Eine neue Vorstellungswelt herzustellen, die aus den

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„Eine neue Vorstellungswelt herzustellen, die aus den
bekannten Vorstellungen zusammengesetzt ist“
Jean Pauls Ästhetik und die englische Philosophie des
18. Jahrhunderts
ANETTE HORN
University of Pretoria
Abstract
Jean Paul’s own writing must be located within the debates of the late eighteenth century, especially the empiricism of Locke, Hume, Young, Priestley and Hartley. The theory of the association of ideas provides a key entry point to the thinking and the poetics
of Jean Paul. He does, however, shift the emphasis: against the objective he emphasizes
the subjective perspective. The key problem in his attempt to clarify his poetics, his aesthetics and his philosophical position was the question of commercium mentis et corporis, the relationship of mind and body In this context the following paper looks at
Jean Paul’s reception of the English psychology of association and its influence on his
poetics of the metaphor.
Daß Humor ein Kennzeichen von Jean Pauls Romanen ist, ist keine neue Erkenntnis.
Wie aber dieser Humor zustande kommt, auf welche Erkenntnis Jean Paul aus ist, und
was dies mit der grundlegenden Gespaltenheit des Subjekts in Körper und Geist und der
Einsicht in die Vieldeutigkeit der Welt zu tun hat, soll hier anhand von Jean Pauls Auseinandersetzung mit der englischen Assoziationspsychologie und dem Leib-Seele-Problem untersucht werden. Diese Begriffe wiederum sind grundlegend für seine Poetik der
Metapher.
Das Ende des Vernunftzeitalters der Aufklärung setzte in den 30er Jahren des achtzehnten Jahrhunderts unter dem Einfluß der neuen philosophischen und wissenschaftlichen Richtung des Empirismus und Sensualismus ein. (Vgl. Voigt 1969:11) Über den
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Anette Horn
englischen Empirismus gelangte die Theorie der Ideenassoziation - auch Assoziationspsychologie genannt - nach Europa. Diese Lehre widmete sich nicht so sehr den abstrakten Denksystemen, wie der Rationalismus vor ihr, als vielmehr der Entstehung von
Gedanken eines empirischen Subjekts. Als ihre Hauptvertreter galten Locke, Hume,
Young, Priestley und Hartley. Damit steht Jean Paul innerhalb eines literarhistorischen
Kontextes, der „im empirischen Verfahren, das heißt zumeist durch die Sicht des Helden vermittelt, die gesellschaftliche Welt zu erschließen” versucht. (Schröder 1974:
505) Dies geschieht noch während der Descartesche Rationalismus vorherrscht und
nimmt somit den philosophischen Sensualismus Lockes um Jahrzehnte vorweg. Diese
neue philosophische Orientierung hatte auch Folgen für die Darstellung eines neuen
bürgerlichen Ich-Bewußtseins: Das empirische Verfahren zielte auch auf das Innenleben
der Charaktere, die Stellung des Individuums in der Welt und in den neuen bürgerlichen
Produktionsformen. (Vgl. Schröder 1974:505f.) Fielding und Defoe mögen hier stellvertretend als Beispiel für viele andere Autoren genannt sein.
Es gibt jedoch auch eine andere Tradition, die vor allem auf die Theorie der Ideenassoziation zurückgreift, die in einem metaphorischen Verfahren versucht, die mannigfachen Bezüge, die sich zwischen den Wörtern und Gedanken ergeben, sichtbar zu machen, um die innere und äußere Welt des Subjekts auf imaginative Weise zu verzerren
und zu entlarven. Lawrence Sterne und Jonathan Swift stehen dafür ein. Es treten dabei
jedoch auch die verschlungenen Nachtseiten der Realität und der Psyche ins Blickfeld,
wie etwa bei Edward Young. Dieser Tradition soll hier im satirischen und philosophischen Jugendwerk Jean Pauls nachgegangen und sein widersprüchliches Verhältnis zu
ihr untersucht werden, denn obgleich sein üppiger bilderreicher Stil, den er auch als ‚Dithyrambus des Witzes’ bezeichnete, ihr verpflichtet ist, stand er ihr wegen der ‚oberflächlichen’ Erklärung des Denkens und der Abschaffung jeglicher Transzendenz skeptisch gegenüber.
Inwiefern dies auf einem Mißverständnis beruht, zeigt ein Vergleich mit der Definition der Ideenassoziation, die im Grunde mit der Jean Pauls übereinstimmt. Das wirft jedoch die Frage auf, ob seine Äußerungen zu ihr nicht ironisch verstanden werden müssen, da er sich wohl der Ähnlichkeit zwischen ihr und seiner Methode des Denkens und
Schreibens bewußt war. Der Unterschied zwischen der philosophischen und der poetischen Auffassung der Ideenassoziation beruht vor allem auf dem Unterschied zwischen
der passiven und aktiven Gehirntätigkeit. Die Philosophen sehen sie als eine Verbindung von Bewußtseinselementen „bei passiver Apperception in verschiedenen Formen,
die man für »Associationsgesetze« ausgegeben hat”. Vier Formen der Assoziation werden voneinander unterschieden: „Es gibt einerseits simultane und successive, anderseits
Berührungs- und Gleichheits-(Ähnlichkeits-)Associationen.” Es handelt sich zunächst
um ein vorbewußtes Denken: „Die Associationen liegen allem Denken als Material zugrunde, sind aber selbst noch kein Denken [...] Bei den Associationen ist das eigentlich
verbindende (synthetische) Princip das (fühlend-wollende) Ich, die Einheit des Bewußtseins, aber ohne alle Spontaneität (Selbsttätigkeit).” (Eisler 1904:Bd. 1, 79) Das assoziative Denken scheint somit ein anthropologisches Vermögen zu sein, das noch vor dem
Spracherwerb liegt, obschon es wie eine Sprache strukturiert ist. Es reicht von den un-
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bewußten Träumen des Ichs über die abstrakten Gedankengebäude bis hin zu den Bildern der Dichter.
Nach Hume besitzt die Einbildungskraft die unbegrenzte Macht, „wenn sie auch den
ursprünglichen Bestand von Vorstellungen, welche die inneren und äußeren Sinne liefern, nicht überschreiten kann“, so kann sie doch die Dinge miteinander vermischen,
was vor allem die Künstler für seinen Begriff der Einbildungskraft gewonnen haben
muß. (Hume 1982:68) Hume knüpft daran die beunruhigende Frage, worin der Unterschied zwischen Einbildung und Glaube bestehe, und ob letzterer nicht ebenso eine Fiktion darstelle. Jean Paul ‚löst’‚ dieses Problem dadurch, daß er den Glauben ins Subjekt
zurücknimmt, indem er den Satz ‚Gott existiert’ durch die Konjunktion ‚Ich glaube, daß
Gott existiert’ qualifiziert.
Trotz der Fähigkeit der Einbildungskraft, die Vorstellungen beliebig zu „mischen, zu
verbinden, zu trennen und zu teilen“, will Hume die Assoziation ebensowenig als willkürlich verstanden wissen, wie Jean Paul. So meint er, daß jedes fehlende Glied in einer
Assoziationskette sofort entdeckt und ergänzt werden könne, selbst in der Einbildung
und im Traum, denn die Gedankenkette, die unseren wachen Vorstellungen und Gedanken zugrunde liegt, beherrsche auch die Einbildungskraft und den Traum. Daraus leitet
Hume ein universelles Gesetz der Gedankenverknüpfung ab.
Hume rekurriert auf ein „Prinzip der Verknüpfung (connexion) verschiedener Gedanken oder Vorstellungen des Geists“, dem zu Folge „jeder einzelne Gedanke, der die regelmäßige Folge oder Kette der Vorstellungen unterbricht, sofort bemerkt und abgewiesen wird“. Selbst in Träumereien und Träumen gibt es zwischen aufeinanderfolgenden
Vorstellungen doch noch eine Verknüpfung. Selbst da, wo wir nicht die geringste Verknüpfung oder Verbindung vermuten können, stimmen die Wörter, die höchst komplizierte Vorstellungen ausdrücken, nahezu überein. (Hume 1982:39) Damit nimmt Hume
neuere Theorien zum metaphorischen Charakter der Sprache vorweg, wie die von
George Lakoff, auf die noch einzugehen sein wird.
Das universelle Prinzip der Gedankenverknüpfung hängt damit zusammen, daß unser
Denken auf Empfindungen beruht, die unserer gemeinsamen physiologischen und psychologischen Konstitution zugrunde liegen. So sind wir alle mit denselben Sinnen und
körperlichen Funktionen ausgestattet, die unsere Orientierung in der Welt gewährleisten, auch wenn die jeweilige geographische Umgebung und das kulturelle System unterschiedlich ist. Nach Hume bedeutet das, daß es uns unmöglich ist, an etwas zu denken, das wir nicht früher - sei es durch äußere oder innere Sinne - empfunden haben.”
(Hume 1982:84) Das schließt jedoch nicht aus, daß unsere Sinne uns nicht auch täuschen können, oder daß die uns unsichtbaren Empfindungen und Vorstellungen nicht
anderen Gesetzen als die der uns bekannten Gedanken unterliegen.
Das Gedächtnis und die Sinne verhindern, daß das Denken rein hypothetisch bleibt.
Das heißt aber, daß das Gedächtnis nicht einfach als passiver Speicher unserer Eindrücke in unserem Gedächtnis oder den Sinnen verstanden werden kann, sondern daß es
auch dazu dient, diese Eindrücke miteinander zu vergleichen und zu verknüpfen. (Hume
1982:66) Das hängt damit zusammen, daß erst die Beobachtung und der Vergleich meh-
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Anette Horn
rerer ähnlicher Fälle es uns erlaubt, Beziehungen der Ähnlichkeit, Kontiguität und Kausalität festzustellen.
In der Satire Grönländische Prozesse wird das Gedächtnis als passive Verstandesoperation und damit als unselbständiges Denken negativ bewertet. Diese Einschätzung
wird damit begründet, daß wir leicht „mit dem Reichthum des Gedächtnisses die
Schwäche des Verstandes bemänteln.” (SW II, I, 388) Jean Paul polemisiert damit gegen ein Gelehrtentum, wie er es vor allem unter den Theologen vorfindet, das lediglich
auf einer Ansammlung von memorierten Zitaten und Fakten beruht.
Die Feststellung einer kausalen Relation auf Grund der Beobachtung vieler ähnlicher
Fälle setzt dagegen das Gedächtnis auf eine Stufe mit der Verstandestätigkeit. Wir
schließen nach Hume auf Ursache und Wirkung, wenn eine bestimmte Art von Ereignissen stets in allen Fällen mit einer anderen verbunden ist. (Hume 1982:99f) So gibt es
bei aller Willkür der Gedankenverbindung doch universelle Gesetze, die wissenschaftlich überprüfbar sind. Hume bezeichnet diese Beständigkeit der Ideenverknüpfung als
Notwendigkeit, die dem ständigen Wechsel der Sinneseindrücke eine Grenze setzt: wäre
jeder Gegenstand gänzlich neu und ohne jegliche Gleichartigkeit mit früher Erlebtem,
so könnten wir uns in der Welt nicht zurechtfinden. (Hume 1982:108) So halten sich die
Unbegrenztheit der Einbildungskraft und die Ähnlichkeit unserer Wahrnehmungen über
einen längeren Zeitraum die Waage.
In einem Kommentar zum Unterschied zwischen Wollen und Vorstellen widerspricht
Jean Paul Hume. Während Jean Paul diese beiden Kategorien in einen engen Zusammenhang setzt, ebenso wie die Begierden und die Empfindungen, während er die „Freuden und Bestrebungen und Schmerzen” in Ideen setzt und „dann [...] die sämtliche Geisterwelt laufen läßt”, kritisiert er an Hume den „Unterschied des Wollens vom Vorstellen“ und „den Unterschied der Überzeugung von der bloßen Vorstellung“. Dagegen
macht er geltend, daß „die Lebhaftigkeit und Innigkeit“ sowohl bei der Vorstellung als
auch bei der Überzeugung wechselhaft sind, und also kein Grund, die beiden zu unterscheiden. (SW I, 4, 1018) Jean Paul setzt an die Stelle der empirischen Tatsachen das
Verhältnis des Subjekts zu ihnen, d.h. sie besitzen keine Realität außer für das Subjekt.
Damit macht er auf den grundlegenden perspektivischen und subjektiven Faktor der Ideenassoziation aufmerksam. Dieser Perspektivismus ist durch das subjektive Begehren
bedingt. Die Ideenassoziation ist nicht interessefrei, sondern von unserem Willen getrieben. Eine andere Folge dieser affektiven Begründung der Ideenassoziation wäre die
grundlegende offene Struktur unseres Denkens im Gegensatz zu einem abstrakten, objektiven System, denn die Assoziationen werden ja ständig durch neue Erfahrungen und
Interessen bereichert. Dies ist zentral für Jean Pauls Praxis eines anti-systematischen
Denkens, das er mit den Empirikern und Sensualisten teilt.
Jean Paul hält die großen philosophischen Systeme für Erfindungen eines Augenblicks und betont, daß sie aus dem Interesse ihrer Begründer hervorgegangen sind: „die
Hypothese des Idealismus, der Monaden, der vorherbestimmten Harmonie, des Spinozismus sind Geburten eines genialischen Augenblicks, nicht hölzerne Schnitzwerke der
logischen Mühle.” (SW I, 4, 1016) Die Erfinder philosophischer Entwürfe, die einem
einmaligen Gefühl entsprungen sind, werden als produktiver als die Systematiker ge-
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kennzeichnet, die auf logischer Deduktion von einem abstrakten Gedanken beruhen.
John Stuart Mill führt diesen Gedanken noch weiter, indem er das Assoziationsgesetz
dem Gravitationsgesetz an Bedeutung gleichsetzt und von einer „psychischen Chemie“
spricht, vermöge deren durch die Verbindung von Vorstellungen neue entstehen (Eisler
1904: Bd.1, 80).1 Nur so können überhaupt Veränderungen in der Ideengeschichte zustande kommen.
In der Rede Über den Nutzen und Schaden der Erfindung neuer Wahrheiten stellt
Jean Paul das Erfinden neuer Wahrheiten ebenfalls als Ergebnis eines Prozesses der
Verknüpfung von Ideen und deren Schlußfolgerungen dar: „Je mehr nun der Sterbliche
fortschreitet, desto mehr erweitert sich sein Gesichtskreis, desto mehr Ideen umfast er,
desto besser kan er ihre Verbindungen wahrnehmen und durch Vergleichungen und
Schlüsse Wahrheiten erfinden.” (SW II, I 23) Wichtig an dieser Bemerkung erscheint,
daß die Ideen als Erfindungen gekennzeichnet werden, was sowohl auf ihren fiktiven als
auch auf ihren empirischen Charakter hinweist, denn sie werden ja in der ‘Wirklichkeit’
vorgefunden. Das Vorgefundene muß jedoch erst von einem Subjekt zu einem Konstrukt verarbeitet werden, mit dem es sein Begehren und Interesse artikuliert. Insofern
sind die abstrakten und imaginativen Erfindungen nicht anders als die Erfindung von
Maschinen, denn sie erlauben uns, die Welt zu sehen und damit zu verstehen. Paul Ricoeur (1986,1991:228) weist daraufhin, daß die Metapher sich zur dichterischen Sprache verhält wie das Modell zur Wissenschaftssprache, also ein heuristisches Instrument
ist. Das Modell gehört nicht zur Logik der Beweisführung, sondern zur Logik der Entdeckung. (vgl. auch Horn 2002)
In der Levana sieht Jean Paul die Produktion neuer Ideen als das Entscheidende an
der schöpferischen und aktiven Ideenassoziation, die allerdings die Aufnahme von bereits vorhandenen Wissensinhalten zur Voraussetzung hat. Im Gegensatz zum Tier wird
der geistige Bildungstrieb beim Menschen durch den Willen gesteuert. Das aktive,
schöpferische Moment der Ideenbildung unterscheidet wiederum den genialen vom
durchschnittlichen Menschen, bei dem sie sich in der Besonnenheit und Notwendigkeit
manifestiert: „im Wachen denken wir selber, im Traume werden wir gedacht, dort sind,
hier werden wir unserer bewußt; im Genie erscheint dieses Ideen-Schaffen als schöpferisch, im Mittel-Menschen nur als besonnen und notwendig; wiewohl der Unterschied
nur so klein ist als der im Zeugen, das oft Riesen und Zwerge gibt.“ (SW I, Bd. 5, 826)
Jean Paul berührt den Zusammenhang von Ideenassoziation und Sprache, der Locke
zu einer rationalistischen Theorie der Sprache veranlaßte, indem er unzulässige von zulässigen Assoziationen trennte, die eine logische Ideenreihe konstituieren. So zeigt sich
bei Locke „sowohl die Identifikation von Wort und Laut, als auch die funktionale Betrachtung der Sprache und das Streben nach einer Klärung der Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Bei aller Abhängigkeit von der Tradition des instrumentalistischen Sprachdenkens bereitet Locke mit seiner Analyse des Bezeichnungsvorgangs allerdings schon die ‚erkenntnistheoretische Würdigung des Sprachphänomens’ vor, wie
sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollziehen wird.” (Schmitz-Emans
1986:27) Das heißt, daß zwischen der physiologischen und der sprachlichen Ebene eine
komplexe Vermittlung stattfindet, die auch den Unterschieden zwischen kulturellen Zeichensystemen Rechnung trägt.
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Anette Horn
Gerade im Hinblick auf das Sprachphänomen ließe sich eine interessante Parallele
zwischen der Ideenassoziation und der neueren Metapherntheorie George Lakoffs und
Mark Turners ziehen, die sie in ihrem Buch über die poetische Metapher More than
Cool Reason. A Field Guide to Poetic Metaphor vertreten, wo sie zeigen, wie die Metapher neues Wissen produziert, indem sie Eigenschaften von einer bildlichen Ebene auf
eine abstrakte transponiert. So können höchst komplexe imaginative Gebilde entstehen,
die der Vielfalt und Vielschichtigkeit der poetischen Aussage Rechnung tragen. Dabei
gehen sie stets, wie auch Jean Paul und die Empiristen, davon aus, daß unsere Ideen
nicht aus abstrakten Kategorien, wie die Objektivisten meinen, hervorgehen, sondern
daß unsere Gedanken verkörpert und imaginativ sind. (Lakoff 1987:XIV)
Aus dieser Perspektive erscheint die Metapher als eine verkörperte Erfahrung, die
auf andere Kategorien transponiert wird. (Lakoff 1987:19) Das hat auch Implikationen
für die Kognition, die den meisten Menschen gemeinsam ist, obwohl es kulturbedingte
Unterschiede gibt, wie unsere Wahrnehmung der Farben zeigt. (Lakoff 1987:30) Lakoff
unterscheidet zwischen radialen Kategorien und Verkettungen, wo es zum Einen eine
zentrale Kategorie gibt, von der aus sie auf andere Eigenschaften ausstrahlt, und zum
Anderen eine Kategorie zur nächsten führt. (Lakoff 1987:95) Damit werden verschiedene nicht-hierarchische Ordnungen des Denkens angedeutet. Die zentralen Tropen der
Metonymie und Metapher bestimmen sie entgegen der gängigen Definition jeweils als
Funktionsbereiche der Erfahrung und die Verschiebung (‚mapping’) eines Funktionsbereichs auf einen anderen. (Lakoff 1987:109f.) Sie sprechen vom ökologischen Charakter
des menschlichen Verstandes und meinen damit, daß Kategorien weder vorhersehbar
noch willkürlich sind. Zusammenfassend machen sie drei verschiedene Gedankenmodelle geltend: das metaphorische, metonymische und bildlich-schematische. (Lakoff
1987:113f.)
Aus diesen Überlegungen ließe sich ableiten, daß es keine objektive oder abstrakte
Wahrheit gebe, sondern nur subjektive und perspektivische Wahrheiten. (Lakoff/Johnson 1980:X) Unser begriffliches System ist im Wesentlichen metaphorisch und es bestimmt auch unser alltägliches Handeln. Normalerweise sind wir uns unseres konzeptuellen Systems nicht bewußt, denn es operiert automatisch. Als Beispiel kann die Metapher, nach der wir ein Argument als Krieg konzipieren, angeführt werden. Wir könnten
uns jedoch auch vorstellen, daß ein Argument als Tanz erscheinen könnte. Diese Metapher wäre ästhetisch angenehmer als die gängige. (Lakoff/Johnson 1980:3ff.)
Nun sind Metaphern, mit deren Hilfe wir uns in der Welt orientieren, durch unsere
Körper und unsere physische Umgebung determiniert. Das heißt, daß sie nicht willkürlich sind, sondern eine Grundlage in unserer physischen und kulturellen Erfahrung haben. (Lakoff/Johnson 1980:13f.) Daraus ließe sich auf die kulturelle Kohärenz der Metapher schließen, die aber auch zuläßt, daß verschiedene Manifestationen der Erfahrung
verschiedene Metaphern hervorrufen. Die Verankerung der Metapher in der Erfahrung
ermöglicht, daß sie dem Zweck der Verständigung dient. (Lakoff/Johnson 1980:19f.)
Als einen Gewährsmann für Jean Pauls anti-systematische Philosophie könnte neben
Leibniz und Lessing auch der Leipziger Professor der Philosophie und ,Arzneykunst’‚
Ernst Platner, genannt werden, dessen Schriften Jean Paul, nach seinen Exzerpten zu
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schließen, bereits in seiner Schulzeit zur Kenntnis nahm, und den er später während seines Studiums in Leipzig als Lehrer besonders hoch schätzte. Interessant ist, wie Platner
die Grenzen zwischen Anatomie und Physiologie, Psychologie, worunter er Logik, Ästhetik und Moralphilosophie zählt, und Anthropologie, deren Ziel es sei, „Körper und
Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen [zu] betrachten” (Platner 1998:XVII; vgl. auch Kosenina 1998), überschreitet und
Verbindungen zwischen ihnen herstellt. Er sammelt diese Disziplinen unter dem Oberbegriff der ‚Arzneykunst’, die für ihn eine philosophische Betrachtungsweise einschließt. So schreibt Jean Paul, daß derjenige, der Arzneikunde und Philosophie verbindet, der bessere Arzt sei, da er die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele besser
verstehe: „Der Philosoph breitet sich schon über den menschlichen Körper und dessen
Kenntnis aus; er redet von dem Baue desselben und den Ursachen des Lebens, dem
Triebwerke, wodurch er erhalten wird, den Ursachen (der Absonderung) des wechselseitigen Einflusses des Körpers auf die Seele und der Seele auf den Körper.” (SW II, I,
20) Während der Blick des Philosophen auf den Körper und damit auf die Realität gerichtet wird, werde der Kopf des Arztes durch die Philosophie licht gemacht. (Vgl. SW
II, I, 21)
Die Kritiker der Vorschule der Ästhetik von Jean Paul, die er in die drei „Parteien
(trium operationum mentis), nämlich der kritischen, der naturphilosophischen und der
eklektischen” einteilt, warfen Jean Paul den Mangel eines Systems vor, wie er mit gespielter Empörung in der Vorrede anmerkt: „System vermißten fast alle - besonders die
kantischen Formschneider - und Vollständigkeit viele.”2 (SW I, 5, 16) Damit haben sie
allerdings den Kern seiner Vorgehensweise getroffen. Berend weist darauf hin, daß sich
Jean Paul in seinen ästhetischen Auffassungen nicht einer Schule zuordnen läßt und
führt dies darauf zurück, daß es sich „bei seiner Ästhetik nicht um ein fest geschlossenes System, sondern um eine Fülle von mehr oder weniger selbständigen Einzelgedanken handelt, ja daß oft der Schwerpunkt gerade in den Details liegt“. (Berend 1909:
251f) Jean Paul hat sich bewußt nicht einer einzigen philosophischen Strömung hingegeben und diese „Erweiterung unsers Innern für alle Systeme und Schönheiten“ als Offenheit gegen alle teilweisen Wahrheiten damit begründet, daß er kein „Repräsentant
der himmlischen Wahrheit, kein Vizegott sein kann“. (Berend 1909:251f) Dennoch
meint Berend, daß Jean Pauls ästhetischen Bemerkungen eine innere Einheit innewohne, die aus dem Bestreben nach Klarheit und Originalität hervorgehe, die auf eigener
Überzeugung und Anschauung beruhten. So schreibt Jean Paul z.B. folgenden Aphorismus zu seiner Bewertung der philosophischen Systeme: „[B]ei Gelegenheit des vergessenen Hobbes: ein gutes Lustspiel bringt eher und schöner auf die Nachwelt als ein philosophisches System, das nur durch seine Neuheit reizt, und dessen Schwäche doch
gleich erscheint.”3
Die seit der cartesianischen Substanzentrennung wiederbelebte alte Frage nach einer
Verbindung zwischen res extensa und res cogitans, zwischen Leib und Seele, wurde im
18. Jahrhundert durch drei konkurrierende Hypothesen - die hier kurz zu vergegenwärtigen sind - beantwortet. Leibniz spricht von einer ‚prästabilierten Harmonie’, die auf ontologischer Ebene von Gott vorherbestimmt die Kommunikation zwischen den einzelnen Monaden ermöglicht und auf der Ebene der Phänomene eine Korrelation zwischen
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Anette Horn
Körper und Seele herstellt, die der von zwei voneinander unabhängigen Uhren gleicht
(Parallelismus). Der ‚Occasionalismus’ hingegen lehrt nicht nur die Passivität alles Ausgedehnten, sondern auch die des Geistigen und schreibt daher die Alleinwirksamkeit auf
Leib und Seele Gott zu. Der ‚influxus physicus’ oder ‚Influxionismus’ schließlich, der
von Platner wie von allen philosophischen Ärzten der Zeit vertreten wird, weist jeden
göttlichen Wirkeinfluß zugunsten natürlicher Kräfte, die durch die psychophysische
Wechselwirkung erklärt werden, zurück. Platner, der von einem ‚reellen’ und ‚physikalischen’ Einfluß spricht, erklärt: „Die Gemeinschaft der Seele und des Körpers ist also
eine gegenseitige Abhängigkeit - der Seele von dem Körper in Ansehung des Denkens,
und des Körpers von der Seele in Ansehung gewisser Bewegungen.“ (Platner 1998, §
138) Laut Kosenina macht die These vom ‚influxus physicus’ die spezifische Bedeutung des Anthropologiebegriffs seit Platner aus. Damit wandelt er die Leibnizsche Lehre der ‚Harmonia praestabilita’ ab, die, so Norbert Miller, „der von Gott gesetzte Zusammenhang zwischen der körperlichen und geistigen Welt [ist], dem jedoch kein direkter ‚Einfluß’ (influxus physicus) entspricht. Alle seelischen und geistigen Vorgänge
geschehen bei ‚Gelegenheit’ körperlicher Vorgänge, werden aber nicht durch sie hervorgerufen.” (SW I, 5, 1204)
Die Sprache vermittelt zwischen Innen- und Außenwelt: „Die Sprache ist ‚Seelentor’
(SW I, 5, 531), ist ‚zweites Seelenorgan’ (SW I, 5, 307): sie öffnet dem Ich den Weg
nach außen. Was diese Kennzeichnung der Sprache als ‚Seelenorgan’ impliziert, verdeutlicht der Hinweis auf Platners ‚Philosophische Aphorismen’: ‚Seelenorgan’ heißt
hier jene Instanz, welche, selbst der Körpersphäre zugehörig, aber auf die Seele einwirkend, zwischen beiden Substanzen vermittelt (284), nach der aus der Erfahrung abgeleiteten These über das commercium mentis et corporis. Platners Lösung erinnert hier an
die cartesianische Lehre von den ‚Esprits animaux’, die, aus der Zirbeldrüse austretende, in die Hirnkammern einströmen und so zur Auslösung physischer Impulse führen.”
(Schmitz-Emans, 1986:150f.)
Unter Phantasie versteht Platner „gar keine Wirkung der Seele, sondern nichts anders
als eine gewisse mechanische Handlung des Gehirnmarks, vermittelst welcher die Gehirnimpressionen erwekt und der Seele vorgestellt werden”. Diese Vorstellungen seien
„Einfälle im weitesten Verstand”. (Platner 1998:138f.) An anderer Stelle wird die Phantasie von der Wirklichkeit abgegrenzt: „Die Vorstellung der Ideen ohne Beziehung auf
die Wirklichkeit, und ohne Prüfung der Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und des Verhältnisses, ist die Phantasie.” (Platner 1998:159) Das bedeutet, daß Platner die Phantasie
den geistigen Operationen des Gedächtnisses und der Vernunft deutlich unterordnet. Sie
ist entweder mechanisch oder sekundär: „Je bestimmter und auseinandergesetzter die
sinnlichen Ideen waren, desto deutlicher und leichter ist die Phantasie. Nichts ist deutlicher als die Vorstellungen der Wörter, nach diesen, die Gegenstände des Gesichts und
des Gehörs, am dunkelsten sind die imaginarischen Ideen des Gefühls.” (Platner 1998:
160f) Allerdings muß der Gang der Ideen durch die Vernunft überprüft werden. Das
mache das bewußte Unterscheiden in der Verbindung der Ideen aus. Bleibt sie aus, so
„entsteht eine Verwirrung der Ideen, z.B. im Traume, in der Fieberhitze, Raserey, Melancholie u.s.f.” (Platner 1998:219) Durch Mangel an Konzentration können falsche Assoziationen entstehen, wie sie sich in Weitschweifigkeit und Unsinn manifestieren.
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In einem Abschnitt über das Genie nennt Platner die Geschwindigkeit und Leichtigkeit der Assoziation und Kombination als Merkmal. Dazu zählt auch die Gabe, Bilder
der Phantasie mit Wörtern zu verbinden, womit er die Metaphernproduktion umschreibt. (Platner 1998:258f) Auch seltene Zusammensetzungen von Ideen zeichnen das
Genie aus. (Platner 1998:277.) Schließlich widmet er sich dem Witz, den er typisch für
die Zeit, als „Bemerkung verborgener und entfernter Aehnlichkeiten” definiert. Hier unterscheidet er zwischen 3 Arten: „(1) Durch Gegeneinanderstellung des Aehnlichen und
des Gegenbildes. Dies ist, wenn jenes lebhaft vorgestellt wird, ein Gleichnis, wird es
nur obenhin angezeigt, eine Vergleichung. (2) Durch Vorstellung eines Bildes mit Weglassung des Abgebildeten. Ist das Bild wirklich ein Gegenstand des Gesichts, so ist es
Allegorie, ist das Bild eine Erzählung, so heißt es Fabel, ist es ein Ausdruck, so nennt
man es Metapher, oder wenn die Aehnlichkeit scherzhaft ist, ein bon mot. (3) Durch
scherzhafte oder ernsthafte Vergleichung kleiner Sachen mit großen, entweder in wirklichen Vergleichungen, oder in großen feyerlichen Vorbereitungen, welche die folgenden
Ideen vergrößern.” (Platner 1998:278f.) Dies stimmt im Wesentlichen mit Jean Pauls
Definition des Gleichnisses, der Allegorie und des witzigen Vergleiches überein.
Die Assoziation kann jedoch auch zu Mißverständnissen führen, wenn ein Begriff
z.B. mit den falschen Nebenbegriffen verbunden wird. (Vgl. Aphorismen I, S. 253; §
803). Wie später Jean Paul, so führt auch Platner die individuell-divergente Begriffsbildung darauf zurück, daß der einzelne Begriff im individuellen Geist verschiedenste Verbindungen eingehen kann (Vgl. Aphorismen I, S. 253; § 804). Im Tagbuch meiner Arbeiten findet sich am Freitag den 24 August der Eintrag zur Ideenassoziation, wo eine
Idee als das Prisma definiert wird, durch das wir unter allen anderen Begriffe nur die
ähnlichen sehen: „[W]ir sehen die alten Begriffe anders, weil wir sie mit andern Nebenideen sehen, wir bemerken neue Seiten an ihnen, welche uns durch die Lebhaftigkeit der
gegenwärtigen [?] Ideen, die mit gewissen unbedeutenden Seiten im Verhältnis der
Ähnlichkeit, Gleichzeitigkeit u.[s.w.] stehen, sichtbar werden.” (SW II, I, 219) Jean
Paul geht davon aus, daß die Empfindungen wie die äußeren Dinge in einem ständigen
Wandel begriffen sind, und niemals denselben Eindruck auf uns machen. Daraus leitet
er einen affektiv besetzten Perspektivismus ab. Demnach betrachtet der Trübsinninge
alle Gegenstände seiner Umwelt durch das Prisma der Schwermut.
Im Anschluß an Locke beschreibt Jean Paul in seiner „Untersuchung” das individuelle Verständnis eines Begriffs als Folge der jeweils eigenen Assoziationen:
Jeder Mensch hat eine eigne Masse von Begriffen, die er durch Erfarung bekommen hat. Diese
Begriffe hängen miteinander auf’s genaueste zusammen. Einer modifizirt sich nach dem andern.
Er begreift einen Begrif nur insofern, als er aus seinem eignen, individuellen Vorrat von Säzzen
Ideen nach dem Assoziazionsgesez herbeiführen kan, die ihm diesen Begrif aufklären, mit ihm zusammenhängen, und sich zu ihm als Teile zum Ganzen und umgekert, oder als Grund und Folg’
und umgekert verhalten. (SW II, 1, 70)
Jean Paul stimmte der empirischen Psychologie weitgehend zu, die „von Kant als unzulänglich abgewiesen worden [war]; die Romantiker überschütteten sie mit Spott, während Herder sie vergebens in Schutz nahm.“ (Berend 1909:69) Was ihn an dieser, z.B.
an Moritz’ Erfahrungsseelenkunde, besonders anzog, war ihr „Realismus“ und ihr „psy-
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chologischer Scharfblick“. Gunnar Och macht darauf aufmerksam, daß Jean Paul bereits
als Siebzehnjähriger in den Exzerptenheften in einer Anmerkung zu Hartleys Assoziationspsychologie die Begriffe ‚Ausdruck’ und ‚Zeichen’ benutzt, um die Inkommensurabilität von Seelischem und Leiblichem zu betonen. Och behauptet, daß Jean Paul das
physiologische Modell von Hartley aufgegriffen habe und dann „in direkter Wendung
gegen bestimmte Tendenzen in der zeitgenössischen Ausdruckstheorie auf das Verhältnis der mimisch-gestischen Zeichen zu den sie motivierenden Empfindungen übertragen” habe. (Och 1985:37) Wulf Köpke bestimmt den Einfluß Hartleys auf Jean Paul näher: „Vorstellungen, innere Assoziationen, etwa im Sinne von Hartley, werden ‚Bilder’,
im sowohl ästhetischen wie psychologischen Sinne. Aus der Bedeutung von Bild als
Eindruck entstehen einige zunächst überraschende Zusammensetzungen, etwa wenn über Gustav zur Zeit des Abendmahles gesagt wird: ‚das Bild eines tugendhaften Menschen brannte ... vor ihm’”. (Köpke 1977:287).4
Dennoch scheint Jean Paul die Ideen nicht auf Gehirnschwingungen zurückführen zu
wollen, sondern sie als Zeichen zu sehen. Damit umgeht er geschickt die atheistischen
Implikationen des Empirismus: „Jean Paul sieht die wechselseitige Abhängigkeit von
Körper und Geist, glaubt jedoch, daß die Bewegungen, die bei jeder Idee im Gehirnmark entstehen, nur ‚Zeichen’ oder ‚begleitender Umstand’ der Idee sind.“ (Gerabek
1988:166) Jean Paul merkt zu Hartleys Textpassage an:
Daß dieses System zum Materialism führt, ist Einbildung. Denn man mag von der Verbindung
zwischen Seel’ und Körper glauben was man wil, so mus man doch alzeit zugeben, daß beide von
einander abhängen. Die Art von Abhängung und Verbindung, die Hartlei angiebt, ist eine von den
möglichen - und auch wahrscheinlichen. Die Schwingungen, die bei ieder Empfindung oder Idee
im Gehirnmark vorgehen, sind nicht die Empfindung oder Ideen selbst, sondern nur ein Zeichen,
Ausdruk, begleitender Umstand derselben. (SW, II, 1, S. 26)
Jean Paul hebt stets die Unabhängigkeit des Denkens hervor: „Überall, wo Jean Paul
Bedingungen und Folgen leib-seelischer Wechselwirkungen beschreibt, geht es ihm übrigens weitaus weniger darum, den Einfluß materieller Ursachen auf die Seele zu belegen (gilt die Hypothese freier Seelentätigkeit doch als unverzichtbar), sondern um den
Nachweis, daß der ‚innere Mensch (...) den äußeren bändigt und formt.” (SchmitzEmans 1986:324)
Jean Paul leitet seine Auffassung der Gehirnschwingungen daraus ab, daß wir für die
Feinheit der Nervensubstanz kein Sensorium hätten, postuliert aber, „daß die jeweilige
Stärke der Schwingungen sowie die unterschiedliche Anzahl der schwingenden Gehirnsubstanzen” für die Besonderheit der Ideen verantwortlich sind. Angesichts einer noch
sehr unzureichenden Neurologie des Gehirns meint Jean Paul: „Diese Nerven und Gehirntheilgen sind feiner und viel mehrerer Modifikazionen fähig, als uns die geringscheinende Anzahl derselben vermuthen liesse ... Mir scheint ferner die Beschaffenheit
der Nerven mit keiner andern Materie verglichen werden zu können - sie ist eine eigne
Art.” (SW, II, 1, 26) Im ‚Magnetismus-Aufsatz’ (1814) spricht Jean Paul dann von einem Ätherleib, einer immateriellen Substanz, die anstelle der Nerven zwischen Körper
und Geist des Menschen vermitteln. (vgl. Gerabek 1988:167 f.)
Jeam Pauls Ästhetik
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Im folgenden Abschnitt aus der Satire Grönländische Prozesse macht sich Jean Paul
über die Ideenassoziation als mechanischen Prozess lustig:
Der Mangel an Getränken macht die Hunde närrisch, wütend oder dichterisch; allein nur der Überflus daran spricht den Dichter von seinem Verstande los, und spornet ihn über die träge Vernunft
hinweg. Diese Hize des Weins stört den Unsin der Phantasie aus seinem Winterschlafe, und wekt
die buntschekkigte Brut der Träume aus ihrem Schlummer; - aus allen Winkeln des Gehirns kriechen verborgene Einfälle hervor, jede Ähnlichkeit, jede die Stammutter einer Familie von Metaphern, samlet ihre unähnlichen Kinder um sich, und gleich einer wandernden Mäusefamilie, hängt
sich ein Bild an den Schwanz des andern; - alle Saiten des hohlen Kopfes tönen zu einem gleichzeitigen Misklang, das Gedächtnis wirft seine gestohlnen Schäze aus, und wie Heu durch die Nässe, erhizt sich der zusammengeraubte Haufen von verwelkten Blumen durch das Getränke. Nur auf
diese Weise kan der Parnas mit einem Bedlam weteifern, nur durch das Einsaugen einer solchen
Lauge kan der Unsin zu einer pindarischen Höhe aufschiessen. (SW II, I, 382)
Um den Unsinn auf die Spitze zu treiben, lobt Jean Paul dann die Spinnen:
Denn eben diese beschüzen mit ihren Geweben die Trauben vor den gefräßigen Mükken, und bewachen den Wein, den die Gönner an die Poeten verschenken. Auf diese Weise hängt an der
Fruchtbarkeit des Hintern der Spinnen die Fruchtbarkeit genieartiger Köpfe; auf diese Weise nuzen dem Parnas unter allen Spinnen die natürlichen am meisten. -” (SW II, I, 382)
Eine mechanische Anwendung einer materialistischen Assoziationsphilosophie führt zu
einer grotesken Apotheose des Zufalls, und zu einer stochastischen Poetik, die das Zufällige dann vermarktet:
Alle Ideen, die ihm der Zufal ins Gehirn wirft, die dem ersten Augenblikke des Erwachens aufstossen, die den Vortrup der nächtlichen Träume machen, die in der Hize der Unterredung aufschiessen, die er der gesellschaftlichen Vertraulichkeit, oder der zufälligen Lesung eines halben
Wisches abstiehlt, die der nothwendige Müßiggang auf dem geheimen Gemach, erzeugt, oder die
endlich kaum aus der Dunkelheit entsprungen, das ergreifende Gedächtnis täuschen, wie die dem
Ei entschlüpften Rebhüner sogleich ihre Geburtsstelle verlassen - alle diese Ideen beschenk’ er mit
einem papiernen Körper, und belebe sie mit Dinte, scharre sie auf einem Haufen zusammen, und
schiebe sie auf irgend einem Karren zu Markte. (SW II, 1, 390)
Allerdings könnten boshafte Kritiker und Kenner von Jean Pauls „Zettelkästen“ Jean
Paul selbst als einen solchen stochastischen Dichter beschreiben, der „das leise Auftreten jedes Gedanken“ belauscht, „jeden Frosch zu einem Ochsen“ aufbläst und „aus jeder
troknen Materie ein[en] Oktavband“ produzieren kann. (SW II, 1, 390f) Das Blättern in
Jean Pauls Notizen und Exzerpten suggeriert, daß er hoffte, in seinem Werk alles unterbringen zu können, was die Welt damals an Wissen zu bieten hatte. „Die Assoziationen
lassen den Autor gar nicht erst zum Nachdenken kommen; sie sind die eigentlichen Akteure.“ (Lindner 1970:51)
Dort, wo Jean Paul die Ideenassoziation als Grundlage seiner metaphorischen
Schreibweise reflektiert (SW I, 1, 300f.), ist er sich ihres prekären Bezugs zur empirischen Wirklichkeit bewußt: „Dem von seinem Gehirn geplagten Autor haben sich die
Sachbezeichnungen aus ihrem sprachlichen Wirklichkeitsbezug gelöst. Sie sind zwar
nicht mitteilungslloses Material einer ‚konkreten Poesie’ geworden, wohl aber reduziert
auf ihren Bedeutungshof, auf ihre metaphorischen Verweisungspotenz, die der Autor
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Anette Horn
auf einer fiktiven Gehirnbühne assoziativ agieren läßt.” Linder merkt in einer Fußnote
dazu an: „Bei Jean Paul, wenn auch noch zurückgehalten durch die Subjektivitätsleistung des Witzes und der Bildlichkeit, deutet sich an, wie später ästhetische Collageund Montageverfahren Schockwirkungen auszulösen suchen, um die Bedrohlichkeit der
Realität zu überbieten. (Allerdings wird diese Schockwirkung durch die Suggestion bedeutungsvoller Zusammenhangslosigkeit zumeist abgelenkt und neutralisiert).” (Lindner 1970:51f.)
Aus dem assoziativen Schreiben entsteht somit ein Widerspruch zwischen Empirie
und Phantasie, der eine produktive Spannung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem herstellen kann: der Autor, der seine Assoziationen uneingeschränkt spielen läßt,
reduziert dabei sein Bewußtsein von der Wirklichkeit; die Zeichen für die Dinge, aus ihrem Kontext gelöst, werden als bloße Worte benutzt, wodurch die Bildqualität und die
Bedeutungsqualität des metaphorischen Sprechens beeinträchtigt wird. „Eine möglichst
große Heterogenität der Assoziationsmaterialien und der Uneigentlichkeitsbilder soll
aber, so hofft Jean Paul, ein Maximum an Bedeutungssuggestion hervorrufen.“ (Lindner
1970:52f.) Jean Paul ironisiert jedoch andererseits die Allmacht des auktorialen Erzählers durch die Leseranrede, und indem er auf die Schwierigkeiten des Erzählens (Hypochondrie usw.) aufmerksam macht.
Im Kampaner Tal schreibt Jean Paul in Bezug auf Kants Lehre der Erfindung von
Systemen und Wahrheiten folgendes über die Ideenassoziation:
Ich erschrecke und erstaune über die verhüllte Allmacht, womit der Mensch seine Ideenreihe ordnet, d.h. schafft. Mir ist kein besseres Symbol der Schöpfung bekannt als die Regelmäßigkeit und
Kausalität der Ideenschöpfung in uns, die kein Wille und kein Verstand ordnen und erzielen kann,
weil eine solche Ordnung und Absicht die unerschaffene Idee ja - voraussetzte. Und in diese
Schöpfung hüllt sich das erhabene Rätsel unserer moralischen Freiheit ein. (SW I, 4, 589)
Jean Paul scheint hier die Ideenassoziation zugunsten einer göttlichen Schöpfung zu
verwerfen, die auch das Problem der moralischen Freiheit einschließt, da er sich nicht
vorstellen kann, daß sich die Ideen in einem physio-psychischen Prozeß zusammensetzen und die erfolgreichsten sich durchsetzen. Entscheidend für ihn ist das schöpferische
Moment in der Erfindung einer Idee oder Ideenreihe, das seiner Meinung nach in der
empirischen Lehre der Ideenassoziation durch einen Automatismus ersetzt wird. Hiermit gibt er sich als Ontotheologe statt als Materialist zu erkennen.
Obwohl sich Jean Paul der Unvorhersehbarkeit der Assoziationen bewußt war, als er
schrieb, daß nicht er selbst dachte, wenn er seine Ideen- und Metaphernketten erfand,
sondern etwas in ihm - er scheint dieses etwas der Sprache zuzuschreiben -, versuchte er
sie dennoch bewußt einzusetzen, wofür seine Exzerptenhefte5, Beweis einer schier unbegrenzten Lesewut, und seine Register, mit deren Hilfe er sich im Labyrinth seines Universalwissens zurechtfand, bürgen, allerdings unter höchst eigenwilligen Gesichtspunkten geordnet, die seine philosophisch-poetischen Interessen verraten, und die ihm
gleichzeitig als Auslöser seiner Assoziationen dienten, durch die er die disparaten
Bruchstücke seines Wissens miteinander verknüpft hat. Auch wenn daher Jean Pauls
reicher Ideen- und Bilderwitz unbewußte Bedeutungen mitschleppen mag, so scheint er
doch wegen seines hohen Maßes an Reflexion vorwiegend philosophisch, d.h. es geht
Jeam Pauls Ästhetik
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ihm um die Aufdeckung philosophischer Zusammenhänge, allerdings in einer bildlichen
oder metaphorischen Sprache. Darin unterscheidet er sich wesentlich von den Romanen
des frühen 20. Jahrhunderts, wie James Joyce, Virginia Woolf und Alfred Döblin, die
im Kontext der Freudschen Psychoanalyse den inneren Monolog entwickelten, um den
stream-of-consciousness darzustellen, der aus einer ästhetisch konstruierten Collage von
bewußten und halbbewußten Gedankenresten- oder Fragmenten bestand, der ebenfalls
durch das Prinzip der Ideenassoziation verknüpft war.
In Kapitel VII der 3. Zusammenkunft mit dem Leser der Scherze in Quart, das die
witzige Überschrift, „Wahnsinnige Sprünge, wodurch ich mich und den Leser einzuschläfern trachte” trägt, räsoniert der Erzähler über die „Scheidewand zwischen Raserei
und Laune”, die er kurz darauf für nichtig erklärt, um stattdessen auf den Zusammenhang zwischen Raserei, bzw. wahnsinnigen Gedankensprüngen und dem Einschläfern
des Lesers zu sprechen zu kommen. Diese Stelle verdient es, ausführlicher zitiert zu
werden, da sie interessante Aufschlüsse über das Verhältnis Jean Pauls zur Ideenassoziation enthält:
Zuweilen schläfere ich mich ein, indem ich alle meine Denkkräfte auf Eine unbedeutende oder sinlose Idee einschränke und hinhefte und ich erinnere mich, daß ich mich einmal durch die Betrachtung eines lateinischen M in Schlummer brachte, das so groß war wie ich und auf dem ich wie ein
Närrischer auf und niedersprang. Indessen schlug das Hüpfen der Ideen alzeit am besten an. Denn
da der Traum der Übergang vom Wachen in den Schlaf und wieder von diesem in jenes ist, das
heisset, da wir vor dem Einschlafen rasen müssen: so ist es natürlich, daß ein unbändiges Springen
unter den Ideen herum, das uns dem Zustande der Raserei näher bringt, uns zugleich in den des
Schlafes versezet. Ich wil daher dem Leser erstlich mit dem Wahnsin aufwarten, womit ich mich
einschläfere, und das um so lieber, weil - denn ich wolte oft die Scheidewand zwischen Raserei
und Laune in Augenschein nehmen, habe aber niemals eine angetroffen - etwas Rasendes selten
ohne alle Laune ist. ... (SW II, VS I, 45f.)
Diese Stelle ist deshalb bemerkenswert, da Jean Paul ein zentrales Konzept der englischen Aufklärung, die Ideenassoziation, nicht zur Aufklärung seiner selbst und seiner
Leser anwendet, denn dafür benötigte er ja seinen und ihren wachen Verstand, sondern
um ihren Verstand in einen dämmernden Zustand zu versetzen, in den er alle mögliche
Kontrabande einschmuggeln kann. Somit scheint Jean Paul die Absichten der Aufklärung, nämlich die Befreiung von irrigen und unzulässigen Vorstellungen und Vorurteilen geradezu zu unterlaufen. Gegen die helle Wachsamkeit der Vernunft scheint er den
Wahnsinn und den Schlaf aufzuwerten. Damit scheint er den normativen Charakter einer Aufklärung aufzudecken, die die Vernunft allein auf die Rationalität des Verstandes
reduzieren will, und auf eine inklusivere Vernunft hinzuweisen, die auch das Unbewußte miteinschließt, das sich in den Bereichen des Schlafes und des Wahnsinns äußert, im
Sinne einer Dialektik der Aufklärung (Adorno), die die Voraussetzungen ihres Projektes
mitreflektiert. An die Stelle der kleinen Vernunft des Geistes könnte dann vielleicht die
große Vernunft des Leibes treten, zu der auch die kleine Vernunft als Epiphänomen gehört.
Ein weiterer Punkt, den Jean Paul hier für die Ideenassoziation geltend macht, ist,
daß sie durch unbedeutende und sinnlose Zeichen ausgelöst werden kann, wie hier z.B.
das Reflektieren über ein lateinisches M. Man stelle sich ein reich verziertes großes M,
72
Anette Horn
wie es am Anfang eines Kapitels in einem mittelalterlichen Folianten erscheinen könnte,
vor, mit seinen zwei Spitzen und der tiefen Kluft dazwischen. Damit verweist Jean Paul
auf die Materialität der Zeichen und die schier unendlichen Möglichkeiten der Kombination und Assoziation, die aus der begrenzten Anzahl der Buchstaben im Alphabet hervorgehen können. Die Voraussetzung für die Ideenassoziation ist somit der Zeichencharakter der Sprache, der sowohl ideell als auch materiell ist. Dafür hat Jean Paul mit diesem Auf- und Abspringen auf dem ‚M’ ein treffendes Symbol geschaffen. Diese Erkenntnis kommt allerdings gar nicht pedantisch-didaktisch daher, sondern eher ironisch,
die Leser sollen ja einschlafen, und selbst-ironisch, denn der Erzähler will es ja selber
auch.
Damit berühren wir ein weiteres Problem der Lektüre Jean Pauls, nämlich seine Ironie. Er reflektiert, ob er mit umgekehrten Fingerzeigen, also einem mit dem Daumen
nach unten zeigenden Handschuh, seine Ironien ausweisen müsse, damit seine Leser
seine Aussagen nicht für bare Münze nehmen. Schließlich entscheidet er sich für den
Keri aus der Kabbala, den Handschuh, der die Bedeutung der Wörter auf dem Papier
wie ein Radiergummi wieder auslöschen soll: „Eine solche vernichtende Chiffre – [...] solte nun die gedachte Hand am Rande sein.“. (SW II, II, 37) Damit deutet er einen jenseits der vom Kanon autorisierten Schriften bestehenden geheimen Wissensfundus an,
der selbstverständlich im Verruf steht allen möglichen Plunder zu enthalten, wie z.B.
Magie, Mystik, Aberglauben. Im folgendem Plädoyer für die Verständlichmachung seiner Ironien schreibt Jean Paul:
Dennoch ersuch ich alle Buchdrukkerein der ganzen Erde, keine Zeit zu verlieren, sondern sobald
als möglich sich mit einer ungeheuern Quantität von dergleichen Händen, die den Text berichtigen
und das Gegentheil desselben zu verstehen rathen, zu versorgen: denn das schlechteste und das
wahrhafteste Buch kan eine solche Hand nicht entrathen, die ein Handlanger für den Leser ist, aus
der er chiromantisch prophezeiet und die ihm Hand- und Spandienste thut. (SW II, II, 37)
Die Ironie läßt sich wohl ebensowenig durch die Ideenassoziation erklären wie die Ähnlichkeiten, die Jean Paul unter allen möglichen Ähnlichkeiten ausklaubt, und die die
schlechteste, die schönste oder die mittelmäßigste sein mag, oder mit deren Hilfe er
auch das Unähnliche aneinanderkoppelt. Seine implizite Kritik an dieser philosophischen Theorie scheint daher zu sein, daß sie das ästhetische und das ethische Urteil darüber ausklammert, was durch die Assoziation miteinander verbunden wird. Das Gesetz
der Ideenassoziation besagt lediglich, daß das Gehirn und das Gedächtnis bestimmte
Ideen auf Grund von bestimmten Gesetzen, wie Gleichheit oder Gegensatz, zeitlicher
Kontinuität oder räumlicher Kontiguität, miteinander verbindet, und höchstens noch
darüber Auskunft gibt, ob diese Assoziationen auch mit dem Gesetz der Kausalität, also
dem Verhältnis von Ursache und Wirkung, vereinbar sind. So versuchte Locke zu beweisen, daß unsere Vorurteile und auch der Aberglauben auf verkehrten Assoziationen
beruhen und ersetzte sie durch rationale Urteile, indem er sie einer logischen Überprüfung unterzog. Während die Philosophie also auf einen Erkenntnisgewinn aus ist, der
falsche Urteile durch richtige ersetzt, ist die Literatur, die sich wahrscheinlich schon
immer des Gesetzes der Ideenassoziation bediente, auch bevor es diesen Begriff gab,
zumindest für Jean Paul, auf eine ästhetische Erkenntnis aus, die etwas mit einem Lustgewinn zu tun hat, der sich aus der Einsicht in die Vieldeutigkeit der Welt speist. Dieser
Jeam Pauls Ästhetik
73
steht bei Jean Paul im Zeichen des Humors, d.i. einer Haltung, die aus der Erkenntnis
der grundlegenden Gespaltenheit des Subjekts in Körper und Geist hervorgeht. Statt aus
dieser Gespaltenheit eine tragische Weltsicht abzuleiten und sich, wie es die klassizistische Literatur tat, für einen Teil dieser Dichtomie zu entscheiden, indem man den anderen ihr unterordnet, z.B. den Körper unter den Geist, läßt der Humorist beide Termini
nebeneinander bestehen und vollzieht eine elliptische Bewegung um die beiden Brennpunkte seines tragi-komischen Universums. Der körperliche Ausdruck dieser geistigen
Haltung wäre das Lachen, das aber auch das Weinen nicht ausschließt.
Auf diese theoretische Reflexion über seine Schreibweise folgt dann eine Kostprobe
seiner schlechtesten, schönsten oder mittelmäßigsten Ähnlichkeiten:
Inzwischen vernehmen wir alle von der Sphärenmusik, die am Himmel aufgespielet wird, nicht
Einen Laut und der Himmel hat wahrhaftig kein Efloch […] Denk’ ich aber der Sache weiter nach,
so find’ ich, daß der Mensch das beste schlechte Ding auf dem grossen Rund der Welt ist und daß
bei ihm und bei den Noten in der Musik bald der Kopf bald der Schwanz oben ist und die Oberhand hat [...] glüklich sind die feurigen Damen am Hofe, desgleichen die unglüklichen Kastraten,
die die Elektrizitätsträger der feurigen Damen sind ... wie denn auch die schönsten und schimmerndsten Laster bis auf den Faden abgenuzte Sontagskleider sind, die ieder Nar iezt alle Tage
trägt [...] Man säume aber nicht und werfe der Welt Staub in die Augen, der König Goldstaub, der
Rektor Schulstaub, der Poet Federstaub von seinen Flügeln und die schöne Dame und Blume Blumenstaub, so wird alles wol gehen [...] Und so wird man oft im grösten Spasse traurig und denkt
nach und weint ohne Bedenken und greift nach einem Betaufhelfer, an dem man sich aus dem elenden Bette dieses Lebens schwinge in eine hellere Welt, wo man glüklich und verständig ist ...
Swifts Raserei ist ia die beste Tragödie und ich werde von ihr zu tief berührt ... (SW II, II, 46f.)
Die kursiv gedruckten Wörter sind zugleich die Knotenpunkte in dem Netz von Jean
Pauls durch Assoziation scheinbar locker verknüpften Reflexionen. Diese Ähnlichkeiten
sind einerseits um das Sem ‚Staub’ organisiert, das auch dem Gedanken des überspringenden Funkens des Feuers und der Elektrizität zugrundeliegt, andererseits die
Opposition von ‚Kopf’ und ‚Schwanz’, oben und unten, die sich auch in dem Lexem
‚Bet[t]aufhelfer’ manifestiert, das ja einen metaphysischen Trost angesichts des Elends
in der Welt verspricht.
Die Scherze in Quart enthalten einen weiteren Hinweis auf Jean Pauls zustimmende
Aufnahme der Lehre der Ideenassoziation, allerdings nur, wenn sie die Probe der Erfahrung besteht. Dort heißt es:
Kurz dein Einfal, lieber Hasus, besteht die Probe der Erfahrung und macht dir viele Ehre. Und eben diese herliche Gabe, die du vor so vielen voraus hast, alzeit etwas vernünftiges zu erfinden, alzeit etwas, das wizig ist und doch einen tiefen Sin hat, und überal Ideenverbindungen zu machen,
die manches Licht geben - das ists, was ich an dir so bewundere und was mich so zu deinem
Freunde macht, daß wir in der That nur eine Sele sind. (SW II, II, 74f)
So reflektiert Jean Paul durch die Figur ‚Hasus’ sein eigenes Gehirn wie es nach der
Theorie der Ideenassoziation auszusehen habe und meint, daß sie seine Arbeit noch verdoppele statt zu vereinfachen:
Ich halte mich nämlich in einem Kopfe auf, den niemand etwas bessers nennen sollte, als ein hohes Arbeitshaus oder eine Antichambre, worein die ganze Welt in Strömen zieht, um sich mir zu
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Anette Horn
präsentiren - ich soll sie ansehen und fixiren, und kennen lernen. Kaum hab’ ich die Augen aufgemacht (ich liege noch im Bette): so muß ich mich gefaßt machen, daß tausend typische und abgebildete Wesen - Nachdrücke und Naturspiele und redende Wappen der wirklichen Dinge - munter
auf dem Nervensaft heraufsegeln werden und ich kanns keinem wehren. Es ist mein Nutzen nicht,
daß iedes solches Wesen seine Spil- und Schwerdtmagen, seinen weitläuftigen Anverwandten, seinen Namensvetter und seine blosse Wand- und Thürnachbarn hat - denn diese hält das Wesen alle
an der Hand und bringt sie gleichgültig auch mit dem Kopf herein, so daß in wenigen Minuten der
Kopf mit Wesen, die alle einander verwandt sind, dermaßen vollgepflanzt und geladen wird, daß
ich nicht froh genug sein kann, keinen Raum einnehmen zu können. Die stärksten Philosophen
können mir dabei nichts helfen als daß sie diesen Ideen-Nepotismus eine Ideenassoziazion benennen, und ohne Noth meine Arbeiten nur noch mehr verdoppeln aber nicht meine vielen Kenntnisse. (SW II, 2, 193f.)
Hier kritisiert Jean Paul an der Ideenassoziation, daß sie vor lauter Assoziationen keine
eigenen Ideen und kein Ich zulasse. Dann führt er jedoch die Ideenassoziation selber
vor, indem er die entlegensten Dinge durch Gedankenstriche montiert. In dem Maße, in
dem seine Kritik durch die Ironie gebrochen wird, wird sie ambivalent. Der automatischen Ideenassoziation der Philosophie setzt er nunmehr seine bewußt aneinander gefügten Kenntnisse entgegen:
Wenn inzwischen der Leser mit der Kälte, womit er angefangen, zu lesen fortfährt: so bring’ ich
ihms gar nicht bei, was das heiße, das ganze Universum besucht eine arme Seele und der Makrokosmus will sich durchaus auf den Mikrokosmus hinaufsetzen; der Leser sollte vielmehr in den
seltensten Enthusiasmus von der Welt gerathen und sichs ein wenig vorzustellen wissen, wie viel
abstrakte und fleischfarbene Wesen täglich in meinem Kopf ein- und ausfliegen - als da sind nur
z.B. Titel aus den Pandekten und Adreskalendern - dicta probantia und Epiphanius mit einer Kuppel von 80 bellenden Ketzern - alle Zäsarianer und Kurfürstenerianer und Fürstenerianer - große
Lexika mit Billionen Wörtern aus eben sovielen Sprachen - Visittenblätter die die Kardinaltugenden abgeben - Kardinallaster in Person - Nuntiia und de latere - ia Päbste selbst - Spitzbuben z.B.
Nickellist - Scholastiker bei denen der Verstand und die Narrheit noch viel größer ist, als bei mir –
Einfälle über die man lachen sollte - der Leser selbst und mein eigen Ich - mein zweites Ich, meine
Frau, die noch dazu ausser meinem Kopfe neben mir existirt - einige Rechtwohlthaten - Hintere,
die nicht einmal an einer medizäischen Venus sitzen - ganze lange Kollegien in corpore - ia sogar
puncta salientia die noch nicht einmal das liebe Leben recht haben, und Tode die es schon wieder
verloren - - Wahrhaftig der Henker oder sein Knecht möchte da Seele sein und ein ausserordentlicher Gelehrte sollte weiter laufen, als ihn seine kalten Beine tragen. (SW II, 2, 194)
Durch diese aneinandergereihten Gedanken, die er aus der Fülle seines Wissensfundus
heraussucht, schafft Jean Paul eine neue Vorstellungswelt, die die Mannigfaltigkeit der
durch die Ideenassoziation bedingte Phantasie betont, ohne daß sie sie allein erklären
könnte. Mittels des Humors reflektiert er die Diskrepanz zwischen den Tatsachen der
empirischen ‚Realität’ und der unbegrenzten Phantasie, in der alle Kombinationen von
Kenntnissen möglich sind, und die doch nur eine Auswahl aus diesen Möglichkeiten
zuläßt. Jean Paul überbrückt diese Kluft mit Hilfe der Ironie und des Humors.
Dr. Anette Horn, Senior Lecturer, University of Pretoria, Department of Modern European Languages, Hatfield, Pretoria 0001. E-Mail: [email protected]
Jeam Pauls Ästhetik
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Anmerkungen:
* Mein Dank gilt der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für ein Stipendium, das es mir erlaubte, meine
Forschungen zu Jean Paul an der Technischen Universität Berlin fortzusetzen, und Herrn Prof. Norbert Miller, dessen Gast an der TU ich von April 2000 bis April 2002 war. The University of Cape
Town supported my research by appointing me as Honorary Research Associate for the year 2002/3.
1 „Die Erzeugung der einen Art von Geistesphänomenen aus der anderen ist, wenn sie erwiesen werden
kann, immer eine höchst interessante Thatsache der psychologischen Chemie”. (Mill 1868:Bd.2, 463)
2 Das heißt allerdings nicht, daß Jean Paul alle systematischen Ästhetiken verschmähte. Aristoteles und
Kant, „zwei philosophische Menächmen in Tiefsinn, Formstrenge, Redlichkeit, Vielblick und Gelehrsamkeit”, nimmt er von diesem Pauschalurteil aus. (SW I, Bd. 5, 19)
3 Berend bringt im Anhang von Jean Pauls Ästhetik ganz oder teilweise unverwertete und ungedruckte
Einträge aus den „Ästhetischen Untersuchungen” von Jean Paul. (Zit nach Berend 1909:272).
4 In einer Fußnote merkt Köpke an, die „Bedeutung Hartleys wäre erst darzustellen”. In den
EXZERPTEN. NEUNTER BAND. 1780 z.B. notiert sich Jean Paul: „II. HARTLEY, David: Betrachtungen über den Menschen, seine Natur, seine Pflichten und Erwartungen. Aus d. Engl. üb., 1. Bd.,
Rostock und Leipzig 1772. Von den Empfindungen und ihrer Entstehung 13f. Von den Assoziationen,
16f., 13-15. Von der Trägheit der Materie, 145f. Von der Leibnizzischen Monadologie, 149f. Die
grundsätzliche Definizion von der Freiheit des Menschen ist falsch - oder m.a.W. der Mensch ist nicht
frei, 208-227, 251, 254-263. Etliche Zweifel gegen die gewöhnliche Lehre von der Inspirazion, 299308. Vermutung!“ (Deutsche Nationalbibliothek, Berlin)
5 Zur Erfindung neuer Wahrheiten dienten ihm seine Exzerptenbände, die Jean Paul seit 1778 akribisch
führte und auf die er bis ins hohe Alter zurückgriff. Dieses Konvulut besteht aus 110 Bänden.
Daneben gibt es Materialien, die sich bis zum Ende seines Lebens auf 40 000 Seiten beliefen, denen er
ein Register zur Seite stellte, mit dessen Hilfe er die verstreuten Exzerpte durch Stichwörter und einem Extrakt des Exzerpts ordnete und somit stets zur Verfügung hatte. Diese Privatenzyklopädie oder
poetische Enzyklopädie, wie sie in der Forschung genannt wird, bildet die höchst eigenwillige Landkarte zu Jean Pauls gelehrtem Universum. Sie stellt aber auch den Leitfaden dar, der sich durch Jean
Pauls Werk zieht, und dessen Kontinuitäten und Diskontinuitäten sichtbar werden läßt. Berend plante
für den Abschlußband seiner Jean Paul Ausgabe eine „Inhaltsübersicht über die nicht zum Abdruck
gelangenden Teile des Nachlasses ( ... ), also das Verzeichnis der exzerpierten Bücher, der Sammlungen von Darstellungsmaterial, der heuristischen Papiere“. Am Ende der Prolegomena zu seiner Ausgabe wird ein solches Verzeichnis in Aussicht gestellt: „Über den Umfang seiner Belesenheit wird das
Verzeichnis der exzerpierten Bücher den besten Aufschluß geben.“ (Berend 1927:27 und 43; vgl. auch
Müller 1988).
Literatur:
(SW I) Jean Paul: Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Norbert Miller, Nachw. v. Walter Höllerer, München/Wien 1975.
(SW II) Jean Paul: Sämtliche Werke, Abt. II: Jugendwerke und vermischte Schriften, 4 Bde., hrsg. v. Norbert Miller und Wilhelm Schmidt-Biggemann, München/Wien 1975-85.
BEREND, EDUARD (1909). Jean Pauls Ästhetik. Berlin: Alexander Duncker Verlag.
BEREND, EDUARD 1927. Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken.
Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse Nr. 1. Berlin.
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Anette Horn
EISLER, RUDOLF 1904. Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage,
Berlin.
GERABEK, WERNER 1988. Naturphilosophie und Dichtung bei Jean Paul. Das Problem des Commercium
mentis et corporis. Stuttgart: Hans Dieter Heinz/Akademischer Verlag Stuttgart.
HORN, PETER 2002. „Von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die Du bereits verstehst.“ Die Sprache
als Generator von Sinn bei Kleist. PETER ENSBERG und HANS-JOCHEN MARQUARDT, Hg. Kleists Beitrag zur Ästhetik der Moderne. Stuttgart.
HUME, DAVID 1982 [1967]. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart: Philipp Reclam Jun.
KÖPKE, WULF 1977. Erfolglosigkeit. Zum Frühwerk Jean Pauls. München: Wilhelm Fink Verlag.
LAKOFF, GEORGE 1987. Women, Fire and Dangerous Things. What Categories reveal about the Mind.
Chicago and London: The University of Chicago Press.
LAKOFF, GEORGE, und MARK TURNER 1989. More than Cool Reason. A Field Guide to Poetic Metaphor.
Chicago and London: The University of Chicago Press.
LAKOFF, GEORGE, und MARK JOHNSON 1980. Metapors we live by. Chicago and London: The University
of Chicago Press.
LINDNER, BURKHARDT 1970. Satire und Allegorie in Jean Pauls Werk. Zur Konstitution des Allegorischen. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 5, 7-61.
MILL, JOHN STUART 1868. System der deduktiven und inductiven Logik. Übertragen von J. Schiel. Dritte
deutsche, nach der fünften des Originals erweiterte Auflage. In zwei Teilen. Braunschweig: Friedrich
Vieweg und Sohn.
MÜLLER, GÖTZ 1988. Jean Pauls Exzerpte. Würzburg: Königshausen & Neumann.
OCH, GUNNAR 1985. Der Körper als Zeichen. Zur Bedeutung des mimisch-gestischen und physiognomischen Ausdrucks im Werk Jean Pauls. Erlangen: Verlag Palm & Enke.
PLATNER, ERNST 1998. Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Teil. Mit einem Nachwort von
Alexander Kosenina. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag.
RICOEUR, PAUL 1986, 1991. Die lebendige Metapher. München.
SCHMITZ-EMANS, MONIKA 1986. Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache. Bonn: Bouvier.
SCHOPENHAUER, ARTHUR 1977. Züricher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Zürich: Diogenes.
SCHRÖDER, WINFRIED u.a. (Hrsg.) 1974. Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur
und Bewußtseinsbildung. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig.
VOIGT, GÜNTHER 1969. Die humoristische Figur bei Jean Paul. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft,
1969, 4
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