Universität Augsburg Lehrstuhl für Soziologie Einführung in die Soziologie sozialer Ungleichheiten Dozent: Sasa Bosancic Referenten: Kerstin Nix, Miriam Wagner SS 2007 07.05.07 Schichten bei Geiger und „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ bei Schelsky 1. Theorie der sozialen Schichtung von Theodor Geiger (1891-1952) 1.1 Begrifflichkeiten - Großgesellschaft, der gewisse Struktur zugeschrieben wird (= Schichtung), gegliedert in mindestens zwei, zumeist mehrere Schichten Schicht: viele Personen, mit gemeinsamen erkennbaren Merkmal, dadurch gewisser Status in der Gesellschaft Status: Lebensstandard, Chancen, Risiken, Privilegien Merkmal für Schichtzugehörigkeit = Schichtdeterminante Begriff Klasse zu stark historisch geprägt, deshalb neuer Begriff mit einem Mindestmaß an Urteilen und dadurch geeignete Grundlage für die Diskussion einander widerstreitender Theorien Schicht als Oberbegriff für mehrere historische Typen (Klasse, Stände, Kasten) Definition Schichtung: Gliederung der Gesellschaft nach dem typischen Status (den Soziallagen) ihrer Mitglieder, ohne nähere Bestimmung dieser Soziallagen oder der Merkmale, an die sie im geschichtlichen Sonderfall geknüpft sind. 1.2 Geigers Theorie 1.2.1 Warum nicht Anschluss an Marx? Gesellschaft wird nur durch Produktionsverhältnisse differenziert bzw. jede auf anderen Umständen beruhende Differenzierung wird untergeordnet. Theorie erfahrungswissenschaftlich unannehmbar, da weder bewiesen noch beweisbar Erfahrungswissenschaft handelt anders: Fragen: Welche Differenzierungen treten in einer Gesellschaft auf und worauf beruhen diese? Bestehen in verschiedenen historischen Gesellschaften immer die gleichen oder verschiedene soziale Differenzierungen? Erfahrungswissenschaft untersucht mit Blick auf Tatsachen 1.2.2 Schichtbegriff ohne Urteilsinhalt - Schicht = Gesamtheit der Personen innerhalb einer Bevölkerung, denen irgendein Merkmal gemein ist Bloße Merkmalsbestimmung, Identifizierung von Merkmalsträgern und Zählung = Sozialstatistik, aber nicht Soziologie Begriff der Gesellschaftsschicht: Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen der Gesellschaftsglieder und entweder ihrer gesellschaftlicher Haltung oder dem gesamten Aufbau der Gesellschaft oder beidem. Antwort auf Frage nach den Merkmalen der Soziallagen wird für verschiedene Gesellschaften verschieden ausfallen, nicht wie bei Marx: ein bestimmtes Merkmal (Produktionsverhältnis) für entscheidend erklären 1.2.3 Logische Struktur des Schichtbegriffs Frage: Was ist für den Begriff „Schicht“ entscheidend? das Merkmal einer Lage oder einer Haltung? Definition: Gesellschaftsschicht ist die Gesamtheit jener, die ein objektives Merkmal der Lage gemein haben und sich in anbetracht dieser Gemeinsamkeit miteinander verbunden fühlen. Konsequenz: Gesellschaftsschichten sind nur die, die sich aufgrund ihrer Gleichartigkeit solidarisch fühlen und verhalten keine Gliederung der Bevölkerung, übrig bleiben die, die zwar die gleiche Lage haben, aber sich nicht zugehörig fühlen. Lösung: Lagen und Haltungen zuerst getrennt erfassen, dann aber die Verteilung der Lagen und die der Haltungen miteinander vergleichen gewisse Haltungen werden als typisch für gewisse Lagen erkannt Haltung in einer Schicht ist lokalisiert 1.2.4 Schichtstruktur und Schichtmodell Problem: eindimensionales Schichtungsmodell und geschichtliche Verlagerungen der Schichtstruktur: Die Gesellschaft von heute wird mit dem Schichtungsmodell interpretiert, das an der Gesellschaft von vorgestern abgelesen wurde. mehrdimensionales Schichtungsmodell ist unerlässlich Geiger: vierdimensionales Modell mit folgenden Lagemerkmalen: 1. Wirtschaftszweig, 2. Stellung im Beruf, 3. Einkommenshöhe, 4. Art und Grad der Ausbildung Minimum an Variabilität 2. Die Bedeutung Theodor Geigers für die Sozialstrukturanalyse der modernen Gesellschaft (von Rainer Geißler) 2.1. Geigers Sozialstrukturforschung 1. ein differenziertes, begrifflich-theoretisches Instrumentarium 2. eine angemessene Sicht der realen gesellschaftlichen Strukturen und ihres Wandels 2.2. Besonderheiten von Geigers Ansatz 1. 2. 3. 4. 5. 6. Schicht als soziologischer Grund – und Oberbegriff Verknüpfung Soziallage und Mentalitäten/Ideologien Mehrdimensionalität des Schichtgefüges Dominante Schichtung und subordinierte Schichtungen Schichten als bewegende Kräfte der gesellschaftlichen Entwicklung Dynamische und historische Sicht (doppelte Dynamik: Fluktuation und Umschichtung; historisch-konkrete Entwicklung der Sozialstruktur wichtig) 3. Hauptunterschiede zwischen Geiger und Marx: Zwei Grundüberzeugungen Geigers anti-marxistisch: . . Distanz zu Marx Geschichts -und Gesellschaftsphilosophie und zu der Überzeugung, alle Gesellschaften sind Klassengesellschaften im Sinne Marx Distanz zu Vorstellung, Klassen sind solidarisch handelnde Gruppen im politischen Prozess Wesentliche Entwicklungslinien der Sozialstruktur: Marx - Verelendung der Massen - Vereinfachung - Polarisierung und Verschärfung des Klassenkampfes I Geiger I I - steigender Wohlstand und steigende I soziale Sicherheit I - Differenzierung I - Abbau des Antagonismus und I Abflauen des Klassenkampfes I 4. Irrtümer und Lücken Geigers, sowie Fazit: . . . Geiger hat neue Blüte des alten Mittelstandes vorhergesagt nur kurze Dauer (zusammengeschrumpft und dann erst stabilisiert) Balance zwischen organisiertem Kapital und organisierter Lohnarbeit (=Geigers Vorstellung) umstritten, es gibt Argumente für Macht zugunsten der Kapitalseite Geiger unterschätzte die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des kapitalistischen Systems gegen die Durchdringung mit planwirtschaftlichen Elementen Historisch neuen Typ von Sozialstruktur hat Geiger nicht gefunden , aber Geigers Konzept sollte auch heute noch Grundlage sein, auf der aufgebaut wird 5. Helmut Schelsky (1912-1984): Die „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ 5.1 Allgemeines - Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft der 50er Jahre Nivellierung: Ausgleich der sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft Gegenwärtige deutsche Gesellschaft: durch Radikalität der sozialen und politischen Ereignisse Überwindung der ehemaligen Klassenstruktur am weitesten fortgeschritten (europaweit) 5.2 Theorie: 1. Grundlegende These: umfassende soziale Ab- und Aufstiegsprozesse in der Gesellschaft sind der Grund für die „Schließung der großen sozialen Kluft“ - Abbau der Klassengegensätze - Statische Gesellschaft weicht einer dynamischen Gesellschaft; Kennzeichen: hohe soziale Mobilität durch Auf- und Abstiegsprozesse - Aber: Auf- und Abstiegsprozesse führen zu einer Nivellierung die weitere Auf- und Abstiege nicht mehr zulässt 2. Nivellierung des realen wirtschaftlichen und politischen Status folgt weitgehend eine Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen - Deklassierung des ehemaligen Besitz- und Bildungsbürgertums, Aufstieg der Industriearbeiterschaft, der technischen, kaufmännischen und Verwaltungs-Angestellten - Sehr breite verhältnismäßig einheitliche Gesellschaftsschicht die weder proletarisch noch bürgerlich ist - Verhältnismäßig einheitlicher Lebensstil Nivellierung schichttypischer Verhaltensstrukturen als dominierendster Vorgang 3. Soziale Mobilität: nicht mehr als Prozess des sozialen Abstiegs und Aufstiegs innerhalb sozialer Schichten, sondern Entschichtungsvorgang (= Abbau der Bedeutung gesellschaftlicher Schichten) 4. Soziale Leitbilder und Selbstbewusstsein entziehen sich der Nivellierung - Kleinbürgerlich mittelständische Menschen brauchen Standortbestimmung in der Gesellschaft - Festhalten an veralteten sozialen Leitbildern 5. Unerfüllbarkeit der sozialen Aufstiegsbedürfnisse - Durch soziale Mobilität: Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, ständiges Streben nach sozialem Aufstieg soziale Unsicherheit und soziales Aufstiegsstreben bedingen sich gegenseitig und werden universal Unerfüllbarkeit der sozialen Aufstiegsbedürfnisse zu einem Kennzeichen der nivellierenden Gesellschaft soziale Spannungen 6. Mittelstandsproblem - Zwei Erwartungen: - „falsche bürgerliche Ideologie“ dem Status als Lohnempfänger anpassen oder autonomes mittelständisches Sozialbewusstsein entwickeln - Kein Mittelstandsproblem mehr Nivellierung der Gesellschaft zu mittelständischbürgerlicher Einheitsschicht - Merkmale: falsche Ideologie, Einkommenslage und Berufszugehörigkeit nicht ausschlaggebend für die Selbstzuordnung in der Gesellschaft - Neues Konfliktpotenzial in der „Verteilung des Wohlstandes“ 5.3 Kritik: - - Schelskys „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ hat sich nicht durchsetzen können Gesellschaft nicht auf dem Weg in „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ sondern auf dem Weg in eine „Schichtungsgesellschaft“ Nach wie vor ungleiche Strukturen, Bevölkerung in höher und tiefer stehende Gruppen aufgeteilt, keine umfassende soziale Mobilität keine allgemeine Angleichung in den Lebensbedingungen sondern deutliche Unterschiede hinsichtlich des Vermögens, der Einkommen und der Bildung Ausmaß der Nivellierung für die fünfziger Jahre wohl deutlich überschätzt Fehler der traditionellen Klassenanalyse: keine innere Differenzierung der nivellierten Mittelschicht Nivellierungsthese als Grundstock für ein multidimensionales Modell: nicht allein auf Kapital und Arbeit beschränkt, sondern andere Konfliktfelder in der Analyse aufgenommen Schroer, M. (2001): Klassengesellschaft. In: Kneer/Nassehi/Schroer (Hrsg.): Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, S. 139-178 Geißler, R. (1995): Die Bedeutung Theodor Geigers für die Sozialstrukturanalyse der modernen Gesellschaft. In: Bachmann, S. (Hrsg.): Theodor Geiger. Berlin, S. 273-297 Geiger, T. (1962): Theorie der sozialen Schichtung. In: Ders.: Arbeiten zur Soziologie. Neuwied, S. 186-205 Schelsky, H. (1965): Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft. In: Ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Düsseldorf, S. 331-336