Toleranz und Intoleranz in der Religion.

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Toleranz und Intoleranz in der Religion. Ein kommunikativer Weg zur Verständigung von Hamid Reza Yousefi »Wie drückt man Toleranz im Persischen oder Ara‐
bischen aus? Der Begriff in dieser Form existiert dort nicht; er wurde bei uns geschaffen.«1 Walter Kerber Einleitende Gedanken Toleranz gehört zu den zentralen Fragen aller Formen der interreligiösen Dialoge. Es handelt sich um den theoretischen und praktischen Umgang mit unterschiedlichen Weltanschauungen. Die Frage nach der Toleranz ist aber häufig mit einer gewissen Mißach‐
tung verbunden, wie dies von John Stuart Mill (1806‐1873) treffend ausge‐
drückt wird: »Ich toleriere deine Handlungen, obwohl ich weiß, daß sie unsinnig und dumm sind.«2 Diese Aussage entspricht der traditionellen Form von Toleranz, die im eigentlichen Wortsinn reine Duldung bedeutet. Duldung fußt eher auf gegenseitigem Mißtrauen und Vorbehalten und ist bereits theoretisch gewalttätig. Thomas von Aquin (1225‐1274) und John Locke (1632‐1704) sind für eine solche Duldungskonzeption eingetreten. Sie akzeptierten Minderheiten und gegnerische Position, solange die Autorität ihrer Leitgedanken gewahrt blieb. Locke duldet keine atheistischen Mei‐
nungen, welche »die Existenz Gottes leugnen. Versprechen, Verträge und Eide, die das Band der menschlichen Gemeinschaft sind, können keine Kerber, Walter (Hrsg.): Wie tolerant ist der Islam?, München 1991 S. 79. Berlin, Isaiah: John Stuart Mill und die Ziele des Lebens, in: Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/Main 1995 (257‐293), S. 269. 1
2
104 Geltung für einen Atheisten haben.«3 Immanuel Kant (1724‐1804) und Mo‐
ses Mendelssohn (1729‐1786) stehen dieser Form von Toleranz ablehnend gegenüber. Während Kant sie für ›hochmütig‹ hält, verlangt Mendelssohn Anerkennung. Die folgenden Überlegungen beruhen auf der Erkenntnis,
daß
1.
2.
3.
4.
Toleranz eine anthropologische Verankerung hat,
Toleranz ein Kind der Intoleranz ist,
Toleranz unterschiedliche Wege kennt und verschiedene Namen trägt,
Toleranz dennoch in der europäisch-westlichen Literatur einseitig zur Darstellung
kommt4,
Ich verfolge das Ziel, eine Toleranztheorie zu entwickeln, die diese Plurali‐
tät der Wege und Konzeptionen berücksichtigt und mithin zu einer dialo‐
gischen Reziprozität beizutragen vermag. Dabei greife ich auf die religiöse Idee der Toleranz von Gustav Mensching (1901‐1978) zurück.5 Zur Darstel‐
lung kommen hauptsächlich dessen formale Toleranz und Intoleranz sowie inhaltliche Toleranz und Intoleranz. Anschließend setze ich Menschings Toleranzidee mit einer interkulturellen Theorie des Dialogs in Beziehung und entwickele sie als Angewandte Toleranz weiter. Darauf aufbauend versuche ich die Frage nach den Grenzen der Toleranz zu beantworten. Formale Toleranz und Intoleranz Formale Toleranz bedeutet »das bloße Unangetastetlassen fremder Glau‐
bensüberzeugungen.«6 Eine solche Haltung kann aus verschiedenen Grün‐
den eingenommen werden, z.B. aus Gleichgültigkeit. Ein Beispiel für for‐
male Toleranz ist die Gewährung von Glaubensfreiheit in einem Staat, der verschiedene Glaubensformen nebeneinander bestehen läßt. Sie pflegt eine Organisationsform, wie der Staat oder der Kirche, in denen formale Tole‐
Locke, John: Ein Brief über Toleranz, Hamburg 1996 S. 95. In allen europäisch‐westlichen Nachschlagewerken wie der ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹ und dem ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ beginnt die Geschichte der Toleranz im Abendland. Dies habe ich an anderer Stelle Ansatz‐
weise thematisiert. Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Angewandte Toleranz. Gustav Men‐
sching interkulturell gelesen, Nordhausen 2008. 5 Vgl. Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion (1955), 2. überarbei‐
tete Auflage, Hamburg 1966 S. 18 ff. 6 Vgl. Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion (1955), 2. überarbei‐
tete Auflage, Hamburg 1966 S. 18. 3
4
104
105 ranz geübt wird, so lange diese Organisationsform durch eine fremde Reli‐
gion nicht gefährdet wird. Ist dies aber zu befürchten, dann schlägt formale Toleranz zumeist in formale Intoleranz um. In der Religionsgeschichte unterscheidet Mensching zwei Arten von for‐
maler Toleranz: zum einen Toleranz gegenüber Formen religiösen Lebens und Denkens und zum anderen institutionell organisierte Toleranz. Es gibt noch eine dritte Form: Toleranz in Fragen der Form und der äußeren Orga‐
nisation einer Religion. Diese nennt Mensching formale Indifferenz.7 Er hält formale Toleranz bzw. bloßes Dulden für eine intolerante Art zu den‐
ken und zu handeln. Formale Toleranz ist in vielen Verfassungen als staatlich garantierte Glaubensfreiheit verankert: in Art. 55c der Charta der Vereinten Nationen von 1945 oder in Art. 18 der Menschenrechtserklärung von 1948. Zur Un‐
terstützung der Forderung nach formaler Toleranz werden im wesentli‐
chen drei Argumente angeführt: 1. die Unerzwingbarkeit des lebendigen Glaubens,
2. das Menschenrecht auf freie Gottesverehrung und
3. im christlichen Bereich, das Argument der Liebe, welche die Verfolgung Andersgläubiger ausschließt.
Formale Intoleranz läßt »fremden Glauben nicht unangetastet, sondern zwingt ihre Vertreter zur Unterwerfung unter eine sakrale Institution eines Staates oder einer Kirche, deren formale Einheit durch abweichende Glau‐
bens‐ und Kultformen gestört werden würde.«8 Sie liegt immer dann vor, wenn die Gewissensfreiheit durch Staatszwang wegen der Bedrohung in‐
nerer Einheit aufgehoben wird. Der Fall von Metin Kaplan, dem berüchtig‐
ten ›Kalifen von Köln‹ ist ein Beispiel hierfür. Trotz seiner theoretisch radi‐
kalen Predigten genoß er in Deutschland so lange Religionsfreiheit, bis er mit dem Ausruf eines ›Gottesstaates in Deutschland‹ verfassungswidrig handelte und dadurch die Einheit des Staates gefährdete. Kaplans Ab‐
Vgl. Mensching, Gustav: Toleranz, eine Form der Auseinandersetzung der Religionen, in: Theologische Literaturzeitung. Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft, begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack, 78. Jg., Nr. 12, Leipzig 1953 (717‐724) S. 723 und S. 722. 8 Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion (1955), 2. überarbeitete Auflage, Hamburg 1966 S. 18. 7
105
106 schiebung ist eine Folge des Umschlagens von formaler Toleranz in forma‐
le Intoleranz. Inhaltliche Toleranz und Intoleranz Das Herzstück von Menschings Toleranzkonzeption ist die inhaltliche To‐
leranz. Diese Form von Toleranz beschränkt sich nicht auf ein bloßes Unangetastetlassen fremder Religionen, sondern bedeutet ihre positive Anerkennung als echter und berechtigter religiöser Möglichkeit der Begeg‐
nung mit dem Heiligen.9 Inhaltliche Toleranz soll zu positiver, echter An‐
erkennung führen. Denn, »die Achtung und Anerkennung der Kulturen [wird] als eine ethische Forderung gesehen, die letztendlich darauf abzielt, wirklich die praktischen Bedingungen zu schaffen, damit sich die Subjekte einer jeden Kulturwelt die ›Reserven‹ ihrer Herkunftstradition als histo‐
risch‐anthropologische (nicht ontologische!) Anhaltspunkte für ihre eigene persönliche Identität aneignen können, ohne diskriminierende Konsequen‐
zen erwarten zu müssen.«10
Mensching unterscheidet zwischen »Toleranz echter Religiosität« und »Toleranz der Aufklärung.«11 Während Toleranz im Kontext der Aufklä‐
rung auf eine Vernunftreligion hinausläuft, setzt Mensching auf echte Reli‐
giosität, die er für stark genug hält, um religiöse Unterschiede in Form einer lebendigen Auseinandersetzung zu tolerieren. Der religiöse Mensch, der nach Mensching »dem Stadium naiver Unreflektiertheit entwachsen ist und jene objektiven geschichtlichen Sachverhalte kennen gelernt hat, sollte auch hinsichtlich der ›Wahrheit‹ der Religion zur Toleranz kommen, ohne darum den eigenen religiösen Standort aufzugeben.«12 Er sieht den aktiven Geist des aufgeklärten Menschen als »Maßstab der Duldsamkeit«, da er einerseits das lieblose Urteil über fremde Religionen unterbindet, anderer‐
Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion (1955), 2. überarbeitete Auflage, Hamburg 1966 S. 18. 10 Fornet‐Betancourt, Raúl: Philosophische Voraussetzungen des interkulturellen Dia‐
logs, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, hrsg. v. d. Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie, Nr. 1, Wien 1998 (38‐53), S. 41. 11 Mensching, Gustav: Duldsamkeit, in: Glaube und Gedanke, Reden über christli‐
che Gottes‐ und Weltauffassung, Riga und Leipzig 1929 S. 88. 12 Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion (1955), 2. überarbeitete Auflage, Hamburg 1966 S. 181. 9
106
107 seits »zur Erkenntnis verwandten Geistes« leitet. Inhaltliche Toleranz ist nicht »eine leere und unbeteiligte Indifferenz, sondern sie bedeutet, daß man das Wehen wirklichen Geistes auch innerhalb der Fremdreligionen erkennt und anerkennt.«13 Inhaltliche Intoleranz hingegen bekämpft fremde Überzeugungen, um der vermeintlichen Wahrheit willen oder im Namen einer bestimmten Ideologie. In diesem Kontext erscheinen die Inhalte der fremden Religion als unwahr und abwegig, und sie werden abgelehnt oder sogar bekämpft oder verfolgt. Intoleranz formaler oder inhaltlicher Art erscheint in der Religionsgeschichte als Verfolgung oder Inquisition. Häufig verlangt die Volksreligionsgemeinschaft die Verehrung der eigenen Götter, selbst wenn, wie in der Geschichte häufig vorgekommen, bei der Eroberung fremder Völker diese ihre Götter zugestanden bekamen. Wie gehen Menschen und Gruppen in der theoretischen und praktischen Form einer solchen Haltung miteinander um? Das gesellschaftliche Zu‐
sammenleben und die praktische Politik sprechen eine eindeutige Sprache. Die Kontrahenten zielen bewußt auf eine »Dehumanisierung« des jeweils anderen hin. Man spricht von Feinden als ›Nicht‐Menschen‹ oder ›min‐
derwertigen Menschen‹. Das Konzept der Angewandten Toleranz Angewandte Toleranz geht von unterschiedlichen Toleranztraditionen aus und weist politisch‐religiöse und kulturelle Totalansprüche zurück. Im Gegensatz zu einer Duldungskonzeption, die sich als aktive Toleranz auf‐
faßt, bedeutet sie Traditionsanerkennung, ohne die Preisgabe eigener Tra‐
dition. Dabei geht es e rs ten s um die aktive Wahrnehmung und Akzep‐
tanz des Anderen bzw. Fremden als Subjekt. Dies bedingt z weitens die ebenfalls aktive Wahrnehmung des Eigenen als einem Anderen gegenüber dem Anderen. Drit tens geht es um die gegenseitige Anerkennung der Andersheit des jeweils Anderen, in welchem Kontext auch immer. Insofern geht die Beantwortung der Frage nach ›Wer bin ich‹ bzw. ›Wer sind wir‹ der Frage voraus, wer der Andere ist und wer die Anderen sind. 13
Mensching, Gustav: Duldsamkeit (1929), 2. Aufl., in: Aufsätze und Vorträge zur Toleranz‐ und Wahrheitskonzeption (Bausteine zur Mensching‐Forschung, Bd. 2), 2002 (95‐98), S. 97. 107
108 Um zu wissen, wer das Andere ist oder wer die Anderen sind, müssen wir sie selbst zu Wort kommen lassen. Auf diese Weise kann die Selbst‐
hermeneutik des Anderen mit ihrer Fremdhermeneutik und der Fremd‐
hermeneutik des Eigenen in Beziehung gesetzt und miteinander verglichen werden. Im Rahmen dieser hermeneutischen Situation können sich die Selbstvergewisserung des Eigenen aus eigener Sicht und die Selbstverge‐
wisserung des Fremden aus fremder Sicht gegenseitig bereichern, ohne sich gegenseitig aufeinander zu reduzieren. Dabei gilt die Bewahrung der eigenen Identität als eine wichtige Voraussetzung für fruchtbare Kommu‐
nikation. Die Grundlage der Angewandten Toleranz als ein Lebens‐ und Denkweg ist eine dialogische Haltung, die mit einem kritischen Respekt einhergeht. Anerkennung bleibt im Kontext der Angewandten Toleranz ein Ziel. Die Grenze zwischen Toleranz und Anerkennung ist stets offen. Eine politische oder religiöse Gruppe, die gemäß der demokratischen Verfassung aner‐
kannt ist, kann aufgrund einer Programm‐ und Verhaltensänderung, die nicht mehr verfassungskonform ist, verboten werden. Eine Duldung ist solange zu gewähren, bis es nachgewiesen ist, daß diese Partei in der Tat menschenverachtende Praktiken anstrebt. Ein Fanatiker oder Gewalttäter kann nicht Toleranz oder Anerkennung seiner Denk‐ und Handlungsart fordern. Er wird aufgrund seiner Gesinnung bestenfalls geduldet, bis er seine menschenverachtende Haltung korrigiert hat. Angewandte Toleranz besitzt vor allem fünf Dimensionen, die eng mit‐
einander verknüpft sind: 1. eine politische, die deutlich macht, daß Toleranz grundsätzlich pluralistisch ist,
2. eine kulturelle, die keine Tradition bevorzugt, aber eine wechselseitige Bereicherung durch Kommunikation und Interaktion intendiert,
3. eine religiöse, die aufzeigt, daß Religion in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt und daß Erlösung auch ohne Gott möglich ist,
4. eine soziologische, welche die Soziologie der Kulturen, die stets als offene Sinnund Orientierungssystem zu verstehen sind, und die Auswirkungen intra- sowie
interkulturellen Verhaltens auf gesellschaftliche Strukturen hin untersucht und
5. eine erzieherische mit dem Ziel, vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung
eine Einstellung wechselseitiger Anerkennung zu fördern.
Interkulturelle Theorie der Kommunikation Kommunikation ist eine notwendige Bedingung menschlichen Lebens. Die basale Form der Kommunikation findet mindestens zwischen zwei Perso‐
108
109 nen statt. Im Allgemeinen können zwei Dialogsformen voneinander unter‐
schieden werden. Erstens eine dialogische, die mit kommunikativem Han‐
deln einhergeht und zweitens eine monologische, die mit einem strategi‐
schem Handeln verbunden ist. Ein solches Handeln wird stets von der Machtasymmetrie begleitet. Sie bestimmt die Maximen der Handlung, die derart selbstbezüglich sind, daß eine Kommunikation kaum auf gleicher Augenhöhe geführt werden kann. Kommunikatives Handeln läßt sich hingegen als ein offener hermeneuti‐
scher Prozeß verstehen, »in dem der Akteur beides zugleich ist: er ist der Initiator, der mit zurechenbaren Handlungen Situationen bewältigt; gleich‐
zeitig ist er auch das Produkt von Überlieferungen, in denen er steht, von solidarischen Gruppen, denen er angehört, und von Sozialisationsprozes‐
sen, in denen er heranwächst.«14 Damit wird auf eine Doppelrolle des Men‐
schen verwiesen, der zu initiieren versucht, aber in den Überlieferungen und latenten Funktionen der Religionen derart gebunden ist, daß er zu‐
gleich nur als Produkt handelt. Im Kontext einer dialogischen Kommunikation werden Regeln vorher gemeinsam festgelegt. Der Dialog ist in diesem Sinn ein Austausch von Erfahrungen, Auffassungen und ein Aufeinanderzugehen in der Absicht, daß alle Beteiligten an Erfahrung und Einsicht zunehmen. Die »subjektive Reflexion ist der Anfang der Kommunikation, sowohl innerhalb einer Kul‐
tur als auch auf interkultureller Ebene [...] Durch Reflexion kann der Mensch die Kultur sehen, die ihn bildet, und die Weltsicht, durch die er sieht und gesehen wird.«15 Diese Reflexion setzt eine kritische Selbst‐ und Fremdhermeneutik voraus. Dabei geht es um das Verstehen und die Ana‐
lyse der Begründungsformen der Diskursteilnehmer. Das Kommunikative Handeln Angewandte Toleranz ist in erster Linie kommunikatives Handeln. Ihre Maxime ist Verstehen‐Wollen und Verstanden‐Werden‐Wollen der Kom‐
munikationspartner. Ein solches Handeln ist »wesentlich Einverständnis‐
Habermas, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main 1983 S. 146. 15 Fornet‐Betancourt, Raúl: Philosophische Voraussetzungen des interkulturellen Dia‐
logs, 1998 S. 51. 14
109
110 handeln; sein Kern liegt in der Einvernehmlichkeit [...] wer kommunikativ handelt, sucht Verständigung.«16 Angewandte Toleranz zeigt »kritische Selbständigkeit in Konkurrenz‐ und Konfliktsituationen, wozu noch die Fähigkeit kommt, den Gedanken und Gefühlen des Anderen«17 verglei‐
chend und verstehend folgen zu können. Dialoge, die aus einer Einstellung kommunikativen Handelns heraus ge‐
führt werden, sind offene Dialoge, in denen eine kritische Begegnung mög‐
lich wird. In einem solchen Diskursraum sagen Partner das, was sie mei‐
nen, und dies zugleich als einen selbstkorrektiven Prozeß mit dem Bewußt‐
sein akzeptieren, daß in praktischer Kommunikation die Gesprächspartner zugleich die Betroffenen sind. Ein polyphoner Dialog mit Anhängern ver‐
schiedener Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen erfordert eine kommunikative Bereitschaft, aufeinander zu hören, voneinander zu lernen, sich gegenseitig in Frage stellen zu lassen und eigenen Überzeugungen stets zu überdenken.18 Bei jedem Dialog sind vor allem drei erkenntnistheoretische Prinzipien
zu betrachten, die zugleich ethisch sind. Erstens das Prinzip der Fehlbar‐
keit, zweitens das Prinzip der vernünftigen Diskussion und schließlich das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit. Die Funktion des dritten Prin‐
zips hängt hier ausschließlich von den beiden ersten Prinzipien ab. Durch »sachliche Diskussion [...] kommen wir fast immer der Wahrheit näher, und wir kommen zu einem besseren Verständnis; auch wenn wir nicht zu einer Einigung kommen.«19 Berger, Johannes: Die Versprachlichung des Sakralen und die Entsprachlichung der Ökonomie, in: Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ›Theorie des kommunikativen Handelns‹, hrsg. v. Axel Honneth und Hans Joas, Frank‐
furt/Main 1988 (255‐277), S. 266. 17 Mitscherlich, Alexander: Toleranz – Überprüfung eines Begriffs, Frankfurt/Main 1974 S. 23 f. 18 Vgl. hierzu Thomas, Alexander: Grundlagen der interkulturellen Psychologie, Nord‐
hausen 2006. 19 Popper, Karl Raimund: Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, (gestohlen von Xenophanes und von Voltaire), in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, hrsg. v. Karl Raimund Popper, 4., durchgesehene Aufl., München 1989 (213‐229), S. 225. 16
110
111 Diese drei zur Annäherung an die ›Wahrheit‹ führenden Prinzipien im‐
plizieren Angewandte Toleranz. Angewandte Toleranz als kommunikati‐
ves Handeln ist »eine besondere Form des Verhaltens. Eine erste Annähe‐
rung an den Begriff der Kommunikation läßt sich am besten geben durch eine Skizze der Kriterien, welche die diversen menschlichen Verhaltens‐
formen gegeneinander abgrenzen.«20 Zur Beschreibung der reziproken Funktionalität des kommunikativen Handelns entwickelt Habermas seine ›Theorie des kommunikativen Handelns‹. Aufgabe ist, einen Kommunika‐
tionsteilnehmer in eigener Einsicht zum Überdenken seines strategischen Verhaltens zu bewegen und zu kommunikativem Verhalten zu gelangen. Solange diese Verhaltensform noch nicht erreicht ist, kann ein fruchtbarer, polyphoner Dialog nicht praktiziert werden.21 Habermas unterscheidet zwischen einer strategischen und einer kommu‐
nikativen Handlungsform. Während erstere nur ihr eigenes Ziel vor Augen hat, berücksichtigt letztere umfassend viele Faktoren und deren gegenseiti‐
ge Beeinflussungen, die den interkulturellen Dialog als eine ethische Quali‐
tät impliziert und »theoretisch‐praktische Haltung bestimmt.«22 Um eine kommunikative Haltung im Gespräch zu pflegen, werden nach Habermas erstens alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses die gleiche Chance haben müssen, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so daß sie jeder‐
zeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Ant‐
wort perpetuieren können. Zweitens müssen alle Diskursteilnehmer die gleiche Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklä‐
rungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, so daß keine Vormei‐
nung auf Dauer der Thematisierung und Kritik entzogen bleibt. Im Kontext des kommunikativen Handelns sind erstens Sprecher zuge‐
lassen, »die als Handelnde die gleiche Chance haben, repräsentative Linke, Angelika/Markus Nussbaumer/Paul R. Portmann: Studienbuch Linguistik, Ergänzt um ein Kapitel ›Phonetik und Phonologie‹, 3. unveränderte Aufl., (Reihe Germanistische Linguistik 121 Kollegbuch), hrsg. v. Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand, Tübingen 1996 S. 173. 21 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1, Handlungsrationa‐
lität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/Main 1981, Bd. 1, S. 395. 22 Fornet‐Betancourt, Raúl: Philosophische Voraussetzungen des interkulturellen Dia‐
logs, 1998 S. 47. 20
111
112 Sprechakte zu verwenden, d.h. ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Denn nur das reziproke Zusammenstimmen individueller Äußerungen und das komplementäre Einpendeln von Nähe und Distanz in Handlungszusammenhängen bietet die Garantie dafür, daß die Handelnden als Diskursteilnehmer sich selbst gegenüber wahrhaftig sind und ihre innere Natur transparent machen.« Zweitens sind nur Spre‐
cher zugelassen, »die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d.h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Re‐
chenschaft abzulegen und zu verlangen usf. Denn nur die vollständige Reziprozität der Verhaltenserwartungen, die Privilegierungen im Sinne einseitig verpflichtender Handlungs‐ und Bewertungsnormen ausschlie‐
ßen, bieten die Gewähr dafür, daß die formale Gleichverteilung der Chan‐
cen, eine Rede zu eröffnen oder fortzusetzen, auch faktisch dazu benutzt werden kann, Realitätszwänge zu suspendieren und in den erfahrungsfrei‐
en und handlungsentlasteten Kommunikationsbereich des Diskurses über‐
zutreten.«23 Dabei herrscht das Prinzip der Redegleichheit, das Verzerrun‐
gen und erzwungenen Konsensus ausschließen soll. Im kommunikativen Handeln wird Angewandte Toleranz am ehesten verwirklicht werden können. Das Toleranzpotential kommunikativen Handelns läßt sich darin erblicken, »daß der indirekte reflexive Weltbezug nicht auf ein unmittelbares Einklagen oder Durchsetzen von Geltungsan‐
sprüchen angewiesen ist, sondern ein Geltenlassen vielfältiger Ansätze ermöglicht.«24 Zwischen Angewandter Toleranz und kommunikativem Handeln ist al‐
lerdings ein wichtiger Unterschied auszumachen. Der Ausgang des Dis‐
kurses ist nach Habermas von der Erzielung eines »tragfähigen Konsenses« abhängig. Trotz aller denkerischen Stringenz geht Habermas von Idealsituationen aus, die zwar in der Theorie auf einem sicheren Boden stehen, in
Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main 1984 S. 178, vgl. auch S. 177. 24 Krobath, Thomas: Zum Toleranzprinzip im ökumenischen Streit um die Wahrheit, in: Veritas et communicatio, Ökumenische Theologie auf der Suche nach einem ver‐
bindlichen Zeugnis. Festschrift zum 60. Geburtstag von Ulrich Kühn, hrsg. v. Heiko Franke u.a., Göttingen 1992 (40‐64), S. 62. 23
112
113 der Praxis aber scheitern müssen, weil Diskurse meist durch Macht determiniert werden. In der Forschung zur Angewandten Toleranz ist unbestritten, daß in kei‐
nem Diskurs von einem Konsens ausgegangen werden kann. Konsens be‐
deutet das Ende der Kommunikation. Konsensualismus ist somit von ei‐
nem platten Optimismus geleitet. Deshalb sind ausschließlich Kompromis‐
se, die wir als Menschen ständig zu treffen haben, als Ergebnis eines Dia‐
logs erstrebenswert. Konsensualismus bringt zuviel guten Willen mit, als daß nicht bei der Nachbesinnung zu einem Gespräch eine Ernüchterung eintreten würde. Hierzu ist anzumerken, daß das, was in der Umgangs‐
sprache als ›Konsens‹ bezeichnet wird, in Wahrheit auch ›Kompromisse‹ sein müssen. Diese Erfahrung ist in der Tagespolitik mit den Entscheidun‐
gen der Politiker nachzuvollziehen. Angewandte Toleranz ist nicht konsen‐
sualistisch ausgerichtet, sondern sucht den Kompromiß. Gehäusetoleranz und Gehäusedialog Der Angewandten Toleranz ist die Gehäusetoleranz und dem polyphonen Dialog der aktive und passive Gehäusedialog im Sinne formaler Toleranz gegenüberzustellen. Gehäusetoleranz ist eine Einstellung, die eine verabsolutierte Meinung a priori praktiziert. Deren Vertreter beanspruchen Unfehlbarkeit der eigenen Überzeugung und halten zugleich andere Überzeugungen für falsch. Ge‐
häusetoleranz ist eine im Grunde intolerante Haltung, die häufig auf Igno‐
ranz und Arroganz beruht. Sie ist keine echte Dialogbemühung. Gehäusedialog geht mit einer Duldungskonzeption einher. Hier wird die eigene Wahrheit beteuert und die Angewandte Toleranz als Gefährdung aufgefaßt. Der Gehäusedialog führt in letzter Instanz zur Ablehnung An‐
dersdenkender. Gespräche werden häufig nicht um des eigentlichen Ver‐
stehens einer Religion oder Kultur willen geführt, sondern um deren Ein‐
ordnung ins eigene politische, wirtschaftliche oder religiöse System besser bewerkstelligen zu können. Formen von Gehäusepraktiken Es lassen sich unterschiedliche Gehäuseformen ausmachen: aktive und passive Gehäusetoleranz und aktiver und passiver Gehäusedialog. Diese vier Gehäuseformen können auf allen gesellschaftlichen, politischen, wis‐
113
114 senschaftlichen und politischen Ebenen beobachtet werden. Sie besitzen eine theoretische und eine praktische Dimension der Gewalt. Aktive Gehäusetoleranz zwingt aufgrund ihres ausschließenden und to‐
talitären Charakters die Vertreter anderer Überzeugungen zur Unterwer‐
fung unter eine Institution. Passive Gehäusetoleranz übt hingegen, auf Religionen bezogen, das blo‐
ße Unangetastetlassen einer Glaubensüberzeugung. Sie wurzelt in der Tendenz der Wahrung der organisatorischen Einheit der Religionsgemein‐
schaften. Sie wechselt ihre Erscheinung in die aktive Form derselben, wenn die territoriale Einheit oder deren Interessen in Gefahr geraten. Aktiver Gehäusedialog beruht auf aktiver Gehäusetoleranz. Er wird von extremistischen Gruppierungen gepflegt, die unter anderem die Religion politisieren und instrumentalisieren. Häufig fußt aktiver Gehäusedialog auf einem nach außen gerichteten Absolutheitsanspruch oder auf politi‐
scher und wirtschaftlicher Dominanz. Aktive Dialoge, die keine Symmetrie aufweisen, werden häufig geführt und dabei wird der Dialogpartner nicht selten vor vollendete Tatsachen gestellt. Das Instrument des Gehäusedia‐
logs dient häufig der Rechtfertigung der eigenen Position. Passiver Gehäusedialog führt zu reiner Duldungskonzeption und passi‐
ver Gehäusetoleranz. Diese Konstellation besitzt ein theoretisches Gewalt‐
potential. Es ist zu konzedieren, daß der Gehäusedialog inhaltsleer und indifferent ist. Im Rahmen der Toleranzfrage nimmt die Macht eine zentrale Rolle ein, weil sie jede Handlungsform determinieren und bestimmen kann. Sie hat stets ein Macht‐Zentrum, das zwangsläufig eine Ohnmacht‐Peripherie bedingt. Auf der Grundlage dieser Einstellung scheitern Dialoge: — wo die Welt in Gut und Böse aufgeteilt wird,
— wo von einer Geographie des Denkens ausgegangen wird, in der das exotischschwärmerische Denken eine Entelechie des Fremden darstellt und das eigene europäische Denken als analytisch bezeichnet und verabsolutiert wird,
— wo die Partner nicht bereit sind, selbstkritisch zu reflektieren,
— wo eine negative Einschätzung des Partners im Zentrum steht,
— wo die Geringschätzung des Partners nicht zuläßt, in ihm Positives zu sehen,
— wo Gespräche zur Bestätigung von Vorurteilen dienen,
— wo ein paternalistischer Bevormundungsdiskurs zum erklärten Ziel wird.
Ein grundsätzliches Problem aller Formen der interkulturellen Kommuni‐
kation ist der Imperativ des exklusivistischen Absolutheitsanspruchs. Die‐
114
115 ser liegt in der Maxime, die eigene Idee, die eigene politische Meinung, das eigene Religionsverständnis für die ausschließliche Wahrheit zu halten. Eine hermeneutische Verfahrensweise hingegen, »die auf das Verstehen der Kulturschöpfungen abzielt«, zögert »vor der Versuchung, alle Arten von Dyaden und Polaritäten auf einen einzigen fundamentalen Typ zu reduzie‐
ren.«25 Daher lautet die Forderung einer interkulturellen Philosophie der Toleranz, die Tugend der Verzichtleistung auf den exklusivistischen Abso‐
lutheitsanspruch in allen Institutionsbereichen zu kultivieren. Theorie einer interkulturellen Kommunikation Die Verwirklichung der Kommunikation hängt von vielen Faktoren ab. Schwieriger wird sie, wenn Kommunikation interkulturelle Dimensionen bekommt. Erkenntnisleitend ist die Beantwortung der Fragen, wie ich mit dem Anderen ins Gespräch kommen kann. Folgende Fragen sind dabei von Bedeutung: Was weiß ich über die Geschichte des Anderen? Wer hat diese Geschichte geschrieben? Warum ist ein Dialog auf gleicher Augenhö‐
he notwendig geworden? Was ist mein Ziel? Was weiß ich über meine kul‐
turellen Eigenheiten? Was muß ich über die anderen wissen, was soll ich vermeiden und worauf muß ich im Dialog verzichten? Dieses Verständnis erfordert eine Reihe von Kernkompetenzen, die in die Themenfelder der Interkulturalität einfließen.26 Zu analysieren sind im Rahmen der gegenwärtigen hermeneutischen Weltrealität die Machtstruk‐
turen und Struktursysteme, die ein grundsätzliches Problem der Kommu‐
nikationen auf intra‐ und interkultureller Ebene darstellen. Die Realisation eines Dialogs auf der Basis von Verstehen‐Wollen und Verstanden‐Werden‐Wollen bedeutet den theoretischen und praktischen Abschied von eindimensionalen Hermeneutiken, die von eigenen Begrün‐
dungen ausgehen und andere Begründungsformen vernachlässigen. Die Frage, wie die anderen denken, warum und wie sie es begründen, wird Eliade, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von der Quellen der Humanität, Wien 1973 S. 208 und S. 83 f. 26 An anderer Stelle habe ich diese und ähnliche Fragen diskutiert. Vgl. Braun, Ina und Hermann‐Josef Scheidgen (Hrsg.): Interkulturalität – Wozu? Hamid Reza Yousefi und Peter Gerdsen im Gespräch, Nordhausen 2008. 25
115
116 nicht diskutiert. Um diese Problematik zu verdeutlichen, unterscheide ich zwischen zwei Formen von Verstehen: 1. Apozyklische bzw. autozentrische Hermeneutik,
2. Enzyklische bzw. umfassende Hermeneutik
Die apozyklische Hermeneutik verfährt restaurativ‐reduktiv. Sie be‐
schränkt sich hauptsächlich auf Selbsthermeneutik und betrachtet das Fremde nur aus der eigenen Perspektive. Dabei geht es ausschließli ch darum, wie ich mich selbst und das Fremde verstehe. Die enzyklische Hermeneutik berücksichtigt möglichst viele Dimensio‐
nen. In ihr wird die formale Scheintoleranz zu Angewandter Toleranz, und der Scheindialog wird zu einem umfassenden, verstehensorientierten Dia‐
log. Die enzyklische Hermeneutik erweitert das Bewußtsein und fragt nicht nur danach, wie ich mich selbst und wie ich das Fremde verstehe, sondern zugleich, wie das Fremde sich selbst und wie es mich versteht. Grundle‐
gend ist, daß das eigene Selbst‐ und Fremdbild mit dem Selbst‐ und Fremdbild des Anderen verbunden wird. Diese dialogische Vorgehenswei‐
se verbindet die unvermeidbare Kulturgebundenheit der Hermeneutik mit ihrer Universalität und enthüllt eine schöpferische Dimension durch und mit dem Anderen. Dies veranschaulicht, daß die Wahrheit niemandes Besitz alleine ist, sei es philosophisch, religiös oder kulturell. Dies entspricht dem Anliegen der Angewandten Toleranz, welche die Annahme einer totalen Vertrautheit und völligen Fremdheit zurückweist. Im Rahmen einer interkulturellen Philosophie der Toleranz geht es um einen Pluralismusbegriff, der weder die Identität noch die Differenz überbewertet. Interkulturelle Schwierigkeiten entstehen in der Regel, wenn Mindest‐
kenntnisse anderer Kulturen kaum vorhanden sind. Dies belastet das Ver‐
hältnis der Parteien zueinander durch die Zunahme von stereotypen Sichtweisen auf beiden Seiten, die aufgrund eines Mangels an Information und oft ›hausgemachten Berichten‹ zusammenhängen. Ein solcher Dialog erweist sich im Grunde als Gehäusedialog. Zwei Haupthindernisse inter‐
kultureller Verständigung sind der beinahe mystische Glaube an die ›totale Vertrautheit‹, welche die Kommunikation von vorneherein nicht zuläßt, und die ›radikale Fremdheit‹, die das Verstehen schon im Ansatz gefähr‐
det. Im Dialog und Vergleich der Kulturen sind Differenzen wahrzuneh‐
men und zu pflegen. 116
117 Wenn Interesse an einem offenen Dialog auf der Grundlage Angewand‐
ter Toleranz besteht, so werden wir zwingend von den genannten Extrem‐
positionen einer ›totalen Vertrautheit‹ und ›völligen Fremdheit‹ Abschied nehmen müssen, die einer apozyklischen Hermeneutik zugrunde liegen. Die Hermeneutik der ›totalen Vertrautheit‹ ist zu eng und läuft darauf hinaus, eigenes Verstehen zum Paradigma allen Verstehens zu erheben. Die Hermeneutik der ›völligen Fremdheit‹ verabsolutiert Unterschiede so weit, daß Dialoge schon im Ansatz versagen. Enzyklische Hermeneutik besagt, daß es einen universellen und aus‐
schließlichen Ort der Hermeneutik und Philosophie nicht gibt. Auch gibt es keine allgemeingültige, absolute Interpretation eines Textes, Heilige Schrif‐
ten eingeschlossen. Verständigung wird ermöglicht durch die zwischen allen Kulturen bestehenden ›Überlappungen‹ trotz aller erhellenden Diffe‐
renzen. Interkulturelle Transformationsregeln schaffen dialogische Rahmenbe‐
dingungen, um eine Vermittlung zwischen verschiedenen Weltanschauun‐
gen und Ordnungsvorstellungen zu ermöglichen. Diese Vermittlung, die als ein Prozeß zu verstehen ist, trägt dazu bei, daß Vielheiten strukturiert werden können. Gemeinsame Transformationsregeln sind von Situation zu Situation verschieden. Die Frage nach der Legitimierung der Machtausübung im Rahmen der interkulturellen Kommunikation ist von großer Bedeutung, die sich in sol‐
che militärischer, ökonomischer, religiöser, zivilisatorischer, politischer, ideologischer, psychologischer sowie individueller Art typologisieren läßt. Diese Machttypen gefährden alle Kommunikationsformen, die mit einer deutlichen Grenze der Toleranz zu konfrontieren sind. Die Frage nach der Grenzen der Toleranz Jeder Mensch hat ein Recht auf Achtung seiner Person und Überzeugung, die durch den Staat zu schützen sind. Vorrang hat die Unverfügbarkeit des Individuums. Deshalb läuft eine unbegrenzte Toleranz, die alles gutheißt und für gültig hält, auf Anarchismus hinaus, wo jeder meint im rechten zu sein. Daher stellt sich die Frage, ob Toleranz gegenüber Menschen ange‐
bracht ist, welche die Rechte anderer und damit deren Würde in unter‐
schiedlicher Weise verletzen. 117
118 Es ist keine leichte Frage, wo Toleranz aufhört und wer ihre Grenzen be‐
stimmt. Hier geht es vornehmlich darum, was eine einseitige Grenzbe‐
stimmung praktisch bedeutet oder mit welchen Konsequenzen dies ver‐
bunden ist. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diese Grenze auch demje‐
nigen gegenüber zu rechtfertigen, dessen Standpunkt jenseits dieser Gren‐
ze liegt? Welche Formen der Konfliktaustragung und der Bekämpfung von Intoleranz sind tragbar, welche nicht? Wie sehen die Grenzen der Toleranz im Vergleich der Kulturen und Religionen aus? Wo liegt der Referenzmaß‐
stab für die Spannbreite an Ideen und Praktiken, die wir tolerieren wollen, und wo wird er verletzt? Wer definiert diesen Maßstab, und wer manipu‐
liert ihn? Bei der Bestimmung von Toleranzgrenzen können wir nicht auf soziokul‐
turelle und ethnologische Gesichtspunkte verzichten. Es ist zu beachten, in welchem Kontext wir uns befinden. Handelt es sich um die Grenzen der Toleranz in einem religiösen oder einem politischen Kontext? In welcher Staatsform und nach welcher Verfassung wird diese Frage gestellt und beantwortet? Dabei haben wir zu klären, wie Religions‐ und Meinungsfrei‐
heit in unterschiedlichen Rechtssystemen definiert und vor allem prakti‐
ziert werden. Viele Toleranzkonzeptionen mögen zwar theoretisch vom Idealzustand ausgehend als tragfähig erscheinen. Sie scheitern aber, wenn wir die Praxis unterschiedlicher religiöse Vorstellungen und kulturelle Gewohnheiten mit diesen Theorien in Beziehung setzen. Deshalb können wir unsere anschei‐
nend kluge Theorie nicht mit der sogenannten naiven Praxis des Anderen vergleichen. Eine archimedische Toleranzkonzeption und Bestimmung der Toleranzgrenzen gibt es nicht. Wer so verfährt, in welchem Kontext auch immer, liebäugelt mit irgendeiner Ideologie, die unifizieren will. Können wir, um nur ein Beispiel zu nennen, ohne Rücksicht auf Andere in Brüssel oder in Saudi‐Arabien für Toleranz Grenzen bestimmen, die für Menschen in Afrika und Lateinamerika gelten müssen? Wenn ja, wie wür‐
den diese Völker reagieren, wenn jede Partei ausschließlich die eigenen Grenzbestimmungen für allgemein verbindlich hielte? Können wir eine allgemeine Theorie der Grenzbestimmung der Toleranz formulieren, die für alle Zeiten und Zonen absolute Gültigkeit besitzen soll? Eine solche Bestimmung würde die Einheitlichkeit und Ungeschichtlichkeit menschli‐
118
119 cher Handlungen, ein einheitliches Menschenbild und eine einheitliche Ethik voraussetzen. Wie der Streit um die Mohammad‐Karikaturen zeigt, setzt die Beantwor‐
tung dieser Feststellung eine Reihe von ethnologischen, religiösen, kultu‐
rellen und sozialen ›Selbstverständlichkeiten‹ in kulturellen Kontexten voraus. Dazu gehören auch Symbole, Vorbilder, Rituale und Werte. Denn, mit Symbolen ist eine bestimmte Bedeutung verknüpft, die nur für die Angehörigen der jeweiligen Kultur oder religiöse Gemeinschaft erkennbar oder zumindest erkennbarer ist. Vorbilder haben Qualitäten, die für die Gruppe als bedeutsam gelten. Rituale sind konventionalisierte Verhal‐
tensmuster, die Etikette oder gutes Benehmen signalisieren. Werte bilden den roten Faden der Lebensorientierung einer Kultur, die es in Reinform nicht gibt. Diese Tatsache macht deutlich, daß die Grenzen der Toleranz von einer Verschiebbarkeit geleitet sind, da Völker unterschiedliche Welt‐ und Wert‐
vorstellungen praktizieren. Mit einer totalen Ablehnung oder einer radika‐
len Anerkennung kommen wir nicht weiter. Wir bedürfen einer konstruk‐
tiven Duldungskonzeption, die nicht von ›wahr‹ oder ›falsch‹ ausgeht, sondern von unterschiedlichen Lebens‐ und Denkwegen, und die einen offenen und kritischen Dialog zwischen unterschiedlichen Stimmen auf‐
rechterhält. Die Grenzproblematik der Toleranz durch die Determinanten der Macht läßt sich durch die Handlungsweisen der UNO verdeutlichen. Die UNO ist eine Institution, die sich der Kommunikation mit jedem und der Gerechtigkeit für alle verpflichtet weiß. Recht, Ordnung, Toleranz und Menschenrechte bilden ein System mit einer moralischen Außenhaut, die als Schutz der Menschen, Nationen und ihrer Rechte gelten sollte. Die Kon‐
trollmechanismen der UNO stoßen an ihre Grenzen, weil diese Mechanis‐
men von den Machthabenden installiert werden. Aus welchen Ländern ist sie zusammengesetzt, wer hat zu gehorchen und wer verfügt über Veto‐
rechte, wer wird bestraft und wer spricht diese Strafe aus? Wie verfährt die UNO praktisch und wer spricht das letzte Wort, Macht oder Diskurs, kommunikative oder strategische Vernunft? Wer verhängt Sanktionen und wer setzt sie in die Praxis um? Die UNO ist jedoch seit ihrer Gründung zu einem illegalen Herrschafts‐
instrumentarium ehemaliger und neuer Kolonialherrscher geworden, wel‐
che sie gemäß ihrer eigenen Interessen formieren und forcieren. Wer die 119
120 Resolutionen dieses Gremiums studiert, stellt fest, daß die UNO mehr Kriege als Frieden hervorgebracht hat. Um solche Mißstände abzustellen, benötigen wir eine völlig neue Kultur der Weltpolitik. Bereits Karl Jaspers kritisierte die Zusammensetzung und die Philoso‐
phie der UNO und bezeichnete sie als »eine Bühne, auf der ein unverbind‐
liches Spiel eingeschaltet ist zwischen die realen Aktionen der Großmächte. Sie stellt die Scheinkommunikation dar, in der die Großmächte verbergen, was sie tun wollen, indem sie sich unter die [...] kleineren Staaten stellen und die Gleichberechtigung aller anerkennen. [...] Die Staaten benutzen diese Bühne, um sich ein Gesicht für die Weltöffentlichkeit zu geben und den Gegner durch dieses Spiel zu überlisten. Das Ganze ist ein Schleier, hinter dem jeder tut, was er will, wenn seine Gewalt und die Chance der Situation es ihm gestatten.«27 Angewandte Toleranz zieht trotzt dieser Hindernisse ihre Grenzen we‐
der zu weit noch zu eng. Die Grenzbestimmung der Toleranz setzt das Studium des Welt‐ und Menschenbildes, der historischen Bedingtheit vie‐
ler Gepflogenheiten und der religiösen Vorstellungen der Völker voraus. Die Klärung der Toleranzgrenze im Kontext des Politischen, Wissen‐
schaftlichen und Religiösen, Kulturellen sowie Sozialen geht, wie mehrfach betont, stets mit der Klärung der Machtfrage einher. Gibt es Machtver‐
schiebungen, so verschiebt sich auch die Grenzbestimmungsmöglichkeit der Toleranz. Die Variabilität der Grenzbestimmung der Toleranz setzt Kontrollmechanismen voraus, die im Rahmen eines gemeinsamen Diskur‐
ses repressionsfrei zu beschließen sind. Toleranz ist und bleibt eine anthropologische Angelegenheit, die sowohl in der Theorie als auch in der Praxis eine Fähigkeit und eine Fertigkeit dar‐
stellt. Literaturangabe: Yousefi, Hamid Reza: Toleranz und Intoleranz in der Religion. Ein kommunikati‐
ver Weg zur Verständigung, in: Wege zur Religion: Aspekte – Grundpro‐
27
Jaspers, Karl: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußt‐
sein in unserer Zeit (1958), München 41961 S. 118. 120
121 bleme – Ergänzende Perspektiven, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi (mit Hans Waldenfels und Wolfgang Gantke), Nordhausen 2010 (103‐120). 121
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