Timo Slootweg, Leiden 1. Einleitung 2. Der Geist als

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Timo Slootweg, Leiden
D A S GÖTTLICHE G E B O T U N D DER G E I S T DER L I E B E
EINE KRITISCHE AUSEINANDERSETZUNG MIT
HEGELS FRÜHEN THEOLOGISCHEN VORAUSSETZUNGEN
1. Einleitung
Ich möchte meine Auseinandersetzung aufhängen an einen Seufzer, die Kierkegaards Pseudonym
Anti-climacus in Krankheit zum Tode ausstößt. Anti-climacus sagt dort: »Überhaupt ist es unglaublich, welch eine Verwirrung in das Religiöse gekommen ist, seitdem man im Verhältnis des Menschen zu Gott - das >du sollst! < abgeschafft hat, welches das einzige Regulativ ist.«1
Wer ist das >Man< das hier gemeint ist? Welche sind es gewesen, die das Christentum auf diese
Weise verhökert haben? Wie sind sie dabei verfahren, wenn man bedenkt, dass die Offenbarung so
eindeutig in gebieterischem Ton auftritt?
Für Kierkegaard ist der Geist des Christentums unter der nachhaltigen Wirkung der Philosophen
verloren gegangen. Es sind insbesondere Hegel und Kant gewesen, die dazu beigetragen haben,
dass in der Beziehung von Mensch zu Gott das >Du sollst! < abgeschafft wurde. Dabei ist auch das
Königliche Gesetz (das Liebesgebot) umgedeutet worden. Die Pflicht als Pflicht verschwindet unter
der immanent-philosophischen Interpretation, die >Man< auf den Geist des Christentums losgelassen
hat.
Die zuletzt genannte Behauptung möchte ich hier erläutern unter Verweis auf Hegels Entwurf
Der Geist des Christentums und sein Schicksal von 1798, ein frühes Werk Hegels, das Kierkegaard
unmöglich gekannt haben könnte. Nach Dilthey gehört diese frühe Schrift zu dem Besten, was Hegel je geschrieben hat.2 Fantastisch ist es ohne Zweifel. Es lässt uns sehen, wie ungehörig wichtig
der religiöse Geist für Hegels Denken gewesen ist. Die Arbeit ist, wie Derrida sagt,3 die >konzeptuelle Gebärmutter< für seine ganze spätere und reifere Philosophie. Hegels dialektisches Schema ist
eine Abstraktion seiner Schau in die Natur der Liebe als Trennung und Wiedervereinigung.
2. Der Geist als Einheit und Leben
Entscheidend ist, dass (Hegel zufolge) der Geist des Christentums die verloren gegangene Einheit
des Lebens wider herzustellen verspricht. Die substantielle Einheit, die er in der Kultur der griechischen Polis bewunderte, war damals notwendigerweise an sich selbst zugrunde gegangen. Die
naive, vor-bewusste Einheit konnte als solche nicht mehr wiederkehren. In der christlichen Religion
aber fand Hegel Anknüpfungspunkte fur eine Wiederherstellung in anderer, mehr selbstbewusster
Form.
Um diese einheitsstiftende Kraft des Christentums begreifen zu können, analysiert Hegel die
Weise, woraus sich dieser Geist in der Geschichte entwickelt hat. Der Geist von Einheit und Leben
1
2
3
Seren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Simmerath 2004,115 (Seren Kierkegaards Skrifter, Kopenhagen 1997 ff, im folgenden SKS, Bd. 11, 201).
Wilhelm Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Stuttgart 1974, 68.
Jacques Derrida, Glas. Que reste-t-il du savoir absolu?, Paris 1981, 78.
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ist geboren aus der Negativität des jüdischen Glaubens. Die starren Gebote machen Platz für einen
Glauben an die Welt, für eine immanente Religion der Liebe.
Das alles gilt aber nur in gewisser Hinsicht. Denn das Christentum bleibt unwillkürlich mit dem
jüdischen Schicksal verbunden. Auch das Christentum ist für Hegel noch zu sehr eine außerweltliche
Religion. Und die christliche Liebe bleibt noch zu sehr im Spannungsverhältnis zu der Heiligkeit der
Welt.
Diese Ambivalenz Hegels in bezug auf den Geist des Christentums finden wir immer wieder auch
in seinen späteren Arbeiten. Die Liebe ist nur unter Vorbehalt und in gewissem Grade als Wahrheit
anzunehmen. Hegels Argwohn gegenüber dem Christentum in seinen späteren Werken, die Notwendigkeit, den Glauben dialektisch auf den Begriff zu bringen, stammt aus seiner Überzeugung, dass
das Christentum zwar inhaltlich die Versöhnung aller Gegensätze bezeichnet, aber dass es dieses
Versprechen selbst nicht verwirklichen kann, weil der Inhalt in eine inadäquate Form gefasst ist. Der
auffallende Hass, mit welchem Hegel alle Erbaulichkeit und Frömmigkeit verfolgt, zum Beispiel in
der Vorrede seiner Grundlinien, ist aus dieser starken Ambivalenz heraus zu erklären.
Aber seine Philosophie ist meines Erachtens nicht eine bewährte Dienstmagd der Theologie. Sie
gleicht vielmehr der >Vernunfithure<, vor der Luther immer gewarnt hat. Hegels eigene, fantastische
>Entdeckung< der beschränkten Reichweite der einheitsstiftenden Kraft der christlichen Religion
bringt ihn letztlich dazu, diesen Geist dem Geist der Vernunft zu opfern. In seiner Entdeckung hat er
auch eine Warnung sehen können. Nämlich, dass der Geist selbst scheinbar Widerstand bot gegenüber der Gewalt seiner holistischen Interpretationen; dass die Einheit und die Totalität, die er suchte,
nicht mit der christlichen Liebe zu vereinigen war; dass die wahre Liebe die gleiche Heteronomie
unterstellt, die er in seinen Interpretationen nicht wahrhaben wollte.
Religion ist nicht primär eine Quelle von Anerkennung, Kultur und sozialer Bindung. Im Gegenteil: diese Religion ist Unglaube (Karl Barth). Hier auf Erden sind Religion und Liebe primär
Spaltpflanzen; sie bedeuten eine Spaltung für jeden uneigentlichen >Sozialismus<, worin der Andere
auf vernünftige Weise als ein anderes Selbst aufgefasst wird. Die Liebe trennt, weil sie den Anderen
sonst entweder in seinem Anderssein beschränkt oder ausschliesst. Die Religion trennt jedes Zusammenleben, das eigentlich nur Ausdruck von Selbstliebe ist.
Anstatt zur Einsicht und Einkehr zu kommen, anstatt sich zum sacrificium intellectus zu
entschließen, bevorzugt es Hegel, die Religion der Philosophie zu opfern. Mittels der Vernunft wird
die Unendlichkeit als die Wirklichkeit des Konkret-Allgemeinen aufgefasst. Und das religiöse Gewissen (die reine Pflicht) wird aufgehoben zugunsten einer sittlichen Gesinnung; zu menschlicher
Liebe innerhalb der Familie, zu Patriotismus und Rechtschaffenheit.4 Der religiöse Kultus wird so
zum Kultus des sittlichen Lebens, und zur Vergötterung der heiligen Institutionen des Staates.
Damit ist das, was ich hier sagen möchte, nur in groben Zügen umrissen. Das reicht aber nicht.
Welches sind exakt die gewalttätigen Entscheidungen, die Hegel in seinen religionsphilosohischen
Reflexionen in bezug auf den jüdischen Glauben und den Geist des Christentums getroffen hat?
4
»Das wahrhafte Gewissen ist die Gesinnung, das, was an und fur sich gut ist, zu wollen; es hat daher
feste Grundsätze, und zwar sind ihm diese die für sich objektiven Bestimmungen und Pflichten. [...]
Aber das objektive System dieser Grundsätze und Pflichten und die Vereinigung des subjektiven Wissens
mit demselben ist erst auf dem Standpunkte der Sittlichkeit vorhanden. Hier auf dem formellen Standpunkte der Moralität ist das Gewissen ohne diesen objektiven Inhalt, so für sich die unendliche formelle
Gewißheit seiner selbst, die eben darum zugleich als die Gewißheit dieses Subjekts ist.« G. W. F. Hegel,
Grundlinien in der Philosophie des Rechts, § 137.
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3. Die Moral der Bergrede und dem Kontrast zum mosaischen Gesetz
bei Hegel und Kant
Hegel zufolge kommt das Christentum aus der Nichtigkeit der jüdischen Religion hervor; einer
Religionsform, die zurückgeht auf den Glauben an einen rein transzendenten Gott, der in nicht hier
auf Erden anwesend ist. Gott stellt sich nur durch das Gebot dar, dem die Juden auf rein sklavische
Weise Gehorsam leisten müssen.
Hegel zufolge hat Jesus das unglückliche Bewusstsein und das >Positive< von dem jüdischen
Gebot aufheben wollen. Er hat versucht, sich dem >Verhältniss< mit Gott aufgrund des menschlichen
Willens und des menschlichen Bedürfnisses zu nähern, um das Gute zu tun. Die Inkarnation befreit
uns vom Gebot und versöhnt die menschliche Natur mit Gott. Wenn wir nach Jesus auf einem rein
gesetzlichen Verhältnis beharren, dann gleicht das dem, die Gnade Gottes (die Versöhnung) nicht
annehmen zu wollen.
Jesus selbst hat das göttliche Gebot missachtet, es ging ihm um die Reinheit des Herzens. Das
Gesetz ist fremd, >positiv< und lebensfeindlich. Es ist eine Abstraktion von der konkreten Einheit.
Seine Botschaft ist: »du sollst ganz sein, und aus deinem Herzen leben!«
Das Gebot ist nur konzeptuell. Es drückt ein Sollen aus, das ganz und gar dem Sein gegenüber
steht. Das Gesetz ist abstrakt; die Pflicht kennt keine Wahrheit und ist deswegen ein Paradox für den
Verstand. Nur der Geist der Liebe ist die Wahrheit des Lebens; die Liebe ist die Empfindung des
Ganzen. Als Wahrheit aber kann der Geist nicht eigentlich geboten werden.
Gehorsam ist nicht Liebe. Alles was eine Wiedervereinigung unmöglich macht, ist gegen die
Liebe. Die Liebe kann sich nur aus einer natürlichen Neigung entwickeln; d. h. von jemandem, der
es vermag, sich im tastbaren Nächsten zu erkennen. Die Liebe ist das ganze menschliche Leben,
worin wir das, wozu wir verpflichtet sind, als ein innerliches Bedürfnis erkennen können. Liebe ist
der Drang nach Wiedervereinigung des Entfremdeten; nach der Einheit des Getrennten. Liebe ist
Freiheit und Freiheit ist Wahrheit. 5
Es steht, wie gesagt, im Widerspruch zu Kant, wie Hegel seine Position entwickelt. Und durch
die Perspektive Kants auf das göttliche Gebot kann die Position Hegels weiter verdeutlicht werden.
Hegel zufolge hat auch Kant versucht, die abstrakte Universalität des Gebots aufzuheben. Aber die
kantische Lösung ist für Hegel nicht zureichend.
In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft sagt Kant, dass es wohl
große Unterschiede gibt zwischen den Schamanen und den europäischen Prälaten, zwischen dem
Mogul und dem Puritaner, aber dass sie im Prinzip miteinander übereinstimmen. 6 Sie gehorchen alle
den externen Geboten, aber nicht denen Ihres eigenen Verstandes, wozu die Bibel, und auch Kant
selbst, die Puritaner doch eigentlich aufruft. Religion ist die Erkenntnis aller unserer Pflichten als
Göttliche Gebote.
Für Hegel gilt, dass die Kantische Verinnerlichung des Gebots den unterdrückenden Charakter
davon nicht völlig wegnimmt. Dass die Neigungen bei Kant nicht von außen, sondern von innen
her beherrscht werden, ändert nichts an dem sklavischen Charakter des kantischen Subjekts. Man ist
hier immer noch Sklave seiner Selbst. Das Gebot wird zwar verinnerlicht, aber die Entfremdung ist
immer noch da, und die christliche Versöhnung kommt nicht zu Stande. 7
Hegels Kritik an Kant und seine Moralität spiegelt sein Ärgernis über das Judentum und über die
Religion im Allgemeinen wider. Kants innerlicher Widerspruch manifestiert sich dahingehend, da
bei ihm die Pflicht noch immer auf eine Gegenüberstellung verweist, wobei die Freiheit des Willens
5
6
7
G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, Werke, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986, 288.
Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Darmstadt, 848.
Hegel, Geist des Christentums, a. a. O. (Anm. 4), 323.
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diese Gegenüberstellung wegzunehmen versucht. Kant nimmt nur Abstand von der Heteronomie
der Religion außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Aber innerhalb dieser Grenzen bleiben wir
Sklaven.
Für Hegel stellt sich das höchste Gebot nur in Form als ein Gebot dar (nicht qua Inhalt). Liebe
impliziert die Versöhnung mit dem Gebot und dem Sein. Das bedeutet, das Gute zu tun und gut zu
sein aus eigener Motivation und ohne Zwang. Das abstrakte Gebot vernichtet das Leben. Die Liebe
versöhnt den Menschen mit seinem Nächsten und mit sich selbst. So gesehen ist die Liebe Ausdruck
des göttlichen Ursprungs der Menschheit. Hegel zufolge ist die Bergpredigt ein direkter Angriff auf
das abstrakte Gesetz. Die Erfüllung des Gebots ist die Aufhebung desselben. 8
Für Kant besteht die Wahrheit des Liebesgebotes darin, dass dieses Gebot an ein praktisches
Wohlwollen (amor benevolentiaë) mit Respekt zur Freiheit des autonomen Selbst appelliert. Die
Wahrheit des Liebesgebotes besteht darin, dass es sagt: >Du sollst gehorsam dem Gesetz der eigenen
Vernunft folgen!<
Für Hegel aber genügt dies nicht. Die Liebe ist nicht dem Gesetz untergeordnet. Das Gebot fordert eine organische, natürliche und vernünftige Zuneigung für Andere. Es ist der Triumph der Liebe, das diese nicht über etwas herrscht. Die Liebe ist unehrlich, wenn sie geboten wird. Sie spricht
kein Sollen aus; sie ist Einigkeit des Geistes, Göttlichkeit: »Gott lieben ist sich im All des Lebens
schrankenlos im Unendlichen fühlen.« 9
4. Die Unwahrheit des Gebots in Hegels spätere
Religionsphilosophie
Hegel wiederholt seine frühe Kritik an den Beschränkungen des jüdischen Glaubens (>die Religion
der Erhabenheit) in seinen späteren Vorlesungen über die Philosophie der Religion; auch noch in
den reifsten, dialektisch am weitesten entwickelten Vorlesungen von 1827. Deswegen bin ich auch
nicht mit Hodgson einverstanden, wenn er sagt, dass Hegels Kritik in seinen späteren Vorlesungen
verstummt, und wenn er von »the favorable reassessment of Judaism begun in 1824« spricht.10
Unauswertbar für die dialektische Entwicklung der Religion überhaupt ist die geistige subjektive Einheit der jüdischen Gottheit. Das war eine Einheit, die die Griechischen Götter nicht gehabt
haben. In der Tat steht Hegel hier dieser göttlichen Einheit eigentlich ganz sympathisch gegenüber,
die absolute Macht, Weisheit und Zweck vergegenwärtigt; diese Einheit erst verdient für uns den
Namen Gott.
Dieser Gott existiert ohne sinnliche Form: »[F]ür diese reine Subjektivität ist der Boden der
reine Gedanke; sie ist dem Natürlichen entnommen und damit dem Sinnlichen, es sei in äußerlicher
Sinnlichkeit oder es sei die sinnliche Vorstellung.«"
Wohl umfasst die göttliche Weisheit die göttliche Entäußerung, die Schöpfung, in der Gott die Welt
aus absoluter Freiheit aus sich entlässt. Die Schöpfung aber bleibt relativ äußerlich zu Gott. Die Welt
ist jetzt prosaisch, sie tritt uns als eine Versammlung von Dingen entgegen. Die Natur ist entgöttert.
Gott ist >in< der Welt, es gibt eine Identität des Ideellen und Reellen, aber nur als unendliche Subjektivität, nicht als >billige< Neutralisation, als gegenseitige Abstumpfung (wie bei die Griechen; T. S.).
Diese freie und autonome Welt ist nicht ganz und gar unabhängig von Gott; das Natürliche und
Weltliche wird negiert als ein Unangemessenes für das unendlich Subjektive. Das ist der Zweck
8 Hegel, Geist des Christentums, a. a. O. (Anm. 4), 324.
9 Ders., Geist des Christentums, a. a. O. (Anm. 4), 363.
10 P. C. Hodgson, »Editorial Introduction«, in: G. W. F. Hegel, Lectures on the Philosophy of Religion. The
Lectures of1827, Oxford 2006, 55.
11 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Die bestimmte Religion, Hamburg 1994,
561.
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Gottes. Nicht in der Natur als solcher, aber in dem Bewusstsein manifestiert sich seine Macht und
Weisheit: »Die ganze Welt soll die Ehre Gottes verkünden, [...] und den Herrn loben.« Sein allgemeiner Zweck ist es, gewusst zu werden von dem Bewusstsein. Und der bestimmtere Zweck ist der
praktische, der sich aktiv in dem Geist der Welt als solcher realisiert. »[D]ies Gesetzliche Rechte ist
eben das Göttliche, und insofern es ein Weltliches im endlichen Bewußtsein ist, ist es ein von Gott
Gesetztes.«12
Die Vorstellung Gottes enthält aber eine Beschränktheit, die die weitere Realisationen des göttlichen Begriffs im menschlichen Bewusstsein auch beschränkt. Der Mensch soll Recht tun; das
ist das absolute Gebot, und dies Rechttun hat seinen Sitz in seinem Willen. Diesem Wollen, dieser
Innerlichkeit in Rücksicht auf Gott steht die Natürlichkeit des Menschen gegenüber; dieses Gebrochensein ist im Menschen gesetzt. Darum ist die jüdische Weisheit nur abstrakt, es ist abstrakte
Universalität. »Die Weisheit Gottes, das Selbstbestimmen hat noch nicht seine Entwicklung. Diese
Entwicklung in der Idee Gottes ist erst in der Religion, wo die Natur Gottes offenbar ist. Der Mangel
dieser Idee ist hier, daß Gott wohl der Eine ist, aber so in sich selbst ewig sich Entwickelnde ist.
Es ist noch nicht entwickelte Bestimmung; was wir Weisheit nennen, ist insofern ein Abstraktes,
abstrakte Allgemeinheit.«13
Der göttliche Zweck der Schöpfung ist der Gottesdienst, das ist Handien in Übereinstimmung
mit den vorgeschriebenen, unveränderlichen göttlichen Geboten, moralischen und zeremoniellen
Gesetzen. Das Rechttun ist ein Tun, weil es so geboten ist. Aber eben deswegen enthalten die Handlungen die Forderung, dass sie verstanden werden, dass Ihre Weisheit gewusst werde. Sie verlangen
die Einsicht, dass sie vernünftig sind und dass sie Beziehung auf die berechtigte Besonderheit der
Menschen und ihrer Empfindungen haben.
Hier aber, in der abstrakten jüdischen Religion, »ist die Weisheit nicht eine entwickelte. Hier
sind Besonderheiten; in diesen wird die Weisheit nicht erkannt, sie wird nicht entwickelt, dringt
nicht in das Gefühl. Insofern ist das göttliche Gebot nur abstrakte Vorschrift der Weisheit; so wird
sie nicht verstanden, so wird sie getan als etwas Äußerliches. Weil Gott absolute Macht ist, so sind
die Handlungen an sich unbestimmt und deswegen äußerlich, ganz willkürlich bestimmt.«14
5. Schlussbemerkungen
Die religionsphilosophische Wirksamkeit fuhrt zu tiefgreifenden Missverständnissen über das göttliche Wort. So sind nicht nur der jüdische Glaube, sondern auch der jüdische Gehalt innerhalb des
Christentums durch Hegels gewalttätige Interpretationen beschädigt worden.
In seiner Schrift Über die wissenschaftlichen
Behandlungsarten
des Naturrechts
von 1802 sagt
Hegel, dass die klassische Erscheinung des besonderen Genies das Symptom der innerlichen Desintegration und die Vorabspiegelung des zukünftigen Verfalls der griechischen Zivilisation gewesen
ist. Vielleicht gilt dasselbe auch für das Genie, das Hegel selbst war. Vielleicht kann die Desintegration der zurückliegenden Jahrhunderte zurückgeführt werden auf den Geist der >immanenten
Philosophie^ die in der Gestalt Hegels einen ihrer wichtigsten Vertreter gehabt hat.
Der Religion der Liebe liegt das einheitliche sittliche Leben zu Grunde, so sagt Hegel wieder in
der Enzyklopedie von 1830.15 Es war eine Philosophie von Liebe, Identität und Einheit, die damals
zu einem Totalitarismus von Staat und Gemeinschaftlichkeit führte, und die dann das Volk des Gebots, das messianische Volk der nicht-Identität und der Differenz, zum Opfer gemacht hat. Hegels
12 Ders., Philosophie der Religion, a. a. O. (Anm. 10), 574.
13 Ebd., 575.
14 Hegel, Philosophie der Religion, a. a. O. (Anm. 10), 578.
15 Ders., Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Hamburg 1992, § 482; § 552.
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Voraussicht in Der Geist des Christentums scheint dieses Schicksal zu antizipieren: »Das Schicksal
des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen
hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschliche Natur zutreten und ermorden, von seinen
Göttern endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden.«16
Mit Sicherheit kann die Liebe als Gefühl nicht geboten werden. Also ist sie entweder etwas
anderes als Gefühl, oder das Gebot der Liebe, das schon in Leviticus genannt wird (Lev. 19, 18), ist
sinnlos. Das >Austreiben< des ursprünglich jüdisch-asymmetrischen Geistes bewirkt, dass Hegels
Interpretation dem Anderssein der Anderen kein Recht widerfahren lässt, worin, auch wieder für Lévinas und Derrida, die wahre Unendlichkeit zu finden ist. Und er wird damit auch der Souveränität
des Selbst nicht gerecht, von der der Andere der Andere ist.
Gott ist Liebe. Für Gott ist alles möglich. Oder: Gott ist, das alles möglich ist. Liebe und Vergebung überschreiten die Grenzen dessen, was noch möglich und wirklich zu sein scheint. Die bloß
menschliche Liebe sucht in den Anderen nur sich selbst. Diese Liebe soll darum >gehasst< und geopfert werden (Luk. 14, 26). Darum ist die Liebe Pflicht und Gebot; sie erfordert gehorsam gegen
das Gesetz des Evangeliums. Das Königliche Gesetz suspendiert alle Rationalität im moralischen
und ethischen Sinne. Es überschreitet (in Potenz) alle gewohnten Seinsordnungen, in denen wir Sinn
und Recht verdinglicht haben. Wir sind nicht von Natur aus oder aus rationellen Gründen imstande,
Liebe zu schenken. Die Idee einer Analogie zwischen Gott und Mensch, zwischen Natur und Gnade,
geht vorbei an der qualitativen Differenz zwischen beiden. Das ist aber die typisch >jüdische< Differenz, die Hegels Philosophie der Religion nicht wahrhaben will. Entweder du sollst dich ärgern oder
du sollst glauben!
Dr. Timo Slootweg
Faculty of Law - Leiden University
Department of Legal Philosophy
Steenschuur 25, Room A326
P.O. Box 9520, 2300 RA Leiden
The Netherlands
T.J.M.Slootweg@law. leidenuniv. nl
16 Ders., Geist des Christentums, a. a. O. (Anm. 4), 297.
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