Theodor Geigers „Theorie der sozialen Schichtung“

Werbung
Universität Augsburg
PhilSoz-Fakultät
PS: Einführung in die Soziologie der Ungleichheit
Dozent: Sasa Bosancic, M.A.
Referenten : Eiden, Patrick; Pilzweger, Stefanie
6. November 2006
Theodor Geigers „Theorie der sozialen Schichtung“ und
‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft’ bei Schelsky
1. Schichtung als zentraler Ansatz bei Geiger
Kritik an Marx Klassengesellschaft:
Gesellschaft wird hauptsächlich unter dem wirtschaftlichem Aspekt gesehen
Kampf der beiden antagonistischen Klassen, Gegenstand des Kampfes ist die
Wirtschaftsweise Æ Soziologie = Sozialökonomik
- Klassen als solidarische Gruppen im politischen Prozess
- Gesellschaft wird nur durch die Produktionsverhältnisse differenziert
-
-
-
Analyse von gesellschaftlichen Strukturen mit Hilfe des Konzeptes der sozialen Schichtung Æ dient zugleich als Grund- und Oberbegriff
Gesellschaft kann in zahlreiche, verschiedene soziale Gruppen eingeteilt werden
Jede Schicht hat einen ähnlichen Status (z. B. Lebenschancen, Privilegien,
Rang, Chancen, Risiken...) bzw. gemeinsame Merkmale/ Schicht- Determinanten
Definition „Schicht“ gemäß Geiger:
„Schichtung heißt also Gliederung der Gesellschaft nach dem typischen Status (den Soziallagen) ihrer Mitglieder, ohne nähere Bestimmung dieser Soziallagen oder der Merkmale, an die sie im geschichtlichen Sonderfall geknüpft
sind.“
(Geiger T. (1962): Theorie der sozialen Schichtung. In: Ders.: Arbeiten zur Soziologie. Neuwied, S. 187, Z. 24 ff.)
-
-
-
Schichten sind historisch veränderbar, zeigen verschiedene Ausprägungen im
Verlauf der Geschichte ( 3 historische Typen/ Urbilder: indisches Kastenwesen, Ständesystem des europäischen Mittelalters, neuzeitliche Industrialismus)
Reduktion der Vielfalt der Merkmale: ein Modell kann nie genau die sozialen
Realität darstellen
Methode: Deduktiver Ansatz:
Beobachtung der gesamtgesellschaftlichen Struktur (empirische Studien); Suche nach Gesetzmäßigkeiten Æ Entwicklung eines hypothetischen Schichtungsmodells bzw. einer Theorie
2. Zusammenhang zwischen Soziallage und gesellschaftlicher Haltung
-
Lage: statistische Klassifikation der Bevölkerung nach „äußeren Merkmalen“
(z.B.: Geschlecht, Alter, Beruf, Einkommen, Sprache, Bildung...)
Haltung: psychische Faktoren, Mentalitäten, Befindlichkeiten, Lebensstile
Zusammenspiel von objektiver Soziallage und subjektiver Einstellung wird untersucht
Zunächst getrennte Analyse der beiden Bereiche Æ typische Zusammenhänge
zwischen Haltung und Lage lassen sich erkennen
Î Zahlreiche Vorteile:
- Politische Relevanz: Untersuchung von kollektiven Denkweisen (z.B.: Wahlverhalten)
- Schichten gemäß Geiger sind keine scharf voneinander abgegrenzten Gruppen
- Vermeidung von klischeehaften Vorstellungen/ Homogenitätsannahmen zwischen Soziallage und Haltung/ Handlung
3. Dynamische Vielschichtigkeit
Es ist ein mehrdimensionales Schichtmodell notwendig, um die Struktur der
komplexen, modernen Gesellschaft untersuchen zu können.
- Vorschlag laut Geiger: 4-dimensionales Modell:
1. Wirtschaftszweig, 2. Stellung im Beruf, 3. Einkommenshöhe, 4. Ausbildung
Æ Mehrere, einander kreuzende Kriterien machen das gesellschaftliche Ganze
aus
Æ Zu verschiedenen Zeiten können unterschiedliche Merkmale als schichtbildend
gelten,
manche Kriterien gewinnen, andere verlieren an Relevanz
Æ Es herrscht meist eine „dominante“ Schichtung vor, d.h. zu einer bestimmten
Zeit ist
eine Schichtung ist besonders bedeutend und vorherrschend
-
-
Geigers Ansatz ist zugleich dynamisch und historisch:
Schichten sind nicht statisch, sondern durchlässig
Dadurch ändert sich automatisch auch das gesamte Schichtgefüge, d.h. es
findet eine Umschichtung statt (Integrierte Schichten lösen sich auf und gruppieren sich neu)
4. Die Bedeutung Theodor Geigers Schichtungstheorie
-
-
Präzisere, deutlichere und realitätsnähere Analyse der Sozialstruktur als andere Zeitgenossen (überholte, neomarxistische Klassentheorie oder Schelskys
überzogenes Konzept der „nivellierten Klassengesellschaft“)
Pionierleistung/ Klassiker der Soziologie: 1932 erste Schichtungsanalyse der
deutschen Gesellschaft auf repräsentativen, statistischen Daten
Jedoch gelang es Geiger nicht die Schichtungsstruktur seiner Gesellschaft
(erste Hälfte des 20. Jh.) auf den Begriff zu bringen bzw. das dominante
Schichtungsprinzip herauszuarbeiten
5. ‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft’ bei Schelsky
Grundannahme:
Phänomen der ‚sozialen Schichtung’ prinzipiell in allen Gesellschaften beobachtbar;
Begriff ‚Schicht’ heute jedoch mit alten Kategorien (Einkommen, Vermögen, politische / ökonomische Macht) wegen der Dynamik in der Gesellschaft nicht mehr aussagekräftig
6 Thesen für neues Phänomen der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft’
1) starke soziale Auf- und Abstiegstendenzen v. a. seit dem ersten Weltkrieg (Steigerung
der sozialen Mobilität) führen zum ‚relativen Abbau der Klassengegensätze;
dies wird durch Wohlfahrtsstaatlichkeit und Steuerpolitik (Beschneidung der wirtschaftlichen Extreme) unterstützt
2) aus politischer und wirtschaftlicher Nivellierung erfolgt weitgehende soziale und
kulturelle Vereinheitlichung; einheitliche Teilhabe an ‚Konsum-, Komfort- und Unterhaltungsgütern’ bewirkt ‚Uniformierung in Lebensstil und sozialen Bedürfnissen’
3) da mit alten Kriterien nicht mehr schichtspezifische Merkmale erfasst werden können, muss ein neues Schichtungsmodell entworfen werden;
Neue Einteilung durch Schelsky:
- Diensttuende
gesellschaftstragende Masse, ohne persönliches Risiko, aber auch ohne Eigenverantwortung; Anteil an der Gesellschaft: ca. 60%
- Sozialrentner
Gruppe derer, die „ohne jeden Bezug auf berufliche Arbeit in ihrer Existenz
überhaupt nur von den Maßnahmen bürokratischer Daseinsvorsorge abhängen.“; ca. 20%
- Selbstständige
Mittelstand aus Landwirtschaft, Handel und Handwerk mit höherer Freiheit, jedoch auch höherem Risiko, wenn auch mit Tendenz zur Rückversicherung
(siehe erste Gruppe); ca. 20%
4) Trotz Aufhebung des sozialen Status und dessen Funktion, festhalten der Bevölkerung an
überkommenen Prestigemerkmalen der alten Positionen;
Begründung: Status vermittelt Stabilität (im Gegensatz zu sozialer Mobilität), und
Stabilität bedeutet Sicherheit;
5) Neben Rückbesinnung auf ‚alte Statussymbole’ zweite Strategie zur Befriedigung
des Sicherheitsbedürfnisses: Sicherstellung steten sozialen / ökonomischen Aufstiegs;
Folge: Entstehung neuer sozialer Spannungen / Konflikte wegen der Unerfüllbarkeit
der Aufstiegsbedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft;
6) Bisheriges theoretisches Problem der Schichtungsforschung: Diskrepanz zwischen tatsächlichem Status und Selbstbild der ‚neuen Mittelschicht’;
beide möglichen, bisher in Betracht gezogenen Lösungen – Korrektur des Selbstbildes an tatsächliche Verhältnisse und Herausbildung eines neuen, realitätsnahen ‚Mittelstandsbewusstseins’ – traten indes nicht ein;
stattdessen Absorption der übrigen Klassen durch die ‚nivellierte mittelständigkleinbürgerliche Einheitsschicht’, zu deren Merkmalen eben dieses Missverhältnis
zwischen Selbstbild und sozio-ökonomischer Lage gehört
6. Vergleich Geiger – Schelsky
Î
Geiger prognostiziert steigenden Wohlstand und soziale Sicherheit, ebenso
eine Differenzierung der Gesellschaft und ein Abflauen des Klassenkampfes,
jedoch keine Verschmelzung zu einer konturlosen, nivellierten Mitte
Unterschiede in Soziallage und Haltung bleiben bestehen Æ differenzierte
Struktur
Skepsis gegenüber übertriebener, vertikaler Mobilität
Keine Gleichsetzung der beiden Konzepte möglich
7. Vergleich Schelsky – Marx
-
Charakterisierung der Klassen nicht nach Verteilung der Produktionsmittel,
sondern anhand von Konsumverhalten und individuellem Selbstverständnis
-
Keine Organisation für den Wandel von ‚Klasse an sich’ zur ‚Klasse für sich’
-
schleichende Absorption der übrigen Klassen durch die Mittelschicht statt Entstehung der klassenlosen Gesellschaft durch gewaltsame Revolution des Proletariats
Literatur:
- Burzan, Nicole: Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien. Wiesbaden 2004, S. 27-33.
- Geiger Theodor: Theorie der sozialen Schichtung. In: Ders.: Arbeiten zur Soziologie. Neuwied 1962, S. 186 - 205.
- Geißler, Rainer: Die Bedeutung Theodor Geigers für die Sozialstrukturanalyse der modernen Gesellschaft. In:
- Bachmann, S. (Hrsg.): Theodor Geiger. Berlin 1995, S. 273-297.
- Marx / Engels: Manifest der kommunistischen Partei
- Schelsky, A: Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft; in: Ders: Auf
der Suche nach Wirklichkeit, 1966; S. 331 - 336
- Schroer, M: Klassengesellschaft; in: Kneer/Nassehi/Schroer (Hg): Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie; 2001; S.
152 - 160
- Schroth, Yvonne: Dominante Kriterien der Sozialstruktur. Zur Aktualität der Schichtungstheorie von Theodor
Geiger. Münster 1999 (Studien zur empirischen Sozialforschung, Bd. 1)
Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten.
Herunterladen