Musterlösung Fall 1 (25 Punkte) Der Fall basiert auf BGE 130 I 360 und BGE 135 I 209. I. Verletzung der Institutsgarantie? - Punkte Lehre und Praxis unterscheiden bei der Eigentumsgarantie die Elemente der Institutsgarantie, der Bestandesgarantie sowie der Wertgarantie. Die Institutsgarantie schützt das Institut Eigentum an sich vor einer Aushöhlung durch staatliche Eingriffe (unantastbarer Kernbereich des Grundrechts). Nach ständiger Praxis des Bundesgerichts gilt die Institutsgarantie als verletzt, wenn der Gesetzgeber Normen 1 aufstellt, die das Privateigentum als fundamentale Einrichtung der schweizerischen Rechtsordnung beseitigen, seiner Substanz berauben oder seinen Wesenskern antasten. Der Gesetzgeber muss die wesentlichen, sich aus dem Eigentum ergebenden Verfügungs- und Nutzungsrechte wahren. - I.c. ist die Institutsgarantie von der zeitweiligen Beschlagnahme, der Vernichtung und 1 vom Verkauf der Hanfpflanzen sowie der technischen Geräte nicht betroffen. Yves bzw. die Grünland GmbH können nach wie vor Eigentum begründen. II. Verletzung der Bestandesgarantie? 1. Sachlicher Schutzbereich - Der verfassungsrechtliche Schutz durch die Bestandesgarantie erfasst nicht nur das Eigentum im sachenrechtlichen Sinn, sondern auch andere vermögenswerte Rechte wie beschränkte dingliche Rechte, obligatorische Rechte und Immaterialgüterrechte 1 sowie besonders rechtsbeständige öffentlich-rechtliche Ansprüche gegen den Staat (sog. wohlerworbene Rechte). Seit dem Jahr 2000 sind gemäss Bundesgericht auch „faktische Interessen“ erfasst. Die Rechtsordnung kann die Eigentumsfähigkeit allerdings bei gewissen Gütern ausschliessen – z.B. bei Drogen und beim 2 ZP menschlichen Keim- und Erbgut (BV 119). Mit einer plausiblen Argumentation könnte ein solcher Standpunkt mit Blick auf Hanfpflanzen – zumindest bei zum Konsum geeigneten – vertreten werden. - I.c. ist die Einziehung und Verwertung von Pflanzen und technischen Geräten zu beurteilen. Es handelt sich um Sachen im privatrechtlichen Sinn (ZGB 641 ff.). Sie standen entweder im Eigentum von Yves oder der Grünland GmbH. Der Sachverhalt lässt dies offen. 2. Persönlicher Schutzbereich - Sowohl natürliche als auch juristische Personen des Privatrechts können sich auf die 1 1 Eigentumsgarantie berufen. Auch das Gemeinwesen kann sich auf die 1 Eigentumsgarantie berufen, wenn es wie eine Privatperson betroffen ist. - I.c. können sich sowohl Yves als natürliche wie auch die Grünland GmbH als juristische Person auf die Eigentumsgarantie berufen (je nach 1 Eigentumsverhältnissen, die nicht klar sind). 3. Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich vor? - Vorliegen eines Eingriffs: Wird der grundrechtliche Anspruch durch staatliches Handeln oder Unterlassen verkürzt (kausaler Zusammenhang zwischen dem ½ Verhalten des Trägers staatlicher Aufgaben und der Verkürzung des Anspruches)? - I.c. wurden sämtliche Hanfpflanzen und Gerätschaften (Wärmelampen und Alarmanlagen) im Rahmen einer Strafuntersuchung eingezogen. Es liegt eindeutig ein ½ Eingriff vor. 4. Zulässigkeit des Eingriffs? a) Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV) - Normstufe/Normdichte: Der Eingriff muss in einem formellen Gesetz geregelt sein, wenn er schwer wiegt. Die Möglichkeit eines Eingriffs muss zudem für die 1 Betroffenen hinreichend vorhersehbar sein. Grundsätzlich gilt: Je schwerer der Eingriff, umso höher sind die Anforderungen an die Präzision des Rechtssatzes, der die Grundlage für den Eingriff darstellt. - I.c. stellt ein formelles Gesetz die gesetzliche Grundlage für den Eingriff dar. Eine 1 Einlassung auf die Frage der erforderlichen Normstufe erübrigt sich damit. Der Eingriff ist im Gesetz klar und detailliert beschreiben und somit genügend vorhersehbar. b) Öffentliches Interesse - Öffentliche Interessen sind Anliegen der Rechtsgemeinschaft, die aufgrund ihrer Bedeutung für die Gesamtheit individuelle Grundrechtsansprüche unter Umständen zurückzudrängen vermögen. Beispiele: Polizeigüterschutz, Staatsaufgaben, Schutz von Grundrechten Dritter. Grundsätzlich kommen alle öffentlichen Interessen (nicht nur polizeiliche) dafür in Frage, Einschränkungen der Eigentumsgarantie zu rechtfertigen, 1 sofern das Ziel nicht rein fiskalischer Natur ist oder gegen andere Verfassungsnormen verstösst. Wichtige öffentliche Interessen sind etwa die in der BV verankerten Anliegen der Raumplanung, des Umweltschutzes, des Gewässerschutzes und des Heimatschutzes. - I.c. geht es um die Verwirklichung polizeilicher und gesundheitspolitischer Interessen: Bestrafung strafbarer Handlungen (Herstellung und Vertrieb von Betäubungsmitteln); 2 1 Durchsetzung der Rechtsordnung als solcher; Schutz der Gesundheit vor den Gefahren von Drogenkonsum. c) Verhältnismässigkeit - Ein Eingriff in ein Grundrecht muss geeignet und erforderlich sein, um das auf dem Spiel stehende öffentliche Interesse zu erfüllen bzw. dazu beizutragen. Es dürfen 1 keine alternativen geringeren Mittel zur Erfüllung desselben Zwecks zur Verfügung stehen. Zusätzlich muss der Eingriff zumutbar, d.h. verhältnismässig im engeren Sinne sein. Zumutbar ist die Massnahme, wenn der Nachteil für den Betroffenen und der erstrebte Erfolg in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Weiter darf zwischen dem Schaden des Einzelnen und dem Nutzen für die Allgemeinheit kein Missverhältnis bestehen (Abwägung der betroffenen Rechtsgüter). 1. Für den Konsum bestimmte Hanfpflanzen - Eignung: Ist der Eingriff geeignet, das im öffentlichen Interesse stehende Ziel zu verwirklichen? Die Beschlagnahme und die Vernichtung der für den Konsum als Betäubungsmittel geeigneten Hanfpflanzen tragen offenkundig dazu bei, die erwähnten polizeilichen und gesundheitspolitischen öffentlichen Zwecke zu verwirklichen. Sie tragen dazu bei, Drogenkonsum zu verhindern. - Erforderlichkeit: Ist ein weniger weit gehender Eingriff denkbar, mit dem die öffentlichen Interessen im selben Mass verwirklicht werden können? Wäre ein weniger belastender Eingriff möglich? I.c. ist kaum ein weniger weit gehender Eingriff als die Vernichtung denkbar, um den Konsum von THC-haltigem Hanf im selben Mass zu verhindern. - Zweck-Mittel Relation: Besteht ein angemessenes Verhältnis zwischen Eingriff und Realisierung der auf dem Spiel stehenden öffentlichen Interessen? Das öffentliche Interesse an der Einhaltung der Rechtsordnung erfordert es, dass strafbare Handlungen grundsätzlich und verlässlich verfolgt und sanktioniert werden. Die Rechtsordnung sieht die Strafbarkeit des Besitzes von THC-haltigem Hanf vor, wobei illegale Substanzen als zusätzliche Massnahme beschlagnahmt und vernichtet werden können. Das Mittel – Vernichtung von Hanfpflanzen, die illegal gezüchtet werden – erscheint angesichts des sehr bedeutenden Zwecks – Einhaltung der Rechtsordnung als Ganzer – als angemessen. Dasselbe gilt auch mit Blick auf das Interesse am Schutz der Gesundheit. Die bekannten Folgen des Drogenkonsums lassen es als angemessen erscheinen, die Verfügbarkeit von Drogen durch Beschlagnahme und Vernichtung zu verhindern. Der Entzug des Eigentums an den Pflanzen steht somit in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten polizeilichen und gesundheitspolitischen Interessen. 3 3 2. „Zierhanf“ - Eignung: I.c. sind die Beschlagnahme und die Vernichtung des „Zierhanfs“ nur sehr 3 bedingt geeignet, zur Verwirklichung der polizeilichen und gesundheitspolitischen Interessen beizutragen. Die Beschlagnahme ist zwar geeignet, genaue Abklärungen über die biologische Zusammensetzung des Hanfs zu ermöglichen, die Vernichtung jedoch trägt nichts zur Verwirklichung der genannten Ziele bei; Züchtung und Besitz von Hanfpflanzen sind erlaubt, sofern sie nicht für die Produktion von Betäubungsmitteln geeignet sind. - Erforderlichkeit: I.c. wäre es möglich gewesen, den „Zierhanf“ des Verdächtigen nur vorübergehend, bis zum Ende der Untersuchung, zu entziehen. Auch ein Verkauf – im Gegensatz zur Vernichtung aller Pflanzen – ist als ein geringerer Eingriff mit möglicherweise gleichem Beitrag an die Realisierung der Eingriffsziele diskutabel. Für die Punktevergabe ist die Argumentation entscheidend. - Zweck-Mittel-Relation: Die vorübergehende Beschlagnahme des „Zierhanfs“ ist angesichts des öffentlichen Interessens an der Aufklärung einer Straftat grundsätzlich angemessen. Die Vernichtung des „Zierhanfs“ dagegen ist unverhältnismässig, da eine über das Strafverfahren hinausreichende Verfügungsbeschränkung keinen Mehrwert für die Verwirklichung der öffentlichen Interessen bringt. 3. Technische Geräte - Eignung: I.c. ist die Beschlagnahme (wie beim „Zierhanf“) geeignet (siehe Punkt 2), zur Verwirklichung der Eingriffsziele beizutragen. Beim Verkauf der technischen Geräte ist dies jedoch kaum der Fall. Für die Falllösung kommt es darauf an, von welchen tatsächlichen Gegebenheiten man ausgeht: Wurden die technischen Geräte speziell für die Aufzucht von konsumfähigem Hanf hergestellt, so wäre die Eignung der Vernichtung zu bejahen. Bei Alarmanlagen und ähnlichen Geräten ist dies jedoch kaum der Fall. - Erforderlichkeit: I.c. sind geringere Eingriffe als der Verkauf der Gerätschaften vorstellbar, die im selben Masse zur Verwirklichung der Eingriffsziele beitragen könnten. Die Geräte sind nicht verderblich und ihr Erwerb ist legal (mit der erwähnten Ausnahme von speziell für die Straftat hergestellten Geräten). Die Beschlagnahme der Sachen bis zum Abschluss des Strafverfahrens würde wohl ausreichen. Falls eine Verwertung aus polizeilichen Gründen nötig ist, wäre der Verkauf zulässig. Der Sachverhalt lässt keine verlässlichen Schlüsse zu, es besteht Spielraum für verschiedene plausible Argumentationen. - Zweck-Mittel-Relation: Soweit Eignung und Erforderlichkeit des Eingriffs verneint 4 3 wurden, kann auch keine vernünftige Zweck-Mittel-Relation bestehen. Eine solche bestünde allenfalls bei einer nur vorläufigen Beschlagnahme bis zum Abschluss des Strafverfahrens. Für die Punktevergabe ist die Argumentation ausschlaggebend. d) Wahrung des Kerngehalts - Kerngehalt der Eigentumsgarantie ist die Institutsgarantie, die – wie erwähnt – nicht tangiert ist. Fazit: Die Bestandesgarantie wurde durch die Kompostierung des „Zierhanfs“ und den 1 Verkauf der technischen Geräte verletzt. Die Vernichtung der für den Konsum bestimmten Hanfpflanzen war ein zulässiger Eingriff in die Bestandesgarantie. III. Verletzung der Wertgarantie? - Die Wertgarantie kommt nur bei zulässigen Eingriffen in die Eigentumsgarantie zum Tragen. Sie soll den Wertverlust durch Eigentumsbeschränkungen ausgleichen. In 1 Fällen unzulässiger Eingriffe kommt die Wertgarantie nicht zum Tragen. - Bei der Entschädigungspflicht wird zwischen formeller und materieller Enteignung unterschieden. Unter formeller Enteignung versteht man den ganzen oder teilweisen Entzug des Eigentumsrechts oder eines beschränkten dinglichen Rechts in einem durch die spezielle Gesetzgebung des Bundes und der Kantone geregelten Verfahren. Bei materiellen Enteignungen bleibt das formelle Eigentumsrecht zwar unangetastet, die Massnahmen treffen den Eigentümer dennoch ähnlich wie ein Eigentumsentzug. Es gibt zwei Konstellationen materieller Enteignungen: wenn ein besonders schwerer Eingriff vorliegt und wenn das Opfer eines Einzelnen als unzumutbar erscheint 1 (Sonderopfer). Gemäss Bundesgericht liegt ein besonders schwerer Eingriff vor, wenn einem Eigentümer der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch seiner Sache untersagt oder in einer Weise eingeschränkt wird, die besonders schwer wiegt, weil der betroffenen Person eine wesentliche, aus dem Eigentum fliessende Befugnis entzogen wird. - I.c. gab es kein formelles Enteignungsverfahren. Es stellt sich die Frage, ob eine materielle Enteignung vorliegt. Die Beschlagnahme von Sachen bedeutet nur einen temporären Entzug der Verfügungsgewalt. Sie hat nicht die Schwere einer materiellen Enteignung. Die Beschlagnahme ist somit nicht entschädigungspflichtig. Dasselbe gilt für die Vernichtung des „Drogenhanfs“. Sein Besitz ist unzulässig; der Eingriff in das Eigentum ist daher nicht als besonders schwer zu qualifizieren. Ein Sonderopfer liegt ebenfalls nicht vor. 5 1 IV. Grundrechtskonkurrenz - Weitere Grundrechte (wie bspw. die Wirtschaftsfreiheit) müssen nicht geprüft werden, da nur nach der Vereinbarkeit der Massnahmen mit der Eigentumsgarantie gefragt ist. 6 Musterlösung Fall 2 (25 Punkte) Der Fall basiert auf BGE 125 I 300. I. Ist der Schutzbereich des Grundrechts tangiert? Punkte a) Sachlicher Schutzbereich - Art. 15 BV schützt sowohl die Glaubens- und Gewissensfreiheit als auch die 1 Kultusfreiheit. Die Religionsfreiheit schützt in erster Linie die Freiheit des Menschen, frei über „seine Religion“ zu entscheiden – zu glauben oder nicht zu 1 glauben. Sie schützt den Glauben, das Gewissen und die Weltanschauung der betroffenen Person. Geschützt sind alle Arten von Vorstellungen über die Beziehung des Menschen zum Göttlichen oder zum Transzendenten, bzw. alle Religionen und Glaubensformen, unabhängig von ihrem Inhalt und ihrer quantitativen Verbreitung in der Schweiz. Das Glaubensbekenntnis muss jedoch 1 von einer gewissen grundsätzlichen und weltanschaulichen Natur sein, eine Gesamtsicht der Welt widerspiegeln. Es muss eine religiös fundierte, zusammenhängende Sicht grundlegender Fragen zum Ausdruck bringen. Das Bundesgericht interpretiert den Begriff der religiösen Überzeugung weit. Geschützt sind sowohl die innere wie auch die äussere Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die 1 äussere Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt das Recht, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen innerhalb gewisser Schranken zu äussern, zu praktizieren und zu verbreiten. Geschützt ist nicht nur die Befolgung imperativer Glaubenssätze, sondern auch die Beachtung weiterer Gebote in Bezug auf die Lebensführung. - A ist muslimischen Glaubens. Der Islam ist eine Weltreligion, deren Regeln auf viele Lebensbereiche Anwendung finden und eine religiös 1 fundierte, zusammenhängende Sicht grundlegender Probleme darstellen. A ist durch die behördliche Entscheidung in seiner äusseren Glaubens- und Gewissensfreiheit betroffen, da diese seine Möglichkeiten beschränkt, den islamischen Regeln 1 entsprechend bestattet zu werden. Die vier Wünsche von A sind gemäss islamischem Recht imperative Glaubenssätze oder strenge Handlungsanweisungen, welche die von ihm und seiner Familie praktizierte religiöse Überzeugung betreffen. b) Persönlicher Schutzbereich - Natürliche Personen sind unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Bürgerrecht oder 1 ihrem Alter Träger der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die religiöse Mündigkeit beginnt mit 16 Jahren (ZGB 303). - Im vorliegenden Fall können sich A und seine Angehörigen als natürliche Personen 7 1 auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen. - Zwischenfazit: Das Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit ist tangiert. II. Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich vor? - Wird der grundrechtliche Anspruch durch staatliches Verhalten verkürzt? (Kausaler 1 Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Trägers staatlicher Aufgaben und der Verkürzung des Anspruches)? - I.c. verweigert die Gemeinde Dietlikon mittels einer Verfügung eine vollständig den Regeln des Islam entsprechende Bestattung. III. Ist der Eingriff zulässig? - Es ist die zu prüfen, ob die Eingriffe mit den Eingriffsvoraussetzungen gemäss Art. 36 BV vereinbar sind. Das Bundesgericht prüft diese Frage mit freier Kognition. a) Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV) - Gemäss Sachverhalt stützt sich der Eingriff auf eine genügende gesetzliche Grundlage. Eine Einlassung auf diese Frage ist nicht erforderlich. Die Intensität des Eingriffs sowie die Frage der Normdichte sind nicht zu prüfen. b) Öffentliches Interesse (Art. 36 Abs. 2 BV) - Öffentliche Interessen sind Anliegen der Rechtsgemeinschaft, die wegen ihrer Bedeutung für die Gesamtheit individuelle Grundrechtsansprüche zurückzudrängen 1 vermögen. Beispiele: Polizeigüterschutz, Staatsaufgaben, Schutz von Grundrechten Dritter - I.c. liegen dem anzuwendenden Recht (Gesetz, Verordnung, i.c. die geltende Friedhofsordnung) verschiedene öffentliche Interessen zugrunde. Zum einen soll möglichsten vielen Gemeindeeinwohnern ein Platz auf dem Gemeindefriedhof zur 2 Verfügung gestellt werden können (schwierige Einschätzung des künftigen Bevölkerungswachstums). Ein weiteres öffentliches Interesse ist das Interesse an der Beachtung christlicher und kultureller Traditionen der Gemeinde. Die Praxis der Bestattung in Reihengräbern kann als eine solche Tradition betrachtet werden. Bei guter Argumentation können auch Punkte für die Aufzählung weiterer öffentlicher Interessen vergeben werden. c) Verhältnismässigkeit - Ein Eingriff in ein Grundrecht muss geeignet und erforderlich sein, um das angestrebte öffentliche Interesse zu erfüllen, d.h. es dürfen keine alternativen geringer belastenden Mittel zur Erfüllung desselben Zwecks zur Verfügung stehen. 8 1 Zusätzlich muss er zumutbar (verhältnismässig im engeren Sinne) sein. Zumutbar ist die Massnahme, wenn der Nachteil für den Betroffenen und der erstrebte Erfolg in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Zwischen dem Nachteil des Einzelnen und dem Nutzen für die Allgemeinheit darf kein Missverhältnis bestehen (Abwägung der betroffenen Rechtsgüter). 1. Verweigerung der Ausrichtung der Gräber nach Mekka - Eignung: Die Gemeinde lehnt den Antrag ab, die Grabstätte nach Mekka auszurichten. Es stellt sich die Frage, ob der Eingriff geeignet ist, zur 3 Verwirklichung der auf dem Spiel stehenden öffentlichen Interessen beizutragen. I.c. trägt die Verweigerung der Ausrichtung der Gräber nach Mekka zu einer effizienten Nutzung des zur Verfügung stehenden Platzes und zur Beibehaltung der christlichen Tradition der Reihengräber bei. Die Eignung ist zu bejahen. - Erforderlichkeit: Wäre dasselbe Ergebnis mit einem geringeren Eingriff erreichbar? Die Antwort hängt von den vorhandenen Platzverhältnissen und der aktuellen Ausrichtung der Gräber ab. Denkbar wäre allenfalls, die Ausrichtung eines Grabes am Rand einer Reihe um einige Grade zu verändern, sodass das Gesicht des Bestatteten nach Mekka ausgerichtet ist. Evtl. könnte auch der Sarg unterirdisch entsprechend ausgerichtet werden. Die Erforderlichkeit des Eingriffs ist eher zu verneinen, die Argumentation ist entscheidend. - Zweck-Mittel-Relation: Falls die Realisierung der Anliegen von A mit bescheidenem Aufwand möglich ist, ist das Vorliegen einer angemessenen Zweck-Mittel-Relation eher zu verneinen. Die Frage der Bestattung ist für praktizierende Muslime von grosser Bedeutung, so dass ein geringer baulicher Zusatzaufwand dem Staat zumutbar ist. Die Religionsfreiheit überwiegt gegenüber dem Aufwand kleiner baulicher Änderungen. Falls jedoch grosse bauliche Veränderungen nötig wären, wäre die Zumutbarkeit des Eingriffs wohl gegeben. 2. Genehmigung eines Familiengrabes /Verweigerung der vollständigen Zusammenführung der Gräber - Eignung: Der Gemeinderat lehnt eine vollständige räumliche Zusammenfassung der Gräber für Muslime innerhalb der bestehenden Anlage bzw. die Schaffung eines ausschliesslich für Moslems bestimmten Friedhofs ab. Zugleich schlägt er vor, A könne ein Familiengrab mit vier Grabstellen mieten. Es stellt sich zunächst die Frage, ob die Verweigerung der vollständigen räumlichen Abtrennung muslimischer Gräber geeignet ist, die auf dem Spiel stehenden öffentlichen Interessen zu verwirklichen bzw. dazu beizutragen. Dies ist der Fall. Der Eingriff trägt dazu bei, möglichst vielen Gemeindebewohnern einen Friedhofsplatz zu sichern, keine baulichen Änderungen an den bestehenden Gräbern vornehmen zu müssen und die 9 3 christliche Tradition von Reihengräbern nicht anzutasten. - Erforderlichkeit: Könnte ein weniger weit reichender Eingriff dasselbe Ergebnis bewirken? Wichtig ist zunächst festzuhalten, dass der Gemeinderat das Anliegen A nicht rundum ablehnt und einen Kompromiss vorschlägt. Er schlägt ein Familiengrab mit vier Grabstellen vor. Ein Familiengrab bedeutet eine gewisse Abtrennung von anderen Gräbern, ohne dass dafür grosse bauliche Veränderungen nötig wären. Dieses Ergebnis (Abtrennung ohne grosse bauliche Veränderungen) kann nicht erreicht werden, wenn die vollständige Abtrennung der Gräber bewilligt wird. - Zweck-Mittel-Relation: Das Erfordernis eines angemessenen Verhältnisses zwischen Eingriff und Wirkung ist wohl erfüllt. Die Möglichkeit einer nur beschränkten Abtrennung ist wohl zumutbar. Eine räumliche Abgrenzung wird auf diese Weise ermöglicht, wenn auch nicht ganz auf die gewünschte Weise. Der A entstehende Nachteil ist vergleichsweise gering. Das Bundesgericht hielt in BGE 125 I 300 fest, soweit nur einzelne muslimische Familien betroffen seien, könne eine aus religiösen Gründen gewünschte Abgrenzung im Rahmen der Belegung von Familiengräbern realisiert werden. Es bestehe weiter die Möglichkeit, dass sich die islamischen Glaubensangehörigen mehrerer Gemeinden zur Errichtung eines gemeinsamen eigenen Friedhofs zusammenschlössen, um die Grabnutzung selber regeln zu können. (Bei guter Argumentation können auch für andere Lösungen Punkte vergeben werden.) 3. Vorschlag einer längeren Grabnutzung / Verweigerung der ewigen Totenruhe - Eignung: Die Gemeinde verweigert die Gewährung der ewigen Totenruhe, ermöglicht aber eine Vermietung über 50 Jahre mit Verlängerungsmöglichkeit um weitere 20 Jahre. Trägt ein solcher Eingriff in das Gebot der Beachtung der ewigen Totenruhe dazu bei, das öffentliche Interesse zu verwirklichen? Dies ist offenkundig der Fall. Die Verweigerung einer unbefristeten Grabnutzung trägt dazu bei, möglichst vielen Gemeindeeinwohnern einen Grabplatz zur Verfügung stellen zu können. - Erforderlichkeit: Ob die Voraussetzung der Erforderlichkeit besteht, ist nicht ganz eindeutig. Allenfalls wäre denkbar, die Nutzung des Grabes für eine längere Dauer als 70 Jahre zuzulassen, ohne dass dies eine geringere Realisierung der öffentlichen Interessen bedeuten müsste. Die Antwort hängt von den tatsächlichen Gegebenheiten ab, der Sachverhalt enthält in diesem Punkt jedoch keine präzisen Angaben. Wenn, wie A annimmt, tatsächlich zunehmend freie Nischengräber entstehen und genügend Platz für alle Verstorbenen vorhanden ist, wäre eine 10 3 längere Nutzungsdauer allenfalls möglich, ohne dass dies die Realisierung der öffentlichen Interessen zusätzlich einschränken würde. Wenn eine längere Nutzungsdauer dagegen Abstriche bei der Realisierung der auf dem Spiel stehenden öffentlichen Interessen bedeuten würde, so ist die Voraussetzung der Erforderlichkeit des Eingriffs gegeben. Die Argumentation ist entscheidend. - Zweck-Mittel-Relation: Die Voraussetzung einer angemessenen Zweck-MittelRelation dürfte durch den Kompromissvorschlag erfüllt sein. Nach Auffassung des Bundesgerichts kommt ein Anspruch auf zeitlich unbeschränkte Grabnutzung der Veräusserung einer im Gemeingebrauch stehenden Sache gleich, wogegen gewichtige öffentliche Interessen sprechen. Zudem ist die Möglichkeit eines eigenen islamischen Friedhofs in Betracht zu ziehen, auf dem die Grabdauer selbständig geregelt werden könnte. Ausserdem verbietet die ewige Totenruhe nach islamischem Recht lediglich die Wiederausgrabung der sterblichen Überreste. Eine Wiederbelegung desselben Grabes (bspw. in einer anderen Tiefe), resp. die Abräumung des Grabschmuckes unter Belassung der Gebeine im Boden wäre möglich und würde nicht mit den islamischen Regeln kollidieren. Diese Auffassung wird teilweise allerdings auch kritisiert. Jörg Paul Müller meint etwa, der traditionelle Gräberturnus, der keine religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen widerspiegelt, sondern auf praktischen Erwägungen der Bodennutzung beruht, könne nicht als unumstössliche Norm den Glaubensanliegen einer Minderheit entgegengehalten werden. d) Wahrung des Kerngehalts - Der Kerngehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit wird durch die verschiedenen 1 Eingriffe nicht angetastet. IV. Leistungspflicht des Staates? - Im Rahmen einer vollständigen Lösung sollte auch die Frage zur Sprache kommen, ob dem Staat eine positive Leistungspflicht zur Realisierung des Grundrechts der 1 Religionsfreiheit zukommt. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist nicht nur ein Abwehrrecht. Der Staat muss unter Umstände auch gewisse positive Leistungen erbringen, damit das Grundrecht tatsächlich ausgeübt werden kann. Grundidee ist dabei: Der Aufwand des Staates für positive Massnahmen muss in einem angemessenen Verhältnis zur Gefährdung des Grundrechtsanspruchs stehen. - Das Bundesgericht verneint mit Blick auf öffentliche Friedhöfe das Bestehen einer aus der Religionsfreiheit abgeleiteten positiven Leistungspflicht. Es weist auf die 11 2 ZP Möglichkeit der Errichtung von Sonderfriedhöfen hin. In der Literatur sind auch andere Meinungen zu finden. Es wird etwa argumentiert, der Staat, der eine Rechtsordnung schaffe, die berechtigten Anliegen einer Minderheit nicht Rechnung trage, dürfe die Behebung dieses Ausschlusses nicht einfach den Betroffenen überlassen, (wenn) ihnen dies nicht ohne besondere Anstrengung möglich sei. V. Schlussfazit - Je nach Argumentation sind verschiedene Lösungswege möglich. Favorisierte Lösung: Die Verweigerung der Ausrichtung der Gräber ist unverhältnismässig. Randgräber oder eine „unterirdische“ Lösung würden in geringerem Masse in das 1 Grundrecht eingreifen. Die Verweigerung abgetrennter Grabstätten ist rechtmässig. Der Vorschlag eines Familiengrabs mit vier Grabstellen ist ein angemessener Kompromiss. Die Verweigerung der ewigen Totenruhe ist rechtmässig, jedoch wäre eine Verlängerung der Frist denkbar. Weitere Grundrechte - Verlangt ist gemäss Aufgabenstellung ausschliesslich die Prüfung der Vereinbarkeit der Eingriffe mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Zusatzpunkte wurden bei guten Überlegungen zum Anspruch auf schickliche Beerdigung oder zum Diskriminierungsverbot vergeben. - Der Anspruch auf schickliche Beerdigung ist seit Einführung der neuen Bundesverfassung von 1999 durch Art. 7 BV (Menschenwürde) gewährleistet. Ob 1 ZP religiöse Riten durch den Anspruch auf eine schickliche Beerdigung geschützt werden, ist jedoch umstritten. Das Bundesgericht verneint dies. In der Literatur wird teilweise die Meinung vertreten, dass auch die Ausübung religiöser Riten (zumindest teilweise) unter das Recht auf eine schickliche Beerdigung falle. - Der Fall wirft auch Fragen zum Diskriminierungsverbot auf. Das Grundproblem ist: Die Ermöglichung christlicher Bestattungen bei gleichzeitiger Verweigerung islamischer Bestattungen kann den Gleichheitsgrundsatz verletzen. 12 1 ZP