Psychiatrie und Populationszugehörigkeit

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Zum Thema
Psychiatrie und Populationszugehörigkeit
D
ie beiden großen diagnostischen
Klassifikationssysteme ICD-10
und DSM-IV werden derzeit in zahlreichen Expertengruppen mit unterschiedlicher thematischer Ausrichtung umfassend überarbeitet. Dabei
wird eine größtmögliche Harmonisierung beider Klassifikationssysteme
angestrebt. Folgende Entwicklungslinien zeichnen sich ab: eine Integration sowohl dimensionaler als auch kategorialer Konzeptionen, die Berücksichtigung neurowissenschaftlicher
Erkenntnisse, insbesondere im Bereich
der Molekularbiologie und Genetik
sowie der modernen Bildgebung und
eine umfassende Berücksichtigung
der Populationszugehörigkeit.
Der Einfluss der Populationszugehörigkeit auf die Entwicklung, Symptomausgestaltung und den Verlauf
psychischer Störungen blieb in den
traditionellen
Klassifikationssystemen bisher weitestgehend unberücksichtigt. Im Zuge des Revisionsprozesses von ICD-10 und DSM-IV rückte
die Bedeutung der Populationszugehörigkeit stärker in den Mittelpunkt
des wissenschaftlichen Interesses. Bereits 2002 legte eine gemeinsame Arbeitsgruppe der American Psychiatric
Association und des National Institute
of Mental Health die Eckpfeiler für die
Entwicklung eines zukünftigen „physiologisch basierten Klassifikationssystems“ vor (1). Angestrebt wird eine
bessere Phäno- und Genotypisierung
psychischer Störungen, die eine mehr
an den biologischen Ursachen orientierte Therapie ermöglichen.
Die Ergebnisse der in 28 Ländern
weltweit durchgeführten WHO World
Mental Health Survey Initiative belegen, dass lediglich eine sehr kleine
Gruppe von Patienten mit psychischen Störungen eine qualitativ
hochwertige psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erfährt
(vgl. Beitrag von R. C. Kessler et al.).
Die Populationszugehörigkeit umfasst ein weites Feld unterschiedlicher
Konzeptionen. Dazu zählen die
Krankheitskategorien im engeren Sinne mit ihren vielfältigen engen Beziehungen zwischen Soma und Psyche,
der Lebenszyklus (2), das „biologische“ (Sex) und das „psychosoziale“
(Gender) Geschlecht (3), die Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen
Gruppen,
biologisch
verankerte
Krankheitsdispositionen im Sinne einer erhöhten Vulnerabilität sowie unterschiedliche neurobiologische und
behaviorale Phänotypen (4, 5, 6). Die
soziale Herkunft und Schichtzugehörigkeit sowie psychosoziale Einflüsse, z.B. im Zusammenhang mit
kriegsbedingten Traumatisierungen
und Migration, spielen für das Verständnis der Entstehungsbedingungen und des Verlaufs psychischer Erkrankungen eine herausragende Rolle. Die Kenntnis der Populationszugehörigkeit ist eine conditio sine qua
non für die Entwicklung einer personalisierten Medizin und einer personenzentrierten integrativen Diagnostik (7).
Die Manifestation und der Verlauf
psychischer Erkrankungen werden
wesentlich durch die jeweilige Phase
des Lebenszyklus geprägt. Denken,
Fühlen und Handeln sind einem kontinuierlichen
Entwicklungsprozess
unterworfen und äußern sich in den
verschiedenen Perioden des Lebenszyklus unterschiedlich. Die Entwicklungspsychopathologie entwickelte
sich in den vergangenen Jahren zu einem integrativen und interdisziplinären Forschungsgebiet und wird als
Bindeglied zwischen der Entwicklungsphysiologie, der Entwicklungsneurologie und der Entwicklungspsychologie betrachtet. Frühkindliche Erfahrungen und Lernprozesse ermöglichen die Ausbildung einer adaptiven
neuronalen Netzwerkstruktur. Die
Die Psychiatrie 1/2009
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Prof. Franz
MüllerSpahn,
Basel
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Notwendigkeit der psychosozialen
Anpassung impliziert, eine „lebenslang zu erbringende Leistung, eine
subjektiv akzeptable und sozial abgestimmte Antwort auf innere Reifungsvorgänge, einschneidende Lebenserfahrungen und soziale Anforderungen innerhalb eines aktuellen Entwicklungskontextes zu finden“ (2).
Spezifische Temperamentsmerkmale sind für die Entwicklung psychischer Störungen maßgeblich verantwortlich (vgl. Beitrag von K.
Schmeck und M. Schmid). Entscheidend für eine mögliche Entwicklung
von Störungen sei, inwieweit Temperamentsmerkmale des Kindes und
Anforderungen der Umwelt zueinander passten. So haben z.B. gehemmte
Kinder mit erhöhtem physiologischem
Arousal ein deutlich größeres Risiko
als andere Kinder, eine emotionale
Störung zu entwickeln. Die Interaktion zwischen kindlichen Temperamentsmerkmalen und mütterlichem
Erziehungsverhalten gilt als wichtiger
Prädiktor für die Entwicklung von
Verhaltensauffälligkeiten. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, wie
z.B. Autismus oder auch das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, treten deutlich häufiger bei
Jungen auf, Essstörungen, Depressionen und soziale Ängste mit Beginn in
der Adoleszenz häufiger bei Mädchen.
Traumatisierende Kindheitserlebnisse
tragen erheblich zur Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung bei, Misshandlungen sind häufig mit Störungen der Bindungsfähigkeit, der Emotionsregulation sowie Insuffizienzgefühlen assoziiert.
Der Beitrag von A. Karenberg befasst sich mit der Geschichte des Persönlichkeitsbegriffes. Die von Franz
Josef Gall mit entwickelte Lokalisationslehre wird als erster Versuch einer
differenziellen Psychologie und deren
neuroanatomische Absicherung dargestellt. Protoformen heutiger Persönlichkeitskonzepte im Sinne einer Katalogisierung unabhängiger Variationen tauchten primär in der Psycho-
pathologie und erst sekundär in der
Psychologie auf. Abschließend formuliert Karenberg die provozierende
Frage, inwieweit die „neuen“ Diagnosesysteme weitgehend als eklektische
Reformulierungen älteren Gedankengutes erscheinen würden.
Patienten mit somatischen Erkrankungen und psychischen Störungen
stellen eine weitere Population innerhalb der Psychiatrie dar, die sich zum
Teil sowohl phänomenologisch als
auch ätiologisch von den klassischen
psychischen Störungen unterscheiden
(vgl. den Beitrag von P. Bartels et al.).
Alkoholassoziierte Störungen sind
nach den Anpassungsstörungen und
den organischen Psychosyndromen
die häufigsten psychischen Begleiterkrankungen bei Patienten, die aufgrund einer körperlichen Grunderkrankung in Allgemein-Krankenhäusern behandelt werden. Depressive
Syndrome bei multimorbiden Patienten stellen eine besondere therapeutische Herausforderung dar.
Die Kenntnis tradierter Wertnormen, religiöser Überzeugungen und
ethnisch unterschiedlicher psychopathologischer Ausdrucksformen und
Konfliktbewältigungsstile ist für die
Gesamtbeurteilung der Pathogenese
psychischer Erkrankungen unerlässlich. Die ethnische Herkunft und die
mit Migrationsprozessen verbundenen psychosozialen Belastungen werden im klinischen Versorgungsalltag
von Migranten noch unzureichend
berücksichtigt (vgl. Beitrag von H.
Assion und A. Weiss). So läge das Risiko für die Entwicklung einer Schizophrenie bei Migranten höher, auch erführen an Schizophrenie Erkrankte in
Abhängigkeit von ihrer ethnischen
oder rassischen Zugehörigkeit eine
unterschiedliche psychopharmakologische
Behandlung.
Mangelnde
Sprachkenntnisse erschwerten den
Zugang zu psychiatrischen Versorgungssystemen und erhöhten den
psychosozialen Stress. Untersuchungen in Großbritannien in den 1980erJahren zeigten besonders hohe Ein-
Die Psychiatrie 1/2009
weisungsraten in psychiatrische
Krankenhäuser aufgrund einer Schizophrenie unter Migranten mit afrokaribischer Herkunft. Neuere Untersuchungen ließen vermuten, dass das
Risiko für eine Schizophrenie für Migranten der ersten Generation niedriger
liegt als für Migranten der zweiten
Generation, ebenfalls sei das Risiko
geringer für Migranten aus höher entwickelten Herkunftsländern im Vergleich zu weniger entwickelten Ländern. Die Autoren resümierten abschließend, dass unabhängig von den
biologischen Besonderheiten bestimmter Ethnien durch Migration bedingte Stressfaktoren zum Krankheitsausbruch der Schizophrenie beitragen. Somit gelten Migranten als
Hochrisikogruppe für Schizophrenie.
In diesem Zusammenhang werden
drei Hypothesen zur Wechselwirkung
von sozio-biologischen Faktoren diskutiert, nämlich die Selektionshypothese, die Akkulturation-Stress-Hypothese sowie das Diathese-Stressmodell. Ethnopharmakologische Aspekte
der Schizophreniebehandlung wurden
bisher wenig beachtet. Dabei ist gut
belegt, dass Ethnizität das Verordnungsverhalten beeinflusst. Gleiches
gilt auch für ethnische Unterschiede
in der Metabolisierung von Psychopharmaka. Der Schlussfolgerung der
Autoren, dass die Versorgung von
Migranten mit psychischen Störungen
auf vielen Ebenen ein „kultursensitives Vorgehen“ verlange, damit die
Angebote auf einem chancengleichen
Niveau für Einheimische lägen, ist
voll zuzustimmen.
Der Einfluss des Geschlechtes auf
die Prävalenz psychischer Störungen,
auf die Symptomausgestaltung, den
Krankheitsverlauf, das Inanspruchnameverhalten psychiatrischer Versorgungsinstitutionen und die Therapieresponse ist seit Jahren Gegenstand intensiver wissenschaftlichen
Untersuchungen. Geschlechtsunterschiede wurden darüber hinaus in vielen Bereichen der Neurobiologie und
der Reagibilität auf Stress beobachtet.
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Viele psychische Erkrankungen treten
bei Frauen und Männern unterschiedlich häufig auf (vgl. Beitrag A. Riecher). So leiden Frauen z.B. häufiger
als Männer an Essstörungen, Depressionen und Angststörungen, Männer
dagegen häufiger an Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen.
Ungeachtet der speziellen geschlechtsspezifischen Bedürfnisse, die
sich aus Unterschieden in Erkrankungshäufigkeit und -alter, im Krankheits- und Bewältigungsverhalten
bzw. aufgrund biologischer Besonderheiten ergeben, sei eine geschlechtersensible Therapie immer noch ein vernachlässigtes Thema.
Psychische Störungen nach Extrembelastungen in Zusammenhang
mit weltweiten Naturkatastrophen,
Kriegen und terroristischen Anschlägen rücken zunehmend mehr in das
Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit
(vgl. Beitrag von M. Graf et al.). Standardisierte psychologische Debriefingverfahren bei traumatisierten Personen werden hinsichtlich ihrer Wirksamkeit offensichtlich weit überschätzt. Neue Befunde weisen auf einen engen Zusammenhang zwischen
neurobiologischen Veränderungen,
wie z.B. Polymorphismen des Serotonin-Transporter-Gens, hippokampalen Dysfunktionen sowie Störungen
der Stressachsenregulation und einem
höheren Risiko für die Entwicklung
belastungsreaktiver Störungen hin.
Allen Autoren sei an dieser Stelle
herzlich für ihre Beiträge gedankt.
Univ.-Prof. Dr. F. Müller-Spahn
Literatur
1. Kupfer DJ, First MB, Regier DA. A research
agenda for DSM-V. Washington: American
Psychiatric Association 2002.
2. Kapfhammer HP. Psychosoziale Entwicklung
im jungen Erwachsenenalter. Entwicklungspsychopathologische Vergleichsstudien an
psychiatrischen Patienten und seelisch gesunden Probanden. Berlin, Heidelberg, New
York: Springer 1995.
3. Narrow W, First M, Sirovatka P, Regier A.
Age and gender considerations in psychiatric
diagnosis. Washington: American Psychiatric
Association 2007.
4. Müller-Spahn F. Individualized preventive
psychiatry: syndrome and vulnerability diagnostics. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci
2008; 258 (Suppl 5): 92–97.
5. Van den Bergh B, Van Calster B et al. Antenatal maternal anxiety is related to HPA-axis
dysregulation on self-reported depressive
symptoms in adolescence: A prospective study on the fetal origins of depressed mood.
Neuropsychopharmacology 2007; 1–10.
6. Canli T, Lesch K. Long story short: the serotonin transporter in emotion regulation and
social cognition. Nat Neurosci 2007; 10:
1103–1109
7. Mezzich J, Salloum I. Clinical complexity
and person-centered integrative diagnosis.
World Psychiatry 2008; 7: 1–2.
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