Predigt über Johannes 15,9-17 am 20. Oktober 2013 in der Kreuzkirche Reutlingen Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer „Oma, wo war ich eigentlich, bevor ich geboren wurde?“ Die Frage des kleinen Enkelkindes kommt überraschend, selbst für die weise und im Beantworten schwieriger Fragen geübte Großmutter. „Ich weiß es nicht. Du warst jedenfalls noch nicht bei uns.“ Das Kind ist mit der Antwort der Oma nicht zufrieden und versinkt in tiefes Nachdenken. „Aber irgendwo muss ich doch gewesen sein?“ So überlegt es noch eine Weile und sagt dann einen Satz, wie er schöner und tiefer kaum sein kann: „Ich glaube, ich war in Gott versteckt.“ So erzählte die Theologin und stolze Großmutter Dorothee Sölle gern von einem ihrer Enkel. Was das Kind da plötzlich ganz sicher weiß, ist nicht weniger als dies: Der Grund, die Quelle, aus der unser Leben entspringt, ist Gott. Die Kraft, die uns ins Leben leitet und lockt, ist Liebe. Und „Liebe“ ist lediglich ein anderer Name für Gott. Einer von vielen Namen für Gott, vielleicht sein schönster. „Ich war einmal in diesem Gott versteckt.“ Ich war von Liebe umhüllt wie von einem wärmenden Mantel. Ich war gewollt. Und dann wurde ich ins Leben geschickt, wurde geboren. Ein Menschenkind aus Fleisch und Blut. Immer begleitet von jener Liebe. Nie fallengelassen. Nur losgelassen, damit ich selber leben konnte. Damit ich glauben und hoffen und lieben lerne. Die Liebe, die mich anfangs so fest umschloss, die mich begleitet hat auf meinem Weg ins Leben, sie hat selbst Hände und Füße bekommen und eine Stimme. Sie hat ein besonderes Gesicht angenommen auf dieser Erde. Diese nicht nur spürbar, sondern auch sichtbar gewordene Liebe hat einen Namen bekommen: Jesus Christus. 1 Jetzt bin ich, sind wir nicht länger „ in Gott versteckt“, und auch Gott selbst verbirgt sich nicht mehr nur in einem fernen Himmel. Jesus Christus hat der Liebe Gottes ein Gesicht gegeben – das Gesicht eines Menschen. Er will mich und Sie dafür begeistern, in der Liebe Gottes weiter zu wachsen und zu reifen. So verstehe ich die Worte, die uns Johannes im 15. Kapitel seines Evangeliums überliefert hat. Sie finden diese Worte auf dem Gottesdienstblatt abgedruckt, und ich lese Ihnen die ersten 4 Verse einmal vor. 9Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! 10Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. 11Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Liebe Gemeinde, solche Sätze kann nur der Evangelist Johannes schreiben. Von der Liebe und vom Bleiben in der Liebe ist da die Rede, und das wird verknüpft mit dem Einhalten der Gebote und der Freude eines Christenmenschen. Dann geht es wieder zurück zu Liebe - das ist wohl das Hauptthema von Johannes. „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe.“ Christus sagt: „So liebe ich euch auch.“ Das ist die Voraussetzung, die gilt. Das ist – das soll nicht erst noch werden. Das muss nicht noch erst von uns erarbeitet oder verdient werden. 2 „Wie mein Vater liebt, so liebe ich euch auch.“ Einfach so. Bedingungslos. Voraussetzungslos. Liebe wird nicht verdient, sie wird zugesprochen. „Bleibt in meiner Liebe.“ Wir sind eingeladen, in der Liebe Gottes zu bleiben. Was auch immer in unserem Leben passiert an Veränderungen: Abschied und Neubeginn, Veränderungen, die wehtun, ein neuer Lebensabschnitt, den ich mit Sehnsucht erwarte und den ich mit großen Hoffnungen beginne, - was auch immer geschieht im auf und ab des Lebens, - bei der Liebe Gottes gilt: Wir dürfen bleiben. Wir behalten uneingeschränktes Bleiberecht an der Quelle des Lebens: bei Gott, der uns unser Leben gab. Liebe Gemeinde, das ist eine Einladung, ja vielleicht sogar eine Aufforderung: „Bleibt in meiner Liebe!“ Die Liebe, mit der wir uns selbst lieben, und die Liebe, die wir weitergeben an andere Menschen, ist Entsprechung, ist Antwort auf die Liebe Gottes. „Bleibt in meiner Liebe!“ Wir können diese Liebe Gottes ablehnen. Wir können diese Verbindung mit dem Urgrund des Lebens kappen und uns davon lossagen. Manchmal treffe ich auf Menschen, da merke ich: Sie können diese Liebe gar nicht spüren. Die Antennen für diese Liebe, die sie wie jeder Mensch einmal hatten, stehen gar nicht auf Empfang. Vielleicht wurden sie achtlos umgeknickt oder durch schlimme Erfahrungen zu Boden gedrückt, bevor sie sich hätten richtig entwickeln können. Wie soll ein Mensch auch liebevoll mit sich selbst umgehen und Liebe weitergeben, wenn er oder sie diese Liebe gar nie selbst erfahren hat? Oft begegne ich aber auch Menschen, die von ihrem Bleiberecht in der Liebe Gottes nur allzu gut wissen. Menschen, deren Leben sich aber so verändert hat, dass sie sich abgeschnitten fühlen von diesem Urgrund Liebe. Menschen, die darunter furchtbar leiden, dass sie diese Liebe Gottes nicht mehr spüren können. 3 „Vor 2, 3 Jahren noch, da habe ich alles viel leichter nehmen können“, erzählt mir ein Mann um die 50. „Jetzt aber regt mich das alles furchtbar auf: diese ständige Neuorganisation im Beruf. Wenn wir uns an eine Neuerung gewöhnt haben, steht schon die nächste Umstrukturierungsmaßnahme ins Haus. Nicht einmal Freizeit und Urlaub bringen mir noch Entspannung und Ruhe, die ich so dringend brauche. Eigentlich funktioniere ich nur noch, so gut ich eben kann, und versuche, den Anforderungen im Beruf gerecht zu werden. „Bleibt in meiner Liebe!“ Wie gerne möchte ich meinem Gesprächspartner sagen: Schau doch, wie reich du bist! Du bist ein von Gott geliebter Mensch und darfst dich selbst lieben! Du darfst das viele Gute, das es in deinem Leben gibt, dankbar als Geschenk annehmen: Die Liebe deiner Frau, deine Kinder, die Schwung hineinbringen in deinen Alltag, deine Freunde. Wie gerne möchte ich, dass mein Gesprächspartner dahin kommt zu sagen: - Ich möchte selbst Handelnder sein in all den beruflichen Veränderungen, statt nur Opfer zu werden und zu leiden an dem, was andere sich ausgedacht haben. - Ich möchte den Veränderungsprozess aktiv mitgestalten, statt den Kopf in den Sand zu stecken und nur noch panisch zu reagieren! - Ich möchte dem Berufsstress Grenzen setzen. - Ich möchte Gott um innere Festigkeit bitten! - Ich möchte Kraft tanken und innere Stärke sammeln bei Menschen, die etwas von ihrer eigenen inneren Kraft und Entschiedenheit weitergeben können. - Ich möchte für regelmäßig wiederkehrende Zeiten des körperlichen und seelischen Ausgleichs sorgen. 4 „Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe.“ Gottes Gebote sind keine Verwaltungsvorschriften einer grauen Eminenz, die uns das Leben schwer machen und uns zeigen sollen, wie klein wir doch sind. Die Gebote, an die Jesus uns erinnert, sind kein “Du sollst nicht!“ mit erhobenem Zeigefinger. Bei seinen Geboten geht es viel eher um das uns Menschen angemessene Tun, um das, was uns heute und auch morgen noch gut tut. Um das, was gut ist und gut tut, und zwar nicht nur der einen Person, die handelt, sondern auch gut tut all den anderen, die zu spüren bekommen, wie sich die Tat des einen Menschen für sie alle auswirkt. Ich könnte auch sagen: Jesu Gebote sind dazu da, dass wir Freude haben an unserem Tun – an dem, was wir selbst tun genauso wie an dem, was andere tun und lassen. „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe“, so sagt es Jesus in unserem Predigttext. Mich berührt dieses Wort Jesu sehr. Liebe lässt sich gewiss nicht befehlen, erzwingen, verordnen. Für mich klingt es mehr wie eine Einladung: Gottes Liebe ist der Urgrund, die Voraussetzung von unser aller Leben. Wir waren in Gott versteckt, bevor wir geboren wurden. Aufgeschrieben im Buch des Lebens bei dem, der selbst die Liebe heißt. Ob jung oder alt, ob arm oder reich, ob traurig oder fröhlich: Wir alle werden von seiner Liebe begleitet, komme, was da kommen mag. Nachher feiern wir miteinander das Abendmahl. Wir alle sind miteinander Gäste am Tisch des Herrn Jesus Christus ist der Gastgeber. Unser Miteinander wird sichtbar daran, dass wir als Gemeinde in einem Kreis um den Altar stehen, dass wir miteinander einen Kelch benutzen und die Hostie darin eintauchen. Schön, wenn Menschen mitfeiern, die wir kennen und lieben. 5 Aber zur Gemeinde gehören auch die Menschen, die uns fremd sind, die anders denken und leben. - Nehmen wir einander wahr. - Lassen wir uns gegenseitig gelten, so verschieden, wie wir sind. - Akzeptieren wir, dass wir unterschiedliche Wege gehen. - Verhelfen wir anderen auch, wenn es sein muss, zu ihrem eigenen Weg. Auf diese Weise können wir Gott und seiner Liebe Hände, Füße, Augen und Ohren zur Verfügung stellen: unsere Hände, unsere Füße, unsere Augen und unsere Ohren. Und ich frage mich und ich frage Sie alle: Was können wir tun, dass die Liebe, also Gott selbst, in unserem Leben durchscheint wie das Sonnenlicht, das ein buntes Kirchenfenster zum Leuchten bringt? Was werde ich, was werden Sie darauf antworten? Amen. 6