Professor Dr. Thomas Lenarz Leiter der HNO

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Sendung vom 8.3.2017, 20.15 Uhr
Professor Dr. Thomas Lenarz
Leiter der HNO-Abteilung Medizinische Hochschule Hannover
Deutsches HörZentrum
im Gespräch mit Antje Maly-Samiralow
Maly-Samiralow: Herzlich willkommen, liebe Zuschauer, zum alpha-Forum. Dass Sie hier
aufmerksam zuhören, wenn Sie uns eingeschaltet haben, davon gehe
ich aus, aber heute wollte ich Sie bitten, noch ein ganz klein wenig
aufmerksamer zuzuhören, vor allem dann, wenn Sie nicht gut hören.
Denn bei uns geht es heute um gutes oder weniger gutes Hören und um
die Frage, was man tun kann, wenn Letzteres zutrifft. Dazu begrüße ich
ganz herzlich unseren heutigen Gast Professor Thomas Lenarz. Herr
Lenarz, Sie sind der Leiter der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule
Hannover und spezialisiert auf die Implantologietechnik insbesondere der
Cochlea-Implantate. Darüber werden wir gleich noch sprechen. Ich habe
auf Ihrer Homepage die Zahl gelesen, dass alleine in Deutschland 15
Millionen Menschen eine behandlungsbedürftige Schwerhörigkeit haben.
Das ist eine große Zahl, die mich zumindest zunächst ratlos zurücklässt.
Was heißt denn "behandlungsbedürftig" im Zusammenhang mit
Schwerhörigkeit bzw. Hörbehinderung?
Lenarz:
Das bedeutet, dass diese Menschen eine Einschränkung ihrer
Hörfähigkeit haben im Hinblick auf das Sprachverstehen. Das heißt, sie
bekommen im Alltag in verschiedenen Situationen nicht mehr alles mit.
Demzufolge müssen sie nachfragen oder sich in irgendeiner Form
anders damit arrangieren. Man kann also sagen, sie können nicht mehr
normal am Alltagsleben teilnehmen.
Maly-Samiralow: Wir sprechen damit von einem Siebtel oder einem Achtel der
Bevölkerung bei uns in Deutschland: Das sind doch relativ viele
Menschen. Sind das vor allem Erwachsene im fortgeschrittenen Alter, d.
h. sprechen wir hier von erworbener Hörschädigung? Oder sprechen wir
hier eher von einer angeborenen Hörschädigung?
Lenarz:
Die Mehrzahl sind Erwachsene, denn mit zunehmendem Alter nimmt die
Zahl der Betroffenen und damit auch der Prozentsatz in der Bevölkerung
zu: Das Gehör nutzt sich sozusagen ab. Aber die Schwerhörigkeit ist
etwas, das es in allen Lebensaltern gibt, also auch bei Kindern, bei
Neugeborenen: aufgrund verschiedener Einflüsse während der Geburt,
aber auch aufgrund genetischer Ursachen, d. h. dass man von Geburt an
schwerhörig ist. Im Lauf des Lebens können selbstverständlich auch
verschiedene Einflüsse hinzukommen, die zu Schwerhörigkeit führen:
Unfälle, Infektionskrankheiten, bestimmte Medikamente usw. Neben dem
Alter wirkt sich vor allem Lärm als Ursache für Schwerhörigkeit aus: Das
ist die Schädigung des Gehörs durch zu laute Schallereignisse.
Maly-Samiralow: Wie hoch würden Sie denn die Lautstärke jetzt gerade in unserer
Kommunikation einschätzen? Bei wie viel Dezibel liegen wir da
ungefähr?
Lenarz:
Das sind ungefähr 60 Dezibel, die Umgangslautstärke.
Maly-Samiralow: Bis zu welcher Dezibelzahl halten Sie ein gutes Verstehen noch für
möglich?
Lenarz:
Sie meinen das vom Hörverlust her?
Maly-Samiralow: Ja.
Lenarz:
Bis zu 30 Dezibel kann man das ganz gut kompensieren.
Maly-Samiralow: Durch Hörgeräte?
Lenarz:
Nein, auch so, ohne Geräte. Wenn wir normal sprechen und Sie hätten
meinetwegen einen geringgradigen Hörverlust, könnten Sie das in
ruhiger Umgebung weitgehend durch aufmerksames Zuhören
ausgleichen. Sie müssen sich dabei zwar mehr anstrengen, aber Sie
bekommen das Gespräch noch mit. In dem Moment, in dem diese ruhige
Situation jedoch nicht mehr gegeben ist, wenn also viele Menschen
durcheinander sprechen oder wenn es ein Umgebungsgeräusch wie
meinetwegen Straßenlärm usw. gibt, würde das bereits nicht mehr
funktionieren. In dieser Situation bräuchte jemand, der einen solchen
Hörverlust hat, bereits eine Verstärkung. Das heißt, ich müsste lauter
sprechen, damit Sie mich noch verstehen können.
Maly-Samiralow: Bleiben wir doch zunächst einmal bei normalen Hörgeräten. Diese
verstärken ja das akustische Signal, das noch wahrgenommen werden
kann – je nachdem, in welchem Frequenzbereich man möglicherweise
Defizite hat. Diese Geräte sind heute so ausgelegt, dass man das wohl
ganz gut einstellen kann.
Lenarz:
Richtig.
Maly-Samiralow: Ab wann empfehlen Sie denn Hörgeräte?
Lenarz:
Wir empfehlen immer dann ein Hörgerät, wenn ein Mensch nicht mehr in
der Lage ist, z. B. Frauenstimmen gut zu hören. Denn Frauenstimmen
sind höherfrequent und die meisten Schwierigkeiten treten eben in den
hohen Frequenzen auf. Die Fähigkeit, hohe Frequenzen zu hören, nimmt
einfach im Laufe des Lebens ab.
Maly-Samiralow: Woher kommt das?
Lenarz:
Weil das Gehör in diesem Bereich empfindlicher ist. Es gibt im Ohr eine
Art Aufteilung der gehörten Töne: Der gesamte Schall muss immer erst
über die Bereiche laufen, in denen die hohen Töne im Ohr sozusagen
repräsentiert sind. Das heißt, diese Bereiche werden definitiv mehr
beansprucht und dadurch kommt es auch zu einer schnelleren
Abnutzung. Wir haben bei der Geburt jedoch eine große Reserve: Wir
können da ganz hohe Töne hören, die wir im Prinzip im Alltag oder auch
für das Musikhören gar nicht brauchen. Diese Fähigkeit nimmt im Laufe
des Lebens dann immer mehr ab, d. h. der Hörverlust verschiebt sich
dann immer mehr in den Bereich, den wir für das Sprachverstehen und
auch für das Musikhören – wenn wir jetzt mal an etwas Schönes denken
– benötigen. Irgendwann macht sich das dann einfach bemerkbar. In
welchem Alter das passiert, ist jedoch unterschiedlich. Es gibt Menschen,
bei denen das relativ früh einsetzt, während dieser Hörverlust bei
anderen noch bis ins hohe Lebensalter nur relativ gering ausgeprägt ist;
es gibt auch 80-Jährige, die hier vergleichsweise geringe Probleme
haben. Die Menschen weisen eine stark unterschiedliche Empfindlichkeit
auf, was die Abnahme des Hörvermögens betrifft.
Maly-Samiralow: Bei anderen Sinneseindrücken ist das ja ähnlich. Wir beide tragen eine
Brille, andere Menschen brauchen selbst im hohen Alter keine. Aber klar
ist, dass in der Regel die Sehfähigkeit mit zunehmendem Alter abnimmt.
Man kann aber auch bereits mit einer Sehschädigung geboren werden.
Lenarz:
So ist es. Hier kommen eben verschiedene Einflüsse zum Tragen: Wie
viel Lärm hat man im Laufe des Lebens abbekommen? Denn die
Lebenslärmbilanz ist sozusagen vorgegeben. Es gibt aber auch
verschiedene Krankheiten, die einen Einfluss auf unser Gehör ausüben:
Stoffwechselstörungen, Bluthochdruck usw. Ein wesentliches Moment
bei all dem ist jedoch die genetische Ausstattung. Es gibt sehr viele
Gene, die mit dem Hören zusammenhängen. Manche dieser
Gendefekte führen ganz drastisch zu einer Taubheit oder zu einem
hochgradigen Hörverlust, der bereits bei der Geburt vorhanden ist oder
sich innerhalb der ersten Lebensjahre bemerkbar macht. Aber auch für
die Resistenz gegenüber Lärm z. B. gibt es eine genetische Grundlage.
Manche Menschen werden daher durch Lärm eher und stärker
geschädigt als andere.
Maly-Samiralow: Lärm per se ist ja auch ein Stressparameter, d. h. das Gehirn muss all
diese akustischen Reize verarbeiten. Wenn man schlechter hört, dann
muss man sich mehr konzentrieren und alle Hintergrundgeräusche lösen
dann sozusagen per definitionem Stress aus, weil man diese nämlich
herausfiltern muss.
Lenarz:
Das ist richtig.
Maly-Samiralow: Wir leben mittlerweile leider Gottes in einer Welt, in der es fast nirgends
mehr ruhig ist. Selbst im stillsten Wäldchen kann es einem passieren,
dass über einem eine Drohne schwebt: Da ist es dann aus mit der Ruhe.
Das ist eine Tendenz, mit der wir zwangsläufig leben müssen. Was
empfehlen Sie denn grundsätzlich den Menschen – nicht nur Patienten,
sondern überhaupt –, wie sie sich vor Lärm schützen können? Ich nenne
hier nur mal das Stichwort "Kopfhörer", die bei der jungen Generation ja
enorm beliebt sind.
Lenarz:
Genauso ist es. Wir brauchen im Prinzip auch Lärmpausen bzw.
Geräuschpausen, wenn ich das mal so sagen darf, damit sich das Ohr
erholen kann und wir unser Sinnessystem schärfen können. Diese
Lärmpausen sind deshalb wichtig, weil dadurch die Sinneszellen die
Chance haben, ihren Stoffwechsel gewissermaßen wieder zu bereinigen.
Maly-Samiralow: Sie brauchen die Pause, um regenerieren zu können?
Lenarz:
Ja, um zu regenerieren. Bei sehr lauten Ereignissen gibt es im Ohr nicht
nur eine mechanische Schädigung in dem Sinne, dass diese
Sinneszellen, dass diese Haarzellen – sie werden so genannt, weil sie so
kleine Härchen haben, die durch die Schallwellen umgebogen werden –
verletzt werden, wodurch dann ein Problem beim Hören eintritt. Der
eigentliche Grund für die Schwerhörigkeit aufgrund sehr lauter Ereignisse
ist jedoch ein anderer: Das Ohr braucht sehr viel Energie für das Hören.
Im Ohr sind Sinneszellen vorhanden, die die eingehenden Schallwellen
sortieren. Manche der eingehenden Schallwellen werden verstärkt und
andere bewusst abgedämpft. Das verbraucht sehr viel Energie: In
Relation zum Gewicht des Ohres sind das diejenigen Zellen des
menschlichen Körpers, die den höchsten Energiebedarf haben. Man
kann sich nun gut vorstellen, dass diese Sinneszellen bei Lärm sehr stark
beansprucht werden: Sie verbrauchen dabei sehr viel Sauerstoff und
kommen dann auch in einen Stoffwechsel, den man anaerob nennt, d. h.
der Sauerstoff alleine reicht nicht mehr als Energiequelle und diese
Sinneszellen müssen daher auf andere, zusätzliche Energiequellen
umschalten. Bei diesen anderen, zusätzlichen Energiequellen entstehen
aber gefährliche Produkte, nämlich sogenannte freie Radikale. Wenn
sich nun diese freien Radikalen im Ohr anhäufen und es keine
Lärmpausen gibt, in denen diese wieder beseitigt werden können, dann
führen die freien Radikalen zu bleibenden Schäden an diesen
Sinneszellen: Deren Membranen werden geschädigt und auf diese
Weise sterben diese Zellen z. T. auch ab oder werden irreversibel in ihrer
Funktion beeinträchtigt.
Maly-Samiralow: Für die Ohren gilt also das, was auch für alle anderen Organe des
menschlichen Körpers gilt: Man sollte sie nicht überbeanspruchen, weil
sonst schlicht und ergreifend ihre Reserven ausgebeutet werden und sie
letztlich Schaden nehmen.
Lenarz:
Richtig, so kann man sich das vorstellen und es ist auch so. Wenn man
in einem Konzert oder in der Diskothek gewesen ist, hat man hinterher
schon mal das Gefühl, dass man alles nur noch so leicht gedämpft hört.
Am nächsten Morgen ist dieses Gefühl dann jedoch schon wieder weg.
Diese Erfahrung haben sicherlich schon sehr viele Menschen gemacht.
Wenn die Lärmpause aber nicht ausreichend lange andauert, dann
summiert sich das sozusagen auf und man bekommt einen dauerhaften
Lärmschaden, der nicht mehr verschwindet.
Maly-Samiralow: Haben Sie denn in den vielen Jahren und Jahrzehnten, in denen Sie als
HNO-Arzt tätig sind, die Erfahrung gemacht, dass die Menschen, die
eine Hörschädigung haben, immer jünger werden? Denn seit beinahe 40
Jahren gibt es da ja ein bestimmtes Phänomen: Angefangen hat es
damals mit dem Walkman und heute gibt es auf diesem Gebiet ganz
neue Techniken, aber das Resultat ist, dass sich heutzutage die jungen
Leute in der Öffentlichkeit mehrheitlich mit Stöpseln im Ohr bewegen.
Lenarz:
Ja, es gibt so etwas wie eine Verlagerung des Alters nach vorne, in dem
Hörschäden eintreten: Das heißt, die Menschen, bei denen Probleme mit
dem Gehör einsetzen, werden jünger. Das hat sicherlich mit dem
zivilisatorischen Lärm zu tun. Aber das muss man natürlich auch
differenziert betrachten, denn es gibt ja auch Lärmarbeiter, Personen
also, die in ihrem Beruf ganz einfach Lärm ausgesetzt sind. In früheren
Jahren war diese berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit stärker
ausgeprägt, und zwar schlicht deswegen, weil die Schutzmaßnahmen
sehr viel schwächer waren. Es gab darüber hinaus auch viel mehr Berufe
mit einer sehr starken Lärmexposition. Denken Sie an die Männer, die in
den Bergwerken gearbeitet haben oder an Kesselschmiede …
Maly-Samiralow: … beim Straßenbau …
Lenarz:
Genau, diese Berufe waren mit sehr großem Lärm verbunden. Aber
durch das konsequente Einführen von Lärmschutzmaßnahmen …
Maly-Samiralow: … Lehrer fallen mir da noch an.
Lenarz:
Ja, auch die, ebenso die Orchestermusiker, denn bei denen ist es
natürlich ganz schwierig, eine Prophylaxe zu machen.
Maly-Samiralow: Der Mann neben der Pauke!
Lenarz:
Ja, das ist ganz schwierig. Das sind jedenfalls alles Berufe, in denen klar
ist, dass eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit auftritt bzw. auftreten
kann. Dies muss man aber unterscheiden vom Zivilisationslärm, dem wir
uns zunehmend aussetzen. Wir haben ja um uns herum einen
permanenten Lärmteppich, wie Sie bereits erwähnt haben. Das summiert
sich auf und es gibt, wie wir das nennen, eine Lebenslärmbilanz: Das
heißt, man hat einen bestimmten Vorrat, und in der Zeit kann man Lärm
gut ab, ohne dass etwas passiert. Aber wenn dieser Vorrat aufgebraucht
ist, setzt eben diese Lärmschwerhörigkeit ein. Um auf Ihre Frage
zurückzukommen: Ja, es ist so, dass das heute früher der Fall ist. Das
Alter, in dem heute Schwerhörigkeit auftritt, ist also im Vergleich zu früher
nach vorne verlagert.
Maly-Samiralow: Wir sprechen ja jetzt vom Ohr als solchem, das à la longue geschädigt
werden kann. Aber das Gehirn braucht ja auch immer wieder
Ruhepausen: Nach einem Input muss immer wieder eine Ruhepause
einsetzen, damit die Informationen verarbeitet werden können und das
Gehirn regenerieren kann, oder? Das sind sozusagen zwei Baustellen:
nicht nur das Gehör, sondern auch die Hirnleistung.
Lenarz:
Das ist richtig. Das Gehörte ist ja sozusagen ein Informationsfluss, der
verarbeitet werden muss im Gehirn. Es ist so, dass das Hören im Gehirn
eine sehr große Bedeutung hat: Praktisch alle Hirnanteile sind mit dem
Ohr verbunden. Das zeigt eben auch, welche Bedeutung das Hören für
die menschliche Kommunikation, für die Emotionen, aber auch für die
Anregungen der Hirnfunktion insgesamt hat. Aus diesem Grund braucht
das Gehirn eben auch diesbezüglich seine Pausen, um das Gehörte
verarbeiten zu können. Umgekehrt heißt das aber auch: Wenn man
schlecht hört, leidet auch die allgemeine Hirnaktivität darunter. Das heißt,
hier gibt es einen wichtigen Zusammenhang. Bei Kindern, die mit einer
Schwerhörigkeit geboren werden, geht es hier natürlich um die
Sprachentwickelung. Wenn ein Kind taub ist, dann findet die
Sprachentwicklung zunächst einmal nicht so statt, wie man sie
normalerweise kennt. Deswegen muss man versuchen, möglichst früh
das Hören sozusagen herzustellen, damit diese stattfinden kann. Bei
Erwachsenen ist es so, dass wir mittlerweile doch sehr viele Belege dafür
haben, dass Schwerhörigkeit mit Demenz verbunden sein kann.
Maly-Samiralow: Ist es so?
Lenarz:
Ja, das ist so. Das heißt, der Zeitpunkt, an dem sich eine Demenz
bemerkbar macht, liegt bei schwerhörigen Personen deutlich früher als
bei Personen, die ein ausreichendes Hörvermögen haben. Andersherum
heißt das aber auch: Wenn man die Schwerhörigkeit therapiert, kann
man dadurch zumindest einen positiven Einfluss auf diese
Demenzentwicklung nehmen.
Maly-Samiralow: Heißt das, dass bestimmte Areale im Gehirn einfach nicht mehr
angesteuert werden und dementsprechend atrophieren, wenn man
schwerhörig ist? Wie muss man sich das vorstellen?
Lenarz:
Es ist wohl so, dass ein bestimmtes Aktivitätsniveau durch den Input, also
durch das, was reinkommt …
Maly-Samiralow: Sie meinen den akustischen Input?
Lenarz:
Ja, durch den akustischen Input wird immer ein bestimmtes
Aktivitätsniveau angeregt. Diese Aktivitätsanregung läuft in unserem
Gehirn ganz automatisch ab. Diejenigen, die normal hören, machen sich
dazu überhaupt keine Gedanken – und müssen sich darüber auch keine
machen. Aber das ist eben etwas, das dann nicht mehr so
selbstverständlich ist, wenn eben nicht mehr alles gehört wird oder wenn,
was sehr häufig der Fall ist, jemand, der schwerhörig ist, sich aus
bestimmten Situationen zurückzieht, weil er das rein akustisch nicht mehr
verstehen kann.
Maly-Samiralow: Das heißt, so jemand begibt sich in die Isolation.
Lenarz:
Genau.
Maly-Samiralow: So jemand begibt sich also letztlich auch in die soziale Isolation.
Lenarz:
Ja, und so jemand verringert dann auch noch durch das eigene
Verhalten diesen Input zusätzlich. Dies hat dann eine Folge von Effekten,
die letzten Endes wahrscheinlich auch zu einer früheren Entwicklung von
Demenz führen können.
Maly-Samiralow: Kommen wir kurz zu Ihrer Person: Sie haben in Erlangen, Tübingen und
Heidelberg Medizin studiert und waren während des Studiums auch
kurze Zeit in London. Mit 36 Jahren wurden Sie als einer der jüngsten
Professoren für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an die Universität in
Hannover berufen. Sie haben dort, aufbauend auf die Arbeit Ihres
Vorgängers, das "Cochlear Implant Centrum" auf- und ausgebaut. Heute
ist das eines der größten Zentren dieser Art auf der Welt. Ist es das
Größte überhaupt?
Lenarz:
Wir sagen immer, wir sind das weltgrößte Zentrum dafür – aber gut, wir
wissen nicht so genau, was China macht auf diesem Gebiet.
Maly-Samiralow: Sind wir also ein bisschen bescheiden und sagen, dass es eines der
weltweit größten Zentren auf diesem Gebiet ist. Wie kam es dazu, woher
kam bei Ihnen das Interesse dafür und welcher Art waren die
Vorarbeiten?
Lenarz:
Ich hatte schon seit Längerem ein Interesse am Hörbereich. Angefangen
habe ich mit HNO 1981, habe mich aber schon während des Studiums
mit der Physiologie des Hörens beschäftigt. In Erlangen gab es damals
schon einen Schwerpunkt für Hörforschung. Ich habe dann auch meine
Promotion in diesem Bereich gemacht. Es war so, dass für mich meine
Station in Tübingen entscheidend gewesen ist; dort gibt es ja bis heute
ebenfalls einen Schwerpunkt für Hörforschung. Ich konnte dort meine
Erkenntnisse systematisch vom Labor zum Patienten übertragen. Ich war
dann einer der Wenigen, der sich schon sehr früh mit dem CochleaImplantat beschäftigt hat, und zwar nicht nur im Hinblick auf die
Grundlagen, sondern eben auch im Hinblick auf die Klinik. Ich war dann
noch zwei Jahre in San Franzisco in einem Forschungslabor, das sich
nur mit Hören beschäftigt. Dort habe ich einige experimentelle
Grundlagen für Cochlea-Implantate mit erforschen können. All das
zusammengenommen hat dann dazu geführt, dass ich letztlich für diese
Position in Hannover qualifiziert war. Mein Vorgänger hatte dort ein
Cochlear-Implant-Program aufgebaut, denn er hatte sehr früh erkannt,
dass es eben darum geht, für die Patienten, die gar nichts hören,
entsprechende Strukturen zu schaffen. Man muss sie vorher
untersuchen, um herauszufinden, ob sie geeignet sind. Denn es geht ja
darum, dass diese Cochlea-Implantate das Hören nicht komplett wieder
herstellen, sondern sie müssen auf den einzelnen Patienten eingestellt
werden; man muss mit den Patienten das Hören üben usw. Er hat
daraus also ein Programm gemacht: zunächst nur für Erwachsene, dann
aber auch für Kinder. Das war sozusagen die Basis, auf der das dann
weiter ausgebaut werden konnte. Dieses Programm war damals bereits
führend in Deutschland und auch in Europa, d. h. das war eine
Ausgangssituation, die natürlich sehr gut ist, wenn man etwas aufbauen
kann und will, das ein Gebiet praktisch komplett verändert.
Maly-Samiralow: Wir sprechen ja jetzt bereits vom Cochlea-Implantat, aber die meisten
unserer Zuschauer werden wahrscheinlich gar nicht wissen, was das
überhaupt ist. Die Cochlea ist die Hörschnecke, die durch dieses
Implantat quasi imitiert wird.
Lenarz:
Richtig.
Maly-Samiralow: Sie haben uns ja ein bisschen was mitgebracht. Könnten Sie mir an
diesem Modell vielleicht zeigen und erklären, wie gesundes Hören im
Normalfall funktioniert, was gestört ist im Fall einer Schwerhörigkeit –
wobei natürlich klar ist, dass das unterschiedliche Gründe sind – und wo
dann so ein Implantat platziert wird?
Lenarz:
Dann will ich mal versuchen, das an diesem Modell eines Ohres
darzustellen (erläutert das Folgende mithilfe eines Querschnittmodells
des Ohrs). Das, was wir außen als Ohr sehen, ist ja nur die Ohrmuschel
und der Eingang in den Gehörgang: Das ist der Schalltrichter, der den
Schall aufnimmt. Der Schall wird im Gehörgang weitergeleitet, bis er hier
zum Trommelfell kommt. Das Trommelfell ist einfach nur eine
schwingende Membran. Die Schwingungen werden über kleine
Knöchelchen, nämlich über die Gehörknöchelchen, in das Innenohr, die
Hörschnecke weitergeleitet.
Maly-Samiralow: Die Hörschnecke heißt Cochlea.
Lenarz:
Genau. Hier daneben gibt es noch das Gleichgewichtsorgan, das an
dem Ganzen mit dranhängt, aber das wollen wir momentan nicht weiter
betrachten. Es ist so, dass dann in diesem Innenohr der eingehende
Schall letztlich in Nerveninformationen umgesetzt wird. Das Innenohr ist
also, wenn man so will, ein Mikrofon: Es nimmt Schall auf und macht
daraus Strom. Dieser Strom wird dann über den Hörnerv zum Gehirn
geleitet.
Maly-Samiralow: Welche Rolle spielen dabei die Haarzellen?
Lenarz:
Die Haarzellen sind im Prinzip diese sogenannten
Mechanotransduktoren, d. h. diese Sinneszellen sind in der Lage, die
Schallwellen aufzunehmen, denn sie haben so kleine Härchen,
weswegen sie, wie gesagt, als Haarzellen bezeichnet werden. Diese
Härchen werden durch die Schallwellen bewegt und das löst wiederum in
diesen Sinneszellen elektrische Ströme aus. Man muss sich das
ungefähr so vorstellen: Diese Sinneszellen schwimmen in einer elektrisch
geladenen Salzlösung und wenn sich die Härchen in eine Richtung
bewegen, dann wandern Ladungsträger, sogenannte Ionen, in die Zelle
ein. Dies führt zur Erzeugung einer Spannung, die wiederum die
Hörnervenfasern stimuliert. Dieser Hörnerv ist so etwas wie ein Kabel,
das einfach die Information zum Gehirn weitergibt. Im Gehirn befinden
sich verschiedene Analysestationen, die letzten Endes bis zum
bewussten Hören führen.
Maly-Samiralow: Die Interpretation findet dann im Gehirn statt.
Lenarz:
Genau. Sie müssen sich das so vorstellen: Das sind
Hochleistungsrechner, die eine Mustererkennung durchführen und einen
Abgleich mit dem vornehmen, was in unserem großen Hörspeicher
vorhanden ist. Auf diese Weise können wir z. B. erkennen, was
gesprochen wurde, oder wir können Musik wiedererkennen usw. Wenn
Sie so wollen, ist das Ohr also ein biologisches Mikrofon. Der Apparat
davor, also alles von der Ohrmuschel bis zum Trommelfell, dient einfach
nur dazu, dem Innenohr den Schall möglichst optimal zuzuleiten. Sie
haben ja vorhin die Zahl genannt: Es gibt in Deutschland etwa zwölf
Millionen Menschen, die eine Innenohrschwerhörigkeit haben. Diese
Sinneszellen sind nämlich sehr empfindlich, d. h. sie können durch die
vorhin genannten Ursachen geschädigt werden.
Maly-Samiralow: Auch durch Virusinfektionen, Unfälle usw.
Lenarz:
Genau. Vor dem Innenohr gibt es natürlich auch Schwerhörigkeiten. Das
sind Schwerhörigkeiten, die mit dem Mittelohr zu tun haben und weniger
mit dem Gehörgang. Das Mittelohr ist anfällig gegenüber Entzündungen:
Das fängt bei Kindern ja schon an, das gibt es aber auch bei
Erwachsenen. Durch Entzündungen kann es zur Zerstörung des
Trommelfells oder der Gehörknöchelchen kommen. Das führt dann
dazu, dass der Schall nicht mehr so laut wahrgenommen wird: Er wird
dem Innenohr weniger intensiv zugeleitet. Aber man ist dadurch nicht
taub, man besitzt dann immer noch eine Hörfähigkeit, wenn auch eine
verminderte.
Maly-Samiralow: Und würde nun ein Hörgerät als verstärkendes Element Sinn machen?
Lenarz:
Ja, man kann den eintretenden Schall durch ein Hörgerät schlicht lauter
machen. Dadurch würde man diese Blockade in der Schallleitung
überwinden. Oder man kann durch Operationen das Trommelfell
reparieren oder die Gehörknöchelchen ersetzen. Im Innenohr ist das
anders. Die Sinneszellen des Innenohrs wachsen, wenn sie geschädigt
sind, nicht mehr nach. Das heißt, da gibt es keine Regeneration. Wir
Menschen haben bei der Geburt diesbezüglich eine Einmal-Ausstattung,
die ein ganzes Leben lang reichen muss. Das sind pro Ohr jedoch nur
ungefähr 30000 Zellen, das ist nicht so viel.
Maly-Samiralow: Das sind diese Haarzellen?
Lenarz:
Genau. Diese Haarzellen müssen daher geschont werden, wenn man
das so sagen darf, denn sie wachsen nicht nach. Wenn die Sinneszellen
nur zum Teil geschädigt sind, dann kann man z. B. ebenfalls durch ein
Hörgerät nachhelfen. Wenn die hohen Frequenzen schlechter gehört
werden, kann man diese durch ein Hörgerät entsprechend anheben in
der Lautstärke und dadurch wieder hörbar machen. Wenn jedoch das
Ausmaß der Schädigung sehr groß ist, weil nur noch wenige
Sinneszellen übrig sind oder weil jemand zwar noch etwas hört, das
Gehörte aber nicht mehr versteht, dann ist die Grenze einer
mechanischen, einer akustischen Verstärkung erreicht. Denn das, was
das Innenohr macht, ist ja nicht nur, dass der dort ankommende Schall
einfach nur so in Nerveninformationen übersetzt wird. Stattdessen ist das
Innenohr ein Frequenzanalysator, d. h. die einzelnen Tonhöhen werden
im Ohr an verschiedenen Stellen so verstärkt, dass dann die dort
zugehörigen Nervenfasern – man muss sich das so vorstellen, dass an
jeder Sinneszelle quasi ein Kabel dranhängt – genau angesteuert
werden: Für jede Frequenz gibt es genau einen Ort im Innenohr, der
dafür sozusagen optimal ausgestattet ist. Wenn in diesen Sinneszellen
beispielsweise Lücken sind, dann würde man eben bestimmte Tonhöhen
nicht mehr hören: Sie fehlen dann einfach. Wenn ein Schallmuster
jedoch lückenhaft ist, dann klingt das nicht mehr gut und ist vor allem
auch nur mehr schwer zu erkennen. Ich habe hier noch etwas
mitgebracht, um zu zeigen, wie groß bzw. wie klein das Ganze eigentlich
ist. Das, was hier eingegossen ist, sind zwei echte menschliche
Innenohren.
Maly-Samiralow: Bei der Geburt sind wir damit bereits in deren endgültiger Größe
ausgestattet, d. h. die Innenohren wachsen nicht mehr.
Lenarz:
Genau. Das Interessante ist, dass das Innenohr praktisch schon vor der
Geburt seine endgültige Größe hat. Wir hören bereits vor der Geburt im
Mutterleib, so etwa ab der 25. Woche. Das Innenohr ist also bei der
Geburt praktisch schon voll ausgewachsen, voll funktionstüchtig. Das hat
sicherlich den Grund, dass das Gehör möglichst frühzeitig den Kontakt
zur Außenwelt herstellen soll, und zwar noch früher als das Auge.
Maly-Samiralow: So viel gibt es im Mutterleib ja auch nicht zu sehen, d. h. da würde ein
gutes Auge keinen Sinn machen.
Lenarz:
Stimmt, da ist alles dunkel. Aber hören kann man bereits einiges. Ich
habe diese echten Innenohren mitgebracht, damit man mal die
Dimensionen sieht, in denen sich das Ganze abspielt. Die
Empfindlichkeit der Sinneszellen ist extrem. Man muss sich vorstellen,
dass sich in einer Flüssigkeit Moleküle bewegen – die kleinsten
chemischen Einheiten sind Moleküle –, und dass dieses
Molekülrauschen gerade nicht gehört wird: Die Auslenkung dieser
Sinneshärchen an den Sinneszellen muss nur 10 hoch minus acht Meter
betragen – das ist der Durchmesser eines Wasserstoffatoms, d. h. das ist
etwas unglaublich Kleines, mit dem wir alle eigentlich nichts anfangen
können –, um wahrgenommen zu werden. Auf der anderen Seite kann
aber unser Ohr einen millionenfach höheren Schallpegel ebenfalls sofort
wahrnehmen, ohne dass da eine lange Zeit der Wahrnehmung und
"Berechnung" vergehen müsste: Der Schall kann sozusagen ohne
Zeitverzug wahrgenommen werden. Und wir können mit diesem
Innenohr sehr gut und sehr schnell sich ändernde Schallsignale
analysieren. Das ist die Grundlage für Spracherkennen, denn Sprache ist
ja nicht ein konstanter Ton, sondern es wechseln sich ständig
verschiedenste Töne, Lautstärken usw. ab. Und diese Analyse
beherrscht unser Ohr eben sehr gut: Es ist ein, wie man wohl sagen
kann, sehr schnelles Sinnesorgan.
Maly-Samiralow: Sie haben uns ja ein paar Cochlea-Implantate mitgebracht. Können Sie
mir am Beispiel von einem dieser Implantate erklären, wo es angebracht
wird und welche Funktionen des geschädigten Ohrs es übernimmt?
Lenarz:
Wenn die Sinneszellen nicht mehr funktionieren, dann kann man die
Funktion der Sinneszellen, nämlich die Umwandlung von Schall in
elektrische Impulse, durch ein elektrisches Reizsystem ersetzen. Hier
habe ich in meiner Hand so eine Elektrode – ich hoffe, die Kamera kann
das gut erkennen –, die wie eine ganz kleine Spirale aussieht. Sehen Sie,
hier am Ende dieses Silikonteils, dieses längeren, dünnen "Schlauchs"
befindet sich diese Spirale. Das, was Sie hier sehen, ist die
Originalgröße, d. h. diese Spirale ist sehr klein. Diese Elektrode wird dann
in das Innenohr – so ein Innenohr in Originalgröße habe ich Ihnen ja
ebenfalls schon gezeigt – eingeführt. Diese Elektrode hat eine bestimmte
Zahl von Reizkontakten, die an verschiedenen Stellen im Innenohr liegen
und damit eben auch verschiedene Nervenfasern erregen können. Man
baut sozusagen das nach, was das Ohr normalerweise macht: dass
nämlich die einzelnen Töne sozusagen an verschiedene Stellen geleitet
werden. Auf diese Weise kann daher der Patient, der so ein CochleaImplantat hat, wieder verschiedene Tonhöhen unterscheiden: Die tiefen
Töne gehen mehr an die Spitze der Schnecke, die hohen Töne sind
mehr am Anfangsteil der Schnecke, und dazwischen liegen die anderen
Töne.
Maly-Samiralow: Das, was so aussieht wie eine Spirale, wird also während einer
Operation ins Innenohr eingesetzt, also implantiert.
Lenarz:
Genau, diese Elektrode wird eingesetzt. Letztlich ist so ein CochleaImplantat so etwas wie ein Mikrocomputer, der mit der Außenwelt über
einen Magneten und eine Empfangsspule verbunden ist.
Maly-Samiralow: Und das alles befindet sich dann unterhalb der Schädeldecke.
Lenarz:
Genau, der Patient trägt dieses Gerät dann hinter dem Ohr unter der
Haut. Über diese Silikonleitung wird es mit dem Innenohr verbunden, in
das diese Spirale eingesetzt wird.
Maly-Samiralow: Intern?
Lenarz:
Ja, intern, das ist der innere Teil, das eigentliche Implantat. Außen trägt
der Patient fast so etwas wie ein Hörgerät.
Maly-Samiralow: Das sieht auch so aus.
Lenarz:
Ja, es hat hier außen noch eine Spule dran und diese Spule ist
sozusagen die Sendespule, die die elektrischen Impulse von diesem Teil
hier außen durch die Haut auf das Implantat überträgt. Und im Implantat
selbst werden diese elektrischen Impulse dann sortiert und auf die
entsprechenden richtigen Elektrodenkontakte übertragen. Das geschieht
in einer sehr hohen Geschwindigkeit: Bis zu 90000 Impulse pro Sekunde
werden erzeugt und auf die verschiedenen "Kontakte" im Innenohr
verteilt.
Maly-Samiralow: Ist das batteriebetrieben?
Lenarz:
Ja, das ist batteriebetrieben: In diesem Außenteil ist ein Akku oder eine
Batterie, die der Patient selbst austauschen kann. Hier bei diesem
Cochlea-Implantat gibt es noch ein Mikrofonteil usw., d. h. da gibt es
ganz verschiedene Bauarten. Letztlich wird das Außenteil wie ein
Hörgerät an das Ohr angebracht.
Maly-Samiralow: Kann man das abends abnehmen? Denn ich stelle es mir eher
ungemütlich vor, wenn ich abends ins Bett gehe und immer noch diese
Kapsel am Ohr habe. Die Brille nehme ich ja auch ab.
Lenarz:
Das nimmt man einfach ab. Man hört dann aber nichts mehr. Natürlich
geht die Entwicklung dahin, dass man das alles voll implantierbar
machen möchte, dass man also auch den Akku, den man wieder
aufladen kann, und auch das Mikrofon unter die Haut setzt.
Maly-Samiralow: Es ist aber so, Sie haben das schon angedeutet, dass ein Mensch mit
einem Cochlea-Implantat – weil seine Sinneszellen zerstört sind – nicht
so hört, wie ein gesund hörender Mensch bzw. wie er vorher gehört hat,
falls er vorher normal hören konnte. Inwiefern unterscheidet sich denn
das Hören mit Cochlea-Implantat vom "normalen" Hören?
Lenarz:
Die Patienten, die vorher schon mal gehört haben, geben an, dass das
technisch klingen würde: Es fehle so ein wenig die Melodie, es fehlt das,
was eine Stimme meinetwegen weich macht, sondern das klingt eher
blechern.
Maly-Samiralow:. Liegt das daran, dass eben nicht alle diese fein austarierten
Frequenzbereiche, die zum melodiösen Hören gehören, empfangen
bzw. interpretiert werden können?
Lenarz:
Das stimmt. Wir müssen nämlich zuerst einmal zur Kenntnis nehmen,
dass wir nicht in der Lage sind, viele Tausend Sinneszellen ersetzen zu
können. Dazu ist die Technik heute jedenfalls noch nicht in der Lage.
Stattdessen können wir maximal 22 getrennte Elektrodenkontakte
realisieren. Das hat etwas mit der Größe zu tun, die wir im Ohr haben,
das hat auch etwas mit …
Maly-Samiralow: Das liegt also sozusagen am Platz, den man hat?
Lenarz:
Es ist vor allem so, dass die Nervenfasern sich nicht direkt mit dem Metall
verbinden, sondern dazwischen ist eine kleine Distanz. Diese kleine
Distanz führt leider dazu, dass sich dieser Strom, wenn er von der
Elektrode abgegeben wird, etwas ausbreitet, d. h. er breitet sich
fächerförmig aus. Statt nur einer Nervenfaser werden auch benachbarte
Nervenfasern etwas miterregt. Dadurch kommt es zu so einer Art
"übersprechen": Das begrenzt dann natürlich die Zahl der getrennten
Informationskanäle. Das Ziel der Forschung besteht daher darin, dass wir
dafür sorgen wollen, dass sich diese Nervenfasern nach Möglichkeit
direkt mit den Elektrodenkontakten verbinden. Dann würde es auch Sinn
machen, 100 oder 200 Kontakte zu bauen – denn mikrotechnologisch
wäre das ja bereits möglich. Momentan wird das nämlich nicht gemacht
aufgrund der noch nicht möglichen Direktverbindung mit den Nerven.
Maly-Samiralow: Das ist ja eine Operation am Kopf, am Schädel, d. h. da wird gefräst und
gebohrt: Das klingt alles sehr martialisch – zunächst einmal. Bei Kindern
wird dabei auch die Hirnhaut freigelegt?
Lenarz:
Man macht ein Knochenbett, damit das Ganze nicht verrutscht.
Maly-Samiralow: Wie riskant ist denn ein solcher Eingriff? Die FDA führt ja eine ganze
Liste von Risiken und Nebenwirkungen auf. Aber es ist natürlich so, dass
jeder operative Eingriff per se mit Risiken behaftet ist. Wie informieren Sie
die Patienten, die zu Ihnen kommen? Denn diese Informationen gehören
ja mit dazu. Denn letztlich ist das ja eine wichtige Entscheidung, die man
da treffen muss.
Lenarz:
Ja, absolut. Es ist so, dass die Erfahrungen, die wir auf diesem Gebiet
seit einigen Jahrzehnten gemacht haben, dazu geführt haben …
Maly-Samiralow: Sind das 40 Jahre Erfahrung?
Lenarz:
Maximal, ich würde sagen, dass wir gut 30 Jahre intensive Erfahrungen
auf diesem Gebiet gesammelt haben. Das hat dazu geführt, dass man
das Operationsverfahren standardisiert hat, dass man die Risiken alle
kennt, dass man weiß, was wirklich wichtig ist bei so einer Operation.
Diese Operation ist jedenfalls wie eine Ohroperation, d. h. wir machen
keine Hirnoperation oder Kopfoperation im Sinne eines
neurochirurgischen Eingriffs, sondern das ist eine Ohroperation, bei der
wir unter dem Mikroskop arbeiten und dieses Teil einsetzen. Die Risiken
selbst sind dabei sehr gering. "Gering" heißt, dass wir heute genau
wissen, wie häufig z. B. eine Infektion vorkommt, wie häufig es zu einer
Schädigung des Gesichtsnervs kommt usw. Diese Risiken sind also sehr
gering, zum Glück, wie man sagen muss.
Maly-Samiralow: Aber solche Dinge kommen vor?
Lenarz:
Es gibt viele Hilfsmittel, die man miteinsetzt.
Maly-Samiralow: Aber es kommt vor?
Lenarz:
Ja, so etwas kann vorkommen, das muss man einfach sagen, denn es
wäre völlig unrealistisch, wenn wir das verneinen würden. Aber man hat
das eben auch so standardisiert, dass man das selbst bei Kindern
machen kann, bei Kindern, die erst einige Monate alt sind, bei denen
man entdeckt hat, dass sie taub sind. Bei solchen Kindern kommt es
natürlich darauf an, dass man ihnen so früh wie möglich das Hören
ermöglicht, damit sich ihr Sprachvermögen entwickeln kann.
Maly-Samiralow: Es gibt ja immer wieder mal Rückrufaktionen unterschiedlichster
Hersteller aufgrund von technischen Problemen. Das bedeutet ja, wenn
so ein Implantat bereits eingesetzt worden ist, muss es wieder
herausgenommen und durch ein anderes ersetzt werden. Ich habe das
mal näher angeschaut, denn die Schweizer haben das relativ gut
dokumentiert, denn sie haben dort …
Lenarz:
Ja, die Schweizer haben dafür ein nationales Register.
Maly-Samiralow: Wenn ich die Zahlen richtig interpretiert habe, waren es in der gesamten
Zeit etwas unter zehn Prozent defekte Cochlea-Implantate.
Lenarz:
Das war bei einzelnen Implantaten so. Wir haben als Einzelklinik
ungefähr 10000 Implantate, die wir überblicken …
Maly-Samiralow: Das heißt, so viele wurden an Ihrer Klinik bis heute implantiert?
Lenarz:
Richtig. Wir können das also für die verschiedenen Generationen von
Cochlea-Implantaten genau angeben.
Maly-Samiralow: Wie hoch ist diese Rate bei Ihnen?
Lenarz:
Über die gesamte Zeit beträgt die technische Ausfallrate vier Prozent. Sie
ist immer geringer geworden, weil man die Implantate eben immer
besser gemacht hat. Trotzdem ist es immer so, dass bei jeder
Generation von neuen Implantaten zuerst einmal die Frage lautet: Halten
diese Geräte? Die Ausfallrate heutzutage bei den Geräten mit neuester
Technologie beträgt nur noch ungefähr ein Prozent – bezogen auf einen
bestimmten Beobachtungszeitraum. Man nennt das kumulative
Fehlerrate, denn im Lauf der Zeit wird diese Fehlerrate natürlich etwas
ansteigen. Aber für Cochlea-Implantate ist diese Fehlerrate, verglichen
mit anderen medizinischen Implantaten, wirklich gering. Hüftprothesen
haben eine höhere Fehlerrate, aber die sind natürlich auch mechanisch
bewegt: Das ist der eigentliche Grund …
Maly-Samiralow: Da weiß man von vornherein, dass sie nicht lebenslang halten werden.
Lenarz:
Genau. Auch bei Zahnimplantaten ist diese Rate deutlich höher. Das liegt
eben daran, dass das Cochlea-Implantat, wenn es einmal eingewachsen
ist, wirklich geschützt ist. Da gibt es dann auch keine Gefahr mehr durch
Infektionen, weil das einfach überwachsen ist mit Bindegewebe oder mit
Schleimhaut. Eine Mittelohrinfektion z. B. kann sich dann nicht mehr auf
das Implantat ausbreiten. Insofern hat man da an sich eine
vergleichsweise günstige biologische Grundsituation.
Maly-Samiralow: Ich würde jetzt gerne noch einmal auf die Kinder zu sprechen kommen.
Sie haben es ja bereits angedeutet, dass bei Kindern z. T. schon im
ersten Lebensjahr ein solches Implantat eingesetzt wird. Dass bereits so
kleine Kinder operiert werden, wird ja auch durchaus kontrovers
diskutiert. Zum einen spricht dafür, Sie haben es gerade schon gesagt,
dass man in möglichst jungen Jahren, wenn die Plastizität des Gehirns
noch gegeben ist, sicherstellen möchte, dass diese Reizverarbeitung
stattfindet, damit diesen Kindern der Spracherwerb ermöglicht wird, weil
deren Gehirn bei der Reizverarbeitung quasi eine entsprechende
Symbolik entwickeln kann. Die Kritik kommt aus der Richtung, dass
Kinder mit einem Cochlea-Implantat nicht zwangsläufig richtig sprechen
lernen. Wobei natürlich die Frage ist, was "richtig sprechen lernen" heißt.
Sie kennen ja sicherlich die Arbeiten von Frau Professor Szagun, die
zumindest in einer Studie bei ungefähr der Hälfte der Kinder, die sie
beobachtet hat, zum Ergebnis kommt, dass sie sich sehr gut artikulieren
können, dass sie also über eine gute Sprechfähigkeit verfügen, während
bei anderen Kindern das immer noch sehr verzögert war. Ich habe das
so verstanden, dass es offenkundig keine Erklärung dafür gibt, warum
das bei manchen Kindern gut funktioniert und bei anderen weniger gut.
Lenarz:
Man muss natürlich auch sagen, dass die Daten, die Frau Szagun
erhoben hat, bereits einige Jahre alt sind. Damals sind auch noch Kinder
implantiert worden, die bereits älter waren. Man weiß, der eigentliche
Einflussfaktor bei einer angeborenen Taubheit ist tatsächlich der
Zeitpunkt der Implantation. Wir haben für die Entwicklung ein Zeitfenster,
eine kritische Periode: Diese kritische Periode liegt in den ersten vier
Lebensjahren – eher sogar in den ersten beiden Lebensjahren. Je früher
ein Kind zum Hören gebracht wird, desto vollständiger ist der
Spracherwerb, und das auch in Situationen, die schwieriger sind, weil es
z. B. Störgeräusche usw. gibt. Man setzt also bei diesen kleinen Kindern
in beide Ohren ein solches Cochlea-Implantat, damit man das beidohrige
Hören ausnutzt – so wie wir von Natur aus Hörende das ja auch tun.
Damit kann man bei einem sehr hohen Prozentsatz der Kinder – er liegt
bei weit über 90 Prozent – eine Sprachentwicklung erreichen.
Maly-Samiralow: Was heißt "Sprachentwicklung" in diesem Fall genau?
Lenarz:
Wie gut das funktioniert, ist natürlich eine wichtige Frage. Wenn ein Kind
in Bayern aufwächst, dann wird es einen bayerischen Dialekt annehmen,
wenn beide Eltern zu Hause Bayrisch sprechen. Das zeigt ja gerade, wie
differenziert das Signal aufgenommen und umgesetzt wird – obwohl das
Implantat das Gehörte ja nicht vollständig wiedergibt.
Maly-Samiralow: Das ist aber der springende Punkt, auf den ich ganz gerne noch einmal
hinaus wollte. Wenn wir hier im Studio miteinander sprechen, dann
nennen wir das quasi ein normales Sprechen. Wenn Eltern zu Ihnen in
die Beratung kommen, klären Sie diese dann auch dahingehend auf,
dass Sie nicht garantieren können, dass das Kind ein vollständig
normales Sprechen erwerben, erlernen wird?
Lenarz:
Was man auf jeden Fall ermitteln muss, ist, ob ein Kind
Zusatzbehinderungen hat.
Maly-Samiralow: Gehen wir mal nicht von einer Zusatzbehinderung aus. Wie ist das
grundsätzlich?
Lenarz:
Wenn ein Kind keine Zusatzbehinderung hat, dann ist die
Wahrscheinlichkeit, dass bei einer frühen Implantation das Kind Sprache
erwirbt, extrem hoch. Warum? Weil ein Kind einen natürlichen
Sprachantrieb hat. Wenn das Kind also einer entsprechenden
akustischen Umgebung ausgesetzt ist, dann funktioniert das Meiste zwar
auch nicht ganz von alleine – so weit würde ich nicht gehen –, aber der
Spracherwerb ist doch sehr viel leichter als dann, wenn das Kind bereits
vier Jahre alt ist bei der Implantation. Denn bis zum vierten Lebensjahr ist
nun einmal auch im Gehirn bereits sehr viel passiert, was nicht auf dem
Hören basiert. Das ist an sich das eigentliche Problem. Natürlich muss
man ganz klar sagen, was trotz einer Implantation immer vorhanden sein
wird: Das Kind wird durch so ein Implantat ja nicht komplett normal
hörend, sondern es ist weiterhin hörgeschädigt, es hat also eine
Schwerhörigkeit. Die höhere Anstrengung, die so ein Kind aufbringen
muss, also die kognitive Last, wie man das nennt, durch das Hören, ist
bei ihm daher höher als bei einem normal hörenden Kind. Deswegen
macht es natürlich auch Sinn, diesen Kindern zusätzliche Hilfen zu
geben.
Maly-Samiralow: Das ist aber genau der springende Punkt. Ich habe im Zuge der
Recherche auch mit dem Bundeselternverband gehörloser Kinder
gesprochen. Dort suchen sich ja genau diejenigen Eltern Beratung,
deren Kinder diese Probleme haben. Die Dame aus dem
Beratungsteam, mit der ich gesprochen habe, sagte mir, dass es
tatsächlich Kinder gibt, die trotz einer Cochlea-Implantation keine
Sprechfähigkeit entwickeln. Diese Kinder stehen dann vor dem großen
Problem, dass sie ohne eine wie auch immer geartete Sprachlichkeit
eingeschult werden: Sie können keine Gebärdensprache und sie können
nicht sprechen, können also gar nichts diesbezüglich. Das nächste
Problem ist, dass Kinder, die so ein Implantat haben und in eine
Regelschule gehen, sich oft nicht trauen, zu sagen: "Das ist jetzt zu laut
für mich, das ist jetzt zu anstrengend für mich, ihr müsstet jetzt ein
bisschen Rücksicht nehmen auf mich!" Das trauen sie sich oft nicht, weil
sie ja ohnehin schon stigmatisiert sind mit diesem Implantat. Da scheint
es also doch ganz offenkundig Probleme in der Nachsorge, in der
Nachbetreuung zu geben. Denn wenn man diesen Kindern ein
"normales" Leben ermöglichen möchte, dann muss man sie vermutlich
viel differenzierter und gezielter betreuen und auch fördern.
Lenarz:
Ja, das stimmt und diese Betreuung gibt es natürlich: Es gibt für
hörgeschädigte Kinder ja alle Einrichtungen, die natürlich von den
Kindern mit Cochlea-Implantaten genauso genutzt werden wie von den
Kindern mit Hörgeräten. Es gibt da im Bildungswesen alle möglichen
Differenzierungen …
Maly-Samiralow: Reicht das denn aus?
Lenarz:
Wenn Kinder mit dem Cochlea-Implantat alleine nicht zur Sprache
finden, dann lernen sie praktisch alle zusätzlich noch die
Gebärdensprache. Das ist z. B. auch die Aufgabe dieser Einrichtungen,
dass sie …
Maly-Samiralow: Empfehlen Sie das?
Lenarz:
Ja, natürlich. Alles, was die Kommunikation der Kinder verbessert,
empfehlen wir. Viele Kinder brauchen das nicht, sie würden es auch gar
nicht akzeptieren, dass sie jetzt auch noch gebärden sollen. Aber
diejenigen, die das brauchen, machen das. Es ist ganz interessant zu
sehen, wie die Kinder sich das auch von sich aus holen.
Maly-Samiralow: Sie plädieren also für eine "bilinguale" Lösung?
Lenarz:
Wenn das für das Kind notwendig ist, dann natürlich schon, das ist ganz
klar. Denn man muss letzten Endes dafür sorgen, dass diese Kinder –
und das ist ja das Ziel – in unserer Gesellschaft bestehen können. Die
große, lebensentscheidende Veränderung, die das Cochlea-Implantat
gebracht hat, ist ja, dass man diesen Kindern ganz andere Bildungs- und
Berufschancen eröffnet hat. Heute ist es so, dass mehr als 70 Prozent
dieser Kinder eine Regelschule besuchen; das war früher völlig
unmöglich. Heute können diese Menschen Berufe ergreifen, die voll auf
das Hören abzielen, Berufe also, in denen man Sprachverstehen und
Sprachfähigkeit zwingend braucht. Das zeigt meines Erachtens, dass
das eine lebensentscheidende Maßnahme ist – bei aller Kritik, die man
anbringen muss, das ist ganz klar. Wir sind nicht perfekt, deswegen
wollen wir ja auch die Implantate so verbessern, dass wir wirklich dahin
kommen, dass sie möglichst komplett das Gehör ersetzen.
Maly-Samiralow: Herr Professor Lenarz, eine Frage habe ich noch am Ende unseres
Gesprächs: Was empfehlen Sie unseren Zuschauern im Hinblick auf die
Pflege ihres Gehörs? Was kann, was sollte man tun, damit man
möglichst lange höraktiv bleibt?
Lenarz:
Ich empfehle unseren Zuschauerinnen und Zuschauern: Suchen Sie
Orte der Stille auf, werden Sie sich der Leistung Ihres Gehöres bewusst.
Und wenn sie merken, dass Ihr Gehör nachlässt, dann suchen Sie
möglichst frühzeitig professionelle Hilfe, damit Sie sich nicht vom Hören
zurückziehen.
Maly-Samiralow: Herr Professor Lenarz, herzlichen Dank für das Gespräch und dafür,
dass Sie zu uns ins Studio gekommen sind. Liebe Zuschauer, das war
es für heute wieder einmal mit dem alpha-Forum. Ich hoffe, Sie haben
gut zugehört. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, machen
Sie es gut.
© Bayerischer Rundfunk
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