Gefährliche Nähe - Kolleg St. Blasien

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ZEITGESCHEHEN
KINDESMISSBRAUCH
Gefährliche Nähe
Missbrauch in Klöstern, Missbrauch in einer Reformschule.
Streit um die Sexualmoral, Streit um Kinderpornos im Internet:
Wer nach den Jüngsten greift, bricht das letzte Tabu
VON Bernd
Ulrich | 11. März 2010 - 07:00 Uhr
© dschones/photocase
Erst nach vielen Jahren, wenn die Verbrechen längst verjährt sind, können Missbrauchsopfer über ihr
Leid sprechen
Eine ungeheure, eine ungeheuerliche Zahl von Missbrauchsfällen in katholischen
Einrichtungen, Klöstern, Schulen, Chören ist bekannt geworden, und der Strom der
schlechten Nachrichten reißt nicht ab. Vor wenigen Tagen ist der systematische Missbrauch
in einer reformpädagogischen Schule bekannt geworden, die sicher nicht die Einzige
bleiben wird. Zugleich stürmt der Roman Axolotl Roadkill die Bestsellerlisten, in dem sich
die Hauptfigur an kinderpornografischen Darstellungen erregt. Und die Bundesregierung
nimmt die Sperrung von kinderpornografischen Internetseiten zurück. Treibt unsere
Gesellschaft ins moralische Chaos?
Sicher nicht. Und doch ist etwas Bedrohliches im Gange, zu gefährlich, als dass man
es schon, wie Politiker jetzt vorschlagen, an einem Runden Tisch auspalavern könnte.
Zunächst muss die Verwirrung geordnet und die Beunruhigung zugelassen werden.
Denn der katholische Missbrauch und der reformpädagogische Missbrauch sind zwei
Verkehrtheiten, die sich ineinander spiegeln.
Reden wir also über Sexualität. Da kennen wir uns alle aus, alles ist gesagt, alle Praktiken
sind gezeigt. Erstaunlicherweise hat die Sexualität trotzdem wenig von ihrer Bedeutung
eingebüßt, sie ist und bleibt die letzte Wildnis unserer durch und durch zivilisierten
Gesellschaft. Sie entfaltet weiterhin eine ungeheure Kraft, wenn sie sich mit so etwas wie
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Liebe verbindet. Sexualität ist ein Projekt, das ständig neue Reize sucht und ohne die Liebe
in die letzten Tabuzonen vordringen will: unser Projekt der Entgrenzung.
Über die Hölle zu reden ist schon viel schwieriger. Man ist es nicht mehr gewohnt. Ganz
zu Recht, wenn unter Hölle die Strafanstalt eines ungnädigen Gottes verstanden wird. Zu
Unrecht, wenn die Hölle gesehen wird als eine Welt, in der man leidet, ohne dass ein Ende
absehbar ist, wo die Vertrauten Feinde sind, wo Gut und Böse nicht mehr zu unterscheiden
sind, wo der eigene Körper geschändet, die Würde wieder und wieder verletzt wird.
Heillose Einsamkeit – diese Hölle durchleben Kinder, die von Lehrern sexuell missbraucht
werden, deren Eltern nichts wissen oder wissen wollen.
Zivilisation, gerade in einer sexualliberalen Gesellschaft, bedeutet, dass die Wildnis der
einen nicht zur Hölle der anderen werden darf – dass, wo alles erlaubt ist, eines absolut
verboten bleiben muss. Dass gegen diese Norm verstoßen wird, ist schlimm, aber so wenig
zu verhindern wie Mord oder Raub. Wenn so etwas jedoch systematisch geschieht, dann –
spätestens dann – ist das zutiefst beunruhigend.
Am 28. Januar diesen Jahres wurden die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg
bekannt. Als Erstes fuhr der Schreck den Schülern, Lehrern und Eltern des JesuitenGymnasiums in die Glieder. Zu Letzteren gehört auch der Autor dieses Artikels. Dankbar
war man dafür, dass der Schulleiter Pater Klaus Mertes von Anfang an das einzig Richtige
tat: Rückhaltlose Aufklärung ohne Rücksicht auf den Ruf der Schule; die Interessen
der Opfer wurden zur Richtschnur des Handelns erklärt. Dafür erhielt der Pater viel
Unterstützung, und jene, von denen man Widerspruch erwartet hatte, schwiegen erst mal.
Mertes tat aber noch etwas anderes: Er fragte danach, was die katholische Sexualmoral
und was die Verurteilung der Homosexualität seitens der Kirche mit dem systematischen
Missbrauch zu tun haben könnten. Damit war natürlich nicht gemeint, dass der Zölibat und
die Schwulenfeindlichkeit zwangsläufig in den Missbrauch führen. Aber sie können dazu
beitragen, wenn Veranlagung und Gelegenheit schon da sind. Um es mit den Worten eines
Kollegen von der Süddeutschen Zeitung zu sagen: »Missbrauch innerhalb dieser Kirche
schmeckt nun mal nach Katholizismus.«
Wer das katholische Milieu kennt, der ahnte gleich, dass damit eine Grenze überschritten
war. Aufklärung von Einzelfällen, von vielen und immer noch mehr Einzelfällen, das soll
wohl sein dürfen, aber mit dem Katholizismus darf das gefälligst nichts zu tun haben.
Aufklärung ohne Erkenntnis, so lautete das paradoxe Ziel derer, die sich Kritik an der
Kirche stets verbitten.
Dieses Paradox kam rasch zur Explosion, als am 22. Februar turnusgemäß die Deutsche
Bischofskonferenz zusammentrat. Ihr moderater Vorsitzender Robert Zollitsch hatte
lange geschwiegen, damit jene reaktionären Bischöfe, die liberalen Katholiken mit ihren
Äußerungen die Schamesröte ins Gesicht treiben, auch schwiegen. Walter Mixa, Bischof
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von Augsburg, hielt sich nicht daran und meinte, an den katholischen Missbrauchsfällen sei
die »sogenannte sexuelle Revolution sicher nicht unschuldig«. Die 68er, wer sonst?!
Auf einem Pressetreff zur Bischofskonferenz flippte sodann der völlig überforderte Robert
Zollitsch aus und setzte der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine Frist
von 24 Stunden, innerhalb derer sie sich für ihre Kritik entschuldigen sollte, die Kirche
arbeite beim Missbrauchsskandal zu wenig mit den Behörden zusammen. Ein katholischer
Bischof stellt der demokratisch gewählten Ministerin ein Ultimatum! Hätte es noch eines
Beweises für die Sonderweltlichkeit der Kirche bedurft – hier war er.
Was hat es nun mit dem Mixa-Argument von der Mitschuld der 68er auf sich und was
mit der Mertes-Frage nach der Mitschuld des Katholizismus? Der Bischof unterstellt,
dass es sexuellen Missbrauch in Klöstern und Internaten vor 1968 nicht oder nur selten
gegeben habe, dass also der an sich unschuldige, gottgefällige Katholik erst durch Einflüsse
von außen zum Sünder geworden sei. Ist es nicht vielmehr so, dass ohne die 68er in
katholischen Gymnasien immer noch gewohnheitsmäßig Schüler geschlagen würden?
Die konkreten Missbrauchsgeschichten, die nun bekannt wurden, legen etwas ganz anderes
nahe. Die Täter kamen schließlich nicht über die Freizügigkeit zu ihren Taten, sondern
meist über die Strenge und das Autoritäre. Zuerst wurde die hierarchische Stellung benutzt,
um die Integrität der Kinderkörper durch Schlagen und Züchtigen zu verletzen, dann durch
sexuellen Missbrauch. Die Hand, die schlug, wurde zur Hand, die streichelte, wo sie wollte,
und sich griff, was ihr beliebte. Schließlich wurde sie zur Hand, die Vorwürfe abwehrte,
mit dem Verweis auf den Ruf der Schulen und der Kirche.
Und die Mertes-Frage? Unbestreitbar ist, dass die zölibatäre Lebensform die betroffenen
Männer vor enorme Herausforderungen stellt. Unbestreitbar ist jedoch auch, dass die
allermeisten Pfarrer und Mönche damit klarkommen, ohne sich an Kindern zu vergehen.
Es sind zwei andere Aspekte des Katholizismus, die den Weg in den Missbrauch
erleichtern: seine Sexualmoral und seine Einstellung zur Homosexualität. Im Grunde ist
nur eine Form des Sexuellen wirklich erlaubt – der innereheliche Geschlechtsverkehr
mit Zeugungsabsicht. Damit umfasst die Verbotszone praktisch alles, was die meisten
Menschen (auch die Katholiken) die meiste Zeit ihres Lebens tun. Diese Moral führt in jene
Nacht, in der alle Katzen grau sind. Sie lehrt, nicht zu unterscheiden, sie macht gleich und
gleichgültig.
Der Kirche wird oft Doppelmoral vorgeworfen, weil sie – gerade in sexuellen Fragen –
etwas anderes tut, als sie sagt. Beim Thema Homosexualität ist es schlimmer, da ist schon
das Gesagte grundfalsch. Es gibt vom Standpunkt der Nächstenliebe keinen vernünftigen
Grund, warum etwas verurteilt wird, das Menschen mitgegeben ist und das niemandem
schadet. Deshalb entwertet der Katholizismus mit seiner Verurteilung der Homosexualität
seine gesamte Sexualmoral. In Wahrheit verfügt die Kirche in Sachen Sexualität über gar
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keine Autorität. Auch nicht gegenüber ihren eigenen Dienern in den Kirchen und Klöstern,
sie lässt diese Menschen allein.
So darf sich die katholische Kirche nicht wundern, wenn der Rest der Gesellschaft ebenso
bestürzt ist über das, was über Jahrzehnte hinter Klostermauern geschehen ist, wie auch
beruhigt ist, weil es ja nur die Kirche angeht.
Beruhigt war, muss man seit dem vergangenen Samstag sagen. Denn da wurden neue
Fälle von sexuellem Missbrauch in einem reformpädagogischen Internat bekannt. Sein
langjähriger Schulleiter, Gerold Becker, soll in den achtziger Jahren Schüler sexuell
missbraucht haben. Sein Lebensgefährte wiederum ist Hartmut von Hentig, der wohl
bekannteste deutsche Pädagoge, mittlerweile 84 Jahre alt.
Die von Becker geprägte Odenwaldschule war in den siebziger und achtziger Jahren
das krasse Gegenteil zur autoritären katholischen Schule. In der Odenwaldschule sollte
Schülern »auf Augenhöhe« begegnet werden. Sie bildeten mit den Lehrern eine Art
»Familie«. Das pädagogische Konzept beruht nicht auf Hierarchie, sondern auf dem
Verzicht darauf.
Umso verblüffender, dass diese Schule mit dem sexuellen Missbrauch fast genauso
umgegangen ist wie die meisten katholischen Einrichtungen. Es wurde lange weggeschaut,
es wurde verharmlost und verschwiegen. Und als die Dinge 1998 zum ersten Mal öffentlich
wurden, hat man nicht nachgeforscht, sondern nach einer kurzen Phase der Aufklärung
den Deckel draufgehalten. Becker trat zwar von seinen Ämtern zurück, war jedoch
bei Veranstaltungen weiterhin ein gefragter Redner und wurde auch noch einmal als
Vertretungslehrer an der Odenwaldschule eingesetzt.
Margarita Kaufmann, die heutige Schulleiterin, versucht nun einen ähnlichen Weg
zu gehen wie Pater Mertes in Berlin. Sie hat es jedoch noch schwerer, weil Teile des
Vorstandes der Schule ihrer offensiven Strategie mit Skepsis und hinhaltendem Widerstand
begegnen. Das Vorstandsmitglied Sabine Richter-Ellermann warf Kaufmann "Illoyalität"
vor, als diese ohne Rücksprache mit dem Vorstand öffentlich äußerte, sie erwarte, dass der
Vorstand zurücktrete. Dabei verhält sich die Schulleiterin an einem entscheidenden Punkt
ganz anders als Pater Mertes: Sie sagt, es sei an der Odenwaldschule seinerzeit »schon
sehr liberal« zugegangen, doch einen Zusammenhang mit dem Missbrauch sehe sie nicht.
»Die katholische Kirche ist nicht liberal, und da ist es auch passiert.« So versucht sie,
die Reformpädagogik vor jeglichem Zusammenhang mit dem Missbrauch zu schützen.
Auch hier: angeblich lauter Einzelfälle. Und auch hier: Aufklärung ohne Erkenntnis.
So wie sich Bischof Mixa mit dem Hinweis auf die Liberalen zu entlasten versucht, so
sehr klammert sich die Leiterin der Odenwaldschule an den Hinweis auf die Illiberalen.
Dabei liegt auf der Hand: So wie katholischer Missbrauch katholisch schmeckt, schmeckt
reformpädagogischer Missbrauch reformpädagogisch.
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Der Reformpädagoge Hartmut von Hentig und der ehemalige Schulleiter Gerold Becker
sind schon lange ein Paar und leben im selben Haus am Kurfürstendamm in Berlin. Von
Hentig besuchte die Schule in Hessen früher oft, drei ehemalige Schüler beschuldigen
ihn nun, den Missbrauch gedeckt zu haben. Die ZEIT hätte Becker und Hentig gern nach
den Vorwürfen und nach dem Zusammenhang zwischen Theorie und Missbrauch gefragt
und hat bei ihnen geklingelt: Hartmut von Hentig öffnet die Tür, ein freundlicher Herr mit
weißen Haaren. Er und Becker, sagt von Hentig, hätten vereinbart, sich zu den Vorwürfen
nicht zu äußern. »Ich bin nicht involviert, und Gerold Becker ist todkrank.« Mehr war nicht
zu erfahren, ein Schweigen wie hinter Klostermauern.
Wer auf eigene Faust den Traditionen der Odenwaldschule nachspürt, landet beim GeorgeKreis. Einem Club von kulturbeflissenen Männern, die sich in den ersten Jahrzehnten
des vergangenen Jahrhunderts um den Lyriker und ungewöhnlichen Charismatiker
Stefan George scharten. Zu ihnen gehörten die Brüder Stauffenberg – und die väterlichen
Vorbilder des Hartmut von Hentig. Sie vertraten einen lyrisierenden Elitismus, lebten in
einem graecisierenden Männerbund mit homoerotischer Ausprägung. George erhob einmal
einen vierzehnjährigen Jungen, den er Maximin nannte, zum Kultobjekt seines Kreises.
Später trug dieses Denken zur neuen, teils befreienden Pädagogik bei.
Richard von Weizsäcker, der mit Hartmut von Hentig eng befreundet war, schrieb
1997 in seinen Erinnerungen über Stefan George: »Als ich elf Jahre alt war, nahm
er meine Geschwister und mich in Berlin einmal in eine atelierartige, feierlich hohe
Mansardenwohnung mit. Dort setzte er mich neben einen alten Herrn, der seine starke
Hand um meinen Nacken legte, so daß ich sie dort noch bis heute zu spüren vermeine. Es
war Stefan George, wie ich erst viel später erfuhr.« Vergötterte Knaben, pädagogischer
Eros, in Jungennacken ruhende Greisenhände – ein seltsames, verwischtes Milieu, getränkt
mit dem schweren Parfum der Metaphysik.
In der Odenwaldschule traf jenes seltsame Denken mit einem pädagogischen Konzept
zusammen, das die Schüler als Gleiche behandelte, »auf Augenhöhe«. Ihre Integrität wurde
nicht wie in den Klosterschulen durch Schläge verletzt, sondern durch zu viel Nähe. Becker
habe, so heißt es aus dem Vorstand der Schule, »ein System der Unverantwortlichkeit
geschaffen«, in dem er seine Übergriffe gefahrlos verüben konnte, selbstverständlich
im Namen hehrer Pädagogik. Teile dieses Systems bestehen heute noch, auch ohne
Becker. Sein pädagogisches Konzept wiederum verführt nicht wie bei den Katholiken
dazu, die Hierarchie zum Missbrauch zu nutzen, vielmehr kann gerade die Leugnung des
Machtgefälles zwischen Lehrer und Schüler zu ähnlichen Ergebnissen führen. So schmeckt
reformpädagogischer Missbrauch.
Autoritäre katholische Erziehung und Reformpädagogik waren in den siebziger und
achtziger Jahren entgegengesetzte Konzepte. Zwischen ihnen verlief eine Front im
Schulkrieg der Linken und Rechten. Missbrauch wurde auch deshalb unter der Decke
gehalten, um dem Gegner keine Munition zu liefern. Heute weiß man: Jener Krieg forderte
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Opfer auf beiden Seiten – Schüler und Schülerinnen. Und heute weiß man auch: Zum
Missbrauch an Schulen führen verschiedene Wege, autoritäre und antiautoritäre, Hierarchie
und Hierarchielosigkeit. Eine Seite kann sich deshalb nicht mit der anderen herausreden,
jede muss die eigenen Abwege kennen, wenigstens in Zukunft.
War’s das? Zwei verirrte Traditionen, zwei überhitzte Denkschulen und alles mindestens
zwanzig Jahre her? Tatsächlich spricht viel dafür, dass Missbrauch an Schulen heute
weniger wahrscheinlich ist als früher. Vor allem die Emanzipation des Kindes, das
neue Selbstbewusstsein der Schüler, die sich nicht mehr so leicht Hierarchien beugen
oder in einen schrägen Lehrerkosmos ziehen lassen. Und – so verkehrt ist die Welt –
zu dieser Emanzipation des Kindes haben auch Hartmut von Hentig einerseits und die
moderne ignatianische Pädagogik andererseits beigetragen, benannt nach dem Gründer des
Jesuitenordens Ignatius von Loyola.
Trotzdem war es das nicht. Denn wenn es stimmt, dass ein großer Teil der Sexualität in
einer rundum liberalen Gesellschaft auf Steigerung zielt und dass sie Tabus braucht, damit
noch etwas übrig ist für den letzten Kick, dann wird dieser Trieb in immer neuen Gestalten
gegen das letzte sexuelle Tabu anrennen oder sich drum herumschleichen: das Kind.
In den vergangenen zwei Monaten ist noch mehr geschehen, das Grund zu Irritationen
gibt. Zunächst der Roman der 18-jährigen Helene Hegemann Axolotl Roadkill. Die junge
Berlinerin stammt aus einem bildungsbürgerlichen Milieu, das seine um Abgrenzung
bemühten Kinder mit fast grenzenloser Toleranz quält. Diese liberalen Erwachsenen
können alles erklären, was sie sehen, und alles begründen, was sie tun. Helene Hegemann
schrieb konsequenterweise einen Roman, in dem sie jeden Gedanken zerreißt, jede
Erklärung zerschmettert, keine Handlung und keinen Gedanken zu Ende kommen lässt.
Manche finden das interessant, manche nicht. So weit, so üblich.
Allerdings genügte das der Autorin nicht als Provokation, sie musste auch noch Szenen
einstreuen, in denen Kinder auf brutalste Weise sexuell missbraucht und gefoltert werden.
Mifti, die Hauptfigur des Romans, geilt sich an diesen perversen Schilderungen auf.
Erstaunlich und befremdlich ist aber, dass diese kinderpornografischen Stellen in einer
wutschnaubenden Feuilleton-Schlacht um das Buch so gut wie keine Rolle spielten.
Vielmehr ging es um die wichtige Frage, ob Plagiieren einen Roman eher veredelt
oder entwertet. Und das alles, da zugleich andernorts die Missbrauchsdebatte tobte, die
Zeitungen voll davon waren, dass Patres Kinderpornos aus dem Internet herunterladen.
Hermetik ist offenbar kein Privileg von Klöstern und Landschulheimen.
Ebenfalls während der Missbrauchsdebatte, aber davon offenbar unberührt, beschloss die
schwarz-gelbe Bundesregierung, das erst kurz vor der Bundestagswahl verabschiedete
Gesetz zur Sperrung von Kinderpornoseiten im Internet zu kassieren. Dahinter stand eine
Auseinandersetzung zwischen der damaligen Famlienministerin Ursula von der Leyen und
einem extremen Teil der Internetgemeinde. Die Internetfreaks meinten, Sperren sei nutzlos
und der Beginn einer staatlichen Internetzensur. Die Ministerin und ihre Große Koalition
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hingegen wollten die einschlägigen Seiten sperren können, weil das Löschen von Seiten,
die im Ausland angefertigt werden, in der Regel unmöglich ist.
Was hat nun zum Meinungswechsel bei der Union geführt? War es eine technische oder
rechtliche Neuerung, die das Löschen dieser Missbrauchsdokumente erleichtert und das
Sperren unnötig macht? Etwas ganz anderes ist geschehen. Die Piratenpartei, die gegen die
»Zensur« angekämpft hatte, erhielt bei der Bundestagswahl zwei Prozent, was wiederum
die Regierung so sehr ins Bockshorn jagte, dass sie nun neue Prioritäten setzt: Die
Verbreitung von Kinderpornos ist nicht so schlimm wie die Angst der Internetfreaks vor
Zensur. Rücksichtnahmen auf dem Rücken von Missbrauchsopfern sind keine Besonderheit
der katholischen Kirche.
Nun also ein runder Tisch: Der Vatikan ist dafür, die Kanzlerin auch, und die neue
Familienministerin Kristina Schröder will dazu einladen. Nun gut. Aber dort wird sich
nicht entscheiden, wie Deutschland mit Missbrauch künftig umgeht. Die Tische, auf die
es ankommt, sind eckig. Sie stehen in Schulen, in den Büros der Rektoren, sie stehen
im Kanzleramt, in Redaktionen, in Esszimmern, in Küchen und in Kneipen. Wie oft an
diesen Tischen den Kindern zugehört und den Tätern Nein gesagt wird, davon hängt
alles ab. Leicht ist das nicht, denn immer wieder werden sich politische, ästhetische oder
pädagogische Einwände dazwischenschieben, das Vielleicht wird sich einschleichen, in
wechselnden Gewändern. Und wird doch immer ein Vorbote der Hölle bleiben.
Mitarbeit: Miguel A. Zamorano
COPYRIGHT: DIE
ZEIT, 11.03.2010 Nr. 11
ADRESSE: http://www.zeit.de/2010/11/Moral-Missbrauch-Kinder
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