2014 HORST AFFLERBACH RAINER EBELING ELKE MEIER (HRSG.) REICH GOTTES — VERÄNDERUNG — ZUKUNFT Theologie des Reiches Gottes im Horizont der Eschatologie Horst Afflerbach, Rainer Ebeling & Elke Meier (Hrsg.) REICH GOTTES – VERÄNDERUNG – ZUKUNFT Reich Gottes – Veränderung – Zukunft Theologie des Reiches Gottes im Horizont der Eschatologie GBFE Jahrbuch 2014 Hrsg. von Horst Afflerbach, Rainer Ebeling und Elke Meier im Auftrag der Gesellschaft für Bildung und Forschung in Europa Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2014 Gesellschaft für Bildung und Forschung in Europa e.V. Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN 978-3-8442-9736-2 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH Satz: GBFE All articles in this GBFE-Yearbook have been reviewed by independent and external persons. Their reports are in the files of the editors. www.gbfe.org Inhaltsverzeichnis Volker Gäckle Die gegenwärtige und die zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu.................................................... 11 Ulrich Neuenhausen Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes.......................................................................... 35 Marco Lindörfer „Das Streben nach Glückseligkeit“ — Oder: Wie Paulus im Römerbrief die Konturen des Reiches Gottes nachzieht....... 57 Timothy J Geddert When is the end not “The End”? — Examining the puzzle of Mark 13............................................................... 83 Tobias Faix Das Reich Gottes zwischen eschatologischer Vertröstung und sozialer Utopie — ­­ Beispiele aus Geschichte und Gegenwart eines umstrittenen Begriffes........105 Roland Hardmeier Preisgabe des Evangeliums? — Eschatologie als Prüfstein missionaler Theologie.............................................147 Horst Afflerbach Die doppelte Perspektive auf das Reich Gottes als Differenzkriterium der Eschatologie..........................173 Thomas Klöckner Bucer, Capito und Cellarius — Reformatorische Auseinandersetzungen mit Täufern und Spiritualisten in eschatologischen Fragen (am Beispiel Straßburg)..............197 Christof Sauer Ist Martyrium das Ende? — Wie die Wahrnehmung von Bedrängnis, Verfolgung und Martyrium die Zukunftserwartung beeinflusst.............................................215 Rezensionen...........................................................................237 Vorwort Das Thema des neuen Jahrbuchs „Reich Gottes und Zukunftserwartungen“ bündelt in gewisser Weise die beiden theologischen Brennpunkt-Themen, durch die sich Christen schon immer – aber heute wieder vermehrt – herausgefordert sehen. Welche Auswirkungen hat das in Christus schon begonnene Reich Gottes, in dem sich die Herrschaft Christi ausdrückt, auf diese Welt? Keine oder nur geistlich-individuelle oder auch global weltlich transformative? Durch die in den vergangenen Jahren neu aufgekommene Perspektive einer transformativen oder gesellschaftsrelevanten oder missionalen oder interkulturellen Theologie, die stark die präsentischen und gesellschaftsverändernden Aspekte des Reiches Gottes betont, wurden nicht wenige Christen sehr ermutigt und motiviert, sich mehr für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt und für ein ganzheitliches Verständnis von Mission einzusetzen. Eine Neuorientierung scheint unerlässlich zu sein angesichts der massiven globalen Herausforderungen unserer Zeit und der gleichzeitig schmerzhaft offenbar werdenden Hilflosigkeit der Kirche, auf diese Herausforderungen angemessen mit dem Evangelium zu reagieren. Diese stark weltorientierten und gesellschaftsrelevanten missionalen Ansätze führten nun bei anderen, eher traditionell orientierten Christen aber zu der Sorge, dass dadurch das neutestamentliche Gebot der Evangelisation und das ihm zugrunde liegende soteriologische Anliegen verraten werden könnte. Beide Gruppierungen beriefen und berufen sich auf die Schrift und betonen ihr je eigenes Verständnis des Reiches Gottes. Dabei werden grundsätzliche Fragen gestellt. Was ist 7 überhaupt das Ziel des Evangeliums – die Veränderung der Welt oder die Rettung von Menschen vor dem ewigen Verderben? Ist es das Ziel in den Himmel zu kommen oder für eine gerechte Welt einzutreten? Oder ist vielleicht beides die Aufgabe der Gemeinde Jesu Christi? Welche Rolle spielt bei diesen Überlegungen das grundlegende Thema Reich Gottes und was sind die biblischen Zukunftsperspektiven? Wie verhalten sich Reich Gottes, Gemeinde und Welt zueinander und was sind ihre vorrangigen Ziele? Damit werden auch zugleich die mit dem Reich Gottes untrennbar zusammenhängenden Fragen der Eschatologie angeschnitten. Man kann heute geradezu wieder ein neues Interesse an der Eschatologie erkennen (siehe die Rezension von Chr. Stenschke), nachdem sie zeitweise durch übertriebene Spekulationen in Verruf geraten war. Das ist nicht verwunderlich, da Eschatologie im alt- und neutestamentlichen Denken eine zentrale Stellung einnimmt (siehe die Artikel von V. Gäckle, T. Geddert und U. Neuenhausen). Man kann die Botschaft Jesu vom Reich Gottes mit all ihren unglaublichen Verheißungen sowie ihren geistlichen und transformativen Implikationen nicht wirklich verstehen, wenn man sie nicht in der Spannung des schon gekommenen und in der Zukunft wiederkommenden Christus, seiner schon angebrochenen und noch nicht vollendeten Herrschaft versteht. Die Herausforderung dürfte darin bestehen, diese doppelte Perspektive (Artikel H. Afflerbach) sowie alle anderen Dimensionen der vielfältigen biblischen Eschatologie (Artikel R. Hardmeier, T. Faix und Chr. Sauer) in kreativer Spannung zu halten und entsprechend zu leben – „in Dankbarkeit für alles schon Realisierte und im Aufblick auf den wiederkommenden Herrn und die damit verbundene Vollendung des Heils in der vollkommenen Herrschaft Gottes und seines Christus“ (Rezension Chr. Stenschke). Dieses Buch will im theologischen Ringen um das Selbst- und Missionsverständnis der Kirche Jesu Christi im 8 Paradigmenwechsel unserer Zeit einen hoffentlich hilfreichen Beitrag zur Anregung und weiteren Klärung bieten. Bei allen vielfältigen Facetten dieses Themas und der Unterschiedlichkeit der Erkenntnisse besteht Einigkeit jedoch darin, dass das Reich Gottes mit seinen transformativen Implikationen ein Schlüssel-Thema der Missi­onswissenschaft ist. Unbestritten ist auch, dass wir ein biblisches Verständnis von Reich Gottes, Gemeinde und Welt wieder neu gewinnen müssen, damit die Gemeinde Jesu ihren Auftrag in dieser Welt vollmächtig im Sinne ihres Herrn ausführen kann. Unbestritten ist, dass Jesus Christus der Herr ist, der durch seinen stellvertretenden Tod am Kreuz und in seiner Auferstehung die Sünde der Welt getragen und den Tod überwunden hat. Unstrittig, dass die Gemeinde sein Leib ist, der durch seinen Heiligen Geist belebt wird, und durch den Christus in dieser Welt handelt. Wir sind den Autoren, die unserer Einladung zu einem Beitrag gefolgt sind, sehr dankbar. Nicht alle zugesagten Aufsätze konnten – aufgrund der vielfältigen Aufgaben der Autoren – verwirklicht werden. Wir sind froh, dass trotzdem eine breite Palette an Einsichten dargestellt werden konnte. Horst Afflerbach1 — Rainer Ebeling2 — Elke Meier3 1 Horst Afflerbach, DTh, Leiter Biblisch-Theologische Akademie Wiedenest. Rainer Ebeling, DTh, Dozent für Systematische Theologie bei IGW und GBFE, Gastdozent an der Teološki fakultet „Matija Vlacic Ilirik“, Zagreb. 3 Elke Meier, Beraterin für Trägerkreisaufbau, Wycliffe Global Alliance. 2 9 Abkürzungen ARG Archiv für Reformationsgeschichte AThANT Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testamentes BIS Biblical interpretation series BSELK Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche BThSt Biblisch-theologische Studien BWANT Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament EvTh Evangelische Theologie EWNT Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament NICNT New International Commentary on the New Testament NTS New Testament Studies RGG Religion in Geschichte und Gegenwart ThBl Theologische Blätter ThHK Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament ThR Theologische Rundschau ThSt Theologische Studien TRE Theologische Realenzeklopädie TSAJ Texts and Studies in Ancient Judaism WUNT Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament ZNW Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 10 Die gegenwärtige und die zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu Volker Gäckle1 1Einleitung Um die Frage nach dem temporalen Verständnis des Syntagmas βασιλεία του̑ θεου̑ drehte sich in den vergangenen 150 Jahren eine der großen Forschungsdebatten in der neutestamentlichen Wissenschaft.2 Von grundlegender Bedeutung 1 Pfr. Prof. Dr. Volker Gäckle, Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell und Professor für Neues Testament dasselbst, Pfarrer der Ev. Landeskirche in Württemberg [2005 Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2014 Habilitation an der Universität Zürich.] 2 Neben der Frage nach dem temporalen Verständnis werden im Blick auf das Syntagma βασιλεία του̑ θεου̑ noch eine Reihe weiterer Fragen diskutiert, wie z.B. das Problem der Kontinuität bzw. Diskontinuität des jesuanischen Begriffsgebrauchs zum zeitgenössisch jüdischen Verständnis oder die Bedeutung des Begriffes an sich: Muss er aufgrund der Forschungen von Dalman (1930:77) funktional mit „Königsherrschaft“ übersetzt werden, oder mit der territorialen Konnotation „Reich Gottes“? Theißen und Merz (1997:222) zählen nicht weniger als zehn Problemkreise auf, die sich um den Begriff in der exegetischen Diskussion ranken. war dabei die Debatte innerhalb der religionsgeschichtlichen Schule.3 Ausgangspunkt der Diskussion war der Widerspruch zum Begriffsverständnis der liberalen Theologie, die im Reich Gottes eine ethische Größe sah, die dort greifbar werde, wo ein Mensch Gott als den Vater Jesu anerkenne, sein Leben entsprechend von diesem Glauben bestimmen lasse, wodurch es zu einem langsamen, aber stetigen, rein innergeschichtlichen Wachstum des Reiches Gottes komme. Es waren die drei Göttinger Dozenten Johannes Weiß, Wilhelm Bousset und William Wrede, welche im letzten Jahrzehnt des ausgehenden 19. Jahrhunderts diesem Bild widersprachen und damit die maßgeblichen Spuren für die Diskussion im 20. Jahrhundert legten. J. Weiß betrachtete das „Reich Gottes“ bei Jesus – im Widerspruch zu seinem Schwiegervater A. Ritschl, einem der Hauptvertreter der liberalen Theologie – rein apokalyptisch als eine „überweltliche Größe“ (Weiß 1964:236), die „noch nicht“ da, „aber ganz nahe“ ist (:220) und zur bestehenden Welt in einem „ausschließenden Gegensatz“ (:236) steht. Den locus classicus für das präsentische Verständnis in Matthäus 12,28 bzw. Lukas 11,20 interpretiert Weiß psychologisierend als „einen Augenblick erhabener prophetischer Begeisterung, wo ihn ein Siegesbewußtsein überkommt …“ (:223). Entsprechend kann er der Wirksamkeit Jesu analog zu der des Täufers „keine[n] messianische[n], sondern eine[n] vorbereitende[n]“ Charakter beimessen (:224,237,239). Völlig konträr dazu fragte W. Bousset unter dem vielsagenden Titel „Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum“ nach dem Charakteristischen, Eigentümlichen und Ursprünglichen in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu (Bousset 1892:7) und entdeckte dieses im präsentischen Profil. Jesu Predigt vom Reich Gottes „wurzelte in der Gewißheit, daß seine Gegenwart, die Zeit, in der er auf Erden wandelt, 3 12 In kompakter Weise nachgezeichnet wurde diese Debatte von Merkel (1991:120–135). Eine knappe und ebenfalls kompakte Einführung in die Forschungsgeschichte findet sich auch bei Theißen und Merz (1997:223–226). Volker Gäckle schon in einer viel engeren, bestimmteren Beziehung zu der kommenden seligen Endzeit steht, als alle vorhergegangene Zeit. Seine Zeit ist messianische Zeit“ (:60f). Kurz darauf formuliert er: „… für Jesus war der ungeheure Abstand, die Spannung zwischen der Gegenwart und der herrlichen Zukunft verschwunden, er hörte schon das Rauschen einer neuen Zeit, er lebte in ihr“ (:61f).4 Die erneute Reaktion ließ nicht lange auf sich warten und stammte aus der Feder William Wredes. Er knüpfte betont an die Ergebnisse von J. Weiß an und radikalisierte dieselben. Sein Ausgangsargument gegen das Kontrastmodell Boussets ist ein argumentum e silentio: Jesus hat nie eine Belehrung darüber gegeben, was er unter dem Reich Gottes verstehe. Er hat nie seinen Jüngern gesagt, daß seine Anschauung vom Gottesreiche eine andere sei als die landläufige. Überall ist der Eindruck, daß er ein bekanntes Wort in demselben Sinne gebraucht, in dem man es allgemein verstand. (Wrede 1907:88) Wenn Jesus einem anderen Sprachgebrauch gefolgt wäre, hätte er es also sagen müssen. Aber Wrede kann auch bei der Analyse der einschlägigen Belege keinen Bedeutungswechsel erkennen. Entsprechend bleibt Wrede bei der von Weiß betonten futurischen Deutung: „Nicht das Reich, sondern die Nähe des Reiches ist Inhalt des Evangeliums“ (:96). Der locus classicus der präsentischen Deutung in Matthäus 12,28 bzw. Lukas 11,20 ist für ihn „nichts anderes als ein Vorschein, eine Morgenröte, eine Vorauswirkung des künftigen, nahen Gottesreiches“ (:99). Entsprechend hat auch aus seiner Perspektive die Predigt Jesu lediglich vorbereitenden Charakter. Es ist noch Zeit zur Buße, eben weil das Reich noch nicht da ist.5 4 Vgl. auch Bousset 1892:62f: „Es ist keine Kluft zwischen Gegenwart und Zukunft, Ideal und Wirklichkeit sind miteinander vermählt.“ 5 Vgl. Merkel 1991:124f. Diese Position korrespondiert wieder mit seiner unmessianischen Deutung der Person Jesu. Wenn Jesus das Reich „nur“ vorbereitet, Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 13 Ging die „Göttinger Debatte“ nach der Selbstkorrektur Boussets6 eindeutig zugunsten einer futurischen Deutung aus, so folgte der Umschwung zu einer präsentischen Deutung mit dem Plädoyer des walisischen Neutestamentlers Charles Harold Dodd für eine „realized eschatology“.7 Ausgehend von Matthäus 12,28 entwickelte er eine Sicht der Dinge, nach der in Jesu Wirken alle eschatologischen Erwartungen erfüllt wären, das Reich Gottes damit bereits angebrochen sei und von seinen Jüngern nun zur vollständigen Durchsetzung gebracht werden müsste. Die sich daraus ergebende Reich-Gottes-Ethik bestimmte maßgeblich die ethische Diskussion in den 60er und 70er Jahren. Nunmehr wurde der Aspekt der menschlichen Verantwortung im Zusammenhang mit dem ReichGottes-Begriff betont. So ist es der Christenheit nach Albert Schweitzer auferlegt, den Glauben an das von selbst kommende Reich hinter sich zu lassen und sich dem des zu verwirklichenden hinzugeben […] Im Denken Pauli […] beginnt das übernatürliche Reich zum ethischen zu werden und sich damit aus etwas zu Erwartendem in etwas zu Verwirklichendes zu verwandeln. Den Weg, der sich damit auftut, haben wir zu begehen. (Schweitzer 1967:204) Und Harvey Cox formuliert nicht weniger entschieden: „Wenn Jesus das Reich Gottes in Person ist, dann sind die Elemente göttlicher Initiative und menschlicher Verantwortung im Kommen des Reiches unlösbar verbunden“. Für ihn gilt deshalb die Kirche, die wenig von Gott redet, aber dafür die von ihm ermöglichte Freiheit zu verwirklichen hilft, als „die Avantgarde der neuen Herrschaft“ (Cox 1966:126). kann er nicht der Messias sein. Hier liegt der Ausgangspunkt für Wredes 1901 erschienenes Hauptwerk über das Messiasgeheimnis im Markusevangelium. 6 Er schloss sich in einem Forschungsbericht aus dem Jahre 1902 und in einem populärtheologischen Jesusbuch (Bousset 1907) der Auffassung von Weiß an. 7 Vgl. Dodd 1927:120–122 und Dodd 1935. 14 Volker Gäckle Demgegenüber hat bereits 1970 Günter Klein die Theozentrik des Begriffs betont. Jesus begreife „das Kommen der Gottesherrschaft – wiederum ganz unzelotisch – in keinem Sinne als eine Funktion menschlicher Aktivität. Im Gegenteil: es ist der Aktivität des Menschen grundsätzlich entzogen.“ Es geht „allein um Gottes Herrschaft, nicht aber um eine Kooperation von Gott und Mensch bei der Heraufführung des Reiches“ (Klein 1970:656f).8 Auch Chr. Burchard betont, dass die Gottesherrschaft nicht in der Reichweite des Menschen liege: „Menschen können sie nur erbitten“ (Burchard 1987:24). Ein Grundproblem der Reich-Gottes-Forschung waren und sind die im Rahmen der historisch-kritischen Forschung der Jesustradition stets virulenten Authentizitätsfragen. Vor allem das spannungsvolle Verhältnis zwischen futurischen und präsentischen Aussagenreihen verleitete Exegeten immer wieder dazu, entweder die eine oder andere für unauthentisch zu erklären.9 Allerdings gewinnt man bei derartigen „Lösungen“ nicht selten den Eindruck, dass ein bereits vorgefertigtes Konzept mit positiven oder negativen Authentizitätsurteilen begründet werden soll und nicht umgekehrt.10 Während die 8 Vgl. auch ebd.: „Dem entspricht schließlich, daß Jesus kein politisch-soziales Programm entwirft […] und jeglichen Aufruf zur Revolution vermissen läßt.“ 9 So wurden Jesus im Rahmen des nordamerikanischen Jesus-Seminars die futurischen Reich-Gottes-Aussagen wie überhaupt jegliche futurische Eschatologie abgesprochen, weil die βασιλεία-Verkündigung Jesu keine Zeitaussage und keine Erwartung einer zukünftigen Weltveränderung enthalte, sondern Ausdruck einer Lebensform sei, vgl. Crossan 2001:266ff und Borg 1994:47–68. Wolter (1995:5–19) hat den synoptischen Einlasssprüchen die Authentizität aberkannt, weil er in ihnen eine mehrfache Verschiebung zu der von ihm vermuteten Basileiapredigt Jesu zu erkennen meinte; vgl. dazu auch Horn 1996:190,193–197. Für eine Authentizität der Einlassworte haben sich dagegen Merklein (1984:116), Weder (1980:973f), Luz (1980:485), Hengel (1991:178) und mit gewissen Einschränkungen auch Horn (1996:196,198,200) ausgesprochen. Umgekehrt will H. Räisänen (2001) nur eine rein eschatologische Deutung der βασιλεία-Verkündigung Jesu gelten lassen und spricht konsequent Lukas 11,20, dem locus classicus der präsentischen Deutung, die Authentizität ab. 10 Vgl. hierzu auch G. Klein (1970:658): „Zahllos sind nun freilich die Versuche, einen Ausgleich zwischen den gegenläufigen Aussagenreihen dadurch herzustellen, daß man eine von ihnen für unecht erklärt.“ Auch Schröter (2004:206), wendet sich gegen derartige literarkritische Operationen: „Das Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 15 jeweils passenden Belege das Siegel der Echtheit bekommen, werden querliegende Belege ausgeschieden. Entsprechend vielfältig sind bis heute die Entwürfe und Vorschläge und entsprechend fern sind wir nach wie von einem Konsens in diesen Fragen. In diesem Beitrag gehe ich bei den von mir herangezogenen Belegen von einer Authentizität aus, ohne dass ich dies im Rahmen dieses Artikels im Einzelnen begründen kann. 2 Reich Gottes im Frühjudentum In der frühjüdischen Literatur dominiert in den seltenen Belegen der eschatologische Aspekt. In apokalyptischen Texten wie dem Danielbuch (Dan 2,44; 7,14.27), den Qumranschriften11, PsSal 5,18f; 17,3.21–46; Sib 3,46ff.767; syrBar 73,1; AssMos 10,1–10; TestJud 21f; TestDan 5,10–13 und einigen jüdischen Gebeten wie dem 18-Bitten-Gebet (Bill. IV:212) und dem Qaddisch12 wird die zukünftige Realisierung der Gottesherrschaft erwartet, die im Himmel bereits Wirklichkeit ist, jedoch noch nicht auf Erden. Die Königsherrschaft Gottes ist hier eine „endzeitliche Realität“ (Klein 1970:651).13 Im rabbinischen Schrifttum stehen zwei stereotype Wendungen im Mittelpunkt: „das Joch des Königtums auf sich nehmen“ (im Sinne einer monotheistischen Grundentscheidung, die beim Rezitieren des Shema Jisrael immer wieder getroffen wurde)14 und „offenbar wird das Königtum Gottes“ (nämlich am Ende der Zeiten). Die Redewendung vom eschatologischen Nebeneinander von gegenwarts- und zukunftsbezogenen Aussagen läßt sich deshalb nicht dadurch erklären, daß eine der Aussagenreihen Jesus abgesprochen und zur späteren Akzentverschiebung erklärt wird.“ 11 1QM 6,6; 12,8.15f.; 1QSb 3,5; 4,24-26; 5,21. 12 Vgl. Mi 6,4–8 und Lehnhardt 2002. 13 Klein, 1970, 651. 14 Vgl. Bill. I, 172ff.176f. (k-m); vgl. auch mBer II,2.5. Der Beter des Shema nimmt bewusst das Herrentum Gottes an, das mit dem Akt des Gebets in die Welt tritt, das Leben und den Alltag des Betenden bestimmt und auf diese Weise die Gegenwart von Gottes Herrschaft in der Welt garantiert. 16 Volker Gäckle „Offenbaren“ bzw. „Erscheinen“ des Reiches Gottes kann als typisch für diese Epoche gelten. Im Frühjudentum wurde mit dem endzeitlichen Erscheinen des Reiches Gottes die Epiphanie Gottes selbst erwartet (vgl. AssMos 10,1ff; Jub 1,28; vgl. Jes 31,4; 40,9f; 52,7). Ein wesentlicher Aspekt wurde jedoch erst durch die Erforschung der Sabbatlieder von Qumran sichtbar. Es war AnnaMaria Schwemer, die in den Sabbatliedern den mit Abstand „wichtigste[n] vorchristliche[n] jüdische[n] Text zum Thema ‚Gottes Königsherrschaft‘“ identifizierte (Schwemer 1991:115, ebenso :47). Neben nicht weniger als 55 Belegen für melek taucht das seltene Abstraktum malkût hier 21 Mal auf. Die Sabbatlieder stellen gottesdienstliche Liturgien dar, die den Gottesdienst der Engel im himmlischen Heiligtum beschreiben, an dem die irdische Gemeinde des yaḥad freilich teilnimmt. Die Gemeinde feiert sozusagen mit den Engeln gemeinsam den himmlischen Gottesdienst, indem sie sich im Lobpreis in den himmlischen Tempel erhebt. Auch wenn sie den neuen eschatologischen Tempel im irdischen Jerusalem … erst noch erwartet, feiert sie schon jetzt die gegenwärtige Königsherrschaft Gottes im gemeinsamen Lobpreis mit den ‚Gott nahen Wesen‘ im himmlischen Tempelheiligtum. (Schwemer 1991:76) Der himmlische Kult der als Priester vorgestellten Engel dient als himmlisches Urbild für das irdische Abbild des priesterlichen Kultes des yaḥad. Diese zu den genuinen Qumranschriften zu zählenden Texte entstanden vermutlich zwischen 150 und 50 v. Chr. Das besondere an den Sabbatliedern ist, dass sie die malkût Jahwes ganz und gar in der himmlisch-göttlichen Welt lokalisieren. Der irdische Raum kommt hier gar nicht in den Blick.15 Im Hintergrund dieser Konzeption steht der Glaube, 15 Dies steht in einem deutlichen Kontrast zum alttestamentlichen Gebrauch, vgl. Ps 145,1.14; sowie Ps 5,3; Judith 9,12; Tob 13,1.6.7.10; 2 Makk 1,24; 3 Makk 2,2.9.13; 6,4; Sir 51,1ff u.a. Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 17 dass im himmlischen Herrschaftsbereich Gottes jetzt schon Gegenwart ist, was auf Erden noch als Heilszukunft erwartet wird. „Die eschatologische Erwartung der Gottesherrschaft auf Erden hat ihren Grund in der präsentischen kultischen Feier der Königsherrschaft Gottes im Himmel!“ (Schwemer, 1991, 117).16 Es besteht ein „untrennbarer Zusammenhang zwischen Gottes ewig bestehender und darum immer auch gegenwärtiger Herrschaft und ihrer erwarteten zukünftigen universalen Durchsetzung“ (Hengel & Schwemer 2007:411).17 Es ist dieser doppelte Aspekt von Gleichzeitigkeit und sequentiellem Nacheinander, der für unsere Fragestellung von großer Bedeutung ist. 3 Die zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu Gegenüber der im angelsächsischen Raum vorherrschenden Dominanz des Dod’schen Konzeptes der realized eschatology stellte Werner Georg Kümmel bereits 1953 fest, dass wir im Blick auf die Verkündigung Jesu sowohl von einer „kommenden“ bzw. „zu erwartenden“ Königsherrschaft, als auch von einer bereits „gegenwärtigen“ Realität dieser Herrschaft 16 Ahnlich Theißen und Merz (1997:231). Auch Schröter vertritt diese Position: „Den verschiedenen jüd. Vorstellungen vom R.G. liegt die Überzeugung zugrunde, daß es gegenwärtig irdisch nicht – oder nur partiell – erfahrbar ist, jedoch als himmlische Größe schon immer existent. Die Frage nach Gegenwart und Zukunft des R.G. stellt sich dann als diejenige nach dem Zeitpunkt und der konkreten Gestalt seiner irdischen Durchsetzung“ (Schröter 2004:206). 17 Dieselbe Ambivalenz hat jüngst Jungbluth (2011:177) auch für die alttestamentlichen Traditionen z.B. in Psalm 47 und 93 aufgezeigt: „Während also das irdische Königtum […] fest in der Zeit verortet werden kann, seine lineare Dimension geradezu konstitutiv ist, stellt sich die Frage für JHWHs himmliches Königtum nicht. Im Unterschied zum irdischen König […] ist JHWH immer schon König. Sein himmlisches Königtum wird von den Texten als zeitlos dargestellt.“ Letztlich bestimmt diese Doppelung zwischen Gottes gegenwärtiger und letztlich zeitloser Herrschaft im Himmel auf der einen Seite und Gottes kommendem Reich auch die Konzeption des Danielbuches; vgl. Daniel 4,31 mit Daniel 2,44; 7,13f und 7,27, sowie Stuhlmacher (2012:69): „Gottes Herrschaft und Gottes Reich werden in dieser Zukunftsschau identisch.“ 18 Volker Gäckle sprechen müssen und sich keine dieser beiden Dimensionen in die jeweils andere ohne Weiteres auflösen lässt (Kümmel 1953). Auch Gerd Theißen und Annette Merz kommen in ihrem Jesus-Buch zum selben Ergebnis: „Angesichts dieser breiten Bezeugung kann man Jesus eine futurische Erwartung kaum absprechen, zumal sein Vorgänger, Johannes der Täufer, sie ebenso vertrat, wie seine Nachfolger, die ersten Christen, in ihr lebten“ (Theißen & Merz 1997:235). Im Folgenden soll diese „breite Bezeugung“ in aller Kürze dargestellt werden. 3.1 Das „kommende“ Reich Der futurische Aspekt tritt v.a. dort in den Vordergrund, wo vom „Kommen“ der βασιλεία του̑ θεου̑ die Rede ist, wie z.B. in der zweiten Vaterunserbitte (Mt 6,10/Lk 11,2), wo das Kommen einer zukünftigen βασιλεία erbeten wird.18 Auch die in ihrer Bedeutung umstrittenen Logien vom Nahen der βασιλεία (Mk 1,15; Mt 10,7/Lk 10,11) müssen als Ankündigung eines zukünftig noch zu erwartenden Reiches verstanden werden. Vor dem Hintergrund der Sabbatlieder von Qumran erhebt sich die Frage, ob die dortige Konzeption einer konsekutiven Herrschaftsübernahme, die zunächst eine himmlische Realität ist und dann auch auf die Erde ausgedehnt wird, nicht bereits der zweiten und dritten Vaterunserbitte zugrunde liegt. In der matthäischen Version des Vaterunsers wird sowohl für die Heiligung des Gottesnamens, für das Kommen des Reiches wie für das Tun des göttlichen Willens erwartet, dass so wie dies im Himmel bereits Gegenwart ist, es auch auf Erden Wirklichkeit werde. 3.2 Die synoptischen Einlasssprüche Eine eindeutig futurische Bedeutung hat βασιλεία του̑ θεου̑ in den sog. synoptischen Einlasssprüchen, wo vom „Eingehen“ 18 Mt 6,10; 12,28; 16,28; Mk 1,15; 9,1; Lk 1,33; 17,20f., vgl. 1 Kor 15,24; 2 Tim 4,1. Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 19 bzw. „Hineinkommen“ in die βασιλεία του̑ θεου̑19 bzw. vom „Hinausgeworfen-werden aus der βασιλεία“ die Rede ist (Mt 8,12; 22,13). Hier steht deutlich die Vorstellung eines zukünftigen Raumes bzw. Bereiches im Hintergrund, in den man eintreten oder hineinkommen bzw. eingelassen werden kann, aus dem man aber auch hinausgeworfen werden kann. 3.3 Das Schächerlogion und das endzeitliche Festmahl Auch der Wortwechsel Jesu mit dem Schächer aus dem lukanischen Sondergut (Lk 23,42f) setzt ein futurisches Verständnis voraus. Dabei impliziert sowohl die Frage des Schächers als auch die Antwort Jesu ein postmortales und damit futurisches Verständnis dieses Raumes. „Futurisch“ meint in diesem Zusammenhang, dass man erst nach dem Tod in dieses Reich kommen kann (vgl. auch 1 Kor 15,50). Auffallend ist ferner die in diesem Wortwechsel implizierte Äquivalenz von βασιλεία mit παράδεισος, das auch im Frühjudentum als postmortaler Aufenthaltsort der Gerechten beschrieben wird.20 An diesem Ort findet dann auch das endzeitliche Festmahl des Heils statt (vgl. Mk 14,25/Mt 26,29), zu dem viele kommen werden von Osten und von Westen, um zu Tisch zu sitzen mit Abraham, Isaak und Jakob (Mt 8,11f).21 Zusammenfassend können zwei Beobachtungen festgehalten werden: (1) Wenn βασιλεία die spatiale Bedeutung im Sinne eines Heilsortes oder die temporale Konnotation einer Heilszeit hat, dann ist der Begriff durchweg futurisch zu verstehen. (2) Er bezeichnet einen Heilszustand, der im Himmel bereits vollendete Gegenwart ist, aber dessen Realisierung auf Erden noch aussteht. 19 Mt 5,20; 7,21; 18,3; 19,23f; 21,31; Mk 9,47; 10,15.23–25; Lk 18,17.24f; vgl. Joh 3,3.5; 2 Tim 4,18 und 2 Petr 1,11. Vgl. hierzu Windisch 1928:163–192 und Horn 1996. 20 Vgl. TestLev 18,10f; PsSal 14,3; äthHen 17–19; 60,8; 61,12; vgl. auch Ez 31,8f. Ein solches Verständnis steht möglicherweise auch hinter 2 Kor 12,4 und Offb 2,7. 21 Vgl. Horn 1996:188, siehe ebd. auch Anm. 5, und Witherington 1992:61f. Für Jeremias (1994:105) bedeutete diese Evidenz, dass „die Basileia immer und überall eschatologisch“ verstanden werden müsse. 20 Volker Gäckle 4 Die präsentische Dimension der Heilsgabe der βασιλεία Neben den eschatologischen Belegen, die durchweg mit einer spatialen und temporalen Konnotation verbunden sind, finden sich in der Jesusüberlieferung allerdings noch weitere Belege, die zwingend eine präsentische Deutung verlangen. 4.1Die βασιλεία als eine Gabe des Heils Eine präsentische Bedeutung hat beispielsweise das βασιλείαLogion im Rahmen des sog. Kinderevangeliums: Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. (Mk 10,14f) Bei diesem Logion ist für unsere Fragestellung zunächst diese doppelte bzw. dreifache Konnotation des βασιλεία-Begriffs relevant. Am Ende in V. 15 steht die bereits bekannte spatialfuturische Konnotation: „… der wird nicht hineinkommen“. Gemeint ist offensichtlich ein zukünftiger Raum bzw. Bereich, in den Menschen eintreten können, in den ihnen aber auch der Zutritt verweigert werden kann. Gleichzeitig kann der Begriff durch zwei andere Verben offensichtlich problemlos mit einer weiteren Konnotation verbunden werden: Die βασιλεία „ist“ bzw. „gehört“ (ἐστίν) den Kindern (vgl. Mt 5,3.10) und alle sollen sie wie Kinder „empfangen“ (δέξηται). Auffallend ist nun, dass diese Konnotation hier mit einem präsentischen Verständnis verbunden ist. Das βασιλεία gehört den Kindern schon jetzt und es geht für alle Hörer Jesu darum, die Gabe der βασιλεία jetzt in der Gegenwart zu empfangen.22 Während also der Eintritt in die βασιλεία erst in der 22 Im Matthäusevangelium wird der Besitz- bzw. Gabecharakter der βασιλεία häufig präsentisch konnotiert: Mt 5,3.10; 6,33. Auch in Matthäus 21,43 geht Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 21 Zukunft möglich ist, hat sie als Gabe bereits eine präsentische Relevanz. 4.2 Die βασιλεία als Äquivalent zum ewigen Leben In der synoptischen Tradition finden sich zwei Belege, in denen das Reich Gottes als Äquivalent zum Heilsgut des ewigen Lebens erscheint.23 Dies ist zum einen in der Perikope von Jesu Begegnung mit dem reichen Jüngling der Fall (Mk 10,17–27). Zunächst gibt der reiche Jüngling das Thema, sowohl des Gesprächs zwischen ihm und Jesus als auch des folgenden Gesprächs zwischen Jesus und seinen Jüngern, mit der Frage vor: „Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ (V. 17). Dabei fällt zuerst das Verb ins Auge: Das eschatologische Ziel des ewigen Lebens kann hier analog zur βασιλεία „ererbt“ (κληρονομήσω) werden.24 Nach dem Weggang des reichen Jünglings stellt Jesus im Nachgespräch der Szene seinen Jüngern zweimal die Frage: „Wie schwer ist es (für einen Reichen) in die βασιλεία του̑ θεου̑ zu kommen?“ (V. 23f). Auf Jesu Nadelöhr-Logion respondieren die Jünger wiederum mit der entsetzten Frage: „Wer kann dann selig werden (σωθῆναι)?“ Offensichtlich werden das ewige Leben, die räumlich vorgestellte βασιλεία του̑ θεου̑ (vgl. das Verb εἰσελθεῖν) und die eschatologische Rettung vor dem Gericht als Synonyme verwendet.25 Das Eingehen in die βασιλεία ist identisch mit der Rettung aus dem Endgericht und der Gabe des ewigen Lebens. Dieselbe Parallelität von „zum Leben kommen“ und „ins Reich Gottes kommen“ findet sich in Markus 9,43–48: es offensichtlich um einen präsentischen Besitz, dessen Wegnahme bzw. Neuverteilung für die Zukunft angekündigt wird. 23 Vgl. hierzu auch Kvalbein (1997:67f). 24 Vgl. Mt 19,29; Lk 10,25 mit Mt 25,34; Gal 5,21; 1 Kor 6,9f; 15,50. 25 Auch im Gleichnis vom großen Weltgericht (Mt 25,31–46) werden βασιλεία in V. 34 und „ewiges Leben“ in V. 46 synonym verwendet. 22 Volker Gäckle Wenn dich aber deine Hand zum Abfall verführt, so haue sie ab! Es ist besser für dich, dass du verkrüppelt zum Leben eingehst, als dass du zwei Hände hast und fährst in die Hölle, in das Feuer, das nie verlöscht. Wenn dich dein Fuß zum Abfall verführt, so haue ihn ab! Es ist besser für dich, dass du lahm zum Leben eingehst, als dass du zwei Füße hast und wirst in die Hölle geworfen. Wenn dich dein Auge zum Abfall verführt, so wirf’s von dir! Es ist besser für dich, dass du einäugig in das Reich Gottes gehst, als dass du zwei Augen hast und wirst in die Hölle geworfen, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht verlöscht. Entscheidend für unsere Fragestellung hier ist, dass in diesen Logien die βασιλεία του̑ θεου̑ durch das Äquivalent zum „ewigen Leben“ wiedergegeben werden kann26 und damit mit einer Formulierung, die einer hellenistischen Leserschaft als Heilsbegriff deutlich geläufiger war, als der jüdische Begriff βασιλεία του̑ θεου̑. Dieser war für die griechischsprachigen Hörer entweder unverständlich oder – noch problematischer – verdächtig, trug er doch stets eine politische Konnotation in sich, die das frühe Christentum gerade vermeiden wollte (vgl. Joh 18,36; Apg 17,7; Röm 13,1–7; 1 Petr 2,13 u.a.).27 Betrachtet man die βασιλεία aus dieser Perspektive bzw. von der Konnotation als Heilsgabe her, dann erschließt sich eine weitere Seite des Gesamtkonzepts. Die βασιλεία ist ein Raum bzw. ein Bereich, der bereits jetzt im himmlischen Heiligtum und Kult eine gegenwärtige Wirklichkeit ist, aber auf Erden erst noch als ein Ort und als eine Zeit des Heils eschatologisch erwartet wird.28 Als Besitz und Gabe des ewigen Lebens ist 26 Vgl. Matthäus 18,8f und im Blick auf die eschatologische Destination umkehrender Zöllner auch Lukas 19,9 (σωτηρία) mit Matthäus 21,31 (βασιλεία); siehe auch Haacker 2005:143. 27 Vgl. auch Frey 2000:268; 2006:69; Kvalbein 2003 und Haacker 2005:146. 28 Vgl. Kvalbein 1997:70. Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 23 die βασιλεία ebenfalls eine gegenwärtige himmlische Wirklichkeit, die pneumatisch zwar bereits gegenwärtig besessen, empfangen und gesucht werden kann, die aber erst eschatologisch sichtbar werden wird. 4.2 Das Exorzismuslogion (Lk 11,20/Mt 12,28) Das Exorzismuslogion diente C.H. Dodd als dictum probantium für sein Konzept einer realized eschatology, die zum Grundparadigma seiner Ethik wurde. Entsprechend deutete er alle βασιλεία-Belege von diesem Exorzismuslogion her. Mir erscheint die Wahl dieses einen und in seiner Aussage sehr singulären Logions in methodischer Hinsicht als äußerst problematisch. Meines Erachtens muss der Weg in umgekehrter Richtung beschritten werden: Von einem auf der Grundlage aller anderen Belege erarbeiteten Konzept her muss Lukas 11,20 bzw. Matthäus 12,28 interpretiert werden: Er aber erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet und ein Haus fällt über das andre. Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die bösen Geister aus durch Beelzebul. Wenn aber ich die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber durch Gottes Finger (Mt: Geist) die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. (Lk 11,17–20) Der „Finger Gottes“ (Lk) ist wahrscheinlich ursprünglicher als der „Geist Gottes“ (Mt). Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf Exodus 8,15, wo Mose von den ägyptischen Zauberern aufgrund seiner Wundermacht als der „Finger Gottes“ tituliert wird. Im Kontext von Lukas 11,20 bedeutet dies, dass so wie damals die ägyptischen Zauberer mit ihren Künsten Mose gegenüberstanden, in der Gegenwart die Gegner Jesu mit den Exorzismen ihrer „Söhne“ nun 24 Volker Gäckle Jesus gegenüberstehen (Theißen & Merz 1997:237).29 Umso bemerkenswerter aber ist dann die matthäische Interpretation von δάκτυλος mit πνεύματος θεου̑. Die vollbrachte Heilung wird somit auf die Wirkung des göttlichen Geistes zurückgeführt, der in diesem Zusammenhang einen instrumentalen Charakter bekommt. So undeutlich vieles in diesem Logion bleibt und möglicherweise bleiben muss, so können wir doch zwei Punkte festhalten: (1)Diese βασιλεία kommt „über“ bzw. „auf“ die Hörer (ἐφʼ ὑμα̑ς), ist für diese jedoch weder sichtbar noch direkt identifizierbar. Sie bleibt vielmehr missverständlich und interpretationsbedürftig, sonst wäre sie ja auch Jesu Gegnern unmittelbar evident. Sie wird erst durch die Deutung der Exorzismen Jesu durch Jesus selbst verständlich. Es geht somit um eine neue Wirklichkeit des Heils, die den natürlichen Sinnen noch verborgen ist, aber indirekt in der Heilung und Befreiung von Dämonen zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht berührt sich dieses Logion mit Lk 17,20f. (2)Jesus verbindet sein messianisches Wirken mit dem Kommen der βασιλεία, was singulär ist in der synoptischen Überlieferung (Lindemann 1986:204). Allerdings lässt sich „[d]iese in Jesu Wirken erfahrbare Gegenwart der βασιλεία […] nur erfassen auf dem Hintergrund der Hoffnungen auf ihre irdische Durchsetzung, der Erwartung einer Heilszeit, wie sie prophetisch angekündigt und im nachbiblischen Judentum, z.B. in Texten wie 4Q521, in vielfältiger Weise ausgestaltet wurde“ (Frey 2006:79). Zusammengenommen legt dies nahe, dass mit dem Wirken Jesu noch nicht das endzeitlich erwartete Gottesreich in der Weise in Erfüllung geht, dass es „offenbar“ und für jedermann sichtbar und eindeutig wäre. Im Gegenteil ist und bleibt es in jeder Hinsicht der Missverständlichkeit preisgegeben. 29 Vgl. zum Ganzen auch Hengel 1997. Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 25 4.3 Lk 17,20f Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. (Lk 17,20f) Wie das Exorzismuslogion ist auch dieses Logion an die Pharisäer adressiert und damit an Gegner Jesu.30 Hier wird die βασιλεία als eine Wirklichkeit beschrieben, die wesentlich dadurch charakterisiert ist, dass sie unsichtbar und auch nicht verifizierbar ist. Forschungsgeschichtlich wurde der Vers sowohl von J. Weiß für seine eschatologisch-futurische Deutung als auch von C.H. Dodd für seine realized eschatology in Anspruch genommen. Es bleibt jedoch fraglich, ob Jesus in seiner Antwort auf die pharisäische Frage nach dem Zeitpunkt des Kommens der βασιλεία (πότε; vgl. Lk 19,11!) überhaupt eine temporale Bestimmung der βασιλεία beabsichtigt (vgl. ganz ähnlich auch Apg 1,6–8). Jesus antwortet nicht mit einer temporalen Aussage, sondern mit einer modalen („nicht mit Beobachtung“; οὐκ … μετὰ παρατηρήσεως) und einer lokalen Aussage: Nicht hier oder dort, sondern ἐντός ὑμω̑ ν. Nun ist vor allem die Bedeutung des abschließenden ἐντός ὑμω̑ ν in der Forschung höchst umstritten und schwierig.31 Im Wesentlichen wurden bislang drei Alternativen diskutiert: (1) Dem gewöhnlichen griechischen Wortgebrauch am nächsten käme die sog. „idealistische“ oder „spirituelle“32 Übersetzung „die βασιλεία του̑ θεου̑/ ist in eurem Inneren/innerhalb von euch“ (so auch EvThom 3.113 und fast durchweg bei den Kirchenvätern). (2) Tertullian (adv Marc 4,35) wählte die in der Folge immer wieder begegnende Übersetzung „sie ist in 30 Vgl. zu Lukas 17,20f Schwemer 2009 und Meier 1994. Vgl. hierzu Schwemer 2009:121–135. 32 Vgl. Theißen & Merz 1997:238. 31 26 Volker Gäckle eurem Bereich bzw. Besitz/sie steht euch zur Verfügung“.33 Diese Deutung wirft allerdings mehr Fragen auf als sie beantwortet. (3) Im 20. Jahrhundert hat sich die Übersetzung „die βασιλεία του̑ θεου̑ ist mitten unter euch“ durchgesetzt.34 Als eine Variante dieser Alternative wurde von J. Jeremias und R. Bultmann die futurische Bedeutung „die Gottesherrschaft wird unverhofft (plötzlich) in eurer Mitte sein“ vorgeschlagen (Jeremias 1994:104; Bultmann 1984:5),35 was aber keine Resonanz in der Forschung fand. Die Übersetzung „ist in eurer Mitte/mitten unter euch“ entspricht zwar Lukas 11,20 bzw. Matthäus 12,28 und Lukas 7,22 bzw. Matthäus 11,5, aber sie ist sprachlich ungewöhnlich36 und lässt sich nirgendwo überzeugend belegen.37 Zwar wird für die vorgeschlagene Bedeutung immer wieder eine Reihe von Belegen angeführt,38 jedoch hat T. Holmén (1996) die Unhaltbarkeit einer solchen Übersetzung an den genannten Stellen nachgewiesen. In Lukas 17,20f wäre sie nur möglich, wenn die Pharisäer als jene 33 So auch Lindemann 1986:205. Vgl. dagegen die Kritik von Weder (1993:39, Anm. 55), der diese Übersetzung ablehnt, weil „es […] mit der Verkündigung Jesu absolut unvereinbar [ist], daß die Gottesherrschaft in der Verfügbarkeit des Menschen wäre.“ 34 J. Ratzinger (Benedikt XVI.) tritt im ersten Teil seiner Jesus-Trilogie für die auf Origenes zurückgehende Autobasileia-These ein, wonach das Reich in der Person Jesu erschienen ist und Jesus somit selbst im Sinne einer verhüllten Christologie das „Reich“ ist, vgl. Ratzinger 2007:79,89f. 35 Vor Jeremias und Bultmann haben bereits A. Loisy und W. Wrede diese Deutung präferiert. 36 In der Regel bedeutet ἐντός „innen“, „inwendig von“, vgl. Mt 23,26 (τὸ ἐντός), „innerhalb eines bestimmten Bereichs“. Die Präposition hat meistens eine limitierende Funktion und wird in Relation zu bestimmten Grenzen, Limits oder Fristen verwendet. Oft wird die Präposition auch antithetisch und konstrastierend verwendet, vgl. wiederum Mt 23,26 und IgnTrall 7,2, um anzuzeigen, dass sich etwas nicht außen bzw. außerhalb eines Bereichs, sondern innen bzw. innerhalb einer bestimmten Größe befindet. 37 Auch Schwemer (2009:133) gibt zu, dass es vor allem „sachliche Gründe“ sind, die diese Übersetzung nahelegen. 38 Herod Hist 7,100; Xen Hell 2,3,19; Xen An 1,10,3; Plat Leg 7,789; Plat Phaid 247a; Jos Ant 6,315; Arr An 5,22,4 und v.a. aus den griech. Übersetzungen des Alten Testaments bei Symmachus Ps 87(88),6; 140(141),5; Lam 1,3 und bei Aquila Ex 17,7 und Hi 2,8. Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 27 Gruppe verstanden würde, innerhalb derer die βασιλεία vorhanden ist bzw. von der sie besessen wird im antithetischen Unterschied zu allen anderen Menschen und Gruppen außerhalb der Pharisäer.39 Im Übrigen wären für die Bedeutung „in eurer Mitte/mitten unter euch“ die Wendungen ἐν ὑμι̑ν oder ἐν μέσω̨ ὑμι̑ν (vgl. Lk 2,46; 8,7; 21,21 u.a.) die üblichen Ausdrucksformen gewesen.40 Somit bleibt rein sprachlich die erste Alternative die wahrscheinlichste. Sie wurde auch von den Kirchenvätern bevorzugt,41 und dies obwohl sie in den antignostischen Auseinandersetzungen die problematischste Lösung war. „The only solution to why the Fathers did not utilize this type of argumentation [sc. die Übersetzung mit „in eurer Mitte/mitten unter euch“] seems to be that ‚within‘ was the only rendering of ἐντός they could recall here“ (Holmén 1996:225).42 Bemerkenswerterweise deuten Tertullian, Cyprian, Origenes, Peter von Alexandrien und Athanasius das Logion im Horizont von Deuteronomium 30,11–14, wo das Toragebot in antithetischer Diktion nicht als ferne, sondern als nahe „in deinem Mund und in deinem Herzen“ charakterisiert wird. Auch vor dem Hintergrund der im vorigen Abschnitt entfalteten Bedeutungsaspekte könnte das Logion durchaus in diesem Sinne und damit im Rahmen der ersten Lösung bedeuten, dass die βασιλεία im Sinne der Heilsgabe des ewigen Lebens schon jetzt in einem Menschen sein kann, der glaubt. Das Logion wäre damit in seiner antithetischen Diktion gar nicht als Antwort auf die pharisäische Frage nach dem künftigen Kommen des Reiches zu verstehen. Es würde vielmehr auf die Möglichkeit hinweisen, die noch unsichtbare Heilsgabe der βασιλεία im Sinne des ewigen Lebens schon jetzt zu besitzen. Die Konfliktlinie zwischen Jesus und den Phärisäern 39 Vgl. Holmén 1996:209f. Vgl. dazu ausführlich Meier 1994. 41 Vgl. die Belege bei Holmén 1996:223, Anm. 91. 42 Vgl. zu den gnostischen Verwendungen des Wortes auch Schwemer 2009:122–131. 40 28 Volker Gäckle wäre damit nicht die Eschatologie,43 sondern die Anthropologie und Soteriologie ganz analog zu Mk 7,15. Nicht die Frage nach dem Kommen des Reiches, sondern jene nach dem rechten Sein des Menschen im Horizont des kommenden Reiches ist für Jesus die entscheidende. Das Logion wäre somit auch eine Brücke zur johanneischen Theologie mit ihrer präsentischen Eschatologie. 4.4 Der Stürmerspruch (Mt 11,12/Lk 16,16) Aber von den Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt wird dem Reich der Himmel Gewalt angetan, und Gewalttuende reißen es an sich. (Mt 11,12) Das Gesetz und die Propheten gehen bis auf Johannes; von da an wird die gute Botschaft vom Reich Gottes verkündigt, und jeder dringt mit Gewalt hinein. (Lk 16,16) Auch beim sog. Stürmerspruch warten zahlreiche Fragen noch auf eine Klärung. So ist nach wie vor offen, wer die Gewalttäter sind. Handelt es sich um gegnerische Zerstörer, wobei immer wieder an die zelotische Bewegung gedacht wurde, oder um freundliche Eroberer, die Anteil an der βασιλεία bekommen wollen? Wenn das Handeln der βιασταί allerdings mit dem Zeitraum vom Auftreten des Täufers bis zur Gegenwart Jesu in Verbindung gebracht wird, scheint es sich eher um Anhänger Jesu und der βασιλεία zu handeln.44 Deutlich scheint dagegen, dass hier eine präsentische Handlung beschrieben wird, was eine präsentische Existenz der βασιλεία voraussetzt. Diese wird auch durch den ersten Teil von Lukas 16,16 nahegelegt: Im Anschluss an das vorbereitende Wirken des Täufers und mit dem Kommen Jesu vollzieht sich eine heilsgeschichtliche Zeitenwende, die mit der Verkündigung 43 Richtig gesehen von Aalen (1962:223): „The saying in Luke xvii, 20f. has consequently nothing to do with polemic against an apocalyptic understanding of the kingdom, or against the interest for signs indicating the coming of the kingdom, as is often assumed.“ 44 So auch Theißen & Merz 1997:235 und Hengel & Schwemer 2007: 337,416. Gegenwärtige und zukünftige βασιλεία in der Verkündigung Jesu 29 des bis dato eben noch nicht verkündbaren „Evangeliums vom Reich Gottes“ einhergeht (vgl. auch Mt 11,6). Zieht man weiter die zwar ungewöhnliche, aber doch mögliche Übersetzung von βιάζεται mit „sich hineindrängen“ in Betracht, dann würde wieder die spatiale Vorstellung eines Raumes bzw. Bereiches vorliegen, in den Menschen hineindrängen. Stellt man weiter die Parallelität dieses Raumbegriffs zum Begriff des ewigen Lebens in Rechnung, dann würde das Logion die Heilssehnsucht der Menschen beschreiben, die zum Täufer bzw. zu Jesus kamen und deren Heilssehnsucht im „Evangelium vom Reich Gottes“ eine Antwort findet. 5Fazit Im Rückblick auf die untersuchten Belege hat sich gezeigt, dass βασιλεία του̑ θεου̑ in der synoptischen Jesustradition analog zum frühjüdischen Sprachgebrauch grundsätzlich als futurischer Begriff verstanden wird: Die Vaterunser-Bitte, die Einlasssprüche, zahlreiche βασιλεία-Gleichnisse, das Schächerwort, die Logien vom endzeitlichen Freudenmahl und vom (nahen) Kommen der βασιλεία lassen hier keine andere Deutung zu. Das Reich Gottes wird hier als ein endzeitlicher Raum und auch Zeitraum verstanden, der als das große Hoffnungs- und Heilsziel präsentiert wird. Gleichzeitig verlangen einige wenige Belege eine eindeutig präsentische Deutung des Begriffes (Mk 10,15; Lk 11,20/ Mt 12,28; Lk 17,20f; Lk 16,16/Mt 11,12). Für die Deutung dieser Logien ist wesentlich, dass der Begriff βασιλεία του̑ θεου̑ schon von Jesus selbst – wie später auch von Paulus und Johannes – äquivalent zum Begriff des „ewigen Lebens“ (Mk 9,43–48/Mt 18,8f; Mk 10,17.23f/Mt 19,16–26/Lk 18,18–27; Mt 25,34.46) gebraucht werden konnte und dass der präsentischen βασιλεία in keinem dieser Logien die Eigenschaft der Sichtbarkeit bzw. der unmissverständlichen Verifizierbarkeit zukommt. Während somit das Reich Gottes im Sinne eines sichtbaren und „begehbaren“ Heilsortes (vgl. die Rede vom „Eintreten“ 30 Volker Gäckle bzw. „Hineinkommen“) grundsätzlich futurisch verstanden werden muss, weil dieser Ort erst endzeitlich offenbar werden wird, kann die „Gabe“ bzw. das „Geschenk“ der βασιλεία im Sinne der Heilsgabe des ewigen Lebens schon gegenwärtig empfangen, ererbt und in Besitz genommen werden. Allerdings bleibt diese präsentische Heilsgabe des ewigen Lebens in der Gegenwart noch prinzipiell unsichtbar und damit auch missverständlich. Sowohl als futurischer Heilsort und Zeitraum, als auch als präsentische Heilsgabe bleibt die βασιλεία in ganz grundsätzlicher Weise der Verfügbarkeit des Menschen entzogen. Der Mensch kann um das Kommen der βασιλεία bitten (Mt 6,10/Lk 11,2), er kann sie „suchen“, „empfangen“ und „ererben“, aber er kann sie nicht „bauen“ oder gar herbeiführen. Die βασιλεία bleibt eine durch und durch theozentrische Größe, die in der frühen Christenheit zu einer Chiffre für das christliche Heilsgut schlechthin geworden ist. 6Bibliographie Aalen, S. 1962. ‚Reign‘ and ‚House‘ in the Kingdom of God in the Gospels, in NTS 8, 215–240. Borg, Marcus J. 1994. A Temperate Case for a Non-Eschatological Jesus, in Borg, Marcus: Jesus in Contemporary Scholarship. Valley Forge, Pa: Trinity Press International, 47–68. Bousset, William 1892. Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum: Ein religionsgeschichtlicher Vergleich. Göttingen. Bousset, William 1902. Das Reich Gottes in der Predigt Jesu, in ThR 5, 397–407.437–449. Bousset, William 1922. Jesus. 4. Aufl. Tübingen. Bultmann, Rudolf 1984. Theologie des Neuen Testaments. 9. Aufl. Tübingen: Mohr. Burchard, Christoph 1987. Jesus von Nazareth, in Becker, Jürgen, Burchard, Christoph & Colpe, Carsten (Hg.): Die Anfänge des Christentums. Stuttgart: Kohlhammer, 12–58. Cox, Harvey 1986. Stadt ohne Gott?. 4. 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Die wichtigsten möchte ich kurz nennen: a. Die Bedeutung Israels im Verhältnis zur Gemeinde; b. Die Bedeutung des 1000jährigen Reiches und der Zeitpunkt seines Eintretens; c. Die Bedeutung der Zeichen oder Symbole in der Offenbarung; 1 Neuenhausen, Ulrich MDiv, Leiter Forum Wiedenest, Lehrer an der BiblischTheologischen Akademie von Forum Wiedenest im Fachbereich Neues Testament und Missiologie. d. Die Vorstellung von einer großen Trübsal als Abschluss des jetzigen Zeitalters; e. Die Vorstellung und Datierung der sogenannten „Entrückung“; f. Die Einschätzung von zeitlichen Abläufen: chronologische, thematische, überzeitlich-symbolische, endzeitliche Auslegung oder ein Mix aus diesen. Allein diese sechs Bereiche machen deutlich, dass die Offenbarung wie kaum ein anderes Buch in ihrer Auslegung von den Vorentscheidungen ihrer Exegeten abhängt. Ihre dogmatische Einstellung lässt sich mühelos aus ihren exegetischen Entscheidungen herauslesen. Wie lässt sich in einem kurzen Artikel dann zuverlässig über die Zukunftserwartungen der Offenbarung sprechen, ohne an allen exegetischen Fronten großen Widerspruch hervorzurufen? Welche Begriffe der Offenbarung sind wörtlich zu verstehen, welche symbolisch? Stehen die zwölf Stämme in Offenbarung 7 für das Volk Israel oder für die Gemeinde Jesu Christi? Kann man diese Unterscheidung überhaupt treffen? Sind die beiden Zeugen in Offenbarung 11 tatsächliche Personen oder ein Bild für die Gemeinde? Ist die Gemeinde von der Geschichte ab Offenbarung 6 betroffen oder vorher schon entrückt worden? Usw. Leider erlaubt es die Kürze eines Artikels nicht, diese Fragen in Ausführlichkeit zu diskutieren. Deshalb konzentrieren sich die Ausführungen weniger auf die grundlegenden dogmatischen Fragen oder auch die unterschiedlichen exegetischen Ansätze als auf den Text selbst: Was ist wirklich erkennbar im Text? Diese Beschränkung mag auf manchen unbefriedigend wirken, weil eine für ihn wichtige Auslegungsrichtung nicht berücksichtigt wird oder ein wesentlicher Gedanke zu fehlen scheint. Trotzdem ist solch ein Ansatz fair gegenüber dem Textbefund, um den es in diesen Ausführungen geht. Wenn beispielsweise ein Tausendjähriges Reich in der gesamten Bibel nur zwei Mal in zwei Versen in Offenbarung 20 erwähnt 36 Ulrich Neuenhausen wird, dann laufen aufgrund des dünnen Textbefundes alle Spekulationen über seine Gestalt, sein Wesen und seinen Sinn ins Leere. Die Idee, alle ungeklärten Prophetien des Alten Testamentes in ein Tausendjähriges Reich zu „verlegen“, und sich somit der näheren Exegese und Anwendung dieser Prophetien auf die Zeit heute zu entziehen, erleichtert zwar die exegetische Arbeit, bewegt sich aber an vielen Stellen im Bereich der Fantasie und Vermutung. Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes Eigentlich müsste dieser Titel überraschen, denn was ist die Offenbarung anderes als Beschreibung der Zukunft? Die Offenbarung des Johannes ist tatsächlich weitaus mehr als ein göttliches Horoskop oder eine Landkarte einer fernen Endzeit (Pohl 1996:41f). Bevor es deshalb um die Zukunftserwartungen und damit auch um das Reich Gottes in der Offenbarung des Johannes geht, muss die präsentische Bedeutung dieses Buches wahrgenommen werden. Gegenwart in der Offenbarung Das erste Wort der Offenbarung ist „Offenbarung“ (apokalypsis). Dieser Begriff bedeutet, dass keine historischen Beschreibungen oder Geschichten der Vergangenheit erzählt werden, sondern Dinge, die der Seher von Gott offenbart bekam und die sich auf eine Zukunft beziehen, die von außen in diese Welt einbricht (Pohl 1996:32f). Typisch für diese Gattung ist deshalb auch, dass der Prophet selbst nicht alles versteht, was er sieht und hört. An einigen Stellen bekommt er deshalb Hilfe durch einen Deuter (Mounce 1977:21), wie zum Beispiel im folgenden Text: Und einer von den Ältesten begann und sprach zu mir: Diese, die mit weißen Gewändern bekleidet Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 37 sind – wer sind sie, und woher sind sie gekommen? Und ich sprach zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu mir: Diese sind es, die aus der großen Bedrängnis kommen, und sie haben ihre Gewänder gewaschen und sie weiß gemacht im Blut des Lammes. (Offb 7,13–14)2 Die ersten Verse in Offenbarung 1 nennen jedoch noch zwei andere Gattungen (Unterstreichungen vom Autor): Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gab, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muß; und indem er sie durch seinen Engel sandte, hat er sie seinem Knecht Johannes kundgetan, der das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi bezeugt hat, alles, was er sah. Glückselig, der liest und die hören die Worte der Weissagung und bewahren, was in ihr geschrieben ist! Denn die Zeit ist nahe. Johannes den sieben Gemeinden, die in Asien sind: Gnade euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt, und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind,… (Offb 1,1–4) Neben der Apokalypse wird auch die Weissagung oder Prophetie genannt. Beale nennt die Offenbarung des Johannes deshalb ein apokalyptisch-prophetisches Werk (1999:38). In Vers 4 setzt sich der Text dann als Brief fort. Während die Apokalypse von einer Zukunft spricht, die nicht notwendigerweise von dieser Gegenwart aus entsteht, ist die Prophetie nach Mounce (1977:19) in ihrem Appell immer gegenwartsbezogen – sie will Menschen der Gegenwart ansprechen, verändern, zur Buße rufen, ermutigen usw. Das wird in der Offenbarung anhand der eingeschobenen Aufforderungen deutlich: Wenn jemand ein Ohr hat, so höre er! Wenn jemand in Gefangenschaft geht, so geht er in Gefangenschaft; wenn jemand mit dem Schwert getötet wird, so muss er mit dem Schwert getötet 2 38 Biblische Texte sind – sofern nicht anders vermerkt – der revidierten Elberfelder Übersetzung von 2006 entnommen. Ulrich Neuenhausen werden. Hier ist das Ausharren und der Glaube der Heiligen. (Offb 13,9–10) Als Brief ist die Offenbarung an wirklich existierende Gemeinden im ersten Jahrhundert gerichtet, sowohl in Offenbarung 2–3 mit den sogenannten Sendschreiben, als auch als ganzes Buch (Bauckham 1993:2). Sie spricht deren akute Probleme an, ermahnt, ermuntert und bezieht sich dabei auf die historische und lokale Situation dieser Gemeinden. Wenn wir also von „Reich Gottes“ in der Offenbarung sprechen, dann kann sich das schlecht auf das Tausendjährige Reich beschränken, das erst im 20. Kapitel überhaupt erwähnt und auch dort mit nur sehr wenigen Worten beschrieben wird. Bietenhard erklärt, wie in Kommentaren der dispensationalistischen Richtung die ansonsten kargen Verse in Offenbarung 20 durch Kombination mit alttestamentlichen Weissagungen „amplifiziert“ werden (1955:35). Darin gleiche die Erwartung der christlichen „Chiliasten“ denen der jüdischen Theologen, die noch auf den Messias warten. Das Reich Gottes sei dann eine rein zukünftige Größe. „Reich Gottes“ ist jedoch auch in der Offenbarung eine schon präsentische Größe. Neun Mal kommt der Begriff „Reich“ oder „Königreich“ (basileia) in der Offenbarung vor, vier Mal als Reich des Tieres, vier Mal als Reich Gottes, und ein Mal als das Reich der Welt, das Gott übergeben wird. Sieben Mal kommt das korrespondierende Verb „herrschen“ in der Offenbarung vor (basileusein), und zwar nur für Gottes Herrschaft und die seiner Leute. Vom Tier wird an keiner Stelle gesagt, dass es herrschen würde. Die Offenbarung beschreibt die Herrschaft Gottes und den Aufstand des Tieres gegen diese Herrschaft (Bauckham 1993:68). Das „Tier“ ist nach der Offenbarung eine Mehrzahl von Herrschern, die im Auftrag des Drachen, also des Teufels, handeln. Diese Mehrzahl ergibt sich sofort aus dem Bild, mit dem das Tier dargestellt wird: Und ich sah aus dem Meer ein Tier aufsteigen, das zehn Hörner und sieben Köpfe hatte, und auf Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 39 seinen Hörnern zehn Diademe und auf seinen Köpfen Namen der Lästerung. (Offb 13,1) Die Hörner und Köpfe werden später als Könige gedeutet: Die sieben Köpfe sind sieben Berge, auf denen die Frau sitzt. Und es sind sieben Könige. ( Offb 17,9) Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, sind zehn Könige, die noch kein Königreich empfangen haben, aber mit dem Tier eine Stunde Macht wie Könige empfangen. (Offb 17,12) Das Ziel der Könige ist, dass der Drache angebetet wird. Ihr Mittel ist Herrschaft. Dem steht die Herrschaft Gottes gegenüber, dessen Beauftragter auch ein Tier ist, nämlich ein Lamm. Die folgende Tabelle stellt zwei zentrale Textaussagen zu diesen beiden Herrschaften gegenüber: Herrschaft des Lammes Herrschaft des Tieres Nach diesem sah ich: und siehe, eine große Volksmenge, die niemand zählen konnte, aus jeder Nation und aus Stämmen und Völkern und Sprachen, stand vor dem Thron und vor dem Lamm, bekleidet mit weißen Gewändern und Palmen in ihren Händen. Und sie rufen mit lauter Stimme und sagen: Das Heil unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm! Und es wurde ihm gegeben, mit den Heiligen Krieg zu führen und sie zu überwinden; und es wurde ihm Macht gegeben über jeden Stamm und jedes Volk und jede Sprache und jede Nation. Und alle, die auf der Erde wohnen, werden ihn anbeten, jeder, dessen Name nicht geschrieben ist im Buch des Lebens des geschlachteten Lammes von Grundlegung der Welt an. (Offb 7,9–10, Elberfelder 1997) (Offb 13,7–8, Elberfelder 1997) Kampf um Anbetung Adolf Pohl sieht in der Offenbarung einen Kampf um Anbetung (1996:20f). Macht über die Menschen bedeutet, ihre Verehrung und Anbetung zu sichern. Anerkennung der Macht 40 Ulrich Neuenhausen des Tieres oder der Macht Gottes ist eine Form der Anbetung. Die Verbindung von Anbetung und Herrschaft zeigt sich in dem Wort selbst: proskynein bedeutet „die Knie beugen“ und wird in der Offenbarung mit Anbetung übersetzt – als Anerkennung einer Herrschaft, verbal, zeichenhaft und auch im Lebensvollzug. Deshalb geht es in der Offenbarung um Beides: Die Anbetung Gottes oder des Satans, und die Herrschaft Gottes oder des Satans. Das Tier des Satans erringt seine Macht, indem es die Heiligen besiegt (Offb 13,7, Elberfelder 1997). Die Heiligen bzw. die Gemeinde sind im Neuen Testament ein sehr wichtiger Aspekt der Herrschaft Gottes auf der Erde, sie sind das Zeichen und die Botschaft Seiner Herrschaft: …damit jetzt den Gewalten und Mächten in der Himmelswelt durch die Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes zu erkennen gegeben werde… (Eph 3,10, Elberfelder 1997) Ihre Mission hält das Böse in der Welt auf und hindert es daran, unbegrenzt zu wuchern: Und jetzt wißt ihr, was zurückhält, damit er zu seiner Zeit geoffenbart wird. Denn schon ist das Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam; nur offenbart es sich nicht, bis der, welcher jetzt zurückhält, aus dem Weg ist. (2 Thess 2,6b–7, Elberfelder 1997) Deshalb muss der Satan, um sein Ziel zu erreichen, erst die Gemeinde aus dem Weg räumen. Zwei Mal taucht dieser Gedanke in der Offenbarung auf: Und wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben werden, wird das Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt, Krieg mit ihnen führen und wird sie überwinden und sie töten. (Offb 11,7) Und es wurde ihm gegeben, mit den Heiligen Krieg zu führen und sie zu überwinden. (Offb 13,7) Dieser Sachverhalt wirft ein wichtiges Licht auf das Verständnis von Reich Gottes in der Offenbarung des Johannes. Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 41 Dieses Reich ist die universale Herrschaft Gottes, der sich alle Mächte letztendlich beugen müssen. Bevor es jedoch zu dieser sichtbaren Herrschaft kommt, erlebt die Gemeinde Gottes auf Erden einen Tiefpunkt, was ihre Macht, ihre Mission und ihren Einfluss auf die Gesellschaft betrifft. Die Offenbarung zeichnet diesen Tiefpunkt wie eine Niederlage in einem Krieg, nach der die Besiegten ihre Macht und möglicherweise sogar ihr Leben verlieren. Deshalb scheint der Kampf um Anbetung für eine kurze Zeit zugunsten des Satans auszugehen. Thron Ein weiteres Stichwort zeichnet das Bild vom Kampf um die Herrschaft Gottes oder des Satans: Thron. Vierzig Mal kommt „Thron“ in der Offenbarung vor, im ganzen übrigen Neuen Testament nur noch zehn Mal. Der Thron war für den antiken Menschen, was für einen Deutschen heute das Bundeskanzleramt oder das Parlament ist: Zentrum der Macht. Gott auf dem Thron bedeutet, dass Gott regiert, dass er Herrscher ist, dass er das ist, was der Kaiser in Rom gerne wäre: Herrscher über die ganze Welt. Diese Vision von Gott als Herrscher ist nun nicht auf die Zukunft beschränkt. Im Gegenteil, Gottes Herrschaft bedeutet konkrete und intensive Einmischung in die geschichtlichen Vorgänge auf der Erde. Zwei große Bilder zeigen Gott in seiner Herrschaft: Der Thronsaal im Himmel und der Tempel im Himmel. Die Kaiser verstanden sich immer gleichzeitig als weltliche Herrscher und göttliche Inkarnationen, Priester oder Medien. Genauso geht das weltliche Bild vom Thronsaal Gottes Hand in Hand mit dem religiösen Bild vom Tempel. Wie das Tier nicht ohne metaphysische Autorisierung herrschen kann (Offenbarung 13,4), so wird die Macht Gottes sowohl weltlich wie auch metaphysisch dargestellt in den Bildern von Thron und Tempel. Dabei folgen diese Bilder einem bestimmten Schema (Neuenhausen 2011:13): 42 Ulrich Neuenhausen Wie in einer Zickzack-Kurve geht der Blick in der Offenbarung ständig von unten nach oben und zurück. Es ist, als wollte die Offenbarung Erde und Himmel verbinden. Tatsächlich ist der Sinn der Visionen, die zwischen Erde und Himmel wechseln, die Vorgänge auf der Erde mit den Plänen im Himmel zu verknüpfen. Egal, was auf der Erde geschieht, es ist im Himmel schon vorgedacht. Selbst wenn der Satan persönlich agiert und die Erde tyrannisiert, bleibt die volle Kontrolle bei Gott. Ihm entgleitet nichts, er ist vom Anfang bis zum Ende der souveräne und unumstrittene Herrscher. So kommen selbst die Katastrophen, die in Offenbarung 6 einsetzen, direkt von seinem Thron: Und ich sah, als das Lamm eines von den sieben Siegeln öffnete, und hörte eines von den vier lebendigen Wesen wie mit einer Donnerstimme sagen: Komm! (Offb 6,1) Die Katastrophen sind Teil von Gottes Plan, Menschen zur Buße zu rufen: Und sie taten nicht Buße von ihren Mordtaten, noch von ihren Zaubereien, noch von ihrer Unzucht, noch von ihren Diebstählen.(Offb 9,20–21) Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 43 Gott regiert in dieser Welt. Sein Gegner ist der Satan, das Kampffeld sind die Menschen, das Ziel ist die Anbetung. Wenn Menschen sich für die Anbetung Gottes entscheiden, hängt das mit Buße und einem neuen Lebensstil zusammen. Die Mittel Gottes, Menschen aus dem Reich dieser Welt in das Reich des Messias hinein zu führen, sind Rettung und Gericht (Bauckham 1993:67). Im Gegenzug beruht die Anbetung des Satans nicht auf „Buße“ und „Erneuerung“ des Menschen, sondern auf Zwang mit anschließender Kapitulation vor einem scheinbar Mächtigeren: Und es tut große Zeichen, daß es selbst Feuer vom Himmel vor den Menschen auf die Erde herabkommen läßt; und es verführt die, welche auf der Erde wohnen, wegen der Zeichen, die vor dem Tier zu tun ihm gegeben wurde, und es sagt denen, die auf der Erde wohnen, dem Tier, das die Wunde des Schwertes hat und wieder lebendig geworden ist, ein Bild zu machen. Und es wurde ihm gegeben, dem Bild des Tieres Odem zu geben, so daß das Bild des Tieres sogar redete und bewirkte, daß alle getötet wurden, die das Bild des Tieres nicht anbeteten. (Offb 13,13–15) In der Auseinandersetzung zwischen Gott und Satan gebraucht Letzterer sehr direkte Mittel, Menschen für sich zu gewinnen, während die Herrschaft Gottes nur indirekt durch Plagen von den Menschen erlebt wird. Deshalb scheint die Anerkennung der Herrschaft des Satans eine offensichtliche Notwendigkeit, die sowohl wirtschaftlich als auch zum Überleben überhaupt unabdingbar ist. Die Anerkennung der noch unsichtbaren Herrschaft Gottes dagegen ist eine Frage des Glaubens. Auf der sichtbaren Seite sind die Anbeter des wahren Gottes zunächst Verlierer, die durch die Verweigerung der Anbetung des Satans nur Nachteile erleben. Sie erleben sich als Besiegte, während die ganze Welt dem falschen Gott zujubelt. Der Grund für dieses Schicksal wird in der Mitte der Offenbarung erläutert, im zwölften Kapitel. 44 Ulrich Neuenhausen Herrschaft der Überwinder Das Kapitel 12 der Offenbarung bildet eine Art theologische Mitte des Buches. In wenigen Worten wird von der Geburt und Himmelfahrt des Christus erzählt: Und ein großes Zeichen erschien im Himmel: Eine Frau, bekleidet mit der Sonne, und der Mond war unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen. Und sie ist schwanger und schreit in Geburtswehen und in Schmerzen und soll gebären. Und es erschien ein anderes Zeichen im Himmel: und siehe, ein großer, feuerroter Drache, der sieben Köpfe und zehn Hörner und auf seinen Köpfen sieben Diademe hatte; und sein Schwanz zieht den dritten Teil der Sterne des Himmels fort; und er warf sie auf die Erde. Und der Drache stand vor der Frau, die im Begriff war, zu gebären, um, wenn sie geboren hätte, ihr Kind zu verschlingen. Und sie gebar einen Sohn, ein männliches Kind, der alle Nationen hüten soll mit eisernem Stab; und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und zu seinem Thron. Und die Frau floh in die Wüste, wo sie eine von Gott bereitete Stätte hat, damit man sie dort ernähre 1260 Tage. (Offb 12, 1–6) Ein Drache verfolgt den Christus, erreicht ihn aber nicht. Dieser Drache ist der Satan selbst: Und es wurde geworfen der große ­Drache, die alte Schlange, der Teufel und Satan genannt wird, der den ganzen Erdkreis verführt, geworfen wurde er auf die Erde, und seine Engel wurden mit ihm geworfen. (Offb 12,9) Da er den Christus nicht töten kann, verfolgt er die, aus denen der Christus kam: Im Bild der Offenbarung ist das eine Frau. Sie ist aber nicht einfach nur Maria, die Mutter Jesu, wie es Rist (1957; zitiert in Mounce 1977:236) versteht, sondern Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 45 ihre Darstellung mit Sonne, Mond und elf Sternen verweist auf die Josefsgeschichte und den berühmten Traum, den Josef von sich und seiner Familie hatte: Und er hatte noch einen anderen Traum, auch den erzählte er seinen Brüdern und sagte: Siehe, noch einen Traum hatte ich, und siehe, die Sonne und der Mond und elf Sterne beugten sich vor mir nieder. Und er erzählte es seinem Vater und seinen Brüdern. Da schalt ihn sein Vater und sagte zu ihm: Was ist das für ein Traum, den du gehabt hast? Sollen wir etwa kommen, ich und deine Mutter und deine Brüder, um uns vor dir zur Erde niederzubeugen? (Genesis 37,9–10) Die Frau ist Israel, das auf seinen Messias, seinen Christus wartet (Beale 1999:626). Insofern ist sie auch Maria, die zu diesem Israel gehört, ebenso aber auch Josef, Elisabeth, Zacharias, Hanna, etc. Man könnte deshalb die Frau das messianische Israel oder die messianische Gemeinschaft (:624) nennen. In diesem Zusammenhang ist der Drache, der das Kind am liebsten schon direkt nach der Geburt verschlingen will, auch in der Person des Herodes verkörpert, der den neugeborenen Jesus töten lassen will. Warum dieser Hass auf Jesus? Das wird in einer kurzen Bemerkung deutlich, die die einzige Beschreibung dieses Kindes darstellt: Und sie gebar einen Sohn, ein männliches Kind, der alle Nationen hüten soll mit eisernem Stab. (Offb 12,5) Es geht um Macht, um Herrschaft, also um das Reich Gottes. Der Christus, der geboren wird, ist nichts anderes als der gesalbte König Gottes, der ewige Herrscher, der Gottes Herrschaft auf Erden durchsetzen wird. In Offenbarung 13 wird geschildert, wie der Drache, der Teufel, seine Herrschaft auf Erden durchsetzt. Dabei geht es im letzten darum, wer die Anbetung und Verehrung der Menschen bekommt. Der König, der im messianischen Israel geboren wird, ist direkte Konkurrenz und Bedrohung der Pläne des Satans, denn der Messias 46 Ulrich Neuenhausen ist der König, der einen letzten Sieg Satans verhindert. Er ist der Gesalbte, dem die Anbetung aller Menschen gehören wird. In ihm verdichtet sich die Niederlage des Satans: Und es entstand ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel; und sie bekamen nicht die Übermacht, und ihre Stätte wurde nicht mehr im Himmel gefunden. Und es wurde geworfen der große Drache, die alte Schlange, der Teufel und Satan genannt wird, der den ganzen Erdkreis verführt, geworfen wurde er auf die Erde, und seine Engel wurden mit ihm geworfen. Und ich hörte eine laute Stimme im Himmel sagen: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes und die Macht seines Christus gekommen; denn hinabgeworfen ist der Verkläger unserer Brüder, der sie Tag und Nacht vor unserem Gott verklagte. Und sie haben ihn überwunden wegen des Blutes des Lammes und wegen des Wortes ihres Zeugnisses, und sie haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tod! (Offb 12,7–11) Obwohl man die Kreuzigung Jesu sicher als Sieg des Teufels verstehen kann,3 findet sich dieser Gedanke nicht in dem Bild von Offenbarung 12 wieder. Der Drache kann das Kind nicht verschlingen, und es fährt schließlich zu Gott auf. Der Tod am Kreuz war zwar ein teuflischer Gedanke, aber nicht das Ende der Königsherrschaft Jesu. Ein Reich ohne Anklage Im Himmel kommt es infolge der Himmelfahrt des Messias zum Kampf. Dieser Kampf ist sicher nicht wörtlich zu verstehen, da ja Johannes schon vorher darauf hinwies, dass sowohl Frau wie auch Drache Zeichen sind. Der Sieg besteht dann auch nicht darin, dass ein Drache umgebracht wurde, sondern 3 Dafür spricht zum Beispiel, dass der Verrat des Judas geschah, nachdem der Teufel in ihn gefahren war (Joh 13,2). Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 47 dass der „Verkläger unserer Brüder“ aus dem Himmel fliegt, also praktisch seinen Job verliert. Der Drache ist im Himmel dadurch besiegt, dass er Gottes Leute nicht mehr anklagen kann. Er hat im Himmel kein Existenzrecht mehr. Aus Hiob ist noch in Erinnerung, wie er versucht, Gott deutlich zu machen, dass es keine echten Anbeter gibt: Und der Satan antwortete dem HERRN und sagte: Ist Hiob etwa umsonst so gottesfürchtig? (Hiob 1,9) Satan erklärt, dass Menschen Gott nur um gewisser Vorteile willen dienen würden, nicht aus ganzem Herzen. Gott habe quasi niemanden, der ihn wirklich liebt. Ähnlich ist sicher auch die Vorstellung in Offenbarung 12. Satan verklagt Menschen, um Gott davon abzuhalten, sie zu lieben. Als der Messias Gottes in den Himmel aufgefahren ist, ist diese Klage nicht mehr möglich. Im Christus gilt das vollständige Ja Gottes für alle Menschen, die sich zu ihm wenden. Deshalb die Erklärung in Vers 11, dass der Sieg über den Gegner auf dem Blut des Lammes und dem Zeugnis seiner Anhänger beruht. Das Reich des Christus beginnt mit der Himmelfahrt und dem Sieg über den Satan. Es ist ein Reich, in dem Anklage gegen Schwestern oder Brüder im Glauben nicht mehr möglich sind. An diesem Reich und damit an diesem Sieg haben alle Menschen Anteil, die auf das Blut und seine Kraft zur Vergebung bauen und sich zum gesalbten König Jesus bekennen. Mit dem letzten Satz in Vers 11 leitet der Abschnitt in einige unerwartete Sachverhalte über: Die Tatsache, dass das Reich Gottes und die Macht Christi begonnen hat, führt nun nicht in paradiesische Verhältnisse auf Erden oder zu einer kompletten Befriedung aller Völker und einem Ausmerzen des Bösen, sondern im Gegenteil: … sie haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tod! Darum seid fröhlich, ihr Himmel, und die ihr in ihnen wohnt! Wehe der Erde und dem Meer! Denn der Teufel ist zu euch hinab gekommen und hat große Wut, da er weiß, dass er nur eine kurze Zeit hat. (Offb 12,11b–12) 48 Ulrich Neuenhausen Das beginnende Reich Gottes führt zum Aufruhr seines schlimmsten Gegners. Er kann Gott nicht mehr vom Menschen abbringen – nun versucht er, Menschen von Gott abzubringen. Das bedeutet für die Bekenner teilweise den Tod. Ab sofort ist der Glaube an das Leben in Christus lebensgefährlich. Der Glaube an das Königreich Gottes bringt Menschen in ohnmächtige Positionen, und die Hoffnung auf Gottes Schalom bewirkt gefährlichen Unfrieden in der Auseinandersetzung mit Menschen, Gesellschaft und Politik. So wird die politische Führung in Offenbarung 17 und 18 zum teuflischen Doppelgespann zweier Tiere die vom Satan selbst eingesetzt sind: Wirtschaft und Handel werden zur Hure, die es mit der ganzen Welt treibt (McLaren 2008:150ff), und die, die jetzt schon zum Reich Gottes gehören, werden zum schlimmsten Feind der wirtschaftlichen und politischen Kräfte (Bauckham 1993:35f). Welche Folgerungen hat das für das Verständnis vom Reich Gottes? 1. Im Kräftespiel der Mächte sind die Anhänger von Jesus die Opfer. Sie werden nirgends im Neuen Testament dazu aufgefordert, mit Gewalt und Macht die Verhältnisse zu ändern. Ihre Haltung ist von Geduld geprägt.4 Gerechtigkeit erzwingen und Vergeltung üben sind Sache des Gerichts, nicht der Kirche. Ihre Aufgabe ist es aktiv zu warten und das Reich Gottes in Wort und Tat auf der Erde bekannt zu machen. 2. Jesu Nachfolger sind Bewohner des Reiches Gottes mitten im Reich des Tieres. Insofern stellen sie eine Bedrohung und ein Hindernis für das Reich des Tieres dar. Ihr Gegner wird nicht ruhen, bis er die Kraft dieses Reiches Gottes zum Stillstand gebracht hat. Das Reich des Tieres ist 4 Dafür wird das Wort hypomonein gebraucht, was so viel wie „unter <einer Situation> bleiben“ bedeutet und oft mit „ausharren“ übersetzt wird. Oft findet sich dieser Begriff im Kontext von „Trübsal“ oder „Verfolgung“, so z.B. in Lukas 21,9, Römer 5,3f, 2. Korinther 6,4, 2. Timotheus 2,12, Hebräer 10,36, Jakobus 1,3 und 5,11, Offenbarung 1,9. Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 49 sowohl Macht als auch Verführung, ist sowohl Bedrohung und Verfolgung als auch Versuchung zu Kompromissen und dazu, Christus nur mit halbem Herzen nachzufolgen. Solange die Gemeinde existiert und Kraft hat, ringt sie um ein Leben für die Gesellschaft im Kontrast zur Gesellschaft. Sie existiert noch, damit Menschen sehen, was das Reich Gottes ist. Sie ist Kontrast, weil ihr Herr noch kommt und ihre Verantwortung im Letzten immer die vor Gott ist. Deshalb kann die Gemeinde es aushalten, dass ihr Verhalten, ihre Liebe und ihre Botschaft in dieser Welt irrational scheinen, weil die Gottlosigkeit als Gewinn und Geld als Gott angesehen werden. 3. Leben im Reich Gottes ist Leben in der Freiheit von Anklage. Allein dieser Umstand hat eine weitreichende Bedeutung für den praktischen Lebensvollzug der Bewohner des Reiches Gottes. Wenn es keine Anklage mehr vor Gottes Gericht gibt, gibt es auch keine Klage mehr übereinander. Die Qualität von Gemeinschaft verändert sich und wird so wiederum Zeichen der Herrschaft Gottes. 4. Beide Größen, das Reich Gottes und das Reich des Tieres, sind jetzt schon real: Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, daß der Antichrist kommt, so sind auch jetzt viele Antichristen aufgetreten; daher wissen wir, daß es die letzte Stunde ist.“ (1 Joh 2,18) 5. Die Herausforderung, dem Tier zu widerstehen und sich an den König des Reiches Gottes zu klammern, gilt seit dem ersten Jahrhundert bis heute – und nicht erst für eine ferne Zeit. Sie gilt unter Hitler so wie unter Kim Yong-un, unter Barack Obama wie unter Angela Merkel. Mal ist sie größer, mal kleiner. Mal besteht sie im Widerstand gegen den Druck von oben, mal in der Standhaftigkeit gegen Versuchung von unten. Sie wehrt sich gegen die Verführung des Geldes genauso wie gegen die Unterdrückung der Schwachen und die Ungerechtigkeit der Mächtigen. Sie ringt um 50 Ulrich Neuenhausen das Leben von Ungeborenen im Mutterleib genauso wie um die faire Bezahlung von Textilarbeitern in Bangladesh. Die Gemeinde riskiert jederzeit ihr Leben, ihren Komfort, ihre Anerkennung, ihre Besitztümer für das Reich Gottes, weil die Schönheit dieses Reiches noch bevorsteht. Das Tausendjährige Reich Und ich sah einen Engel aus dem Himmel herabkommen, der den Schlüssel des Abgrundes und eine große Kette in seiner Hand hatte. Und er griff den Drachen, die alte Schlange, die der Teufel und der Satan ist; und er band ihn tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund und schloss zu und versiegelte über ihm, damit er nicht mehr die Nationen verführe, bis die tausend Jahre vollendet sind. Nach diesem muss er für kurze Zeit losgelassen werden. Und ich sah Throne, und sie setzten sich darauf, und das Gericht wurde ihnen übergeben; und ich sah die Seelen derer, die um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen enthauptet worden waren, und die, welche das Tier und sein Bild nicht angebetet und das Malzeichen nicht an ihre Stirn und an ihre Hand angenommen hatten, und sie wurden lebendig und herrschten mit dem Christus tausend Jahre. (Offb 20,1–4) Das Reich des Tieres wird vernichtet, und stattdessen beginnt das Reich des Christus. Die Besonderheit dieses Reiches ist, dass es nicht mehr in der Auseinandersetzung zwischen den beiden Reichen, dem des Lammes und dem des Tieres, lebt. Der Satan wird gebunden und kann nicht gegen das Reich des Christus aktiv werden. Einer der fatalsten Irrtümer der Kirche ist meines Erachtens die Auffassung gewesen, das Tausendjährige Reich habe mit der Kirche schon begonnen (Bietenhard 1955:128f; Thiessen 2007:99). So wurde jede kirchliche und die von ihr abgesegnete weltliche Macht zur Macht Christi, nicht hinterfragbar und nicht absetzbar. Jedes Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 51 Unrecht dieser Mächte war von vornherein gerecht gesprochen, jede himmelschreiende Grausamkeit göttliches Gericht, jede Benachteiligung und Unterdrückung göttliches Schicksal, jeder Aufstand zwecklos und Anlass zur Exkommunikation. Das Tausendjährige Reich als schon begonnenes Zeitalter der Kirche oder langsam verwirklichte Utopie verführt die Nachfolger Jesu dazu, sich die Macht selbst zu nehmen, die ihnen erst von Christus verliehen werden sollte. Es ist besonders auf die Auswahl derer zu achten, die sich mit Christus in Offenbarung 20 auf den Thron setzen: Es sind die Machtlosen, Verfolgten, Unterdrückten, Ungerechtigkeit Erleidenden, die, die sich dem Tier widersetzen, auch wenn es sie alles kostet (Frey 1953:191). Es sind nicht die Kompromissbereiten, die Kollaborateure der Macht, die Verwalter des Reichtums der Kirche, die Soldaten und Generäle der Christenheit. Die Macht Christi bleibt eine zukünftige Größe, bis Jesus Christus sichtbar wiederkommt. Wer sie in die Gegenwart zieht, glaubt an Utopien, folgt den Versprechen der Mächtigen, beherzigt die Vorschläge der Hure Wirtschaft und stürzt am Ende zusammen mit den Reichen dieser Welt. Das Friedensreich und der Christus Niemand kann das Buch öffnen, das mit sieben Siegeln versiegelt ist. Kein Mächtiger, kein König, kein Herrscher der Massen, kein Ideologe, kein Wirtschaftsgenie, kein Politiker kann das Friedensreich herbei führen, das Gott im Alten Bund schon verheißen hatte: Und ich sah einen starken Engel, der mit lauter Stimme ausrief: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen? Und niemand in dem Himmel, auch nicht auf der Erde, auch nicht unter der Erde konnte das Buch öffnen noch es anblicken. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen noch es anzublicken. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden 52 Ulrich Neuenhausen der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, um das Buch und seine sieben Siegel zu öffnen. (Offb 5,2–5) Der Löwe aus Juda ist der einzige, der die Weltgeschichte in dieses Friedensreich hineinführen kann. Er ist ein König, wie der Hinweis auf David deutlich macht. Er ist die Erfüllung der Verheißung aus dem Alten Testament: Juda ist ein junger Löwe; vom Raub, mein Sohn, bist du hochgekommen. Er kauert, er lagert sich wie ein Löwe und wie eine Löwin. Wer will ihn aufreizen? Nicht weicht das Zepter von Juda, noch der Herrscherstab zwischen seinen Füßen weg, bis daß der Schilo kommt, dem gehört der Gehorsam der Völker. (Gen 49,9f) Ihm gehört der Gehorsam aller Völker. Er ist der Löwe, dem niemand seine Macht streitig machen kann. Johannes sucht nach diesem Löwen und sieht: Und ich sah inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten ein Lamm stehen wie geschlachtet… (Offb 5,6) So wie seine Nachfolger ging auch Jesus seinen Weg zur Herrschaft über das Leiden und den Tod. Der Löwe ist ein Lamm. Die königliche Gemeinde ist Opfer der Mächte dieser Welt. Die zukünftigen Herrscher sind jetzige Verfolgte. Beides bedingt sich: Freut euch, insoweit ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid, damit ihr euch auch in der Offenbarung seiner Herrlichkeit jubelnd freut! (1 Petr 4,13) und: …wenn wir ausharren, werden wir auch mitherrschen. (2 Tim 2,12) Prämillenniarismus pro und contra Klingt die Lehre des Prämillenniarismus nicht zu sehr nach „irdischem Jammertal“, durch das man sich irgendwie hindurchkämpft, um das eigentliche Leben in einer noch Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 53 einzutretenden Zukunft zu erhalten? Nimmt der Prämillenniarismus nicht alle Hoffnung und Motivation, sich für die Verbesserung der Verhältnisse auf dieser Erde einzusetzen? Macht er nicht sogar gleichgültig gegenüber den Menschen und der Umwelt dieser Erde (Schnabel 1993:95)? Für die Offenbarung ist das Reich des Christus als sichtbares politisches Reich eine zukünftige Größe. Alles bis zu diesem Reich ist Kampf der beiden Reiche: dem der Gemeinde und dem des Tieres. Sowohl der Gedanke einer großen Trübsal am Ende der Zeit als auch der einer Entrückung vor dieser Trübsal fehlen vollständig in der Offenbarung. Christen sind nicht auf der Flucht aus dieser Zeit, sondern ringen um das Reich Gottes. Sie sind dabei nicht die politischen Verwirklicher dieses Reiches, sondern stehen als Vertreter, als Boten für Gottes Reich mitten in dieser Welt. Sie sind wie die ständige Vertretung, die Botschaft eines fernen Landes, deren Personal für das Heimatland steht, doch im Gastland lebt. Sie leben in der Welt als Fremde, aber mit einem Auftrag; als Wanderer, aber mit einer Aufgabe. Sie setzen Zeichen durch ihr Handeln, sie fallen auf durch ihre Liebe, sie bekämpfen das Böse durch Gutes, sie segnen, wo andere fluchen, sie kümmern sich, wo sonst nur Gleichgültigkeit herrscht, und sie tun das alles auch dann, wenn man sie dafür hasst und verfolgt, links liegen lässt oder auslacht. Insofern schafft das Tausendjährige Reich eine Hoffnung, die nicht lähmt, sondern motiviert. Sie stellt in die Verantwortung, jetzt schon das zu leben, was im Tausendjährigen Reich dann Standard und Ordnung sein wird: Schalom miteinander, Schalom mit der Umwelt, Schalom mit Gott. Man stelle sich einen Botschafter vor, der in einem fremden Land beginnt, die Gesetze seines Heimatlandes zu brechen. Man stelle sich einen Botschafter vor, der z.B. in Kolumbien mit Heroin handeln würde oder in Saudi Arabien vier Frauen nehmen oder im Sudan Sklaven halten oder seine Tochter beschneiden lassen würde. Das ist schlichtweg nicht möglich, denn der Botschafter repräsentiert sein eigenes Land auch in den Normen 54 Ulrich Neuenhausen und Werten. Es zählt nicht nur sein Wort, es zählt auch sein Leben. Deshalb wird er an einigen Stellen den Regeln seines Gastlandes nicht folgen können. Fremd in dieser Welt sind wir nicht als flüchtig Durchreisende, sondern als beauftragte Botschafter. Wenn der Anspruch, den wir vertreten, diese Welt zum Besseren verändert – sehr gut! Wenn jedoch nicht, dann sind wir trotzdem weiterhin Botschafter, mit der gleichen Botschaft, mit dem gleichen Lebensstil. Das Ende ist der Anfang Selbst das Tausendjährige Reich bleibt eine vorübergehende Erscheinung. Ganz am Ende erfolgt das große Gericht Gottes über alle Menschen, die bei der ersten Auferstehung nicht dabei waren. Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden geöffnet; und ein anderes Buch wurde geöffnet, welches das des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die in ihm waren, und der Tod und der Hades gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. (Offb 20,12–13) Und dann geht es in Offenbarung 21 bis 22 erst richtig los. Eine neue Erde, ein neuer Himmel, eine neue Stadt Jerusalem, neue Völker, neue Geschichten, und mitten drin Gott selbst. Gott hat die Geschichte dieser Welt auf Steigerung angelegt. Immer weiter, immer größer, immer schöner, immer gerechter, immer friedlicher, immer erfüllender. Die Gemeinde ist Teil dieser Geschichte, die jetzt schon begonnen hat und nie mehr enden wird. Zukunftserwartungen in der Offenbarung des Johannes 55 Bibliographie Baukham, Richard 1993. The Theology of the Book of Revelation. Cambridge: Cambridge University Press. Beale, Gregory K. 1999. The Book of Revelation. Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co. Bietenhard, Hans 1955. Das tausendjährige Reich. Zürich: Zwingli-Verlag. Böcher, Otto 1998. Die Johannesapokalypse. 4., durchges. und mit einem neuen Nachtr. vers. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchges. Abt. Verl. (Erträge der Forschung, 41). Frey, Helmuth 1953. Das Ziel aller Dinge. Stuttgart: Calwer Verlag. Maier, Gerhard 1981. Die Johannesoffenbarung und die Kirche. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Mounce, Robert H. 1977. The Book of Revelation. Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co. Neuenhausen, Ulrich 2011. Die Offenbarung. Das Buch, das glücklich macht. Hammerbrücke: Jota-Publikationen GmbH. McLaren, Brian 2008. Höchste Zeit, umzudenken! Jesus, globale Krisen und die Revolution der Hoffnung. Marburg: Francke-Buchhandlung GmbH. Pohl, Adolf 1996. Die Offenbarung des Johannes. 1.Teil. 10. Auflage. Wuppertal: R. Brockhaus Verlag. Rist, Martin 1957. The Revelation of St. John the Divine, in Buttrick, George A. (Hg.): The Interpreter’s Bible: James, Peter, John, Jude, Revelation, Volume 12. New York: Abingdon Press. Schnabel, Eckhard J. 1993. Das Reich Gottes als Wirklichkeit und Hoffnung. Wuppertal: R. Brockhaus Verlag. Thiessen, Jacob 2007. Israel und die Gemeinde. Die Frage nach der Wiederherstellung Israels – eine hermeneutische und exegetische Herausforderung. Hammerbrücke: Jota-Publikationen GmbH. 56 Ulrich Neuenhausen „Das Streben nach Glückseligkeit“ Oder: Wie Paulus im Römerbrief die Konturen des Reiches Gottes nachzieht Marco Lindörfer1 Chris Gardner, gespielt von Will Smith, ist die Hauptfigur des knapp 2-stündigen Dramas aus Hollywood „Das Streben nach Glück“. Als kämpferischer Vater, der gerade das Sorgerecht für seinen Sohn übernommen hat, versucht Gardner mit einem neuen Job als Praktikant einer Börsenmakler-Firma seinen Steuerschulden, dem rauen Leben auf den Straßen von San Francisco und weiteren Hindernissen zu trotzen. Es ist die klassische „Vom Tellerwäscher zum Millionär“–Geschichte, basierend auf einer wahren Begebenheit, in der sich das Streben nach Glück für den hart arbeitenden Gardner am Ende auszahlt. Ursprünglich – fernab von Hollywood – sollte in der Unabhängigkeitserklärung der USA mit der Formulierung: „Recht 1 Lindörfer, Marco MTh, Leitender Referent im Bereich Jugend beim CVJM Thüringen. auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“2 der Fokus auf dem gemeinsamen Wohlergehen liegen.3 Das Glück sollte dabei aus der kollektiven „Verantwortung freier Männer und Frauen für die gemeinschaftlichen Angelegenheiten“ (Newbigin 1989:28) kommen – soweit die Theorie. Praktisch gesehen war jedoch das Streben nach Glück, dieses verbriefte „Grundrecht aller Menschen“,4 das Recht eines jeden einzelnen Menschen. Doch was genau ist Glück? Glück – die Definition Glück ist ein Wort, das viele Bedeutungen hat. Und um die Frage „Was ist wirkliches Glück?“ beantworten zu können, muss zunächst die Antwort auf eine andere Frage gegeben werden: „Was ist die Bestimmung, das Ziel des Menschen?“ Die Menschen „zum glückseligen Leben zu befähigen“ (Mensching 2012:8) ist das gemeinsam erklärte Ziel der antiken Philosophenschulen – vom Vorsokratiker Demokrit (460–371 v. Chr.) bis zum Stoiker Marc Aurel (121–180 n. Chr.).5 Glückseligkeit ist in Aristotelesʼ Ethik ein zentraler 2 Der Originaltext der Unabhängigkeitserklärung der USA vom 04. Juli 1776 lautet: „We hold these Truths to be self-evident, that all Men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“ (Unabhängigkeitserklärung original englischer Text 1776). Am 09. Juli 1776 druckte die deutschsprachige Zeitung Pennsylvanischer Staatsbote in Philadelphia den vollständigen Text der Erklärung. Die betreffende Textstelle ist darin folgendermaßen übersetzt: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit“ (Pennsylvanischer Staatsbote 1776). 3 Hannah Arendt spricht dabei vom Streben nach dem „öffentlichen Glück“ (1994:163). Dieses öffentliche Glück unterscheidet sich für sie deutlich vom Privatinteresse mit dem „Recht auf rücksichtslose Verfolgung des Eigennutzes“ (:174). 4 So die Rezension des Filmes bei Amazon (Amazon 2013). Gilhus nennt das „Streben“ nach Glück „ein universales Element im menschlichen Leben und Denken“ (2008:1016). 5 Vgl. Mensching 2012. 58 Marco Lindörfer Ende der Leseprobe von: Reich Gottes - Veränderung - Zukunft - Theologie des Reiches Gottes im Horizont der Eschatologie Arthur Rempel GBFE e.V. Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1orfEDq