Ausarbeitung

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Studienstiftung des deutschen Volkes
Sommerakademie St. Johann 2002
Gruppe 3: Bioinformatik: Neue Paradigmen für die Forschung
Prof. E. W. Mayr, Prof. R. Backofen
Tomitas E-Cell: Software-Umgebung zur Simulation ganzer Zellen
Sonja Lorenz
September 2002
Genom-, Proteom-, Transkriptom- sowie Metabolom-Projekte generieren eine Fülle
quantitativer Daten (biological mass production revolution). Deren Integration in
Form virtueller Zellmodelle bietet die Chance, die komplexe Dynamik des zellulären
Metabolismus als Ganzes zu verstehen und Stoffwechselprozesse am Computer,
sprich in silico, zu simulieren. Von Masaru Tomita stammt das Konzept der
sogenannten E-Cell, dessen Voraussetzungen, Struktur und Potential in der
vorliegenden Ausarbeitung dargestellt werden.
Gliederung:
1
2
3
3.1
3.2
3.3
3.4
4
4.1
4.2
5
6
Einführung: In vivo => in vitro => in silico
Mycoplasma genitalium: Konstruktion einer hypothetischen Minimalzelle
E-Cell-Simulationssystem
Ontologie
Mathematische Grundlagen
Software-Architektur
Benutzeroberfläche
Virtuelle Experimente
Glykolyse
Human Erythrocyt
Ausblick
Literatur
1
Einführung: In vivo => in vitro => in silico
Mit dem Begriff in vivo bezeichnet der Zellbiologe Untersuchungen an einem lebenden Organismus,
im Gegensatz zu Studien an Zellkulturen, in vitro genannt. Für den Biochemiker hingegen bezieht
sich in vivo auf die intakte Zelle und in vitro auf Vorgänge im isolierten, zellfreien Extrakt. In diesem
Sinne legte Eduard Buchner mit seiner Entdeckung der zellfreien Gärung 1897 den Grundstein der
Enzymologie in vitro. Mittlerweile konnte sich ein weiterer Begriff in den Biowissenschaften
etablieren, nämlich in silico. Darunter versteht man die Modellierung zellulärer Komponenten bzw. die
Simulation metabolischer Prozesse und Verhaltensmuster am Computer.
Zur quantitativen Simulation biochemischer Stoffwechselkinetiken, basierend auf der numerischen
Integration von Ratengleichungen, wurden eine Reihe von Software-Paketen entwickelt, darunter z.B.
GEPASI (Mendes et al., 1993), KINSIM (Barshop et al. 1983), MIST (Ehlde et al., 1995),
METAMODEL ( Cornish-Bowden, 1991) oder SCAMP (Sauro, 1993).
Über die Simulation isolierter molekularer Prozesse in zellulären und viralen Systemen gibt es eine
Vielzahl an Arbeiten, beispielsweise Modelle zur Genregulation und Expression (Koile et al., 1989),
zum Zellteilungszyklus (Tyson et al., 1995), zu Signaltransduktionsmechanismen (Bray et al., 1993),
zur circadianen Rhythmik bei Drosophila (Leloup et al., 2000) oder zur bakteriellen Chemotaxis (Bray
et al., 1993). Zur Vorhersage zellulären Verhaltens eignen sich diese jedoch aus folgenden Gründen
höchstens bedingt: Erstens sind in der Realität selbst die einfachsten Stoffwechselpfade nicht isoliert,
sondern in ein kompliziertes Netzwerk von Kopplungen und Regulationswegen integriert. D. h. die
Zelle ist als dynamisches System aus vielen nicht-linearen Komponenten zu verstehen, dessen
Verhalten nur als Kollektiv in angemessener Weise experimentell untersucht werden kann. Zweitens
besitzen die meisten dieser Modelle nur qualitativen Charakter, was oft mehrdeutige Resultate
generiert.
Da durch
Genom-, Proteom-, Transkriptom- und Metabolom-Projekte
eine riesige Menge
quantitativer Daten produziert werden, ist die integrative Simulation ganzer Zellen am Computer zu
einer realistischen Perspektive geworden. Masaru Tomita setzt seit 1996 am Institute for Advanced
Biosciences der Keio University, Japan, diese Idee in Form seiner E-Cell um, einer SoftwareUmgebung zur Modellierung zellulärer Prozesse.
Das E-Cell-Projekt umfaßt eine Vielzahl von Teilprojekten, die sich mit einzelnen Zelltypen,
Organellen oder bestimmten Verhaltensweisen befassen: E-coli, Erythrocyt, E-Rice, E-Neuron,
Myocard, Mitochodrium, Chloroplast, Chemotaxis, Zellzyklus, Diabetes mellitus, Erythrocyten
Pathologie.
Der Vollständigkeit halber seien noch die folgenden Projekte zur integrativen Zellsimulation erwähnt:
DBSolve (Goryanin et al., 1999), V-Cell (Schaff et al., 1997), Erythrocyten (Palsson et al., 1989),
Alliance For Cellular Signal (AFCS), Microbial Cell Project.
2
Mycoplasma genitalium: Konstruktion einer hypothetischen Minimalzelle
Mycoplasma genitalium ist ein grampositives, parasitäres Bakterium, das im Genital- und
Respirationstrakt von Primaten chronische Entzündungen hervorruft. Die Totalsequenzierung seines
Genoms gelang Fraser et al., 1995. Mit 580 kb und nur schätzungsweise 470 Genen ist das
Mycoplasma-Genom nicht nur um eine Zehnerpotenz kleiner als das von E.coli, sondern das kleinste
Genom eines zellulären, zur unabhängigen Replikation befähigten Organismus überhaupt. Damit
stellt Mycoplasma genitalium den idealen Ausgangspunkt zur Konstruktion eines hypothetischen selfsurviving Minimalgenoms dar.
Für etwa 80% der Mycoplasma-Gene konnten durch Homologie-Screening in BLAST Vorhersagen
über deren Funktion gemacht werden. Umfangreiche Knock-out-Studien zeigten, daß nicht alle 480
Gene essentiell für Mycoplasma genitalium sind. Unter diesen Voraussetzungen gelang es Tomita et
al. eine Minimalzelle zu konstruieren, die insgesamt 127 Gene (105 für Proteine, 22 für RNA
kodierende), 120 aus Mycoplasma, ergänzt durch 7 Gene aus anderen Organismen, wie z.B. E.coli
enthält:
Die virtuelle self-surviving cell (SSC) nimmt Glucose aus dem Kulturmedium mit Hilfe eines
Phosphotransferasesystems auf, generiert ATP durch Glykolyse und Lactat-Fermentation und
exportiert Lactat aus der Zelle heraus. ATP wird in erster Linie für die Proteinsynthese verbraucht, da
die zellulären Proteine spontan abgebaut und daher kontinuierlich resynthetisiert werden müssen. Für
die Proteinsynthese enthält die virtuelle Zelle die notwendigen Enzyme der Transkription und
Translation ( RNA-Polymerase, ribosomale Untereinheiten, rRNAs, tRNAs und tRNA-Ligasen). Da
auch die Zellmembran mit der Zeit unter ATP-Verbrauch nachgebildet werden muß, ist die
Minimalzelle mit einem Phospholipid-Biosyntheseweg ausgestattet und nimmt als Bausteine freie
Fettsäuren sowie Glycerin aus dem Medium auf.
Es ist anzumerken, daß dieser ersten Version der E-Cell einige wichtige Features, wie die Fähigkeit
zur Proliferation (DNA-Replikation, Chromosomensegregation und Zytokinese), fehlen, weshalb ihr
Minimalgenom wesentlich kleiner ist als das durch Sequenzvergleich von Mycoplasma genitalium und
Haemophilus influenzae abgeschätzte (Musheginan et al., 1996). Außerdem basiert die erste E-Cell
auf unrealistisch günstigen Umgebungsbedingungen: Beispielsweise müssen alle Aminosäuren im
Medium vorhanden sein. Es wird die Stabilität von pH-Wert und Osmolarität vorausgesetzt, weil sonst
relevante Strukturproteine nicht berücksichtigt sind.
3
E-Cell-Simulationssystem
3.1
Ontologie
Der E-Cell liegt eine komplizierte ontologische Struktur zugrunde, in der drei fundamentale
Objektklassen (Primitives) definiert sind: Substanz, Reaktor und System.
Als Substanz wird ein Substrat, Produkt oder Katalysator einer Reaktion (samt seiner zugehörigen
Stoffmenge) bezeichnet, unabhängig von seiner chemischen Natur (Proteine, DNA, RNA, Komplexe,
kleine Moleküle etc.). Sequenzfragmente (Open reading frames z.B.) und Komplexe (Skomplex,
Bindungsstelle und Operator) sind Subkategorien der Klasse Substance, wobei Skomplex einen
Komplex aus Bindungspartner und freier Bindungsstelle bezeichnet.
Der Reaktor stellt ein programmierbares Objekt zur Realisierung chemischer Reaktionen dar und
enthält Eingaben zu Reaktionskinetik und -parametern.
Die E-Cell enthält 495 Reaktionsgesetze, die durch benutzerdefinierte Reaktionen ergänzt werden
können. Jedes Gesetz definiert das Reaktionsverhalten innerhalb eines Zeitinkrements von einer
Millisekunde. Folgende Reaktionstypen sind im Substanz-Reaktor-Modell vorgesehen:
• enzymatische Transformation
• enzymatische Komplexassoziaton
• enzymatische Komplexdissoziation
• Transportprozesse
• stochastische Prozesse (z.B. Bindung von Transkriptionsfaktoren ans Chromosom)
Da die Zelle kein einheitlicher Reaktionskessel ist, sondern durch ihre hierarchische
Kompartimentierung lokal begrenzte Reaktionsräume zur Verfügung stellt, sind in der E-Cell
zusätzlich Behälter-Objekte, Systeme genannt, implementiert. Das obige Substanz-Reaktor-Modell
wird dadurch zu einem strukturierten und erlaubt, je nach dem topologischen Arrangement der
zellulären Kompartimente, folgende Reaktionstypen:
• Diffusion zwischen Subsystemen
• Membrantransport (Reaktor in der Membran)
• Reaktion im Supersystem mit Reaktor im Subsystem
• Reaktion mit externem Reaktor
Ssystem, Rsystem, Gsystem bzw. Metasystem sind Unterklassen von System und kennzeichnen
spezifische Behälter für Substanzen, Reaktoren, Gene bzw. Systeme.
In der Modeling-Praxis wird zusätzlich die benutzerdefinierte Kategorie Cell Components benötigt.
Dazu zählen z.B. genomische Elemente, sprich bestimmte Sequenzregionen wie Gene.
Genaugenommen stellt ein Genomic Element ein Ssystem dar, wenn es z.B. Bindungsstellen oder
ORFs (open reading frames) besitzt. Ausserdem ist es ein Rsystem, wenn es Reaktoren für die
Bindungsreaktion zur Verfügung stellt. An diesem Beispiel wird deutlich, wie komplex das Model für
Chromosom und Genexpression beschaffen ist.
3.2
Mathematische Grundlagen
Schnelle Gleichgewichtseinstellung in jedem Kompartiment vorausgesetzt, kann das dynamische
Verhalten der Zellparameter {S1 ... Sn} durch eine Reihe von Differentialgleichungen beschrieben
werden, die die Abhängigkeit der Parameter von der Zeit wiedergeben.
dS 1
= f1 ( S1 , S 2 ,..., S n )
dt
dS 2
= f 2 ( S1 , S 2 ,..., S n )
dt
Λ
dS n
= f n ( S1 , S 2 ,..., S n )
dt
Aus der generalisierten Darstellung von Reaktionen der Substanzen Si gemäß
k
... + η i S i + ... 
→
... + η j S j + ...
ergeben sich beispielweise folgende Ausdrücke für die Reaktionsgeschwindigkeiten v:
ν = k ∗ ∏ [ S i ]ηi
i
ν=
V f ∗ [S ]
[ A] [ I ]
+
)
(1 +
KA KI
KS
+ [S ]
b[ A]
a[ I ]
(1 +
+
)
(1 +
β KA α KI
(1 +
[ A]
[I ]
+
)
β KA α KI
b[ A]
a[ I ]
+
)
β KA α KI
Im ersten Fall wird eine direkte Abhängigkeit der Geschwindigkeit von der Substratkonzentration
angenommen; Die zweite Gleichung ist vom Michaelis-Menten-Typ mit einem Inhibitor und einem
Aktivator.
(Mit ? sind die stöchiometrischen Koeffizienten bezeichnet, k ist die Geschwindigkeitskonstante der
Reaktion und die eckigen Klammern geben Konzentrationen an. Die Gleichung vom MichaelisMenten-Typ mit allen Parametern soll hier nur Beispielfunktion besitzen, so daß die einzelnen
Parameter nicht einzeln aufgeschlüsselt werden.)
Mit Kenntnis aller Reaktions- und Geschwindigkeitsgleichungen für einen bestimmten Parameter Si
lassen sich die obigen Differentialgleichungen aufstellen.
Die Simulation der Zelle zu einem gegebenen Zeitpunkt entspricht damit der simultanen Lösung der
kinetischen Gleichungen durch numerische Integration.
Die zeitliche Änderung des Zustands der Modellzelle wird in drei Abschnitte eingeteilt, nämlich die
clear-, die react- und die transit-Phase. In der clear-Phase erfolgt ein Reset der
Geschwindigkeitsparameter aller Substanzen auf Null. In der react-Phase werden Reaktoren zur
Errechnung der Entwicklungsgeschwindigkeiten der Substanzen in den jeweiligen Reaktionen
aufgerufen. Schließlich werden die Konzentrationen der Substanzen für den nächsten Zeitpunkt durch
numerische Integration in der transit-Phase errechnet. Dabei wird die Netto-Konzentrationsänderung
für jede Substanz zum Ausgangswert jeden Zeitintervalls addiert und das Set von Zustandsvariablen
aktualisiert.
Durch die Einbettung der Integrationsalgorithmen in Objektklassen können verschiedene Algorithmen
(Euler erste Ordnung, Runge-Kutta vierte Ordnung u.a.) benutzt und den einzelnen
Zellkompartimenten angepaßt werden, was die wunschgemäße Optimierung der Simulation
(Genauigkeit, Geschwindigkeit etc.) erlaubt.
Die numerische Integration selbst erfolgt in sequentieller Form mittels sogenannter Stepper. Diese
sind hierarchisch organisiert und bilden synchronisierte Integrationseinheiten.
Dank dieser Multi-Phasen-, Multi-Kompartiment und Multi-Step-Methode ist das System zur parallelen
Rechnung (multi thread computing) befähigt.
3.3
Software-Architektur
Die E-Cell ist eine auf Regeln basierende Simulation, geschrieben in C++, einer objektorientierten
Programmiersprache. Das objekt-orientierte Design erleichtert die unabhängige Entwicklung der
Simulationsmaschinerie, der Benutzer-Interfaces und dem Zellmodell.
Prinzipiell besteht das E-Cell-System aus zwei Teilen, der elektronischen Zellkultur und dem
Experiment Controller. Die elektronische Zellkultur bildet das benutzerdefinierte Zellmodell in Form
eines Rule File. Letzteres wird durch den Rule File Interpreter gelesen und somit die elektronische
Zelle und ihre Umgebung generiert. Die elektronische Zellkultur bedarf eines Zeitsignals durch den
Experiment Controller, ist aber ansonsten unabhängig vom Rest des Systems.
experiment
controller
environment
membrane
e-cell
chromosome
cytoplasm
interpreter
rule file
Dieser Systemkonstruktion liegt ein objektorientiertes MVC-Modell zugrunde, wie es sich
insbesondere zu diversen Repräsentationen komplexer und dynamischer Datenstrukturen eignet. Das
MWC-Modell enthält drei Komponenten: Model, View und Control. Die Datenstruktur befindet sich im
Model-Objekt und ist nur über das View-Objekt zugänglich. Das Control-Objekt dient als BenutzerInterface zur Veränderung der Systemkonfiguration und der Parameter der Model- und View-Objekte.
Neue Methoden zur Datenvisualisation können leicht durch die Entwicklung neuer View-Objekte
eingeführt werden.
change
model
control
change
get data
update
view
Im System verläuft der Informationsfluß unidirektional vom Controller zur Zellkultur. Der Time
Manager generiert kontinuierlich ein Zeitsignal während der Simulation, das von der Engine
empfangen und an die Zellkultur zwecks Update gesandt wird. Wenn die Aktualisierung des
Zellkultur-Zustands komplett ist, so schickt die Engine ein Update-Signal an die einzelnen Interfaces.
Letztere sind konzipiert, um Informationen über bestimmte Objekte innerhalb der Zellkultur zu liefern
und diese nach Bedarf zu manipulieren.
Das Rule File kann handgeschrieben oder durch Konvertierung aus Spread-Sheet-Software generiert
werden. Bezüglich der Syntax ist es flexibel, kontextabhängig und benutzerfreundlich angelegt und
wird durch einen Compiler in den kontextunabhängigen Intermediärcode (eri file) der E-Cell
übertragen. Das E-Cell-System interpretiert diesen Code und konstruiert demgemäß das Zellmodell.
3.5
Benutzeroberfläche
Mit dem Start der SSC-Simulation werden alle Reaktiongesetze parallel ausgeführt und das Verhalten
der Zelle ist durch verschiedene graphische Interfaces zu verfolgen und interaktiv manipulierbar.
Die dynamischen Änderungen in der intrazellulären Molekülzahl einzelner Substanzen von Interesse
sowie in den Umsatzraten ausgesuchter Reaktionen lassen sich im Tracer Window beobachten.
Die Darstellung erfolgt in Form zweidimensionaler Diagramme mit maximal sechs animierten
Liniengraphen. Zur simultanen Beobachtung vieler Substanzen und Reaktionen können mehrere
Tracer Windows geöffnet werden. Im Reactor Window ist die Aktivität spezifischer biochemischer
Reaktionen zu sehen, sprich der Substratumsatz pro Zeiteinheit, wobei die Substratmenge jederzeit
im Substance Window verändert werden kann, entsprechend einer virtuellen Pipette. Das Genemap
Window gibt Aufschluß über das Ausmaß der Expression jedes einzelnen Gens. Durch Mausklick auf
das entsprechende Icon können Gene ein und ausgeschaltet werden, was einem Echtzeit-KnockoutExperiment in silico entspricht.
4
Virtuelle Experimente
4.1
Glykolyse
Unter „Glykolyse“ versteht man die ersten Reaktionsschritte beim Abbau des energiereichen Moleküls
Glucose, die dabei in zwei Moleküle Pyruvat umgewandelt wird. Im aeroben Metabolismus ist die
Glykolyse dem Zitronensäurezyklus und der Atmungskette vorgeschaltet, in der anaeroben
Modellzelle schließt sich die Lactat-Fermentation an. Da in der Glykolyse pro eingesetztem Molekül
Glucose netto zwei Moleküle ATP (die zelluläre Energiewährung) entstehen, sollte ein plötzlicher
Glucoseentzug im Kulturmedium einen raschen Abfall der zellulären ATP-Konzentration zur Folge
haben. Die Simulation dieser Situation in silico brachte allerdings ein zunächst überraschendes
Ergebnis: Tatsächlich bewirkt der extrazelluläre Glucoseentzug erst einen transienten Anstieg des
ATP-Levels, bevor dieser, wie erwartet, absinkt. Dieses Verhalten ist leicht verständlich, wenn man
bedenkt, daß im ersten Teil der Glykolyse zunächst pro Molekül Glucose zwei ATP verbraucht und im
zweiten Teil schließlich durch die Freisetzung von vier ATP überkompensiert werden. Wird Glucose
entzogen, so entfällt zunächst der ATP-Verbrauch, und erst einige Augenblicke später kommt auch
die ATP-Freisetzung zum Erliegen. Der Nachweis dieses Phänomens in vitro steht noch aus.
2 Pyruvat
4 ATP
4 ADP
2 C3-Körper
4.2
Human Erythrocyt
Zur Evaluation des E-Cell-Konzepts ist es notwendig, eine real existierende Zelle zu simulieren und
den Grad der Übereinstimmung ihres Verhaltens in vivo und in silico zu bestimmen. Als Modellsystem
bieten sich menschliche Erythrocyten an, weil ihr Metabolismus extrem reduziert ist. Da sie keinen
Zellkern mehr besitzen, findet keine Replikation, Transkription oder Translation statt und die
Hauptstoffwechselwege beschränken sich auf Glykolyse, Pentosephosphatweg und NucleotidMetabolismus. Hinzu kommen Mechanismen des Ionentransports, die die intrazelluläre osmotische
Homöostase gewährleisten und damit die Transporteigenschaften des cytoplasmatischen
Sauerstoffcarriers Hämoglobin optimieren. Vorteilhaft ist daneben die Verfügbarkeit großer Mengen
quantitativer Daten über humane Erythrocyten.
Ausreichende Ernährung vorausgesetzt, erreicht der „Tamagotchi“ Erythrocyt ein Steady State, bei
dem die Metabolitkonzentrationen gut mit den realen übereinstimmen. Durch die virtuelle Inhibition
von Glykolyse-Enzymen gelingt es, pathologische Stoffwechselmuster zu simulieren, wie sie bei
Patienten mit hereditären Anämien vorliegen. Die Einfachheit und Schnelligkeit der Experimente in
silico ermöglicht die automatische Erstellung vollständiger Listen mit Enzymdefekten und den
zellulären Konsequenzen, die ggf. in vivo oder in vitro verifiziert werden können. Außerdem lassen die
Ergebnisse Rückschlüsse auf die kinetische Sensitivität einzelner enzymatischer Reaktionen zu.
5
Ausblick
Eines der Hauptprobleme bei der Konstruktion ganzheitlicher Zellmodelle ist nach wie vor der Mangel
an quantitativen Daten. Hier verspricht die Entwicklung von high-throughput-Technologien zur
Messung intrazellulärer Metaboliten Abhilfe. Am Institute for Advanced Biosciences der Keio
University, Japan, kooperieren daher die Zentren für Metabolom-Forschung, Bioinformatik und
Gentechnologie im Rahmen der simulationsorientierten Biowissenschaft. Die ultimativen Ziele sind:
• Erleichterung und Beschleunigung der extensiven wissenschaftlichen Informationsbeschaffung
durch Automatisierung und Integration verwandter knowledgebases
• Identifikation neuer Enzym- und Transportergene unter Genen bislang unbekannter Funktion,
beispielsweise durch Variation des Kulturmediums in silico
• Verständnis der elementaren Anforderungen an eine lebensfähige Zelle
• Konstruktion realer Zellen mit signifikant reduziertem Genom
• Simulation der vollständigen Mycoplasma genitalium Zelle
• Simulation pathologischer Stoffwechselprozesse
• individuelle Simulation des zellulären Metabolismus, basierend auf SNPs (single nucleotid
polymorphisms) mit dem Ziel einer patientenspezifischen customized medicine, insbesondere bei
polygenen Erkrankungen (Krebs, Allergien etc.)
• Modeling von Zell-Zell-Interaktionen und Zellverbänden
S umfassendes Verständnis zellulären Verhaltens
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Zugehörige Unterlagen
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