben unterschiedliche Anstrengungen unternommen. Der PARITÄTISCHE Wohlfahrtsverband hat in einer ”Freiwilligencharta” zehn Anforderungen formuliert, die Einrichtungen erfüllen sollten, damit sich Menschen ihren Interessen entsprechend engagieren können. Unsere Bundesakademie führt Ausbildungsreihen für ”FreiwilligenkoordinatorInnen“ durch, die kurzum die Einrichtungen fit machen sollen für die Interessen und Anliegen der Freiwilligen. Wir fordern einen neuen, generationsübergreifenden Freiwilligendienst und hoffen, durch freiwillige engagier- Beiträge aus der Forschung 91 te Menschen die Leistungsangebote erweitern zu können und Multiplikatoren sowie Lobbyisten für die soziale Arbeit zu gewinnen. Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen unterschiedliche - zum Teil neue - Anforderungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der sozialen Arbeit. Für Leitungskräfte stellen der Beginn bzw. die Intensivierung der Medien- und Lobbyarbeit eine weitere Herausforderung und Qualifizierungsnotwendigkeit dar. Kontakte sind aufzubauen, zu pflegen und systematisch zu nutzen. Nur so können politische Gestaltungsmöglichkeiten erarbeitet werden. Erlauben Sie mir zum Ende meiner Ausführungen einen Hinweis zum persönlichen Budget. Hilfebedürftige Menschen sollen die Möglichkeit erhalten, an Stelle von Sachleistungen Geldleistungen zu wählen, mit denen sie die notwendigen Hilfen bei einem Leistungserbringer ihrer Wahl einkaufen können. Statt der heute üblichen ”Komplettleistungen“ durch eine Einrichtung oder einen Dienst könnten hilfebedürftige Menschen als ”Budgetnehmer“ Teilleistungen ihren Bedürfnissen entsprechend kombinieren und bei unterschiedlichen Einrichtungen und Diensten ggf. auch außerhalb des Sozialbereichs einkaufen. Weder die Selbsthilfeorganisationen noch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege oder die Kostenträger verfügen heute über Konzepte zur Einführung des persönlichen Budgets. Ich möchte appellieren, dass wir uns im Sinne der Selbstbestimmung hilfebedürftiger Menschen für das persönliche Budget einsetzen auch wenn hiermit Herausforderungen und Innovationen für Einrichtungen und Dienste verbunden sind. Schon heute ist absehbar, dass auf mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter flexiblere Arbeitszeit- und Arbeitsvertragsbedingungen zukommen werden. 92 Beiträge aus der Forschung Thomas Niermann, Paritätischer Wohlfahrtsverband Anforderungen an die Freie Wohlfahrtspflege und ihre Einrichtungen und Dienste: ¾ Selbstvergewisserung: Soziale Dienstleistung am Bürgerstatus der hilfebedürftigen Menschen orientieren (Selbstbestimmung, produktiver Nutzer/in, weitgehende Steuerung des Hilfeprozesses durch Nutzer/in, Mitwirkung an der Erfüllung eines individuellen Rechtsanspruches) ¾ individuelle Beratung über sozialrechtliche Ansprüche sicherstellen (ggf. Durch- setzung sozialrechtlicher Ansprüche organisieren) ¾ Hilfeplanung forcieren ¾ Mit Hilfe kontinuierlicher konzeptioneller Arbeit, ist die Notwendigkeit des Leistungsangebotes zu begründen. Darüber hinaus ist die Transparenz von Leistungen und Kosten herstellen. Beides sind notwendige Voraussetzungen für: , die interne Arbeitsorganisation , die Verhandlungen mit den Kostenträgen , die Ermöglichung von Widersprüchen/Klagen des Hilfeempfängers gegen un- zureichende Leistungsbescheide , Lobbyarbeit , Medienarbeit ¾ an der Entwicklung von Standards mitarbeiten ¾ Praxistaugliche Instrumente der Qualitätssicherung entwickeln und anwenden ¾ zeitgemäße Gestaltung der Arbeitsbedingungen ¾ Kooperation mit Heimbeiräten intensivieren (z. B.: Dritte Bank bei Verhandlungsrunden) ¾ Kooperation mit Betreuerinnen und Betreuern intensivieren ¾ Förderung des freiwilligen Engagements zur Chef(in)sache“ erklären , Erweiterung des Leistungsangebots , Multiplikator nutzen , Lobbyisten für die Einrichtung ¾ Medienarbeit: Kontakte aufbauen, pflegen und nutzen ¾ Lobbyarbeit: Kontakt zu Kommunal- und Landespolitikern aufbauen, pflegen und nutzen Zum Schluss: ¾ Das Persönliche Budgets als Beitrag zur Selbstbestimmung anerkennen und Herausforderungen annehmen Beiträge aus der Forschung 93 Wolfgang Altenbernd, AWO Bezirk Westliches Westfalen Meine Damen und Herren, zunächst möchte ich mich kurz vorstellen: ich bin Geschäftsführer der AWO Westliches Westfalen. Ich würde gern den Focus richten auf die Ausgabensituation und Einnahmensituation, also auf die Personalkosten und deren Refinanzierung und damit als einen Schwerpunkt Tarifpolitik. Wir haben bei uns einen ähnlichen Prozess organisiert, wie Herr Manderscheid das für die Caritas beschrieben hat. Wir haben Ehren- und Hauptamt ein ganzes Stück getrennt, haben das Hauptamt in Konzernstrukturen organisiert und in diesen Konzernstrukturen ca. 14.000 Beschäftigte organisiert; wir sind damit die größte Gliederung innerhalb der Arbeiterwohlfahrt. In der zweiten Funktion, in der ich hier sitze, bin ich Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft Arbeiterwohlfahrt als Gegenpart von Ver.di, wir haben gerade erst vor 14 Tagen einen Vergütungstarifvertrag verhandelt. Wenn ich auf das Thema Tarifvertrag und Entgeltsituation eingehen darf, dann habe ich heute hier sehr vieles wieder gefunden, was ich genau so sehe. Es war von einem „halben Modernisierungsprozess“ die Rede, ich würde es etwas anders sagen: Die Ausgangssituation ist sehr indifferent, wir haben ein bisschen Ökonomisierung, ein bisschen Wettbewerb - in dem einen Bereich ein bisschen mehr, im anderen ein bisschen weniger. Wir haben eine Situation, die gleichermaßen, obwohl Wettbewerb eigentlich auch m.E. mit Freiheit verbunden sein müsste, mehr Regulierung, mehr Dokumentationspflichten, mehr Kontrollfunktionspflichten mit sich bringt. Also das Stück Freiheit, was uns angeboten wird, wird auf der anderen Seite zum Teil sehr viel teurer bezahlt. Und wir haben schlichtweg, ich erlaube mir, das mal so zu sagen, eine Mangelbewirtschaftung als Diskussion mit der Öffentlichen Hand: Nirgendwo wird mehr ausreichend Geld zur Verfügung gestellt, und wir bekommen sehr viele Pseudodiskussionen über Qualität, über Preis und über die Motivation der Beschäftigten. Dies trifft uns als Wohlfahrtsverbände, und ich kann das für den Bereich der Arbeiterwohlfahrt sagen, auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Den Mitgliedsverband, den ehrenamtlichen Bereich trifft es relativ wenig. Die Organisationen im Rahmen der Lobbyarbeit, also das, was eben auch schon mal so als Spitzenverbandsarbeit oder globale Rahmenbedingungen beschrieben worden ist, die trifft es aber schon sehr deutlich. Allerdings in anderer Form als z.B. den Aufgabenbereich, der subventioniert wird, der klassische Sozialarbeit ausmacht, oder den der Sozialunternehmen, die wieder eine völlig andere Situation in diesem Sozialmarkt erfahren; und diesen Bereich könnte man wieder untergliedern, weil die Rahmenbedingungen - also der sog. Markt, der Wettbewerb, die Konkurrenz - im Bereich ambulanter Dienste völlig andere sind als im Bereich stationärer Dienste, völlig andere sind als im Bereich Tageseinrichtungen für Kinder. Zum Teil ist das alles sogar noch länderspezifisch unterschiedlich. 94 Beiträge aus der Forschung Wenn man das herunterbricht auf bestimmte Ebenen, dann ist es schon sehr spannend, Sie haben vorhin ein paar Mal die Frage „Qualität“ diskutiert. Wir haben für uns einen Qualitätsbegriff formuliert. Vorhin ist gesagt worden, Mitarbeiter haben ihre Qualitätsdefinitionen, Kassen haben ihre Qualitätsdefinitionen. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass auch Politik letztendlich über den Rahmen, den Politik vorgibt, also auch über den finanziellen Gestaltungsrahmen sehr deutlich sagt, was denn gesellschaftspolitisch die Qualität ist, d.h. wie viel diese Gesellschaft letztendlich bereit ist, zur Pflege eines alten Menschen, eines Behinderten, zur Versorgung eines Kindes eigentlich zahlen zu wollen. Und das ist mit die größte Stellschraube, wenn ich das mal an „Stellschrauben“ festmachen darf. Das heißt also, wir haben, wenn man unternehmerisch denkt, und darauf will ich mich beziehen, die Stellschraube „Kosten“. Ich kann also an Kostenschrauben drehen, die sind sehr unterschiedlich, in Beratungsdiensten haben wir Personalkostenanteile von 90%, in pflegesatzrelevanten Bereichen Personalkostenanteile von ca. 70%, Sachkostenanteile von 18-20% und immobilienbedingte Kosten von 10-12%. Das heißt also, es gibt sehr wenige Bereiche, in denen ein Träger einseitig die Stellschrauben verstellen kann. Er hat nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten. Politik und Rechtsrahmen beschreiben eigentlich sehr viel stärkere Stellschrauben. So. Ich will es mal bei dem Rahmen lassen. Heruntergebrochen auf eine Tarifebene heißt das für einen Träger oder für eine Trägergemeinschaft oder eine Tarifgemeinschaft, eigentlich nur an ganz bestimmten Schrauben drehen zu wollen und zu können. Wenn ich das mal aus unserer Sicht sage: Wir verhandeln mit Ver.di seit anderthalb Jahren einen Reformtarifvertrag, waren im Januar in einem relativ „tiefen Loch“, sind jetzt nach den relativ konstruktiven Lohn- und Gehaltstarifverhandlungen ein bisschen wieder herausgekommen. Trotzdem habe ich Fragezeichen, ob das gelingen wird. Es geht um Flexibilisierung, es geht um flexibleren Personaleinsatz, vorhin fiel das Wort „Lohndumping“ oder auch „Lohnabstriche vorzunehmen“ - ich sage sehr bewusst aus meiner Sicht, auch das darf kein Tabu mehr sein. Wenn im Bereich Sozialstationen die Freie Wohlfahrtspflege vor fünf Jahren 80-, 90%-iger Anbieter war und heute noch 40%-iger Anbieter ist, und wenn das Bundessozialgericht sagt, dass Gestehungskosten nicht mehr relevant sind, sondern eigentlich die Vergleichspreise des Marktes letztendlich die Leistungsrahmen bestimmen, dann muss es auch möglich sein zu sagen, wir müssen über Löhne und Gehälter von Mitarbeitern reden, über deren Arbeitsbedingungen, die dann anders sind als gestern. Wenn wir das nicht tun, ist die Alternative, dass es einem Wohlfahrtsverband nicht mehr möglich ist, solche Dienste zu übernehmen. Beiträge aus der Forschung 95 Rainer Friebertshäuser, ver.di-Bundesverwaltung Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, mir wird es wohl nicht gelingen, hier eine Brücke zwischen den beiden vorgenannten Meinungen zu finden, weil ein Tarifpolitiker immer so von außen die Aufgabe übertragen bekommt, die Quadratur des Kreises zu erfinden, nämlich auf der einen Seite selbstverständlich für das Klientel tätig zu werden, für das er tätig werden muss, nämlich für die Beschäftigten oder Mitglieder in den Organisationen, auf der anderen Seite aber auch darauf zu achten, dass von außen Geld in das System hineinkommt. Wir werden also immer Kompromisse finden müssen, sicherlich, aber diese Kompromisse werden nie zur Zufriedenheit beider Seiten beitragen, und ich denke, das ist ein Ding der Tarifpolitik. Aber wenn man mal so ein bisschen grundsätzlicher an die Frage der Entgeltsysteme herangeht, so erleben wir im Moment eine Veränderung. Auch die Wohlfahrtsverbände sind ja im Prinzip angelehnt an einer Entwicklung des BAT, der entstanden ist in einer Zeit, als der Öffentliche Dienst und auch die Wohlfahrtsfürsorge staatliche Aufgabe waren. Und wir haben etwa seit 1983 eine Tendenz in dieser Gesellschaft der Entstaatlichung von Fürsorge und eine Marktöffnung für Fürsorge. Der BAT ist von da her unter Druck, und wir sind auch noch unter anderen Gesichtspunkten unter Druck. Wenn ich über Entgeltsysteme rede, dann muss ich fragen, wie kann ich denn Entgeltsysteme schaffen, die gerechter sind und die nachvollziehbarer sind, und woran können sie sich begründen. Ich denke, sie können sich nicht begründen an der Tatsache, dass jemand 20 Jahre lang die gleiche Arbeit gemacht hat – das will ich deutlich sagen. Sie können sich nicht daran begründen, wie viel Kinder jemand hat und ob er verheiratet ist; es ist eine sozialstaatliche Aufgabe, dies zu subventionieren oder zu unterstützen. Aber sie müssen sich begründen am Wert der Arbeit. Und ich stelle die Frage, ob der Wert der Arbeit zu messen ist an dem Gesichtspunkt, wie billig Arbeit auf dem Markt zu erhalten ist unter Ausnutzung von Notsituationen. Da bin ich der Meinung, dass das nicht den Wert der Arbeit widerspiegelt. Der Wert der Arbeit kann sich doch nur festmachen an dem Nutzen, den die Arbeit hat. Und wer hat den Nutzen? Es gibt Nutzer, das sind die Arbeitgeber im Prinzip; sie werden vom Staat beauftragt, eine Aufgabe wahrzunehmen. Die haben eine andere Sicht der Dinge als der Nutzer, der es ertragen muss, dass eine Leistung an ihm vorgenommen wird – ertragen, ich habe das mal ein bisschen überspitzt, durchaus provokativ. Es ist nämlich der Letzte, also das ist das Kind, was in den Kindergarten geht, es ist der Patient im Krankenhaus, es ist der Senior im Pflegeheim, das sind die Menschen. Und es ist der Staat, der die Freien Wohlfahrtsverbände nutzt, es sind aber auch die Mitarbeiter, und da sage ich mal, die werden etwas mehr auch benutzt an manchen Stellen. Also das Problem ist, dass meiner Ansicht nach der Wert der Arbeit sich eigentlich nur bestimmen kann über eine gesellschaftliche Definition der Sozialen Arbeit, die wir Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre in einem breiten Prozess mal deutlich aufgewertet hat- 96 Beiträge aus der Forschung ten. Im Augenblick steht dagegen im Vordergrund die pekuniäre Situation, dass einfach kein Geld vorhanden ist. Frage ist: Ist Tarifpolitik solchen Marktgesetzen unterlegen? Dürfen wir den Wert der Arbeit an anderen Definitionen als an dem eigentlichen Wert denn wirklich stützen? Dürfen wir uns orientieren an Preiskämpfen, wie sie Aldi, Wal-Mart u.a. machen, oder müssen wir nicht tatsächlich eine zukunftssichere Tarifpolitik machen, die sich in den Entgeltsystemen dann auch wieder findet? Also von daher sind das Fragen, die wir in der Tarifpolitik stellen, und ich denke, auch die Arbeitgeber wären gut beraten, genau diesen Weg mitzugehen. Diskussion In der anschließenden Diskussion standen - neben Nachfragen zu den Erfahrungen mit dem Instrument der individuellen Rechtsklagen - Strategien der Qualitätssicherung, tarifpolitische Probleme (Vorreiterrolle des BAT, Neu-Bewertung von Tätigkeiten im sozialen Bereich) im Vordergrund. Dabei wurde sehr deutlich von allen Diskutanten auf die besondere Rolle und die Verantwortung der Politik in diesem Prozess hingewiesen. Unter drei Stichworten lassen sich die Schwerpunkte der Debatte zusammenfassen. ¾ Wie kann die Qualität der Sozialen Dienstleistungen gesichert werden, wie kann verhindert werden, dass Wettbewerb künftig nur noch über Preise ausgetragen wird? ¾ Wie sollen und können Soziale Dienstleistungen künftig tariflich abgesichert und adäquat bewertet werden? ¾ Wie kann die Politik stärker in die Verantwortung genommen werden, um zu einer Aufwertung der Sozialen Dienste zu gelangen? Die - sachlich zwar enge, aber in der praktischen Umsetzung unzulänglich gestaltete - Verknüpfung von Qualitätsstrukturen und Entgelt- resp. Kostenstrukturen stellte sich dabei als ein Kernproblem heraus. So wies Thomas Niermann am Beispiel des Pflegebereichs auf die mangelnde Kongruenz zwischen den gestiegenen Qualitätsanforderungen auf der einen Seite, den sinkenden Pflegesätzen auf der anderen Seite hin: So würden im Pflegebereich Qualitätsstandards mit den Kostenträgern vereinbart und es gebe entsprechende Prüfungsvereinbarungen. Inzwischen gebe es aber mehrere Gesetze, die sich gleichzeitig mit Qualitätsprüfungen befassen, so dass eine ausgesprochene Unübersichtlichkeit entstanden sei. Es sei daher bisher nicht gelungen, den Qualitätsprozess mit der Frage der Entgeltstruktur zu verbinden. Wolfgang Altenbernd betonte, dass „die Gestaltung des Entgeltsystems auch eine Frage an die Politik ist.“ Dies sei insbesondere mit Blick auf die Veränderungen der Entgeltsystematik ein nachhaltiges Problem: „Was uns ja abhanden gekommen ist, ist eine Beiträge aus der Forschung 97 Beschreibung der genauen Qualitätsanforderungen, die wir leisten sollen. Im alten System war das relativ einfach: Ich mache eine bestimmte Arbeit, stelle einen ein, der ist Sozialarbeiter, Erzieher, Sozialpädagoge, dafür bekommt er so und so viel Gehalt, und dann wurde aufgelistet, was der zu tun hatte. Das ist heute anders, heute haben wir ein System, in dem wir suggerieren, als wenn der Inanspruchnehmer - ich sag mal, der alte Mensch in der Sozialstation oder in der Pflege - einen individuellen Anspruch auf Pflege hat und dass er diesen individuellen Anspruch bezahlt. Er bekommt aber nicht seinen individuellen Bedarf bezahlt, sondern es gibt ein System, das pauschal alle Pflegebedürftigen dieser Einrichtung nur im Verhältnis leichter, mittlerer und schwerer Pflege differenziert. Das heißt, Sie haben ein Problem, weil Sie die Anforderung haben, dass von 30 Schwerpflegebedürftigen 30 unterschiedliche Bedarfe an Quantität und Qualität dahinterstehen und Sie müssen dafür einen unterschiedlichen Personaleinsatz erwirken. Dieser wird aber nicht definiert! Das System verlagert dieses Risiko auf den Träger, der Träger verlagert dieses Risiko zum Teil auf Mitarbeiter, damit haben wir ein Problem zwischen Mitarbeitern und Trägern in der Leistungserbringung gegenüber anderen. Das Problem der Tarifvertragsparteien ver.di oder früher ÖTV und Freie Wohlfahrtspflege ist zudem ja auch noch sehr differenziert. Wir haben zurzeit eine Gemengelandschaft von privatgewerblichen, immer weniger werdenden kommunalen bis zu freigemeinnützigen Trägern, die sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen haben. Und wenn Sie in Pflegesatzverhandlungen gehen, dann sind wir uns schnell einig. Für diese Einrichtung brauchen Sie 100 Köpfe mit der und der Qualifikation, so, dann kommt der eine Träger und sagt, „die kosten mich so viel“, der andere sagt, „ich bin Tarifpartner, mich kosten die so und so viel Prozent mehr“, und das Bundessozialgericht geht hin und sagt, „also diese Gestehungskosten spielen heute keine Rolle mehr“. Dann bedeutet das im Endergebnis, Sie bekommen einen Pflegesatz, der Ihnen Ihre Gestehungskosten nicht refinanziert, d. h. Sie nehmen als Unternehmer „Freier Wohlfahrtsverband“ in Kauf, dass Sie immer weniger Einnahmen haben als Sie brauchen, um Ihre Mitarbeiter zu bezahlen. Uns ist, ich sag mal, das Feindbild abhanden gekommen. Der Öffentliche Dienst ist Vorreiter gewesen. Er ist es aber nicht mehr, sondern wir sind heute in einer Konkurrenz zu anderen, und die haben ein anderes Bezahlungsniveau, ein anderes Organisationsniveau. Und das ist genau die Position, über die sich Ver.di und die Anbieter streiten müssen.“ Rainer Friebertshäuser machte abschließend darauf aufmerksam, dass und inwiefern aus seiner Sicht Qualität, Qualifizierungs- und Gehaltsstrukturen auf einander bezogen sind: „Sie brauchen zur Leistungserbringung eine bestimmte Qualität, und diese Qualität unabhängig von der Bezahlung erfordert erst mal eine bestimmte Qualifikation. Diese Qualifikation können Sie nicht beliebig im Bereich Altenpflegeheim gestalten, das können Sie nur in bestimmten Kursen, Sie können das nicht frei gestalten in Kindergärten. Sie können natürlich an Gehaltsschrauben dre- 98 Beiträge aus der Forschung hen und können sagen, ich gebe der, weil ich nicht mehr tarifgebunden bin, 10% weniger, und wenn es ein Überangebot an Erzieherinnen gibt, wird Ihnen das gelingen. ... Wir kriegen zurzeit in Nordrhein-Westfalen durch die offene Ganztagsschule - und das ist politisch so gewollt! - eine Entwicklung, dass wir als Träger, freie, gemeinnützige und kommunale, alle Plätze verlieren, in denen wir bisher Schulkinder in Tageseinrichtungen versorgt haben. Dafür werden Hausfrauen für 5 Euro die Stunde geworben ...“ Qualifizierung müsse daher künftig verstärkt als Thema in die Tarifverhandlungen einbezogen werden, denn "dazu steht in Tarifverträgen heute praktisch nichts drin. Auch die Bereitschaft, über eine Arbeitszeitflexibilisierung zu verhandeln, ist bei uns vorhanden, das will ich auch ganz deutlich sagen, und auch der BAT lässt sie heute eigentlich schon in vielen Punkten zu, und da könnten wir uns wahrscheinlich auch schnell einigen. Das Problem ist nur, auch hier brauchen wir unseren Ansatz, wir brauchen auch Schutzfunktionen in Tarifverträgen, die eine bestimmte Grenze nicht überschreiten. Überforderungssysteme helfen der Qualität des Systems überhaupt nicht, auch das Problem der Überforderung von Mitarbeitern muss tarifvertraglich geregelt werden.“ Beiträge aus der Forschung 99 100 Beiträge aus der Forschung