Region Hannover NR. 119 · MONTAG, 23. MAI 2011 NEUE PRESSE · SEITE 11 So lernen taube Kinder richtig hören Auch taube oder schwer hörgeschädigte Kinder und Erwachsene können hören – mit einem Cochlear-Implantat. Doch mit einer Operation allein ist es nicht getan. Implantat-Träger müssen oft mühsam lernen, gesprochene Wörter von Hintergrundgeräuschen zu unterscheiden. Dazu gibt es diverse Therapien – die NP besuchte einen Musik-Workshop des Cochlear-Implant-Centrums in GroßBuchholz und sah zu, wie Mädchen und Jungen richtig hören lernten. Workshop für junge Menschen mit Cochlear-Implantaten VON HARALD GRUBE HANNOVER. „Was hör ich da, was hör ich da?“, singt Ulrike Stelzhammer-Reichhardt fröhlich. Dabei hält sie immer wieder ihr Ohr an einen geöffneten Stoffsack und gibt ein lautes Grunzen von sich. „Ein Schwein, ein Schwein!“, rufen aufgeregt und fast gleichzeitig 15 Kinder. Die Musikpädagogin nickt und holt lächelnd eine Zeichnung des Tieres hervor. Vergnügt geht das Ratespiel weiter: mit Entenschnattern, Hahnenschrei und Katzenmiauen. Das kleine Hörquiz ist der Einstieg zu einem ganz besonderen Musik-Workshop am Sonnabend auf dem Gelände des Cochlear-ImplantCentrums (CIC) Wilhelm Hirte in Groß-Buchholz. Denn alle Zitat Das Kind muss das aktive Hinhören lernen. Ulrike Stelzhammer-Reichhardt, Musikpädagogin Kinder sind organisch taub und können nur dank eines elektronischen Implantats hören (siehe Info-Kasten). Aber für dieses besondere Hören braucht es gutes Training. „Das Kind muss das aktive Hinhören lernen und wichtige Geräusche und Töne von unwichtigen trennen“, sagt Stelzhammer-Reichhardt. Dazu gehört beispielsweise, das Gesprochene eines anderen Menschen vom Hintergrundrauschen eines Autos zu unterscheiden: „Wir üben hier das, was an Geräuschen auf der Straße vorkommt, mit Instrumenten. Musik und Gesang sind hervorragend geeignet, um das Hören und Sprechen zu verbessern.“ Die Lautstärke als solche scheint jedenfalls kein Problem zu sein. „Das war aber laut“, rufen zahlreiche Kinder über- rascht, als die Pädagogin auf ein Tamburin schlägt. Im Mittelpunkt des Workshops steht die Kindergeschichte „Spinne spinnt und spinnt“ von Eric Carle. Instrumente basteln sich die Kinder zum größten Teil selbst: Aus Pfeifenreinigern und Perlen entsteht die klackernde Spinne, ein altes Fahrrad-Hinterrad wird zur Klangschelle, Pappröhren verwandeln sich in Blasinstrumente zum MuhMachen oder werden – mit Murmeln gefüllt – zu Rasseln. Lars (8) beklebt gerade liebevoll eine solche Röhre mit einem Mosaik aus bunten Papierstückchen. Er hat seine Hörimplantate im Alter von einem und drei Jahren bekommen und besucht eine Grundschule: „Manche Kinder wollen nicht mit mir spielen, weil sie denken, dass ich schlecht höre. Dabei stimmt das überhaupt nicht.“ Im Gegenteil, Lars hat sogar Vorteile – weil er gelernt hat, von den Lippen abzulesen: „Neulich haben wir in der Klasse ,Stille Post’ gespielt. Da habe ich sofort beim ersten Kind gesehen, dass es ,Spaghetti’ gesagt hat“, erzählt der Junge grinsend. Lina (5), die gerade hochkonzentriert aus Korken, Papier und Luftballonteilen eine Fliege bastelt, kommt mit ihrem Implantat offenbar gut zurecht: „Sie zeigt es gern im Dorf herum und erklärt es, zum Beispiel beim Kinderturnen“, sagt Mutter Madeleine Bartz. Vom Workshop ist sie begeistert: „Musik ist sowieso toll. Und die Pädagogin ist total klasse.“ Die Gelobte gibt das Kompliment zurück: „Die Kinder haben super mitgemacht, selbst nach einer Stunde am Stück waren sie noch mit viel Spaß dabei.“ Wenn die Implantate rechtzeitig eingesetzt werden, entwickeln sich die meisten Kinder ganz normal, betont Barbara Eßer-Leyding, Leiterin des Reha-Zentrums: „Sie können die allermeisten Berufe erlernen – außer vielleicht den des Telefonisten oder ähnliche Tätigkeiten.“ TÖNE VOM SAITENINSTRUMENT: Lina und Roman üben mit Musikpädagogin Ulrike StelzhammerReichhardt beim Workshop am Cochlear-ImplantCentrum in Groß-Buchholz. Fotos: Wilde TOBEN ALS THERAPIE: Kinder spielen mit ihren Eltern, hier geht es gerade ums Thema Fliegen. So arbeitet daS implantat M it dem elektronischen CochlearImplantat (CI) können schwer hörgeschädigte oder ertaubte Kinder und Erwachsene Geräusche wahrnehmen und Sprachverständnis aufbauen. Das CI wird verwendet, wenn die Haarzellen im Innenohr so schwer beschädigt sind, dass normale Hörgeräte nicht mehr funktionieren. Das kleine Implantat wird in einer Operation unter der Haut eingepflanzt, eine fadenartige Elektrode führt direkt in die Hörmuschel. Da sich in dem CI auch ein kleiner Magnet befindet, kann dort von außen am Kopf ein magnetischer kreis- förmiger Überträger befestigt werden. Er transportiert die Umweltgeräusche ins Innenohr, die wiederum über Mikrofone eines Soundprozessors aufgenommen werden. Dieser wird meist von außen hinten ans Ohr gesteckt. Bei Kindern wird das Implantat möglichst früh eingesetzt (ab dem sechsten Lebensmonat). Wichtig ist, dass die normale Sprachentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Nach der Operation sind mehrjährige regelmäßige Reha-Maßnahmen notwendig. Die Implantate haben eine Dichtigkeitsgarantie von ein bis zwei Jahrzehnten. Für Implantat, Operation und Rehabilitation entstehen Kosten von etwa 50 000 Euro, die von den Krankenkassen übernommen werden. In Hannover wurden vor 21 Jahren an der Medizinischen Hochschule die ersten CIs eingepflanzt. Das Reha-Zentrum CIC Wilhelm Hirte bietet jeden letzten Donnerstag im Monat von 15 bis 17 Uhr ein Café für Interessierte: Gehägestraße 28–30, 30655 Hannover. www.cic-hannover.de TROMMELN AUF DEM TAMBURIN: Lars (8) und Malte (5) musizieren im Gruppenraum. MHH-Experten übertragen OPs live HANNOVER. Live dabei sein, wenn HNO-Spezialisten der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zeigen, was sie können: Zum sechsten Mal nimmt die Hochschule am internationalen Projekt LION teil, bei dem HNO-Ärzte weltweit sich via Telemedizin fortbilden können. Diesmal überträgt die MHH fünf Operationen – als Anschauungsmaterial für die interessierten Kollegen. Viermal greift allein Thomas Lenarz (Mitinitiator von LION) zum Skalpell. Der HNO-Chef startet mit einer OtoskleroseOP, wobei ein defektes Gehörknöchelchen ersetzt wird. Otosklerose ist eine recht seltene Krankheit, bei der die Gehörknöchelchen durch unkontrolliertes Wachstum „verknöchern“ und langsam Taubheit eintritt. Dann folgt die Implantation eines Cochlear-Implantats an einem Patienten mit Hochtontaubheit und Restgehör in den Tiefen. Als Drittes will Lenarz zeigen, wie er ein teilimplantiertes Hörgerät fürs Mittelohr einsetzt. Schließ- Alles über die 50 Stadtteile in einem Buch » 224 neue Seiten von Hannover! Wieso liegt Indien in Badenstedt? Warum darf in Ahlem jeder Äpfel pflücken? Was macht Arnold Schwarzenegger in Mittelfeld? „So lebt Hannover“ heißt das Buch, mit dem Sie die Geheimnisse Ihrer Heimatstadt entdecken. Die Neue Presse stellt alle 50 hannoverschen Stadtteile vor – mit spannenden Reportagen über Menschen und das Lebensgefühl in den Vierteln, Interviews, vielen Bildern, Grafiken, Insider-Tipps. Das aufwendig produzierte Hardcover liefert in einem ausführlichen Serviceteil außerdem Adressen, Internetseiten, Telefonnummern. Gehen Sie mit der NP auf Entdeckungstour! 224 Seiten; 19,90 Euro Das Buch zur großen NP-Serie! Bequem bestellt – schnell geliefert! oder direkt: » im Internet: shop.neuepresse.de » per Telefon: (0 18 01) 518 518* » im Madsack-Medienzentrum, Lange Laube 10 » in den NP-Geschäftsstellen » im Buchhandel zzgl. 2,80 Euro Versandkosten www.neuepresse.de 44918801_11052300800000111 * Deutschlandweit für 3,9 Cent pro Minute aus dem Netz der Deutschen Telekom. Mobilfunkhöchstpreis 42 Cent je Minute. TECHNIK HINTER DEM OHR UND AM KOPF: Dort trägt Leander Mikrofon, Soundprozessor und Übertragungsgerät. lich folgt am Nachmittag noch eine sogenannte BAHA (BoneAnchered-Hearing-Aid), bei der ein Hörsystem auf den Knochen verankert wird. Burkhard Schwab, leitender Oberarzt der HNO-Klinik, demonstriert seinen Kollegen, wie er im Mittelohr ein spezielles Implantat einsetzt (Fachbegriff: Vibrant Soundbridge). Diese Operationen decken laut MHH „eine erhebliche Bandbreite in der Hörsystemversorgung ab“. Im vergangenen Jahr hat die MHH rund 5000 HNO-Patienten stationär behandelt. Am Aktionstag nächsten Mittwoch zeigt das LION-Netz 24 Operationen, die an zwölf Orten ausgeführt werden. Es wird erwartet, dass sich etwa 6000 Mediziner die Live-Übertragung via Videokonferenz oder über Internet-Stream ansehen – sie dürfen während der Operationen ihre Fragen per E-Mail an den Operateur stellen. rahü www.lion-web.org