Die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam sind in Vielem einander ähnlich. Es ist von denselben Themen die Rede, dieselben Namen von Propheten fallen in diesen Religionen, ähnliche oder gar dieselben Geschichten werden erzählt. Es wird ein Gott verkündet, der die Welt erschaffen hat, den Menschen Gebote gab und die ganze belebte Schöpfung am Ende der Zeiten richten wird. Wie anders sind dagegen die Religionen Indiens und ihre Themen! Wenn auf diese Weise über die Ähnlichkeit und den Zusammenhang dieser drei Religionen kein Zweifel herrscht, so stellt sich doch die entscheidende Frage nach dem „Wie“ und „Warum“: Wie genau hängen diese Religionen miteinander zusammen und warum gibt es nicht nur eine, sondern drei? Welches ist ihr gemeinsames Fundament? Und warum sehen sie trotz der Ähnlichkeiten so unterschiedlich aus, warum verstehen sie einander nicht und warum reden die Gläubigen dieser Religionen so oft aneinander vorbei? Um Antworten auf diese scheinbar einfachen, häufig zu sehr vereinfachten und doch sehr komplexen Fragen zu finden, wird im Folgenden das Jahrtausend dieser Religionsentwicklung von etwa 200 v. bis 800 u.Z. in den Blick genommen. Seine Aktualität für die Gegenwart steht außer Frage. Die drei Weltreligionen stehen sich auch heute noch in Spannung und Missverständnis gegenüber. Für den Außenstehenden ist ihre verzwickte Lage erst recht kaum nachzuvollziehen. An welchen Zentren die Auseinandersetzung im Prozess der Entstehung dieser Religionen stattfand, wird selten offensichtlich. Dennoch bestimmen sie das eigentliche inhaltliche Spannungsverhältnis. Anstatt diese Fragen zur Diskussion zu stellen, wird die gegenwärtige Auseinandersetzung fast ausschließlich in peripheren Bereichen geführt. Gewiss beziehen sich diese Bereiche zunächst auf das praktische Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen. Dennoch sind diese Randbereiche oft erst durch Umstände der letzten Jahrzehnte als Charakteristika der jeweiligen Religionen angesehen worden. Deshalb wird in diesem Buch etwa vom „Kopftuch“, vom „Staat Israel“, von „Gleichberechtigung der Geschlechter“ und Ähnlichem keine Rede sein – trotz aller berechtigten Bedeutung, die diese Themen in der gegenwärtigen Alltagsdiskussion haben. Es wird vielmehr zu den Kernpunkten durchgestoßen, an denen sich diese Religionen konstituiert, gefestigt und wieder gespalten haben. © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Prolog 16 P rol o g Für den Wissenschaftler findet sich in dieser Untersuchung ein Entwurf, der die Beziehungen dieser Religionen untereinander aus einer durchgehenden Perspektive betrachtet: Ausgangspunkt ist die alte Religion Israels, die Religion des „Altes Testaments“, bzw. der „Hebräischen Bibel“: Was wird aus ihren Bestandteilen, wie werden sie jeweils in Judentum und Christentum, schließlich im Islam ausgestaltet? Gerade in dieser durchgehenden Sicht im Ausweis 1 Es wird im Laufe dieser Untersuchung deutlich, inwiefern es sinnvoll ist, die Religion des Alten Israels oder mosaische Religion begrifflich vom Judentum zu trennen. Als entscheidender Wendepunkt wird die Zerstörung des Tempels in Jerusalem greifbar. Neusner 1988, 18f, 52f, 99f, beschreibt die Bedeutung dieses fundamentalen Umbruchs besonders pointiert auch in Bezug auf das Christentum. © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Für den gesellschaftlichen Religionsdiskurs könnte diese Darstellung zunächst den Blick für diese Zentren der drei heute bestehenden Religionen öffnen und ihre gegenseitigen Beziehungen zueinander verdeutlichen. Daraufhin könnten viele Themen der Gegenwart noch einmal unter einer neuen Perspektive angegangen werden. Zum Teil wird eine neue und weitere Brücke nötig sein, die von diesen Grundsatzthemen zur aktuellen Debatte führen wird. Diese könnte auf dem hier gelegten Fundament errichtet werden. So gesehen hört die Arbeit an der hier vorgelegten Studie nicht auf, sondern sie fängt auf diesem Fundament erst an. Um sich jedoch zu den grundlegenden Themen und Denkvoraussetzungen dieser Religionen vorzuarbeiten, braucht es die Bereitschaft, sich auf religiöses, gar auf theologisches Denken einzulassen. Dieses Denken führt dann in das geistige „Abenteuer“ der alten mosaischen Religion Israels, sowie darauf folgend zu Judentum1, Christentum und schließlich Islam. Diese Religionen werden im Folgenden als „abrahamitische Religionen“ zusammengefasst, in Ermangelung eines besseren Terminus und auf der Grundlage, dass sich die Religion des Alten Israel, das Judentum, ebenso wie das Christentum und der Islam, in je eigener Weise auf den Stammvater Abraham berufen. Gegenüber den in der aktuellen Diskussion zumeist genannten drei abrahamitischen Religionen der Gegenwart, Judentum, Christentum und Islam, wird in der folgenden Darstellung bewusst die alte Religion Israels als theologisch-religionsgeschichtliche und kultische Basis dieser Religionen hinzugefügt: jede der drei gegenwärtigen Religionen beruft sich in je eigener Weise auf diese Basis und versteht sich – wie im folgenden deutlich werden wird – als die eigentliche und rechtmäßige Verwirklichung dieser alten Religion Israels bzw. Abrahams und ihrer heiligen Schrift. Diese drei bzw. letztlich vier Religionen werden in ihren interaktiven Voraussetzungen des Kults, der Lehre, der Handlungsweisungen und der Glaubensvoraussetzungen untersucht. P rol o g 17 Von der einen Religion des Alten Israel ausgehend werden drei große elementare und charakteristische Linien zu den jeweiligen abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, durchgezogen: die Prophetie, das Ritualzentrum in Raum und Zeit und die Gestaltung der Lehre anhand der heiligen Schriften. Selbstverständlich ist die „Prophetie“ selbst nur durch diese Schriften überliefert, doch zeigt sich an diesem Punkt schon der entscheidende Unterschied zwischen einem dynamischen Prozess prophetischer Aktivität und der statischen Kodifizierung dieser Aktivität zu einem heiligen Buch. In der Religion Israels sind diese drei Ansätze in der zweiten Hälfte des vorchristlichen Jahrtausends ausgebildet und erhalten zunehmend Gestalt. In den ihr nachfolgenden Religionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, werden diese Grundelemente gemäß diesem von allen grundsätzlich anerkannten Fundament der israelitischen Religion vorausgesetzt. Allerdings erhalten sie in jeder dieser drei Religionen ihre spezifische Ausformung und ihren je eigenen Stellenwert. Von den Ausgangspunkten her ist dann die jeweilige gesamte Religion in sich selbst, in Abgrenzung zu den jeweils anderen Religionen und im Verhältnis zur Basisreligion Israels zu verstehen. Eine komplette Darstellung der jeweiligen Religionen in ihren Einzelheiten und ihrer Geschichte ist damit in diesem vorliegenden Werk nicht intendiert. Auch geht es nicht um die Aufarbeitung einer durchgehenden religionsgeschichtlichen Entwicklung einer einzelnen Religion. Für beide Themen sind bereits ausgezeichnete Arbeiten vorhanden und leicht verfügbar. Stattdessen wird das interreligiöse Verhältnis dieser abrahamitischen Religionen aus religionswissenschaftlicher Perspektive dargestellt, d.h. es geht fast ausschließlich © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart der Verbindungslinien und damit in der Gesamtsichtweise liegt das wissenschaftlich Neue. Die Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ und „Wie“ der Religionsgenese wird aus dem erschlossen, was diese Religionen rituell und inhaltlich-theologisch bewirkt haben. Aus der Sicht des religionswissenschaftlichen Betrachters haben diese Religionen Lösungen für ihre Probleme gefunden – wie weit diese auch immer von den jeweiligen Subjekten der Geschichte im Voraus intendiert gewesen sein mögen. Die Religionsgeschichte wird hier fast ausschließlich aus der Perspektive der religiösen Fragestellung bearbeitet; die religionssoziologischen, -historischen, -politischen, -psychologischen, -geographischen Fragestellungen werden zwar nicht ignoriert, doch treten sie deutlich hinter den „rein religiösen“ zurück. Nur aus dieser religiösen Intention der Beteiligten heraus lässt sich das im Folgenden darzustellende religionsgeschichtliche Geschehen verstehen, auch wenn andere Elemente ebenfalls eine Rolle gespielt haben. 18 P rol o g um diese Religionen in ihren elementaren Grundlagen einerseits und um ihre wechselseitigen Beziehungen andererseits. Zu den genannten drei Aspekten – Prophetie, Zentralritual und Buch / Lehre – tritt in der Darstellungsweise noch das Moment der Zeit hinzu. Zunächst wird die mosaische Religion Israels als Fundament dargestellt. Danach wird auf zwei entscheidende Momente des Umbruchs abgehoben: Um die Zeitenwende verliert die Religion Israels ihr kultisches Zentrum, den Tempel in Jerusalem. Diese vielgestaltige eine Religion wird in zwei sich voneinander abgrenzende, fest gefügte Religionen umgestaltet: in das Judentum, das sich um Tisch und Tora sammelt, und in das Christentum, das Jesus als den Christus und Sohn Gottes versteht und die Eucharistiefeier zu seinem zentralen Ritual entfaltet. Nach diesem historischen Initialpunkt bzw. sehr kurzen Zeitraum gewinnen Judentum und Christentum zunehmend an eigenständiger Gestalt. Sie berufen sich beide auf die Religion Israels, als deren Nachfolge und Verwirklichung sie sich verstehen. Dieser Prozess der Gestaltung erstreckt sich über einige Jahrhunderte, bis diese beiden Religionen sich als vollständig abgeschlossene Gebilde gegenüberstehen. Das zweite Moment des Umbruchs und Neuansatzes liegt in der Verkündigung des Korans durch Muhammad. Wiederum tritt eine zunehmend eigenständige Transformation – bzw. aus Sicht des Korans: Reinstallierung – der alten Religion Israels ein: Die Ausformung dieser neuen Koranoffenbarung zu einer eigenständigen Religion war innerhalb von ein bis zwei Jahrzehnten vollzogen. Es folgte eine weitere Konsolidierungsphase. Zu untersuchen ist also ein Zeitraum von etwa einem Jahrtausend, an dessen Beginn noch die eine mosaische Religion Israels steht und an dessen Ende drei Weltreligionen auf deren Fundament ihre nun eigenständige, rituell wie theologisch abgesicherte spezifische Gestalt gefunden haben. Aspekt/Religion Religion Israels Judentum Christentum Islam Inhalt/Buch Tora (Geschichte) Tora bis Talmud (Diskussion) Bibel/Jesus Koran Christus/Dogmen Zentrales Ritual Tempel in Jerusalem Koscheres Essen (Torarolle) Eucharistiefeier Kaaba Prophetie Moses und die Propheten (Institution des Rabbiners) Jesus Muhammads Verkündigung © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Die religionsgeschichtliche Entwicklung der vier Religionen (mosaische Religion Israels, Judentum, Christentum, Islam) lässt sich anhand eines Schemas unter den genannten drei Aspekten (Buch, Ritual, Prophetie) systematisieren: 19 In einer minimalisierten Form lässt sich das Verhältnis der Elemente und damit der Inhalt dieses Buchs folgendermaßen zusammenfassen: In vertikaler Richtung bedingen die jeweiligen Momente einander. Die Bedeutung des Tempels ist in der Tora festgelegt, und der Bau bzw. das Geschick des Tempels wird in den Geschichtsbüchern ausgeführt. Die Tora wiederum gilt als Offenbarung Gottes an Moses. Moses selbst aber ist Inhalt der Tora. Da der Tempel zum einzigen offiziellen Kultort von ganz Israel wird, trägt er die Religion ebenso wie die Tora als Quelle der Weisung und die Propheten (und Geschichts-)Bücher als Überlieferung der Interaktion Gottes mit seinem Volk. Die Momente der Transformation dieser Religion Israels setzen beinahe gleichzeitig ein. Das eine Moment kommt aus der Prophetie: Jesus verkündet die Nähe und Wirklichkeit des Gottesreichs. Er wird von einem Teil des Volks der Religion Israels als Sohn Gottes anerkannt. Sein göttliches Selbstopfer wird zum zentralen Ritual (Eucharistie) einer neu entstehenden Religion. Von Jesus Christus und seinem Wirken zeugen die Evangelien und die Briefe des Neuen Testaments. Was diese Selbstoffenbarung des Gottes der Religion Israels in Jesus Christus für den Glauben bedeutet, wird zum Inhalt der Lehre. Im Christentum fußen zwar alle drei Aspekte auf der Religion Israels, doch sie werden durch Jesu Wirken und den Glauben an Jesus Christus vollständig umgestaltet. Die gesamte Religion wird aus der Perspektive des „Christusereignisses“ gesehen. Das andere Moment, die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 u.Z., erfolgt nur wenige Jahrzehnte nach dem Auftreten des Propheten Jesus. Das rabbinische Judentum formte sich also etwa gleichzeitig mit dem Christentum. Beide verwirklichen weitgehend je einen Pol, der bereits in der alten Religion Israels vorgeprägt war: Im Judentum wird unvermindert die Tora zugrunde gelegt. Jedoch bewirkt die Zerstörung der rituellen Mitte der Religion, des Tempels, dass die Gelehrten beginnen, das gesamte Judentum in seinen Einzelheiten zu beschreiben und zu fixieren, um es für die Zukunft zu bewahren. Dieses umfangreiche Sammelwerk, die Mischna, wird daraufhin noch einmal ausführlich kommentiert, erweitert und diskutiert, so dass mit dem Talmud quasi eine Enzyklopädie des frühen Judentums entsteht. Ein mögliches „prophetisches Element“ wird in diese Gattung hinein kanalisiert. Am Ende des Konsolidierungsprozesses stehen sich Christentum und Judentum im 5./6. Jahrhundert als gewissermaßen vollständig voneinander abgegrenzte Religionen spannungsgeladen gegenüber. Im Verlauf des 7. Jahrhunderts wird an der Peripherie des Einflussgebiets beider biblischer Religionen die Spannung dieser beiden sich abgrenzenden Religionen noch einmal durch das prophetische Element aufgebrochen: Die © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart P rol o g 20 P rol o g Dieser im Kurzen skizzierte Inhalt der Studie wird in den nachfolgenden Kapiteln ausführlicher entfaltet und in seinen Beziehungen begründet. Aus diesem Überblick ergibt sich jedoch bereits eine sinnvolle Reihung der Kapitel. Es wäre nach der Darstellung der Religion Israels (Kapitel 1–3) möglich, sowohl das (rabbinische) Judentum als auch das Christentum anzuschließen, denn beide entwickeln sich parallel an- und gegeneinander. Da mit dem Auftreten Jesu jedoch ein entscheidender Umbruch in der Lehre stattfindet, wird zunächst das Christentum dargestellt. Gegenüber der Entwicklung des Christentums wird der Anspruch auf religiöse Kontinuität im rabbinischen Judentum umso deutlicher. Nach der Darstellung des Judentums folgt die des Islams, denn der Koran nimmt explizit auf beide vorangegangenen Religionen Bezug. Dennoch wird in den einzelnen Kapiteln bereits auf die Bedeutung des je zu behandelnden spezifischen darzustellenden Elements in den jeweils anderen Religionen verwiesen. Auf diese Weise werden die Querverbindungen innerhalb dieser vier Religionen direkt sichtbar. Zumeist handelt es sich dabei um eine Modifikation oder Verwerfung, denn gerade in diesen Elementen unterscheiden sich die jeweils anderen Religionen. So kommt mitunter der religionsvergleichenden Darstellung und Diskussion in einem Kapitel ebenso viel Raum zu wie der religionsimmanenten Darstellung des Elements der gerade zu behandelnden Religion. So wird im Abschnitt über Jesus als Propheten nicht © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Offenbarung Muhammads bestätigt beide Religionen in ihrer Wurzel, verneint aber ihr jeweiliges Spezifikum. Als Verkündigung der „Religion Abrahams“ und der „wahren Religion Gottes“ greift der Koran auf ein Stadium vor der Spaltung der Religion Israels in Judentum und Christentum zurück. Die Offenbarung des Propheten Muhammad wird als unverfälschte Offenbarung des Gottes angesehen, der mit dem Gott Abrahams, dem ersten wahren Gläubigen, identisch ist. An die Offenbarung der früheren biblischen Propheten einschließlich Jesus anknüpfend, vollendet Muhammad die Offenbarungslinie dieses Gottes. In dieser Offenbarung wird verkündet, dass sich Gott das Haus Abrahams zu dessen Lebzeiten bereits als sein Haus erwählt hatte und es nun zur Zeit Muhammads zum zentralen Heiligtum seiner Religion macht. Dieses von Abraham erbaute und von Gott erwählte Haus ist die Kaaba in Mekka. Diese allein soll in der Wallfahrt besucht werden, und zur Kaaba hin soll sich jeder Gläubige beim Gebet wenden. Nach dem Tod des Propheten Muhammad werden die einzelnen von ihm verkündeten Offenbarungen gesammelt und abschließend zum „Koran“ zusammengestellt. Dieser Koran – als unverfälschtes originales Wort Gottes in arabischer Sprache verstanden – wird nicht nur zu einem verehrungswürdigen Buch, sondern zum gesamten Zentrum des Glaubens, Handels und der Lehre. 21 P rol o g nur dessen Bedeutung für das Christentum selbst diskutiert, sondern auch die Position des Judentums und des Islams zu diesem Thema. Aspekt/Religion Religion Israels Christentum Judentum Islam Inhalt/Buch 1: Tora 6: NT / Dogmen 7: Talmud 12: Koran Zentrales Ritual 2: Tempel 5: Eucharistie 8: Tisch 11: Kaaba Prophetie 3: „Propheten“ 4: Jesus 9: (Rabbiner) 10: Muhammad © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Doch auch innerhalb der einzelnen Religionen ergibt sich nach dem oben Ausgeführten eine nahe liegende Reihenfolge, die besonders durch die beiden prophetischen Einsätze – Jesus und Muhammad – bestimmt ist. Im Christentum wird aus dem Propheten Jesus (Kapitel 4) das Ritual (Kapitel 5) abgeleitet – Jesus Christus wird quasi Inhalt des Rituals; auf ihm und auf dem Ritual aufbauend entwickeln sich die Schriften und Dogmen (Kapitel 6). Diese Schriften überliefern, bezeugen und deuten Jesus Christus und sein Ritual. Im Judentum findet sich kein prophetischer Neuansatz. Vielmehr wird die Religion Israels in all ihren damaligen Aspekten und Momenten nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem verschriftlicht, diskutiert, aktualisiert und quasi auf diese Weise erneuert (Kapitel 7). Da der Tempel dem Ritual nicht mehr zur Verfügung stand, modifizierte sich auch das Ritual bis in seine Tiefen hinein (Kapitel 8). Als Gestaltungselement im Judentum übernimmt die Einrichtung der gelehrten Rabbiner (Kapitel 9) in diesem Sinn die initiatischgestaltende „Funktion“, die dem prophetischen Element in Christentum und Islam entspricht. Diese beiden Religionen wurden erst in der dem prophetischen Element folgenden Phase der Lehre durch Gelehrte ausgeformt. Im Islam liegt der Fall wieder anders als im Christentum: Zwar bildet auch im Islam ein Prophet, Muhammad (Kapitel 10), mit seiner Verkündigung den Neueinsatz und das Initialmoment der künftigen Religion des Islams. Doch ist das Ritual (Kapitel 11) direkter Bestandteil dieser Verkündigung und hat mit Muhammad selbst (fast) nichts zu tun; erst recht aber ist Muhammad nicht der „Gegenstand“ des Rituals, wie etwa Jesus Christus in der christlichen Abendmahlsfeier. Ebenfalls ist der Koran nicht Zeugnis von Muhammads Wirken, sondern stellt die Offenbarung Gottes dar, die nun auch – als einzige heilige Schrift – Inhalt der Lehre (Kapitel 12) wird. Die Entwicklung vollzieht sich in zwölf (bzw. dreimal vier) Phasen, deren Abfolge aus diesem Schema erkennbar wird: P rol o g Selbstverständlich bildet bei einer solchen Untersuchung die Forschung an den religionsgeschichtlichen Originalquellen in ihren jeweiligen Sprachen ein wesentliches Element. Nicht nur ist das historische Zeugnis in diesen Quellen in der authentischsten Weise greifbar, sondern jede Religion bildet auch in sich in eigenes geistig-sprachliches System, das auf dieser Referenzsprache beruht. Dies ist besonders im Judentum und seinem Hebräisch der Fall, aber auch im Islam und seinem Koran, der – nicht ganz unberechtigt – als „unübersetzbar“ gilt. Das religiöse Denken findet zumeist in diesen Sprachen statt und ist an sie gebunden. Für eine solche Darstellung galt es nach der Quellenarbeit jedoch, die prägenden Linien dieser Religionen möglichst klar herauszuarbeiten und aufzuzeigen. Es wurde darauf geachtet, dass dieser Entwurf keinerlei spezifische Kenntnisse der untersuchten Religionen voraussetzt und für Juden, Christen und Muslime gleichermaßen lesbar sein sollte, wie von denjenigen, die allen diesen Religionen fern stehen. Allerdings beschränkt sich dieses Werk auf die für das Verständnis notwendigen Informationen. Deren Fundament wird insbesondere in den ersten drei Kapiteln mit der Darstellung der „Religion Israels“ gelegt – doch auch diese Religion wird bereits im Kontext der künftigen Nachfolgereligionen gesehen. Wem dieser Kontext zunächst verwirrend erscheint, der möge beim ersten Lesen diese Parallelen überspringen. Mitunter wird durch diese Gegenüberstellung das Selbstverständnis der jeweiligen Religionen durch die Übereinstimmung mit und die Abgrenzung von den jeweils anderen Religionen deutlicher, als dies bei einer Selbstdarstellung möglich wäre: Erst durch den Kontrast werden Farben sichtbar. So mag auch dem Angehörigen seine eigene Religion zunächst aus einem ungewohnten Blickwinkel erscheinen – überhaupt könnten eingeschliffene Denkgewohnheiten durch diese Gegenüberstellung in Frage gestellt werden. Im Vordergrund dieses Entwurfs stehen die zentralen Linien, die von der einen Religion Israels zu Judentum, Christentum und Islam führen. Diese gilt es herauszustellen. Aus diesem Grund wird auf originalsprachliche Zitate weitest gehend verzichtet. Stattdessen werden vielfach neue Bezüge zwischen den genannten Religionen aufgezeigt, wie etwa die grundlegende Übereinstimmung des jüdischen und muslimischen Kalendersystems. In dieser Beziehung hat sich das vorliegende Werk allein durch seine zwei Kriterien zu rechtfertigen: inwiefern es in der Darstellung von Prophetie, Kult und Theologie religionsgeschichtlich angemessen und in seiner religionsübergreifenden Synthese religionswissenschaftlich schlüssig begründet ist. Bei letzterer Darstellung wird manche bisher bewusst oder unbewusst gezogene Grenze überschritten. © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart 22 P rol o g 23 2 Schmitz 2006; 2009. © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Inhaltlich baut dieses Werk auf meinen Monographien zum Tempelritual und zur zweiten Sure des Korans auf.2 Zusammen gesehen zeichnet diese Triologie das Auseinanderbrechen und Neugestalten der Religion Israels in Judentum, Christentum und Islam zunächst im Einzelnen und in diesem Buch im Gesamten nach. Dennoch bildet der vorliegende Entwurf als Überblick und Neuansatz zum Verhältnis Judentum, Christentum, Islam ein in sich geschlossenes Werk.