Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit

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Predigt vom Gebetstag um die Seligsprechung
der Dienerin Gottes Therese Neumann von Konnersreuth
vom 17. März 2012
Prediger: Msgr. Dr. Michael Menke-Peitzmeyer, Paderborn
„Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit“ –
Zum missionarischen Aufbruch in der Kirche
(zu GL 644 und zur Lesung: 1 Petr 2,4-9)
Liebe Schwestern und Brüder!
„Klassenfahrt zur Revolution“ – So titelte vor über zwei Jahren eine südwestdeutsche
Zeitung1. Und sie berichtete dann sehr anschaulich von der Klassenfahrt einer Freiburger
Realschule in die frühere DDR wenige Tage nach Öffnung der Berliner Mauer im
November 1989. Aus einer normalen Tour in das „andere Deutschland“ wird eine
ungeahnte Momentaufnahme der Auflösung eines Staates in einer Revolution ohne
Blutvergießen. Der Journalist, der die Gruppe begleitete, erzählt auch vom Aufenthalt der
Schüler in Leipzig:
„In dieser Stadt hat alles angefangen, als erste friedliche Revolution auf deutschem
Boden. Hier – und in Dresden – haben sich die Menschen zuerst aus ihrer Erstarrung
gelöst und ihre Angst verloren… Es ist Montag. ‚Nikolaikirche offen für alle’, steht auf dem
Wegweiser. Das war die Keimzelle des Aufbruchs. Um 17 Uhr beginnt das Friedensgebet.
Ohne Hast füllen sich die Reihen in der dreischiffigen Hallenkirche. Ich unterhalte mich mit
einem Leipziger neben mir auf der Empore. Seit Anfang September nehmen seine Frau
und er an den Friedensgebeten teil. „Es ist ein schöner Fortschritt, dass man jetzt ohne
Bedrohung durch die Polizei für die Erneuerung in unserem Land beten und
demonstrieren kann“, sagt er. „Wir haben gesehen, was aufgebaut war am 9. Oktober,
Polizeiwagen mit Räumschildern – und Wasserwerfer. Der ganze Hauptbahnhof war voller
Polizisten. Wir haben damit gerechnet, dass geschossen wird; es lag in der Luft. Wenige
Minuten vor Ende des Gottesdienstes kam dann der Aufruf der sechs Leipziger Künstler
und Parteifunktionäre, keine Gewalt anzuwenden.“ Die heutige Predigt (in der
Nikolaikirche) enthält aktuelle politische Hinweise, aber auch die Bitte um Verständnis und
Zuwendung für die entmachteten Träger des Staatsapparats… (Und) vor uns liegen die
Liederblätter: „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf in dieser Zeit (…) Weck die tote
Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit…“ Die ganze Gemeinde singt.“
„Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit“. Bevor der Journalist die
Teilnahme der Schülergruppe an der großen Montagsdemonstration schildert, hält er es
offensichtlich für erwähnenswert, diesen – uns vertrauten und eben gesungenen – Auszug
aus dem 1932 von Otto Riethmüller verfassten Kirchenlied zu zitieren.
In der Tat ist in Leipzig, Dresden und anderen Städten Deutschlands die „tote
Christenheit“ im Herbst 1989 aus dem „Schlaf der Sicherheit“ aufgewacht. Sie hat Farbe
bekannt und hat – wie wir wissen – durch unerschrockenes Auftreten, beharrliches Gebet
und beherztes Handeln dazu beigetragen, dass die kommunistische Diktatur im Osten
Deutschland ein lang ersehntes, aber zuvor kaum für möglich gehaltenes Ende nahm.
Noch heute blicken wir dankbar und zugleich staunend auf das „Wunder der Wende von
1989“ und in diesem Zusammenhang auch auf mutigen Beitrag zahlreicher (katholischer
1
Stephan Clauss, Klassenfahrt zur Revolution. In: Badische Zeitung vom 7.11.2009.
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und evangelischer) Christen in der damaligen DDR zur ersten unblutig verlaufenen
Revolution im Osten Deutschlands zurück! Damit verbindet sich übrigens die Hoffnung:
Wenn Christen aufstehen, ein gemeinsames Ziel verfolgen und sich solidarisieren,
dann gerät etwas in Bewegung!
„Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit.“ – Das wird auch der
Wunsch vieler hier in Ihrer Pfarrkirche und in unseren Gemeinden (ob in der Oberpfalz
oder in Westfalen…) sein, die aus der Nähe oder auch aus weiterer Entfernung verfolgen,
wie es um die Christenheit hierzulande steht. Ich brauche an dieser Stelle nicht die
Stichworte zu zitieren, die uns in den vergangenen Jahren und Monaten bewegt haben
(denken Sie nur an die „Missbrauchskrise 2010“). Ich möchte mich vielmehr darauf
konzentrieren, dass wir es gegenwärtig mit einer Situation zu tun haben, in der der erste
Teil des Liedverses von Otto Riethmüller mehr als angebracht zu sein scheint: Denn wir
erleben in der Tat ein Sterben kirchlicher Strukturen und vor allem gemeindlichen Lebens,
wie wir es vor einigen Jahren (noch) nicht für möglich gehalten hätten. Und zwar
mittlerweile auch in angestammten katholischen Gebieten auf dem Gebiet unserer
Erzdiözese Paderborn (z. B. im ur-katholischen Sauerland). Die Tatsachen sprechen für
sich: Der markante Rückgang der Priester- und Ordensberufungen, der Rückzug
ehrenamtlicher Mitarbeiter/innen, der Gottesdienstbesucherzahlen, das Fehlen junger
Menschen in der Kirche, ja die fortschreitende Erosion des gesamten kirchlichen Lebens
ist die eine Seite der Medaille – die Verdunstung der Glaubenssubstanz in unserer
Gesellschaft und der weitgehende Ausfall der Weitergabe des Glaubens an die junge
Generation bilden die andere (und vermutlich gravierendere) Seite der Medaille. Ich
erinnere mich an so manches bewegende Gespräch in den vergangenen Jahren, wenn
Eltern oder Großeltern zu mir kamen und fragten: „Wie konnte es nur geschehen, dass
trotz eines guten persönlichen Beispiels unsere Kinder und Enkel nichts mit dem Glauben
geschweige denn mit dem kirchlichen Leben zu tun haben wollen? Was haben wir falsch
gemacht?“ Und das sind keine Einzelstimmen…
Hinzu kommen massive Entfremdungsprozesse zwischen den Gläubigen und
„ihrer“ Kirche, ganz zu schweigen vom Desinteresse bis hin zur völligen Ahnungslosigkeit
weiter Teile der Bevölkerung gegenüber dem Phänomen „Kirche“ und „christlichem bzw.
katholischem Glauben“. Nicht die Kritik an unserer Kirche – ihren Strukturen und Personen
– scheint mir das eigentliche Problem zu sein, sondern die Gleichgültigkeit so vieler
Menschen gegenüber den zentralen Fragen und Inhalten des christlichen Glaubens und
kirchlichen Lebens. Insgesamt ergibt sich eine Gemengelage, die man in der Tat mit dem
viel beanspruchten Begriff „Krise“ kennzeichnen kann – und zwar sowohl im Sinne einer
Kirchenkrise als auch einer Glaubens- bzw. Gotteskrise.
Als Priester stehe ich (wie viele meiner Mitbrüder auch) ein Stück ratlos vor diesem
vielschichtigen Phänomen und frage mich:
• Wie tief war und ist der offensichtlich schwindende Glaube wirklich in den Herzen
der Menschen verwurzelt?
• Wie sehr haben sie, haben wir eine echte, lebendige Beziehung zu Gott, die
wirklich trägt und hält – wenn schon veränderte Rahmenbedingungen vor Ort (wie
der Weggang eines Priesters oder schon der Wegfall einer Sonntagsmesse) die
jahrelange Glaubenspraxis in Frage stellen?
• Was macht hier in Deutschland einen katholischen Christen aus: „nur“ die gute
Gewohnheit oder eine bestimmte Gestalt von Kirche?
• Müsste Christsein nicht vielmehr heißen: eine tiefe(re) Verwurzelung in Gott haben
und das Vertrauen auf seinen Sohn Jesus Christus setzen, der immer der Herr
seiner Kirche ist?
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Das sind Fragen über Fragen, die ich nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern
selbstkritisch in den Raum stelle. Müssen wir uns angesichts dessen nicht wundern, wenn
viele in und außerhalb unserer Kirche den Eindruck haben, dass wir es weithin mit einer
„toten Christenheit“ zu tun haben: einer irgendwie freudlosen, lethargischen, resignierten
und demzufolge leblosen Kirche? Und wenn es dann noch zutreffen sollte, dass sich diese
Christenheit (dem zweiten teil des Liedverses entsprechend) im „Schlaf der Sicherheit“
wiegt und die genannten Phänomene scheinbar gleichgültig zur Kenntnis nimmt – sollten
dann nicht allerspätestens die Alarmsignale aufleuchten? Anders ausgedrückt: Wie weit
sind wir doch gegenwärtig entfernt von einer Vitalität im Leben der Kirche und im
beherzten Handeln der Christen, wie wir sie im Osten Deutschlands im Wendejahr 1989
erlebt haben!
Liebe Schwestern und Brüder,
ich möchte Sie an dieser Stelle weder mit einer Analyse der Krisensituation traktieren noch
in Ihrer persönlichen Glaubenspraxis entmutigen (beileibe nicht!). Ich verstehe die
gegenwärtige Situation der Kirche allerdings schon als kritische Anfrage an jeden von uns:
Was hält mich im Glauben, und worauf gründet dieser Glaube?
Bei der persönlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema möchte ich eine Frage
hervorheben, die für mich von grundlegender Natur ist: Was will Gott uns in der
gegenwärtigen Kirchenstunde mit dem sagen, was wir erleben bzw. was uns
widerfährt? Das ist meines Erachtens eine zentrale Frage, die wir in einer geistlichen
Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisenphänomenen zunächst stellen müssen.
Wenn wir Christen davon ausgehen, dass Gott uns auf den Wegen unseres Lebens
begleitet und er „in allen Dingen zu finden ist“ (Ignatius von Loyola), dann hält er auch
gegenwärtig eine Botschaft für uns bereit, die wir annehmen und deuten sollten! Ich bin
überzeugt: Wenn wir diese Frage bei unseren Gesprächen und Entscheidungen über die
Zukunft der Kirche stellen oder – treffender ausgedrückt – uns dieser Frage stellen, dann
ist sofort eine andere, tiefere Ebene des Austauschs berührt.
Lassen Sie mich auf dem Hintergrund meiner seelsorglichen Erfahrungen einige
persönlich gefärbte Antwortversuche unternehmen:
I. Ein erster Gedanke:
Ob es uns bewusst ist oder nicht: Unser gegenwärtiges Kirchenbild ist geprägt durch die
Erfahrungen der letzten 150 Jahre. Es ist damit beiliebe nicht repräsentativ für die
zweitausendjährige Geschichte des Christentums. Das kirchliche Leben nahm ab Mitte
des 19. Jahrhunderts hierzulande einen unerhörten Aufschwung und organisierte sich in
einer Form, wie sie noch heute unsere Mentalität prägt. Aufs Ganze der Kirchengeschichte
gesehen handelt es sich hier um eine wirkliche „Ausnahmesituation“: aufblühende
Gemeinden, Kirchbauten in großer Zahl, neue Orden und Kongregationen mit caritativer
Ausrichtung, die Katholikentage, ein ausgeprägtes Vereins- und Verbandswesen, ein
hoher Gottesdienstbesuch, ein flächendeckendes Gemeindeleben und ein insgesamt
geschlossenes katholisches Milieu – das gibt es erst seit Beginn jener Epoche. Nach dem
Zweiten Weltkrieg erlebte diese Kirchenerfahrung eine neue Blüte. Mittlerweile –
spätestens nach den Studentenunruhen von 1968 (einer Art „Kulturrevolution“) – haben
sich die Zeiten radikal gewandelt: Im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung spielt der
persönliche und auch der kirchlich verfasste Glaube eine weitaus geringere Bedeutung als
noch vor wenigen Jahrzehnten. Die konfessionellen Milieus haben sich aufgelöst; Christen
beider Konfessionen erleben sich zunehmend als Minderheit in einem multikulturellen,
religiös bunt gemischten und, je nach Situation, areligiösen Umfeld. Das Erleben von
Kirche wird heutzutage vielfach mit Bildern des Niedergangs in Verbindung gebracht.
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Also noch mal gefragt: Was will Gott uns mit dieser Entwicklung, die wir gerade in
den Ballungszentren unseres Landes (Ruhrgebiet) erleben, sagen? Vielleicht Folgendes:
Das Kirchenbild der Vergangenheit trägt nicht mehr. Das Kleid der Kirche ist einfach
zu groß geworden und passt nicht mehr zu dem, der es trägt. Damit wirkt es unpassend
und unansehnlich. Ja, dieses überkommene Kirchenbild muss erschüttert werden, damit
wir uns von falschen Sicherheiten lösen, also aus dem „Schlaf der Sicherheit“ erwachen,
um realitätstauglicher zu werden und damit handlungsfähig zu bleiben. Und wenn wir es
selbst nicht merken oder wahrhaben sollten, dann hilft Gott uns auf, damit wir die Zeichen
der Zeit erkennen und dem entsprechend reagieren. Wir müssen also zu allererst
wahrnehmen und auch annehmen, was um uns herum und in unserer Mitte geschehen ist
bzw. geschieht: nüchtern und ohne falsche Emotionen! So wie es in der Offenbarung des
Johannes heißt: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ (Offb
2,11) An dieser Hörbereitschaft geht kein Weg vorbei! Der Abschied von Gewohntem und
Vertrauten, der mit dieser Entwicklung verbunden ist, ist schmerzlich und oft von großen
Trauerprozessen gekennzeichnet (Kirchenschliessungen!). Aber auch hier hilft es nicht,
den Erfahrungen von ‚Gestern’ nachzutrauern, weil eine solche Haltung lähmt und in einen
resignativen Tiefschlaf führt. Stattdessen sollten wir mit dem, was wir (noch) haben – und
das ist in der Kirche Deutschlands nach wie vor viel (!) – kreativ und produktiv umgehen!
Dazu gehört auch der Mut, zu den sprichwörtlich „neuen Ufern“ aufzubrechen, an denen
neue Gotteserfahrungen gemacht werden können. Konkret: Die Krise, die wir zur Zeit
erleben, birgt in sich nicht nur die Chance, sondern auch die Notwendigkeit, sich in aller
Nüchternheit aktiv mit dem auseinanderzusetzen, was vorhanden ist: an
Glaubenskraft, an Engagement, an Veränderungsbedarf und –bereitschaft. Mit diesem
Kapital müssen wir wirtschaften; diese Talente sollten wir nutzen – und dürfen sie nicht,
weil es vermeintlich nur wenige sind, vergraben! Und vergessen wir bei unseren
Reformbemühungen nicht: Es geht bei allem, was wir tun und lassen, immer um konkrete
Menschen, die mit uns auf dem Weg sind oder auch nicht, um Biographien, die
wahrgenommen und geachtet werden wollen, um eine Sehnsucht im Herzen, die es ernst
zu nehmen gilt und auf die es tragfähige Antworten zu geben gilt, die vor der Zukunft
bestehen können! Deshalb kann ich nur dazu aufrufen, von neuem auf die Kraft des in
unserer Mitte wirkenden Herrn zu vertrauen und als kleiner und bescheidener gewordene
Kirche den Aufbruch zu wagen. Wir müssen davon ausgehen: „Das Christliche wird sich in
Zukunft stärker qualitativ präsentieren und weniger quantitativ.“ (Bischof Joachim Wanke)
Deshalb ist gegenwärtig mehr denn je eine „Zeit zur Aussaat“. Dazu gehört ganz
wesentlich: Wir Christen müssen „selbst neu ‚lernen’, Jesus Christus als den Weg, die
Wahrheit und das Leben (vgl. Joh 14,6) anzunehmen. Glaubenserneuerung und
Glaubensvertiefung sind notwendig, um andere auf dem Glaubensweg begleiten zu
können.“2
II. Ein zweiter Antwortversuch auf die Frage „Welche Botschaft will Gott uns in dieser
Kirchenstunde übermitteln?“ lautet:
Die Kirche in Deutschland gilt weltweit nicht nur als finanziell gut ausgestattet,
sondern auch als hervorragend organisiert und strukturiert. Bei allen Einbrüchen, die wir
im materiellen und personellen Bereich in den vergangenen Jahren erlebt haben, geht es
uns hierzulande, äußerlich gesehen, noch vergleichsweise gut. Und doch wollen gläubige,
fragende und suchende Menschen ihr Vertrauen nicht in Struktur und Organisation,
sondern auf Gott setzen! Sie erwarten Perspektiven, die jenseits materieller
Besitzstandswahrung Antworten auf die großen Fragen des Lebens nach Sinn und
Orientierung geben. Zeigt uns die gegenwärtige Krise angesichts dessen nicht auch, dass
wir uns in mancherlei Hinsicht in den vergangenen Jahrzehnten in ein falsches Gefühl der
Sicherheit begeben haben? Trauen wir dem Geld letztlich mehr als Gott und seinen
2
„Zeit zur Aussaat“. Missionarisch Kirche sein. (= Die deutschen Bischöfe, Nr. 68 vom 26.11. 2000), S. 8.
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Verheißungen? Muss uns die gegenwärtige Krise nicht wieder deutlicher in die Richtung
einer vertrauensvollen Beziehung zu Gott lenken? Müssen wir nicht erst noch lernen, „mit
weniger Geld zu glauben“, wie es der frühere Bischof von Magdeburg, Leo Nowak, mit
Blick auf die kirchliche Situation in den östlichen Bundesländern formuliert hat? Und in
Verbindung damit hat er eine bemerkenswerte geistliche Herausforderung formuliert: „Wir
müssen aus dem Geist des Evangeliums zu unserer Armut ja sagen. Doch in diesem
Armutsbereich gibt es einen Spielraum. Armut kann niederdrücken, aber auch befreien.“ 3
Ich möchte den Begriff ‚Armut’ hier nicht nur materiell verstanden wissen, sondern
umfassender: Er gilt auch im personellen und strukturellen Bereich und wohl auch – soweit
messbar – für unsere Glaubenskraft. Jedenfalls wünsche ich uns in unserer Armut das
Vertrauen auf die befreiende Macht der Nähe Gottes sowohl im persönlichen Glauben als
auch im Lebensalltag der Kirche.
Für uns katholische Christen heißt das: Wir sollten bewusster, als dies oft
geschieht, aus dem leben, was wir mit dem Konzil als „Quelle und Höhepunkt des ganzen
christlichen Lebens“ (LG 11) bezeichnen, nämlich aus der Eucharistie! Wer sie zur Mitte
seines persönlichen Glaubenslebens macht, kann der Gefahr entgehen, als Christ oder
gar als Engagierter vor Ort auf die Dauer nur noch zu „funktionieren“, und eines Tages
selbst das nicht mehr tun können (s. Burnout-Phänomen). Will uns da die gegenwärtige
Krise nicht darauf aufmerksam machen, dass ohne diese Mitte alles aus den Fugen gerät
und wir auf die Dauer am Eigentlichen vorbei leben? Und ist diese Mitte – der Reichtum
unseres Glaubens an den lebendigen Gott, der sich in vielen Formen unserer liturgischen
und spirituellen Tradition ausdrückt – nicht das eigentliche Kapital unserer Kirche?
Müssen wir hier nicht von neuem einen Schatz heben, der oft im Acker unseres
kirchlichen Betriebs verborgen ist bzw. den wir unberücksichtigt im Acker liegen lassen?
Eine größere Wertschätzung unseres großen Glaubensschatzes wäre gewiß ein guter,
heilsamer Schritt in die Zukunft einer reformbereiten und reformfähigen Kirche (von der in
letzter Zeit im Umfeld des Dialogprozesses so viel die Rede ist)!
III. Schwestern und Brüder!
Einen letzten Antwortversuch auf die Frage „Was will Gott uns mit der gegenwärtigen
Krisensituation sagen?“ möchte ich mit einer Erfahrung einleiten: Bei vielen
Gemeindemitgliedern – auch den fern Stehenden – herrscht die Überzeugung vor, es
müsse nur ein junger Kaplan oder eine tüchtige Pastoral- oder Gemeindereferentin in die
Pfarrei kommen – und schon funktioniere die Jugendarbeit wieder, oder junge Familien
kämen scharenweise zur Sonntagsmesse. Was für ein Missverständnis! Die Priester und
hauptberuflichen Kräfte in unserer Kirche – und übrigens auch die Ehrenamtlichen vor Ort
– sind doch nicht die „Animateuere“ oder Alleinunterhalter der Kirche, die auf
professionelle Weise Menschen durch gute Unterhaltung oder gekonnte Darbietungen
anziehen, auf diese Weise leere Kirchen füllen und das Glaubensleben der Menschen
schnell auf Vordermann bringen. Abgesehen davon, dass es auch für Aufbrüche Geduld
und einen langen Atem braucht, gehen derartige Erwartungen am Eigentlichen der
Berufung zum Dienst in der Kirche vorbei. Wir Priester, unsere Diakone und
hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen „Geistliche“ im wörtlichen Sinne
sein: Wir sind „Mitarbeiter Gottes“ (1 Kor 3,9), nicht mehr und nicht weniger, also
Menschen, die vom Geist Gottes erfüllt sind und ihre Zeitgenossen auf ihrem Weg im
Glauben oder zum Glauben begleiten und stärken. Um diese Sicht eines gläubigen
Handelns aus Berufung zu fördern, hat mein Bischof in Paderborn im Rahmen der
Strukturveränderungen in unserer Erzdiözese im Jahr 2009 zu einer „Pastoral der
Berufung“ eingeladen, die ein lebhaftes Echo gefunden hat. Er hat sie folgendermaßen
eingeführt und begründet:
3
Leo Nowak, Begegnung und Dialog. Die Chance einer arm-seligen Kirche, Leipzig 2000, S. 16.
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„Bei der anstehenden Entwicklung der Seelsorge in unserem Erzbistum soll dem
Aspekt der Berufung aller Getauften durch Gott. zentrale Bedeutung zukommen.
(Was bedeutet das?) Wir alle sind durch Taufe und Firmung in die Gemeinschaft
mit dem dreifaltigen Gott hineingerufen und sind dadurch Glieder am Leib Christi –
jeder den Gaben entsprechend, die ihm mit auf den Weg gegeben wurden. Diese
Charismen gilt es, …, gut zu kennen und auszuprägen. Dabei ist jeder einzelne
unersetzlich, weil einmalig! Ich bin davon überzeugt, dass der Weg für eine
hoffnungsvolle Zukunft der Kirche heute in einer „Pastoral der Berufung“ besteht.
Denn künftig wird die Kirche vor Ort vor allem durch Menschen leben, die eine
bewusste Entscheidung für den Glauben an den Gott Jesu Christi getroffen
haben. Solche überzeugten Christen werden an vielen Orten das Gesicht der
Kirche prägen. Dort, wo es solche Menschen gibt, bleibt die Kirche kraftvoll und
glaubwürdig! (…) Die meisten von uns werden das Wort „Berufung“ vor allem mit
Priestern und Ordensleuten in Verbindung bringen. Diese speziellen geistlichen
Berufungen sind zweifellos ein großes Geschenk Gottes an die Kirche. Aber sie
sind nicht isoliert vom übrigen Volk Gottes, vielmehr stehen sie im Dienst einer
umfassenden Berufung aller Getauften. „Berufung“ ist eine Grundkategorie
unseres Glaubens an Gott. Berufung geht jeden getauften Menschen an.“4
Soweit ein Gedankengang aus dem Fasten-Hirtenbrief des Erzbischofs im Jahr 2010.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Gott uns in dieser kirchlichen Stunde dazu
auffordert, von neuem die biblische Botschaft vom gemeinsamen Priestertum aller
Gläubigen, das in Taufe und Firmung grundgelegt ist, aufzugreifen und zu leben.
Bezugspunkt dafür ist das (eben gehörte) Wort aus dem Ersten Petrusbrief: „Ihr seid ein
auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das
sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen taten dessen verkündet, der euch
aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.“ (1 Petr 2,9) Diese
Akzentuierung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften ist – so bedrängend die
Umstände auch sind - nicht aus der Not geboren, sondern soll gerade in dieser
kirchlichen Stunde bewusst eine ursprüngliche Einsicht und Vor-Gabe des Evangeliums
lebendig werden lassen. Vor aller Differenzierung in Ämter und Dienste und die damit
verbundenen Verantwortungen steht das Gemeinsame und Verbindende aller Getauften:
die Berufung zur Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott!
Schwestern und Brüder!
Die eigene Berufung zur Nachfolge des Herrn im Raum der Kirche zum Wohle der
Menschen echt und engagiert zu leben – darum muss es uns allen gehen, unabhängig
davon, an welchem Ort in der Kirche wir leben und handeln! Das ist übrigens ein aktiver
Prozess, der nichts, aber auch gar nichts mit Unheilsprohetie oder Volkssturm oder
Untergangsstimmung zu tun hat – und doch vor der Versuchung der Entmutigung und
Enttäuschung nicht gefeit ist! Im Gegenteil: Jeder ist gefragt, seinen Beitrag zu leisten,
damit die Flamme des Evangeliums in unserer Gesellschaft nicht erlischt. Ein Wort des
Dichters Antoine de Saint-Exupéry ist da für mich wegweisend und mahnend zugleich:
„Was ich am tiefsten verabscheue, das ist die traurige Rolle des Zuschauers, der
unbeteiligt tut oder unbeteiligt ist. Man soll nie zuschauen, man soll Zeuge sein, mittun
und Verantwortung tragen. Der Mensch ohne mittuende Verantwortung zählt nicht.“ Jeder
Beitrag zum Wachsen des Reiches Gottes zählt bei diesem Unterfangen, selbst die
schlichte und unauffällige Teilnahme an Gebet und Gottesdienst – ein Zeichen, das für die
Vitalität und Glaubwürdigkeit unserer Kirche nicht zu unterschätzen ist!
4
„Die eigene Berufung entdecken und leben“. Fastenhirtenbrief des Erzbischofs von Paderborn 2010, S. 7f.
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Wenn ich auf unsere alles in allem kleiner und schwächer gewordene Kirche
schaue, dann habe ich trotz aller Bedrängnis den Eindruck, dass der Ofen längst noch
nicht aus ist. Im Bild gesprochen: Unter der kalten Asche des Vergangenen gibt es noch
reichlich Funken neuen Lebens, die es nur zu entfachen gilt, damit die ‚müde Christenheit’
mit neuem Elan aufgeweckt und entschieden ihren Weg in die Zukunft gehen kann:
„Missionarisch Denken und Handeln“ heißt das Gebot der Stunde, das ich bewusst an
diesem Ort, hier in Konnersreuth ausspreche, weil die von Ihnen so sehr verehrte Therese
Neumann
als
junge
Frau
genau
diesen
Anruf
verspürte:
bei
den
Missionsbenediktinerinnen von Tutzing einzutreten, um als Krankenschwester in der
Afrikamission zu wirken. Das wurde, wie Sie wissen, durch ihre Krankheit von 1918 bis
1925 vereitelt. Später wurde sie dann zuhause gewissermaßen zur „Missionarin“, indem
als mystisches Zeichen für Gottes Liebe zu uns Menschen lebte und so ihre
missionarische Wirkkraft in die ganze Welt hinaus entfaltete. Auch wenn der Herr ihr einen
anderen Weg der Nachfolge (als von ihr ersehnt) zumutete, so blieb ihr missionarisches
Herz zeitlebens lebendig! Auf ihre Weise, besonders auf ihrem Weg der Kreuzesnachfolge
verkörperte sie das, was in der fünften Strophe des Liedes von Riethmüller so heißt: „Gib
den Boten Kraft und Mut, Glauben, Hoffnung, Liebesglut, und lass reiche Frucht
aufgehen, wo sie unter Tränen sä’n.“ (Gotteslob Nr. 644,5) Es ist für mich beruhigend und
ermutigend zugleich, dass wir in dieser Mission nicht allein unterwegs sind, sondern starke
Fürsprecher wie Therese an unserer Seite wissen dürfen, Frauen und Männer, die die
Spur dessen verfolgt haben, der gesagt hat: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde
zu werfen. Wie froh wäre ich, würde es schon brennen!“ (Lk 12,49)
Bitten wir den Herrn der Kirche und den Heiland der Menschen in dieser
Kirchenstunde vielmehr um zündende Impulse für einen lebendigen und froh machenden
Glauben mit missionarischer Kraft! Bitten wir IHN, dass mit unserer Hilfe der christliche
Glaube in dieser Welt brennt – nicht als ein vernichtendes, sondern als ein wärmendes,
Energie spendendes Feuer, das Leben ermöglicht und Zukunft schenkt. Amen.
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