Johannes 20,19-29

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ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH
Sehen und Glauben
Predigt von Pfarrerin Ursina Sonderegger
gehalten am 12. Oktober 2014
Schriftlesung: Jesaja 12,1-6
Predigttext:
Johannes 20,19-29
„Es war am Abend eben jenes ersten Wochentages − die Jünger
hatten dort, wo sie waren, die Türen aus Furcht vor den Juden
verschlossen −, da kam Jesus und trat in ihre Mitte, und er sagt zu
ihnen: Friede sei mit euch! Und nachdem er dies gesagt hatte,
zeigte er ihnen die Hände und die Seite; da freuten sich die Jünger, weil sie den Herrn sahen. Da sagte Jesus noch einmal zu
ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so
sende ich euch. Und nachdem er dies gesagt hatte, hauchte er sie
an, und er sagt zu ihnen: Heiligen Geist sollt ihr empfangen! Wem
immer ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr sie
festhaltet, dem sind sie festgehalten. Thomas aber, einer der
Zwölf, der auch Didymus genannt wird, war nicht bei ihnen, als
Jesus kam. Da sagten die anderen Jünger zu ihm: Wir haben den
Herrn gesehen. Er aber sagte zu ihnen: Wenn ich nicht das Mal
der Nägel an seinen Händen sehe und nicht meinen Finger in das
Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite legen kann, werde
ich nicht glauben. Nach acht Tagen waren seine Jünger wieder
drinnen, und Thomas war mit ihnen. Jesus kam, obwohl die Türen
verschlossen waren, und er trat in ihre Mitte und sprach: Friede
sei mit euch! Dann sagt er zu Thomas: Leg deinen Finger hierher
und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie
in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas
antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagt
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zu ihm: Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Selig, die nicht
mehr sehen und glauben!“
Einleitung zum Predigttext
„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1.
Johannes 5,4). Dieser Vers aus dem 1. Johannesbrief soll uns als
Wochenspruch durch diese Woche begleiten. Wenn ich ihn höre,
tritt mir sogleich Jesu eigenes Wort vor mein inneres Ohr: „In der
Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33). Insofern ist der Glaube der Sieg, der
die Welt überwunden hat. Nämlich indem der Glaube Jesus Christus ist. Jesus Christus hat die Welt überwunden, und wenn das
unser Glaube ist, dann gilt: „Unser Glaube ist der Sieg, der die
Welt überwunden hat“ (1. Johannes 5,4).
Liebe Gemeinde, sehen Sie denn, dass der Glaube, dass Jesus
Christus die Welt überwunden hat? Ja, wie steht es mit dem Zusammenhang von Glauben und Sehen? Können wir glauben, ohne
zu sehen? Genauer: Können wir an Jesus Christus glauben, ohne
ihn zu sehen? Im ersten Petrusbrief (1. Petrus 1,3-9) steht: „Ihr
habt Jesus Christus lieb, ohne ihn gesehen zu haben, ihr glaubt an
ihn, ohne ihn jetzt zu schauen.“ Wie können wir das? Jesus Christus selbst weiss um die Sehnsucht, den Glauben durchs Sehen zu
festigen.
Ich lese dazu aus dem Johannesevangelium Kapitel 20, die Verse
19-29. Der Text beginnt am Ostersonntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, gegen Abend, und reicht bis acht Tage nach Ostern.
Wir begegnen dabei dem Ursprung des christlichen Gottesdienstes. Seit diesen ersten Zusammenkünften der Jünger am Oster-
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sonntag und am ersten Sonntag nach Ostern wird immer am Sonntag gefeiert, als dem Tag der Auferstehung Jesu Christi. (Textlesung Predigt: Johannes 20,19-29)
Liebe Gemeinde
Der ungläubige Thomas, diesen Titel hat Thomas die Begegnung
mit dem Auferstandenen eingetragen. Ich frage: Zu Recht? Liebe
Gemeinde, mich hat die Ehrlichkeit des Thomas schon immer berührt! Darum, weil sie mit einem Ringen verbunden ist, dem Ringen um den Glauben, der Frage, wer Christus für uns ist. Thomas
hat sein Leben an Jesus ausgerichtet, ist ihm, wie die andern Jünger auch, gefolgt, hat sich an ihm orientiert, fand Halt und fand
Lebenssinn. Sein Leben, ja die Welt, sah er in einer Perspektive
der Hoffnung, wie er sie vorher nicht gekannt hatte. Jesus brachte
etwas in sein Leben und in die Welt, das er nicht mehr hergeben
wollte. Am Karfreitag wurde er ihm genommen. Eine Welt brach
für ihn zusammen. Wie sollte er sich am Wort Jesu: „In der Welt
habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“
(Johannes 16,33) noch festhalten, jetzt, wo ihm Jesus genommen
war, jetzt, wo er von Jesu Sieg über die Welt nicht einmal die allerkleinste Spur sah oder fühlte?
Mag sein, dass ihm die einen sagten: Du musst ihn jetzt loslassen.
Loslassen, was man liebt – kann ich, will ich das? Nein, loslassen,
das will und kann ich nicht. Auch wenn ich einen geliebten Menschen, wenn er stirbt, gehen lassen muss. Hören Sie den feinen
Unterschied? Vielleicht ist er im Schweizerdeutsch noch deutlicher: Los loh und go loh ist nicht dasselbe. Wenn ich etwas loslasse, dann fällt es; wenn ich etwas gehen lasse, geht es seinen Weg.
Sätze wie: „Du musst jetzt loslassen!“ – oder: „Sie kann einfach
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nicht loslassen!“, treffen für mich nicht das, worum es geht. Nie
würde ich von der Kunst des Loslassens sprechen. Keinem Sterbenden müssen wir ins Ohr flüstern: „Ich habe dich jetzt losgelassen“. Ihm hingegen sagen können: „Du darfst gehen, ich lasse dich
deinen Weg gehen“ − das hat eine ganz andere Qualität. Denn in
der Liebe lasse ich auch im Tod nicht los von einem Menschen,
die Liebe ist stärker als der Tod, geht über den Tod hinaus, auch
wenn ich einen geliebten Menschen gehen lassen muss. Zur Liebe
und gegenseitigen Achtung gehört es, Menschen nicht loszulassen
oder fallenzulassen, aber sie ihren Weg gehen zu lassen. Übrigens
nicht erst am Ende des Lebens, sondern immer!
Wir müssen niemanden und nichts loslassen oder fallenlassen.
Aber, und das ist nicht einfacher, wir müssen Vieles gehen lassen,
liebgewordene Menschen, Hoffnungen und Lebensinhalte. Oft ist
das eine mit dem andern verbunden: An liebgewordene Menschen
sind für uns Hoffnungen und Lebensinhalte gebunden. Mit dem
Tod eines Menschen, ja mit jedem Verlust, verlieren wir auch
Hoffnungen und Lebensinhalte, und diese Lücken kann niemand
und nichts einfach wieder füllen. Sie alle wissen, wovon ich spreche. Wir alle, ganz gleich in welchem Alter wir sind, sind damit
konfrontiert, Liebgewordenes, Sinnstiftendes, Kostbares, Wertvolles gehen zu lassen, ob wir das wollen oder nicht.
Thomas steht mitten in dieser Erfahrung, in diesem Schmerz. Er
musste Jesus gehen lassen. Und mit ihm seine Hoffnungen, seinen
Lebensinhalt, seine Orientierung. Offenbar hat er sich in seinem
Schmerz und in seiner Trauer zurückgezogen. Er ist nicht dabei,
als Jesus an Ostern gegen Abend durch die verschlossene Tür den
andern Jüngern erscheint und ihnen sagt: „Friede sei mit euch.
Und als er dies gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände wie auch
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die Seite. Da wurden die Jünger froh, als sie den Herrn sahen.
Und Jesus sprach wiederum zu ihnen: Friede sei mit euch“ (Johannes 20,19-21).
Durch die verschlossene Tür – wie ist denn das möglich? Liebe
Gemeinde, für mich spricht daraus die Glaubenserfahrung, dass
Christus auch dann, wenn wir keine offenen Türen sehen in unserem Leben, zu uns kommt, zu uns steht, bei uns ist. Ihre freudige
Entdeckung teilen sie Thomas mit, der nicht dabei war, und sagen
ihm: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Er aber sagte zu ihnen:
„Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und
lege meinen Finger in das Mal der Nägel und lege meine Hand in
seine Seite, werde ich es nicht glauben“ (Johannes 20,25). Andern
glauben, dass Jesus auferstanden ist – darum geht es. Das kann
Thomas nicht, wenn er den Auferstandenen nicht am eigenen Leib
erfährt. Berühren möchte er ihn, ihn erkennen. Und das kann er an
nichts anderem als an den Wundmalen.
Mir kommt da das Wort aus dem Propheten Jesaja in den Sinn:
„Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jesaja 53,5). Acht lange
Tage trägt Thomas dieses Ringen, diese Sehnsucht mit sich. Bis, ja
bis der Auferstandene endlich am ersten Sonntag nach Ostern
wiederum durch die verschlossene Tür zu den Jüngern kommt und
spricht: „Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Reiche
deinen Finger hierher und siehe meine Hände, und reiche deine
Hand her und lege sie in die Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr
und mein Gott“ (Johannes 20,26-28). Das ist ein so dichter, kostbarer Moment, dass sich Johannes beim Erzählen auf ein Minimum von Worten beschränkt. Wie muss es Thomas durchfahren
haben, als er seine Hand, von derjenigen Jesu Christi geführt, in
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dessen Seite legen darf! Da, wo er zutiefst versehrt ist. Und gerade
durch diese Wunden als der gekennzeichnet ist, der er für uns ist
und bleibt: Der auferstandene Gekreuzigte, der gekreuzigte Auferstandene. Thomas erfuhr am eigenen Leib, dass Jesus Christus
auferstanden ist, dass die Verbindung zu ihm über jeden Tod hinaus ungebrochen bleibt und damit auch die Hoffnung, die Perspektive, das Sinnstiftende, der Halt.
Es gibt, das muss ich gestehen, Momente, in denen ich mir wünsche, auch für meine Hand wäre eine solche Berührung, wie sie
Thomas geschenkt war, ein Sehen, wie es die Jünger erfuhren, im
Bereich des Möglichen. Ich weiss, das geht nicht. Noch nicht.
Umso dankbarer bin ich Johannes dafür, hat er diese Begegnung
am Sonntag nach Ostern für uns aufgeschrieben. Sie wurde im
Petrusbrief aufgenommen. Für Thomas waren es wohl acht lange
Tage des Ringens und der Sehnsucht. Bis es ihn auf einmal durchfuhr und er antwortete: „Mein Herr und mein Gott.“ In dieses
Zeugnis einstimmen, darum geht es meiner Ansicht nach im Glauben. Einstimmen, das ist kein Lippenbekenntnis, sondern etwas,
das uns durchfährt und unser Leben prägt. Geboren vielleicht nach
langem Ringen, in existentieller Sehnsucht. Nicht ein für alle Mal,
sondern immer wieder. So oder so eine Gnade, die Christus selbst
uns schenkt.
Mein Herr und mein Gott – das Kreuz vergegenwärtigt uns, zu
wem wir uns damit bekennen: Zum gekreuzigten Auferstandenen,
zum auferstandenen Gekreuzigten. Sehen oder berühren können
wir ihn nicht. Aber, so sagt er es selbst, das ist gar nicht das Entscheidende: „Selig sind die, welche nicht gesehen und doch geglaubt haben“ (Johannes 20,29). Entscheidend ist für uns sein
Wort und das Zeugnis jener, denen er damals die Augen öffnete
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oder die Hand führte, sodass sie ihn erkannten und ihn bezeugten.
Er selber hat ihnen seine Wunden gezeigt.
Für mich liegt darin auch die Ermutigung für uns selbst, uns mit
unseren eigenen Wunden, Verletzungen, Nöten und Sorgen ihm zu
zeigen, so, wie wir sind. Dieses Ihm-sich-Zeigen und Von-ihmAngesehen oder sogar Berührt-Werden, so lehrt es uns Johannes,
ist zu kostbar, um mit vielen Worten erzählt zu werden. Es rührt
an unser Innerstes. Und es ist sogar dann möglich, wenn wir nicht
die Kraft, den Mut oder die Möglichkeit haben, unsere Tür zu öffnen. Denn Christus kommt auch durch verschlossene Türen zu uns
und spricht uns zu: „Friede sei mit euch“ (Johannes 20,19.21.26).
Mit Thomas können wir ihm antworten: „Mein Herr und mein
Gott“ (Johannes 20,28). Er spricht zu uns: „In der Welt habt ihr
Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33). Insofern ist unser Glaube der Sieg, der die Welt überwunden hat. Amen.
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Gebet
Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert
zu dir. Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich führet zu
dir. Mein Herr und mein Gott, o nimm mich mir und gib mich
ganz zu Eigen dir.
(Tägliches Gebet von Niklaus von Flüe; RGB 650)
Lied
Jesu, leite mich stark und festiglich, tausend Böses zu verriegeln,
tausend Gutes zu versiegeln: das sei meine Stärk und mein Tagewerk.
Wenn in meinem Sinn ich im Zweifel bin: Soll ich reden oder
schweigen, kämpfen oder still mich beugen? Sage du mir dann:
Man soll, was man kann.
Gib mir deinen Geist, der so köstlich heisst, dass ich ohne Worte
spreche, dass ich ohne Sturm zerbreche, dass ich sorgenfrei und
doch sorgsam sei.
Tritt an meine Statt, wenn ich schwach und matt. Leb ich nur von
Gottes Gnaden, nun so magst du mich beladen, weil die Majestät
ward ans Kreuz erhöht. (RGB 815)
ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH
St. Anna-Kapelle, St. Annagasse 11, 8001 Zürich
Gottesdienste: Sonntag 10.00 Uhr, Bibelstunden: Mittwoch 15.00 Uhr
Sekretariat St. Anna, Grundstrasse 11c, 8934 Knonau, Telefon 044 776 83 75
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