N.BORGHINI Thermodynamik des Gleichgewichts Statistische Physik I VIII. Andere thermodynamische Systeme In diesem Kapitel werden zunächst einige „nicht-einfache“ thermodynamische Systeme dargestellt (Abschn. VIII.1), d.h. Systeme, deren Beschreibung neben der inneren Energie U , dem Volumen V und den erhaltenen Teilchenzahlen Nj der verschiedenen Komponenten zusätzliche extensive Größe erfordert. Abschnitt VIII.2 wird dann dem wichtigen Fall von Mehr-Komponenten-Systemen, in denen die Komponenten sich ineinander umwandeln können, gewidmet, entsprechend dem Rahmen der Thermochemie. VIII.1 Nicht-einfache Systeme VIII.1.1 Magnetische Substanzen Einige ferromagnetische Materiale wie Eisen, Kobalt oder Nickel, können unter einer gewissen Temperatur TC , der Curie-Temperatur , ein makroskopisches magnetisches Dipolmoment besitzen, das auch in Abwesenheit eines äußeren Magnetfelds dauerhaft bleibt. Außerdem kann in anderen „magnetischen“ Substanzen ein solches Dipolmoment durch die An~ — wendung eines magnetischen Felds — genauer, durch eine angewandte magnetische Flussdichte B induziert werden. In paramagnetischen Substanzen ist das Dipolmoment in die gleiche Richtung wie das äußere Feld gerichtet, in diamagnetischen Materialen zeigt es in die entgegengesetzte Richtung. ~ Dieses spontane oder induzierte magnetische Dipolmoment wird durch die Magnetisierung M charakterisiert, entsprechend dem Dipolmoment pro Volumen bzw. der Dichte von mikroskopischen magnetischen Dipolmomenten. VIII.1.1 a Innere Energie magnetischer Materiale :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: ~ homogen im Material sind, Unter der Annahme, dass die Magnetisierung und das äußere Feld B ~ bei konstantem Volumen zu verändern lautet die nötige Arbeit, um die Magnetisierung um dM ~, ~ · dM δWmag. = V B mit V dem Volumen des Materials.25 Somit lautet die Fundamentalgleichung in Energiedarstellung ~. ~ · dM dU = T dS − P dV + V B (VIII.1) ~ wird oft der magnetische Beitrag zur Bemerkung: Statt der äußeren magnetischen Flussdichte B ~ geschrieben, die im Vakuum gleich inneren Energie mithilfe der äußeren magnetischen Feldstärke H ~ ~ 0 ist: δWmag. = µ0 V H ~ · dM , wobei die Vakuumpermeabilität µ0 oft weggelassen wird. B/µ VIII.1.1 b Phasenübergang in Ferromagneten :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Oberhalb der Curie-Temperatur TC (1033 K für Fe, 1395 K für Co, 627 K für Ni) verlieren ferromagnetische Materiale ihre spontane Magnetisierung. Für T > TC sind sie somit nicht mehr ferromagnetisch, sondern werden paramagnetisch. Dabei handelt es sich um einen kontinuierlichen Phasenübergang (Abschn. VII.4). Die Magnetisierung bzw. deren Betrag, der Null in der Hochtemperatur und endlich in der NiedrigtemperaturPhase ist, spielt die Rolle des Ordnungsparameters. Als die Temperatur von unten gegen TC bei verschwindendem äußerem Magnetfeld geht, genügt die Magnetisierung der Beziehung ~ M ~ ~ ∝ (TC − T )β , B=0 entsprechend Defintion (VII.9c) des kritischen Exponenten β. 25 Dies wird z.B. in Ref. [22], Kapitel 1.5 des zweiten Teils, bewiesen. VIII. Andere thermodynamische Systeme 77 N.BORGHINI Thermodynamik des Gleichgewichts Statistische Physik I ~ entsteht in der paramagnetischen Phase In Anwesenheit eines äußeren magnetischen Felds B ~ . In der ferromagnetischen Phase führt B ~ zu einer Verschiebung eine induzierte Magnetisierung M ~ der Magnetisierung von deren spontanen Wert M ~ ~0 . In den beiden Phasen kann man dann eine B= dimensionslose magnetische Suszeptibilität als ✓ ✓ ~ ◆ ~ ◆ @M @M µ0 = lim m ⌘ lim ~ T H! ~ T ~ ~0 ~ ~0 @B @H B! definieren, die somit die Antwort des Ordnungsparameters auf eine Variation der dazu konjugierten Variablen darstellt. Auf den beiden Seiten der kritischen Temperatur divergiert diese Suszeptibilität gemäß dem Potenzgesetz TC , m / T ähnlich Gl. (VII.9a)–(VII.9b). Literatur • Fließbach [16], Kapitel 36. • Nolting [22], Kapitel 1.5 des zweiten Teils. VIII.1.2 Oberflächeneffekte In diesem Abschnitt werden ein paar Phänomene betrachtet, die durch die Existenz einer Grenzfläche zwischen unterschiedlichen Phasen bedingt werden. VIII.1.2 a Grenzfläche zwischen zwei Phasen. Oberflächenspannung ::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Sei eine homogene Flüssigkeit im Gleichgewicht mit dem zugehörigen Dampf. In jeder Phase unterliegen die Moleküle anziehenden Kräften, die durch die Nachbarmoleküle geübt werden und deren Intensität stark vom intermolekularen Abstand abhängt. Somit sind die Kräfte im Mittel schwächer in der verdünnten Phase (Gas) und stärker in der dichteren Phase (Flüssigkeit). Dementsprechend wird ein Molekül der Grenzfläche zwischen den beiden Phasen mehr durch die Flüssigkeit als durch das Gas angezogen. Um ein Molekül vom Inneren der Flüssigkeit an die Oberfläche zu bringen, d.h. um die Fläche A der Grenzfläche zu vergrößern, muss man somit eine Arbeit leisten, um die stärkeren anziehenden Kohärenzkräfte zu überwinden. Für eine Menge von Molekülen, die zu einer Veränderung dA der Fläche führt, lautet die zu leistende Arbeit W = dA , mit der Oberflächenspannung, hier für die Grenzfläche flüssig/gasförmig. Flächeneinheit dar. Die Fundamentalgleichung in Energiedarstellung lautet also dU = T dS P dV + dA . stellt die Energie pro (VIII.2a) In der Darstellung entsprechend der freien Energie lautet dies dF = S dT P dV + dA . (VIII.2b) Somit ist die Minimierung der freien Energie einer Flüssigkeitstropfens mit festem Volumen bei konstanter Temperatur äquivalent zur Minimierung dessen Oberfläche. Dies erklärt die Kugelform von Tropfen oder Blasen in Abwesenheit von äußeren Feldern wie das Gravitationsfeld, sowie das Verschmelzen zweier Blasen zu einer größeren mit demselben Gesamtvolumen. Bemerkungen: ⇤ Oberflächen- bzw. Grenzflächenspannungen treten nicht nur bei der Grenzfläche zwischen einer Flüssigkeit und einem Gas, sondern allgemeiner bei jeder Grenzfläche zwischen zwei verschiedenen Phasen. VIII. Andere thermodynamische Systeme 78 N.BORGHINI Statistische Physik I Thermodynamik des Gleichgewichts 2R A • • B h D • • E • C Abbildung VIII.5: Kapillaraszenzion einer Flüssigkeit in einer Kapillare. P D ' P E (auf den beiden Seiten einer flachen Oberfläche) und PA PB = 2 LV r , mit r dem Radius des Meniskus. Der letztere ist eine Kugelkalotte, deren abschließender Kreis den Radius R hat. Diese zwei Radien werden durch R = r cos ✓ verknüpft, mit ✓ dem Kontaktwinkel zwischen der Flüssigkeit und der Kapillare. Da C und E auf der gleichen Höhe im gleichen Fluid sind, kommt insgesamt P A ' P D ' P E = P C = P B + %gh = P A 2 LV r + %gh, ⇤ d.h. genau Gl. (VIII.5). VIII.2 Thermochemie In diesem Abschnitt wird das Formalismus der Thermodynamik auf der Beschreibung des chemischen Gleichgewichts zwischen den an einer Reaktion teilnehmenden Substanzen verwendet. VIII.2.1 Chemische Reaktionen Im Allgemeinen lässt sich eine chemische Reaktion als eine Bilanz 0 0 ⌫10 A1 + ⌫20 A2 + · · · + ⌫k0 Ak ⌦ ⌫k+1 Ak+1 + ⌫k+2 Ak+2 + · · · (VIII.6) schreiben, wobei die Aj die chemischen Substanzen bezeichnen: A1 , A2 . . . Ak sind die Reaktanden und Ak+1 , Ak+2 . . . die Reaktionsprodukte.28 Die stöchiometrische Koeffizienten genannten natürlichen Zahlen ⌫j0 beschreiben, welche relative Menge an Produkten bzw. Reaktanden in der Reaktion produziert bzw. benutzt werden. Beispielsweise sollen im Fall der Reaktion 2H2 + O2 ⌦ 2H2 O (VIII.7) 0 0 0 ⌫H = 2 Mole von H2 mit ⌫O = 1 Molen von O2 reagieren, um ⌫H = 2 Mole von Wasser zu 2 2 2O erzeugen. 28 Dabei wird die Richtung der Reaktion konventionell als die exothermische Richtung, entsprechend der Zunahme der freien Enthalpie, angenommen. VIII. Andere thermodynamische Systeme 83 N.BORGHINI Thermodynamik des Gleichgewichts Statistische Physik I Statt der νj0 kann man auch die durch ( −νj0 für j ≤ k („Reaktanden“) νj = +νj0 für j ≥ k + 1 („Produkte“) definierten äquivalenten Koeffizienten νj ∈ Z benutzen. Mit deren Hilfe lässt sich Reaktion (VIII.6) als X νj Aj 0 (VIII.8) j umschreiben. Um den Ablauf einer chemischen Reaktion zu beschreiben wird die Reaktionslaufzahl (auch Umsatzvariable gennant) ξ ∈ [0, 1] eingeführt. Deren differentielle Änderung dξ gibt die differentielle Änderung der Molanzahl n jeder an der Reaktion teilnehmenden Substanz an dn j = νj dξ. (VIII.9) Dazu gilt ξ = 0 für den Anfangszustand der Reaktion. Seien im Beispiel der chemischen Reaktion (VIII.7) (n H2 )0 , (n O2 )0 und (n H2 O )0 die Molanzahlen von H2 , O2 und H2 O im Anfangszustand, und ∆n j ≡ n j − (n j )0 die jeweiligen Änderungen dieser Stoffmengen zu einer späteren Zeit. Dann gelten ∆n H2 = −2ξ, ∆n O2 = −ξ und ∆n H2 O = +2ξ, d.h. ∆n H2 ∆n O2 ∆n H2 O ξ= = = . −2 −1 2 VIII.2.2 Thermodynamische Beschreibung. Chemisches Gleichgewicht Zur Beschreibung der Thermodynamik einer chemischen Reaktion sind die üblichen Zustandsvariablen die Temperatur T , der Druck P und die Molanzahlen n j der Substanzen. Dementsprechend ist das geeignete thermodynamische Potential die freie Enthalpie G(T, P , n 1 , . . . , n r ). Unter Nutzung der Verallgemeinerung von der Beziehung (V.3) zum Fall unterschiedlicher Teilchenarten gilt r X G(T, P , n 1 , . . . , n r ) = µ̃j (T, P , n 1 , . . . , n r ) n j (VIII.10) j=1 mit µ̃j (T, P , n 1 , . . . , n r ) ≡ (∂G/∂ n j )T,P ,nk6=j dem chemischen Potential pro Mol. Dabei sind aber die unterschiedlichen Molanzahlen — oder zumindest ihre Variationen — nicht unabhängig. Tatsächlich genügen alle differentiellen Änderungen der Beziehung (VIII.9), so dass die Umsatzvariable ξ der einzige freie Parameter ist. Somit lautet die infinitesimale Variation der freien Enthalpie (VIII.10) X r r X dG = µ̃j dn j = µ̃j νj dξ. (VIII.11) j=1 j=1 Das chemische Gleichgewicht entspricht dem Zustand, in welchem die freie Enthalpie minimal ist. Dabei können zwei Möglichkeiten stattfinden: • Das Minimum von G wird für ξ = 0 (Anfangszustand) oder ξ = 1 erreicht: die Reaktion ist vollständig abgelaufen, eine der teilnehmenden Substanzen ist nicht mehr vorhanden (n j = 0). • Das Minimum von G wird für 0 < ξ < 1 erreicht. Dann soll ∂G/∂ξ = 0 gelten, d.h. gemäß Gl. (VIII.11) r X µ̃j νj = 0. (VIII.12) j=1 Diese Gleichheit stellt die Bedingung für ein (nicht-triviales) chemisches Gleichgewicht dar, ähnlich der Gleichheit der Temperaturen der unterschiedlichen Körper im Fall des thermischen Gleichgewichts. Im Beispiel der Reaktion (VIII.7) findet das chemische Gleichgewicht für 2µ̃H2 + µ̃O2 = 2µ̃H2 O statt. VIII. Andere thermodynamische Systeme 84 N.BORGHINI Thermodynamik des Gleichgewichts Statistische Physik I Literatur • Fließbach [16], Kapitel 21. • Reif [5], Kapitel 8.7–8.9. • Schwabl [6], Kapitel 3.9.1, 3.9.3. VIII. Andere thermodynamische Systeme 85