Jugend und Religion. Soziologische Zugänge und - Theo-Web

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Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (2012), H.1, 64-79.
Jugend und Religion.
Soziologische Zugänge und Forschungsergebnisse
von
René Gründer und Albert Scherr
Abstract
Der Beitrag gibt einen Überblick zu Fragestellungen und Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Forschung zur Bedeutung von Religionen bzw. Religiosität für Jugendliche in
Deutschland. Dabei wird erstens akzentuiert, dass nicht mehr, wie noch in den 1970er Jahren, von einer Tendenz zunehmender Distanzierung Jugendlicher von Religion ausgegangen
werden kann. Zweitens wird aufgezeigt, was den Form- und Funktionswandel jugendlicher
Religiosität kennzeichnet. Dabei wird drittens auch auf die Folgen der Herausbildung einer
soziokulturell pluralisierten Einwanderungsgesellschaft für jugendliche Religiosität eingegangen.
1. Jugendliche Religiosität im gesellschaftlichen Wandel
In der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung wird Religionen gewöhnlich keine
zentrale Bedeutung für die Erziehung und Sozialisation Jugendlicher sowie für jugendliche Praktiken und Jugend(sub)kulturen zugesprochen.1 Dass Jugendliche
auch Mitglieder von Religionsgemeinschaften sind, sowie sich mehrheitlich selbst als
religiös bezeichnen, wird vielmehr – vom Sonderfall jugendlicher MigrantInnen mit
islamischer Religiosität abgesehen, auf den wir im Weiteren noch zurückkommen
werden – als ein für das Verständnis der Lebenssituation, der Identitätsbildung und
der Praktiken gegenwärtiger Jugendlicher nachrangiges Faktum betrachtet.
Hintergrund dessen ist zum einen die Beobachtung, dass Teilnahme an religiöser
Kommunikation in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr
unverzichtbar ist: „Ohne Geld kann man praktisch nicht leben, ohne Rechtsschutz
ebenso wenig. Auch werden alle […] auf Schulen geschickt und müssen sich dann
fragen lassen, was sie erreicht haben. […] Aber an Kunst muss sich niemand beteiligen, an Politik vielfach nur passiv über die Massenmedien […]. Und an Religion auch
nicht.“2 Dem entspricht der Sachverhalt, dass Religionen nicht mehr die Funktion einer umfassenden Regulierung der alltäglichen Lebensführung, etwa im Hinblick auf
Erziehungsstile und Geschlechterbeziehungen, zukommt und auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass Religionszugehörigkeit weitreichende Auswirkungen
auf politische Einstellungen hat. Zudem können Religionen für die Suche nach Antworten auf existenzielle Grundfragen kein Deutungsmonopol mehr beanspruchen;
sie konkurrieren auch in dieser Hinsicht mit vielfältigen nicht-religiösen Sinnanbietern.
Zum anderen ist das eher geringe Interesse der Jugendforschung an Religion Folge
einer Entwicklung, die vereinfachend wie folgt zusammengefasst werden kann: Die
Jugendbewegungen und Jugendkulturen, die sich seit dem Ende der 1960er Jahre in
Westdeutschland entwickelten, waren Bestandteil eines soziokulturellen Umbruchs,
der mit einer weitreichenden Infragestellung von den Normen und Werten, insbesondere der repressiven Sexualmoral sowie den arbeitsethischen Pflicht- und Akzeptanzwerten einherging, die institutionell nicht zuletzt durch die christlichen Kirchen
repräsentiert wurden. Obwohl sich dann seit dem Ende der 1970er Jahre – auch in
1
2
Siehe als Überblick SCHERR 2009, 156ff.
LUHMANN 2000, 303.
64
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der ehemaligen DDR – Wiederannäherungen zwischen den christlichen Kirchen und
von Jugendlichen mitgetragenen sozialen Bewegungen, wie z.B. der Anti-Atom-,
Ökologie- und Friedensbewegung beobachten lassen, ist nach wie vor eine Randständigkeit des Themas Religiosität in der Jugendforschung zu konstatieren.3 Große
Jugendstudien wie die Shell-Studie gewichten andere Themen (wie z.B. politische
Einstellungen, Zukunftserwartungen, generatives Verhalten Jugendlicher usw.) wesentlich stärker.
Auch in der Religionssoziologie sind bis heute „intensivere Auseinandersetzungen
mit jugendlicher Religiosität […] Mangelware“4. Hierin ist eine Folge der etablierten
wissenschaftlichen Arbeitsteilung zu sehen: „Interessiert den Jugendforscher Religion zumeist nur als ein Teilaspekt der in der Lebensphase auffindbaren Lebensstile,
so beschäftigen sich Religionssoziologen wiederum relativ wenig mit den Grundlagen
der Jugendforschung“5.
Demgegenüber wird im Weiteren versucht, Befunde aus beiden Teildisziplinen zu
integrieren und dadurch zu einer Einschätzung der Bedeutung von Religionen und
Religiosität für gegenwärtige Jugendliche zu gelangen.
2. Von der konfessionell sozialisierten zur säkularisierten Jugend?
Empirisch lassen sich zunächst drei Sachverhalte konstatieren: Erstens hat sich die
religiöse Landschaft in Deutschland pluralisiert; die religiöse Monopolstellung der
christlichen Kirchen ist, vor allem in Folge von Migration, in Frage gestellt (s. Tabelle
1).
Religionsgemeinschaft
Mitgliederzahl
Datenbasis / Jahr
(REMID, Stand Jan. 2012)
Römisch-Katholische Kirche
24.909.332
2009
Evangelische Landeskirchen
24.194.986
2009
Islam
4.000.000
2010
Orthodoxe Kirchen
1.377.700
2005
Buddhismus
245.000
2005
Judentum
104.024
2010
Hinduismus
92.500
2005
Yeziden
40.000
2005
Freireligiöse / freie Humanisten
40.000
2005
Tabelle 1: Mitgliederzahlen großer Religionsgruppen in Deutschland; Quelle: REMID - URL:
http://www.remid.de/index.php?text=Info_Zahlen, Zugriff: 31.01.2012.
3
4
5
BOOS-NÜNNING / KARAGASOGLU 2004, 462; SCHERR 2009, 156ff.; STREIB / GENNERICH 2011, 183.
PICKEL 2011, 396.
Ebd.
65
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Zweitens ist die Mitgliederzahl der großen christlichen Kirchen in Westdeutschland
gesunken. Und drittens ist der Anteil konfessionell gebundener Jugendlicher in den
neuen Bundesländern gering (s. Tabelle 2)6.
Konfessionslosigkeit
Alter
Westdeutschland
Ostdeutschland
1980
1991
2000
2008
1991
2000
2008
18-20
4
5
7
16
75
82
84
21-25
8
9
10
21
71
80
84
26-29
14
13
17
21
77
78
78
Ges.Bev.
6,5
11
13
16,5
65
71
74
Kirchgang (Mittelwert der Gottesdienstbesuche pro Jahr)
18-20
9
12
5,5
5,5
3,5
4,5
2
21-25
6,5
10
6
5,5
2,5
2
1,5
26-29
6,5
7
6
6
4
2
1,5
Ges. Bev.
13
12
9,5
9,5
3,5
3
2,5
Tabelle 2: Konfessionslosigkeit und Kirchgang nach Altersgruppen Jugendlicher in %,
Quelle: ALLBUS/Pickel 2011, 398; bearb. Gründer 2012
Insofern liegt zunächst die These eines anhaltenden Säkularisierungsprozesses nahe, der auch dadurch bedingt ist, dass die intergenerationelle Tradierung von Identifikationen und Mitgliedschaften nicht mehr selbstverständlich ist (vgl. Knoblauch
1999: 114f.). Auch in Hinblick auf das Zustimmungsverhalten zu konfessionellen
Glaubensaussagen (Gottesbild, religiöse Lehren usw.) und die nachlassende regelmäßige Beteiligung älterer Jugendlicher an rituellen Handlungen, die im Rahmen
einer institutionalisierten Religion zu vollziehen sind (Gottesdienstbesuch), ist der
rückläufige Trend dieser traditionellen Ausdrucksformen von Religiosität unübersehbar (s. Tabelle 2 – Kirchgang).
6
Die Ausprägung dieser Items weist zugleich auf die starke Abhängigkeit Jugendlicher von der religiösen Sozialisation im Elternhaus (insbesondere in den alten Bundesländern) hin. Dieser Einfluss
lässt mit zunehmender wirtschaftlicher Selbstständigkeit und wachsender Mobilität Jugendlicher
etwa ab 18 Jahren rasch nach. „Solange sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen noch im
Einflussbereich der (meist noch traditionell mit der Kirche oder Religion verbundenen) Eltern befinden, bleiben sie der Kirche eher treu. Verlassen sie das Elternhaus und organisieren sie ihr Leben
fern von elterlicher Beobachtung, dann treffen sie, vorausgesetzt Religion ist für sie von geringer
bis keiner Bedeutung, die Entscheidung zum Kirchenaustritt oder reduzieren zumindest ihre religiösen Aktivitäten.“ (PICKEL 2011, 397) Aus diesen Gründen sind die Befunde zur Entwicklung der
Religiosität Jugendlicher in den Shell-Jugendstudien von 2006 und 2010 von eingeschränkter Aussagekraft, da hier nur Daten für die Gesamtaltersgruppe Jugendlicher von 12 – 25 Jahren vorgelegt wurden und mithin die Auswirkungen adoleszenzbedingter Ablösungsprozesse von religiösen
Prägungen des Elternhauses (zwischen 18 u. 20 Jahren) kaum sichtbar werden.
66
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Gleichwohl ist die Annahme eines umfassenden und sich kontinuierlich fortsetzenden
Säkularisierungsprozesses nicht haltbar. Denn einerseits sind Tendenzen zur Distanzierung von den Kirchen nicht mit einem umfassenden Bedeutungsverlust des
Religiösen gleichzusetzen: Wenngleich für viele Staaten (West-)Europas ein Rückgang der kirchlichen Integration feststellbar ist, liegen gegenläufig dazu Hinweise auf
eine Rückkehr des Religiösen in Gestalt individualisierter Spiritualität wie in Form
religiöser Fundamentalismen vor.7 Andererseits weisen Untersuchungen zum Wandel individueller Gottesbilder sowie zur Schicht- bzw. Milieuspezifik konfessioneller
Einbindung darauf hin, dass es sich nicht um einen umfassenden Säkularisierungsprozess handelt, der alle gesellschaftlichen Teilgruppen gleichermaßen betrifft.8
In der SINUS-Milieu-Studie U279 zeigt sich etwa, dass katholische Jugendverbände
drei der sieben SINUS-Herkunftsmilieus durchaus erfolgreich adressieren. Auf
Grundlage der Daten der Shell-Jugendstudie (2006) lässt sich weiter zeigen, dass
die Mehrheit der Jugendlichen in Westdeutschland nach wie vor Mitglied einer christlichen Kirche ist.
Konfession/Religion
christl.
katholisch
christl.
evangelisch
christl.
andere
islamisch
andere
Religion
keine
Konfession
Gesamt
31
35
3
5
1
25
West
37
39
4
6
2
12
Ost
4,5
15
0,5
0,5
0,5
79
Untere Schicht
32
35
3
10
1
19
Mittlere Schicht
29
35
3
1
1
31
Obere Schicht
31
35
3
2
3
26
In Deutschland geborene Deutsche
31,5
38
2
1
0,5
27
Nicht in Deutschland
geborene Deutsche
32
28
2
1
0,5
27
Ausländer
21
5
14
42
6
12
Tabelle 3: Konfessionszugehörigkeit nach sozialen Gruppen; Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren
in %; Quelle: Gensicke / Shell Jugend 2006, 204; bearb. Gründer 2012.
7
8
9
RIESEBRODT 2000; PICKEL 2010, 220.
GENSICKE 2006.
WIPPERMANN 2008.
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Die Zahlen der 15. Shell-Jugendstudie von 2006 verdeutlichen zudem die territorial
heterogene religiöse Landschaft in der Bundesrepublik. Dabei sind die Auswirkungen
des historisch bedingten Effektes der Dechristianisierung der nach 1945 zunächst
noch protestantisch geprägten DDR-Gesellschaft offenkundig.10 Deutlich wird dort
auch, dass die Einwanderung aus islamisch geprägten Ländern eine Gegentendenz
zum Säkularisierungsprozess darstellt, ohne dass gegenwärtig eine Einschätzung
dazu möglich ist, ob sich auch bei migrantischen Jugendlichen der nächsten Generation Säkularisierungstendenzen bzw. Tendenzen zur Herausbildung eines jugendkulturellen ‚Pop-Islam‘ verstärken werden.11
Nach den Befunden der 16. Shell-Jugendstudie (2010) sind jedoch nur noch 54% der
nominell katholischen Jugendlichen als ‚religiös‘ einzuschätzen, sofern man dafür
das Kriterium eines Glaubens an einen personalisierten Gott zu Grunde legt, auf den
man sich selbst bezieht. Im Jahr 2006 waren es noch 63%. Damit haben katholische
Jugendliche etwa das Niveau des unpersönlichen bzw. ‚versachlichten‘ Gottesbildes
der evangelischen (49% in 2010) erreicht.12 Jugendliche aus ‚anderen Religionen‘
(unter denen islamische Bekenntnisse dominieren) verfügten 2010 hingegen zu 81%
über ein stabiles Gottesbild, wobei die Überzeugung eines ‚persönlichen Gottes‘ seit
2006 von 60 auf 57% leicht rückläufig ist.
Mit den vorstehenden Daten ist exemplarisch auf vielfältige Brüche und Inhomogenitäten des Trends zur Säkularisierung (verstanden als institutionelle Einbindung Jugendlicher in traditionelle religiöse Praxisformen und Gruppen) hingewiesen: In Abhängigkeit von der Wirkung eines milieuspezifischen religiösen Familienhintergrundes, der sozialen Positionierung der Herkunftsfamilie innerhalb der Gesellschaft und
von sozioökonomischen Faktoren (Einkommen, Bildung) vollzieht sich der Säkularisierungsprozess in sozialen Gruppen unterschiedlich schnell bzw. überhaupt nicht.
3. Von der Säkularisierung zur Individualisierung? „Eventisierung“,
„Verszenung“ und „Spiritualisierung“ religiöser Weltbezüge bei
Jugendlichen
Anders als empirische Studien zu Säkularisierungstendenzen (die meist von Mitgliedschaftsdaten und der Beobachtung institutioneller Strukturen und Praktiken ausgehen), basiert die These von einer zunehmenden „Individualisierung der Religion“13
bzw. individualisierter Religiosität(en) letztlich auf einer funktionalistischen Theorie
von Religion. Dabei wird davon ausgegangen, dass deren individuelle und soziale
Funktionen (wie etwa Kosmisierung des Weltbezuges, Kontingenzbewältigung, Gemeinschaftsfundierung) in der Gegenwartsgesellschaft keineswegs mehr notwendig
an institutionalisierte Religionsgemeinschaften gebunden sind, sondern auf eine Viel10
11
12
13
BARTH (2012, 82, FN) argumentiert diesbezüglich, dass die ausgebliebene Rückkehr kirchlicher
Religiosität nach der Wende von 1990 in die östlichen Bundesländer ein Beleg für den Wandel der
Bedeutung von Religion in modernen Gesellschaften sei: „Anders als zu Zeiten Max Webers (als
die Religion zur Selbstpositionierung innerhalb des sich etablierenden marktwirtschaftlichen Systems diente) trat mit der Auflösung der DDR eine Gesellschaft, in der die Mehrheit nicht über historisch-kulturell verankerte religiöse Sinnstiftungsstrukturen verfügte, in ein postmodernes marktwirtschaftliches System ein. Dies kann […] als ein ‚historisches Laborexperiment‘ betrachtet werden,
das aufzeigt, wie bei frei wählbaren Sinnstiftungssystemen ohne familiäre Vorprägung heute nicht
(mehr) der Glauben als adäquates Mittel zur Selbstpositionierung in der Gesellschaft bevorzugt
wird.“
S.u. sowie GERLACH 2006, 2011.
GENSICKE 2010, 206.
BECK 2008.
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falt konkurrierender religiöser und quasi-religiöser Sinnangebote auch außerhalb der
Kirchen verweisen. Zudem wird angenommen, dass im Kontext der Kirchen zugleich
von Dogmen abweichende Deutungen der Glaubensgrundlagen sowie synkretistische Umdeutungen zugelassen werden. So lässt sich etwa feststellen, dass Praxisformen (wie Meditation / Yoga oder Mandala-Gestaltung) aus dem esoterischen
Spektrum bzw. der New-Age-Spiritualität von kirchlichen Institutionen aufgegriffen
und (wenn auch nicht kritiklos) sogar angeboten werden.14 Dies wird auch daran
deutlich, dass 35% der Mitglieder von Sekten und Psychogruppen evangelische
Christen und 10,5% katholische Christen sind.15 Selbst Angehörige naturreligiöser
bzw. neuheidnischer Gruppen erhalten ihre Kirchenmitgliedschaft (etwa aus beruflichen Gründen) häufig aufrecht,16 so dass es auch hier zu einer Nichtübereinstimmung formaler und faktischer Religiositäten kommt.
Zwischen individueller Religiosität und (statistisch) sichtbarer konfessioneller Einbindung der Individuen besteht folglich kein zwingender Zusammenhang mehr. Aus einer theologisch-dogmatischen Perspektive betrachtet schreitet damit die ‚Erosion‘
kirchengebundener Religiosität im Innern der christlichen Konfession – gerade bei
jüngeren Mitgliedern – voran.
Eine individualisierte Religiosität stellt demzufolge heute nicht zwangsläufig eine Alternative zur Religionsmitgliedschaft dar.
Obwohl einerseits von einer Rückkehr zu institutioneller Religion bei gegenwärtigen
Jugendlichen keine Rede sein kann, zögern Religionssoziologen andererseits kaum,
gerade den jüngeren Generationen eine Avantgarde-Rolle bei der Konstruktion mehr
oder minder kreativer ‚Mischformen‘ individueller Religiosität zuzuschreiben. Pickel17
fasst die relevanten Beiträge zum einschlägigen Diskurs (unter Verweis auf die benutzten Schlagworte wie Bastelglaube, religiöse Bricolage, Patchwork-Religion) als
„multireferentielle Collage religiöser Überzeugungen“ zusammen. Kritisch wird gegenüber der Formulierung eines solchen Basistrends jugendlicher Religiosität auf die
temporäre wie quantitative Begrenztheit individualistischer ‚Bastelreligionen‘ hingewiesen. Gleichzeitig wird unter dem Topos „fluide Religion“18 eine Entwicklung nachgezeichnet, die noch innerhalb des Spektrums neuer religiöser Bewegungen vom
Bedeutungsverlust totalinkludierender Gemeinschaften (bzw. autoritärer ‚Sekten‘)
ausgeht und auch hier eine Zunahme unverbindlicherer Formen religiöser Zugehörigkeit diagnostiziert. Ähnlich argumentiert Knoblauch,19 der von einer regelrechten
Durchdringung institutionalisierter Kirchenreligion durch neue religiöse Strömungen
ausgeht.
Gleichzeitig kommt es unter den Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft zu einer
Popularisierung der Religion, die vor allem von einer wechselseitigen Durchdringung
der Sphären von Massenmedien und religiösen Organisationen bestimmt ist. Knoblauchs Auffassung, nach der die Eventisierung20 traditioneller Religion (Stichworte:
Papstbesuch, Weltjugendtage) ein Eindringen populärkultureller Medienlogiken in
diesen Bereich darstellten und andererseits zentrale religiöse Inhalte und Topoi aus
14
15
16
17
18
19
20
KEDEN / HEMMINGER 2002; LAMPRECHT 2003; HÖLLINGER / TRIPOLD 2012, 11.
BARTH 2012, 81.
GRÜNDER 2010, 336.
PICKEL 2011, 401.
LÜDDECKENS / WALTHERT 2010.
KNOBLAUCH 2009, 40f.
HITZLER 2011.
69
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dem religiösen Kosmos in die Populärkultur einwandern,21 verweist auf bedeutsame
Entwicklungen der Religiosität jüngerer Altersgruppen.22
Im Rahmen des Religionsmonitors wurde nach der Bedeutsamkeit bestimmter religiöser Vorstellungen und Praxisformen bei 18-29-Jährigen gefragt, die sich zum Teil
nach den Kategorien ‚individualistische Spiritualität‘ und ‚traditionelle Religionszugehörigkeit‘ ordnen lassen. Dabei erhielten Items, die eher für Spiritualität stehen,
durchweg niedrigere Zustimmung – das heißt, sie besitzen demnach in der befragten
Altersgruppe keine Dominanz gegenüber Mustern traditioneller Religiosität.
Prozentualer Anteil der Personen (Deutsche, 18-29 Jahre,
n=171) mit …
Items individualisierter Spiritualität
mittlerer
Ausprägung
hoher Ausprägung
Items traditioneller
Religiosität
mittlerer Ausprägung
hoher
Ausprä
prägung
spirituelles Selbstbild
22
7
religiöses Selbstbild
32
10
pantheistische Spiritualitätsmuster
15
3
theistische Spiritualitätsmuster
31
16
Meditation
9
6
Gebet
22
22
All- / Einheitserfahrung
19
10
Du-Erfahrung Gottes
25
10
Tabelle 4: Bedeutsamkeit spiritueller und religiöser Praxisformen unter Jugendlichen. Quelle: Ziebertz
2007, 53; bearb. Gründer 2012.
Im internationalen Vergleich der Erhebungen des Religionsmonitors deutet sich ein
Zusammenhang zwischen dem Industrialisierungsgrad eines Landes und der Dominanz von „spirituellen“ gegenüber stärker „religiösen“ Selbsteinschätzungen Jugendlicher an, so etwa in den USA, Großbritannien und der Schweiz.23 Allerdings gerät
das Erhebungsinstrumentarium angesichts der kulturbedingt unterschiedlichen Semantiken von „Spiritualität“ bzw. „Spirituality“ an eine Grenze bezüglich der Vergleichbarkeit der Befunde.
Ergänzend sei an dieser Stelle auf die Verbreitung ‚außerchristlicher Religiosität‘
(hier: Wissensbestände aus dem Spektrum von Esoterik/New-Age und religiöser Bricolage) unter Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland24 hingewiesen.
21
22
23
24
KNOBLAUCH 2009, 266f.
S. dazu HUNOLD / ENGELFRIED-RAVE 2007; PFADENHAUER 2007.
BUCHER 2008, 12.
Nach PICKEL 2011, 350.
70
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Westdeutschland
Ostdeutschland
Alter
Glaube an
Magie
Glaube an
Astrologie
Glaube an
Amulette
Bricolage
Glaube
an
Magie
Glaube
an
Astrologie
Glaube
an
Amulette
Bricolage
18-21
21
30
21
18
9
14
11
14
22-25
16
18
16
20
24
14
21
17
26-29
13
13
22
18
19
26
19
13
Tabelle 5: außerchristliche Religiosität‘ unter Jugendlichen in %,
Quelle: Pickel 2011: 350, bearb. Gründer 2012.
Bei der Verbreitung dieser ‚außerreligiösen‘ Glaubensformen fällt einerseits auf, dass
sich (im Gegensatz zu traditionellen religiösen Überzeugungen) keine Zunahme bei
Älteren findet und dass sie sich – vergleichbar der Rezeption von Esoterik – gehäuft
bei Personen mit christlichen Glaubensvorstellungen finden. Dies spricht zum einen
abermals für die quer zur Säkularisierungsachse verlaufende Tendenz zur Individualisierung von Religion, aber zugleich auch dafür, in diesen Phänomenen noch keine
Indizien einer Rückkehr von Religion bzw. Spiritualität erkennen zu können. Vielmehr
vollzieht sich die Pluralisierung von Religiosität schwerpunktmäßig nicht außerhalb
religions-affiner Milieus, sondern gerade dort, wo durch sozialisatorische Einflüsse
religiöse bzw. spirituelle Orientierungen bereits angelegt sind. Ergebnisse der Bielefelder Online-Befragung unter 12-25-Jähringen in Deutschland25 zeigen allerdings
auch, dass „der harte Kern der Okkultfaszinierten und Magiebegeisterten vermutlich
unter der 3% Marke liegt“.
In Teilen der Jugendforschung wird seit der Jahrtausendwende verstärkt auf die Bedeutung religiöser Weltbezüge Jugendlicher eingegangen, ohne dabei allein die Mitgliedschaft in religiösen Organisationen hervorzuheben. Ferchhoff26 formuliert in einem aktuellen Überblick zu Jugendgenerationen in Deutschland die These, dass
nach dem Ende der materialistisch-hedonistischen Jugendphasen in den 1990er
Jahren heute „wieder vermehrt existenzielle Werte- und Lebenssinnfragen gestellt“
würden; neben einer neuen „ökonomisch-ökologischen Gemeinwohlorientierung“ sei
etwa z.B. auch eine „neue Enthaltsamkeit“ in einigen Jugendszenen zu beobachten.
Anhaltspunkte für diese These sieht Ferchhoff im Erfolg der „boomenden, eine Mischung aus Mystik und Herzschmerz, zum Sexverzicht vor der Ehe aufrufenden und
vor allem weibliche Vampir-Fans anziehende(n) Twilight-Serie / New Moon-Saga“27.
Im Rahmen einer Rückkehr der „Sehnsucht nach intensiver wohlfühliger Gemeinschaft, Gemeinsamkeit und dichter Kommunikation […] nicht nur auf Kirchentagen,
bei Fußballweltmeisterschaften und christlichen Weltjugendtagen“ 28 werde Religion
im Zuge einer „Eventisierung des Glaubens“29 erneut zum ‚Thema‘ für einen nicht
unerheblichen Teil gegenwärtiger Jugendlicher. Diese anlassgebundene Form populärer Religiositäten sei einerseits als explizit ‚jugendtypisch‘ anzusehen (da die entsprechenden Großevents die Zielgruppe umfassend zu adressieren suchen), auf der
anderen Seite werden dabei religiöse Vergemeinschaftungsangebote und Sinnstiftungsprozesse zugleich ihrer metaphysischen ‚Besonderung‘ entkleidet. Ferchhoff
folgert aus diesen Einschätzungen: „Die von der Produktions-, Dienstleistungs- und
25
26
27
28
29
STREIB / GENNERICH 2011, 44f.
FERCHHOFF 2011, 168.
Ebd.
Ebd., 169.
HITZLER 2011, 23-43.
71
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Erlebnisindustrie angebotenen Güter und Götter werden nicht […] mehr umstandslos
und unhinterfragt akzeptiert, gleichwohl die spaßgesellschaftlichen Anteile des Lebens und Feierns keineswegs verschwunden sind“30.
Vor diesem Hintergrund liegt die Annahme nahe, dass in einer mystischen (Selbst-)
Erfahrungs-Spiritualität heute Bedürfnisse Jugendlicher deutlich werden, die innerhalb traditioneller religiöser Institutionen nicht oder nur peripher bedient werden.
Ein Grundproblem in der Messbarkeit solcher oftmals diffus-subjektiv konsumierten
Formen spiritueller Religiosität besteht darin, dass sich ihre TrägerInnen nicht unbedingt im Sinne substanzialistischer Religionsdefinitionen als ‚religiös‘ verstehen. Das
Wissen um und die Ausübung von bestimmten spirituellen Praxisformen üben dann
keinen hinreichend starken Einfluss auf die persönliche Identitätskonstruktion aus.
Dies wird besonders dort offenkundig, wo sich soziologische Jugendforschung der
Erkundung von Jugendkulturen und -szenen zuwendet, für die eine ‚Beschäftigung
mit Religion(en)‘ im Zentrum der Identitätsbildung stehen – wie etwa Gothic / Darkwave oder Straight Edge Hardcore.31 Jugendkulturen im rechtsextremen Spektrum
zeichnen sich ebenso durch eine (von ideologischen Rahmungen bestimmte) selektive Rezeption religiöser Wissensbestände aus christlichen wie neopaganen Entwürfen aus.32
Exemplarisch für die Verbindung von Popkultur und Alternativreligion soll an dieser
Stelle auf das Phänomen der sogenannten Occulture bzw. Okkultur eingegangen
werden. Der Topos wurde zunächst in der englischsprachigen Religionswissenschaft33 eingeführt. Für Partridge zeigt sich in dem Phänomen, dass die Begeisterung Jugendlicher für esoterische und okkultistisch-magische Weltbilder und Praxisformen zum Teil eng an jugendkulturelle Mechanismen des Fan-Seins bezüglich bestimmter Bands/Künstler gekoppelt ist, eine Form von „contemporary cultic religiosity“ im Sinne ‚außerinstitutioneller Mystik‘34. Mit Okkultur umschrieben wird dabei „ein
spirituelles Ideenreservoir, welches sich im Schatten des institutionalisierten Christentums im Westen durch Filme, Musik und urbane Mythen entwickelt habe und
nunmehr begänne, eine ‚Wiederverzauberung des Westens‘ einzuleiten. ‚Okkultur‘
wäre demnach die Form moderner Bricolage-Spiritualität zu nennen, die […] ihre
Haltungen und Ideen aus dem popkulturellen Bereich, statt von Priestern, Kirchen
und sonstigen ‚popfernen‘ Institutionen bezieht.“35
Am Beispiel einzelner Sub-Genres der in sich überaus heterogenen Musikszenen
von Industrial, Black-Metal und Gothic / Dark-Wave kann gezeigt werden, dass in der
Verbindung jugendkultureller (Selbst-)Inszenierung durch Distinktion, musikästhetische Präferenzen und Fan-Kult ein nachhaltiger Transmissionsprozess für spezifische alternativreligiöse Sinnangebote realisiert wird.36
Diese unter anderem auch religionsbezogene „Verszenung der Gesellschaft“37 zeigt
sich in der Herausbildung jugendkultureller Habitusformen, in denen etwa ein Interesse an mittelalterlicher Geschichte, einer Mitgliedschaft in Rollenspieler-Gruppen,
dem Hören von Pagan-Metal-Musik und einer solitären Praxis neuheidnisch30
31
32
33
34
35
36
37
Ebd., 169.
SCHMIDT / NEUMANN-BRAUN 2004; MAYBAUM 2003.
HOYNINGEN-HUENE 2003.
PARTRIDGE 2004, 62-86.
I.S.v. TROELTSCH.
TISCHLEDER 2012, 205.
Vgl. dazu DIESEL / GERTEN 2005, 348-362.
GEBHARDT 2002.
72
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magischer Rituale (nach Anleitungen aus Internet-Quellen) subjektiv sinnhaft (etwa
für die Erlangung guter Schulnoten) verbunden werden.
Helsper38 interpretiert solche ‚okkultistischen‘ Formen religiöser Individualisierung als
eine Reaktion auf den Modernisierungsdruck. Jugendliche sehen sich demnach unterschiedlichen Krisen des Selbst ausgesetzt (Orientierungs-, Integrations-, Domestizierungs-, Identitäts- bzw. Autonomiekrise), die zur „Entlassung des Selbst aus traditionalen Einbindungen, ganzheitlichen Lebenszusammenhängen und religiös überwölbten Verortungen“39 führen.
Praxisformen wie ‚Magie‘ oder auch meditative Achtsamkeitshaltungen sowie asketischer Verzicht (auf bestimmte Speisen, Sexualität, Konsumprodukte usw.) sind in
diesem Sinne Formen eines ‚spirituellen Protests‘ gegen die Übermacht abstrakter
gesellschaftlicher Verhältnisse.
4. Von den „Jugendsekten“ zur politisierten Religion bzw. zu religiösen
Fundamentalismen?
Die Debatte um die Konsequenzen der wachsenden Individualisierung jugendlicher
Religiositäten außerhalb etablierter Kirchenstrukturen fand 1996 durch die Einrichtung einer Enquetekommission des Bundestages „So genannte Sekten und Psychogruppen"40 einen (vorläufigen) Abschluss. Ziel war es, gesellschaftliche Gefahrenpotenziale neureligiöser Phänomene abzuschätzen und politischen Interventionsbedarf
auf diesem Gebiet zu eruieren. In ihren Schlussfolgerungen legt die Kommission eine
entdramatisierende Sichtweise des Phänomens nahe. So wird aus den verfügbaren
Daten dort folgende Einschätzung abgeleitet:
„Deshalb können hochproblematische, das geistige, seelische und körperliche Kindeswohl verletzende, autonomienegierende und misshandelnde Erziehungsvorstellungen und -praktiken neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen nicht generalisiert unterstellt werden“41.
Die ‚Rückkehr der Religion‘42 in einer ‚post-säkularen Gesellschaft‘43 vollzieht sich
heute zudem weniger auf dem Gebiet „neuer Religionen“ bzw. von New-Age und
Esoterik, sondern vor allem in der Popularisierung und Politisierung traditionalistischer Varianten bestehender Glaubensformen. Spätestens seit den Terrorangriffen
auf das World-Trade-Center von 2001 werden Thesen zur Säkularisierung und Privatisierung bzw. Unsichtbarwerdung von Religion hinterfragt. In Zusammenhang mit
der Beobachtung eines erheblichen Bedeutungszuwachses von Religionen, insbesondere des Islam in einigen Regionen der Welt, wird vor diesem Hintergrund unter
anderem die Befürchtung formuliert, dass auch ‚fundamentalistische‘ Ausprägungen
des Islams bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zunehmend einflussreich seien.44
38
39
40
41
42
43
44
HELSPER 1995, 66.
Ebd., 67.
Deutscher Bundestag 1998.
Ebd., 82.
RIESEBRODT 2002.
HABERMAS 2002.
Fundamentalistische Tendenzen sind nicht nur im Islam zu beobachten. Zu beobachten sind auch
ein Erstarken evangelikaler und charismatischer Strömungen im Protestantismus, insbesondere in
den USA (KNOBLAUCH 2009, 84), die Popularität der katholischen Pius-Bruderschaft und ihrer tridentinischen Messe oder aber die Unterminierung jüdischer Gemeinden durch die messianische
73
Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (2012), H.1, 64-79.
Angezeigt ist damit, dass sich die Thematisierung jugendlicher Religiosität in
Deutschland seit dem Ende der 1990er Jahre grundlegend verändert hat. Zugespitzt
formuliert: An die Stelle eines ‚einheimische‘ Jugendliche als potenzielle Opfer von
Sekten fokussierten Diskurses tritt ein Gefährdungsdiskurs, der migrantische Jugend
als Angehörige einer ‚fremden Kultur‘ sowie als Trägergruppe eines religiösen Fundamentalismus45 imaginiert.46
In diesem Diskurs, der an die Ideologie eines globalen „Kulturkonfliktes“ zwischen
Islam und ‚westlicher Welt‘47 anknüpft, werden religiöse Einstellungen Jugendlicher
mit Migrationshintergrund als Bedrohung für die Sicherheit bzw. das aufgeklärte
Selbstverständnis westlicher Staaten thematisiert. Dem korrespondiert eine erhebliche Verbreitung anti-islamischer Einstellungen in der Bevölkerung: Mehr als die Hälfte aller Deutschen (58,4%) stimmen der Forderung zu, dass „für Muslime in Deutschland […] die Religionsausübung erheblich eingeschränkt werden“ soll.48
Im Gegensatz zu diesem einflussreichen Bedrohungsdiskurs konturiert sich in der
empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung ein eher unspektakuläres Bild der
Bedeutung des Islams für migrantische Jugendliche in Deutschland.49
Insgesamt schätzen sich 36% aller deutschen Muslime als „sehr stark gläubig“, 50%
als „eher gläubig“ und 10 % als „eher nicht“ bzw. 4% als „gar nicht gläubig“ ein. Die
etwa 4 Millionen Muslime, die 2009 in Deutschland lebten, sind zu 72% sunnitisch,
zu 14% alevitisch und zu 7% schiitisch geprägt. Weitere Strömungen (Sufi/Mystiker,
Ahmadiyya, Ibaditen sowie nicht näher bezeichnete Konfessionen) machen zusammen etwa 7% der hier lebenden Muslime aus.50 Die individuelle Gläubigkeit ist dabei
(wie auch die Glaubenspraxis) unter den Sunniten und Ahmadis besonders stark,
unter Aleviten und Schiiten (meist iranisch-stämmigen Flüchtlingen) dagegen relativ
schwächer ausgeprägt.51
Brettfeld/Wetzels52 konstatieren unter jugendlichen Muslimen eine „stärkere religiöse
Bindung“ als in der muslimischen Allgemeinbevölkerung (20,3% der Jugendlichen
seien „in hohem Maße religiös“ und 44,7% „deutlich religiös“) und als in der jugendlichen Gesamtpopulation. Eine nähere Betrachtung der Religiosität von Jugendlichen
mit muslimischem Familienhintergrund zeigt jedoch ein differenziertes Bild, das einer
pauschalisierenden Zuschreibung von ‚islamistischem Fundamentalismus‘ in dieser
Gruppe widerspricht.53
45
46
47
48
49
50
51
52
53
und neo-orthodoxe Chabad Lubawitsch-Organisation in Nachfolge des Rabbi Menachem Mendel
Schneerson (vgl. RUNGE 2009; BRUMLIK 2009).
Fundamentalismus ist nach soziologischem Verständnis eine religionsunspezifische Reaktion von
Gruppen, auf der Grundlage eigener religiöser und/oder ethnokultureller Traditionen den Herausforderungen der Moderne gegenüberzutreten. Im religiösen Fundamentalismus kehrt ‚die Religion‘
nicht ‚zurück‘, sondern wird vielmehr – in selektiver (kritischer) Abarbeitung an Modernisierungserfahrungen – neu gestaltet. KNOBLAUCH (2009, 96-99) argumentiert entsprechend, dass die Verbreitung (neo-)fundamentalistischer Interpretationen des Islams in westlichen Staaten gerade nicht als
Ausdruck eines ‚Modernisierungsrückstandes‘ ihrer Träger zu verstehen ist, sondern vielmehr als
Phänomene religiöser Individualisierung und Enttraditionalisierung der in besonderem Maße Modernisierungstendenzen unterworfenen Milieus.
S. dazu SCHIFFAUER 2008.
HUNTINGTON 2002.
DECKER U.A. 2010, 134.
S. als Überblick BOOS-NÜNNING / KARASOGLU 2005, 462-476.
HAUG / MUSSIG / STICHTS 2009, 135.
Ebd., 141 / 148.
BRETTFELD / WETZELS 2007, 339.
BRETTFELD / WETZELS 2007, 242ff.
74
Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (2012), H.1, 64-79.
Dabei zeigt sich u.a., dass anti-demokratische Einstellungen unter muslimischen Jugendlichen kein direkter Effekt ihrer religiösen Orientierung sind: Werden Muslime
mit vergleichbarem Bildungsniveau hinsichtlich des Ausmaßes von Autoritarismus /
Demokratiekritik mit einheimischen Jugendlichen verglichen, so lassen sich keine
statistisch bedeutsamen Unterschiede mehr erkennen. D.h. für Muslime und deren
Distanz zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gilt, ganz ähnlich wie für einheimische
Jugendliche, dass diese umso wahrscheinlicher ist, je schlechter deren Bildung ist.54
Damit ist darauf hingewiesen, dass Problemlagen, die im anti-islamischen Diskurs
als Folge islamischer Religionszugehörigkeit wahrgenommen werden, angemessener als Ausdruck problematischer Verarbeitungsformen der strukturellen gesellschaftlichen Benachteiligung und der Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen
mit Migrationshintergrund zu analysieren sind. Dies gilt auch für die Verbreitung antisemitischer Einstellungen.55
Die MigrantInnen-Milieu-Studie des SINUS Instituts kam zu dem Ergebnis, dass etwa
drei Viertel aller MigrantInnen eine starke Aversion gegenüber fundamentalistischen
Einstellungen und Organisationen aufwiesen. Gleichzeitig käme lediglich im „religiös
verwurzelten“ Milieu, dem etwa 7% der MigrantInnen zuzuordnen sind, der Religion
eine Identität prägende und alltagsbestimmende Rolle zu. Innerhalb dieses traditionsorientierten Milieus beträgt der Anteil von Muslimen 54%.56
Ein jugendspezifisches Phänomen stellt die Entwicklung einer migrantischen Jugendkultur dar, die Julia Gerlach als ‚Pop-Islam‘ in Deutschland beschreibt:57
„Sie greifen Elemente globaler Jugendkultur auf und versehen Mode, Musik und TV
Formate mit islamischem Vorzeichen. Erfolg und das Engagement für die Gesellschaft werden als Dienst an der Umma und damit am Islam gesehen. Pop-Muslime
sind zugleich tief religiös und trendbewusst. Sie verstehen sich in Abgrenzung zum
traditionellen Islam der älteren Generation und zum gewaltbefürwortenden bzw. gesellschaftsabgewandten Islam der Dschihadis und Salafis.“58
In den USA führt der Trend zu stärker individualisierenden Jugendkulturen islamischer Prägung mit den ‚Taqwacores‘ (ein ‚Remix aus Punk und Islam‘) mittlerweile
zur Infragestellung theologischer Lehrmeinungen – etwa zum gemeinsamen Gebet
von Frauen und Männern in der Moschee. Auch wenn der Fixpunkt dieser islamischen Jugendszenen letztlich die Orientierung an der eigenen religiösen Bezugsgruppe (Umma) ist und die persönliche Lebensführung an der Einhaltung religiöser
Normen (namentlich im Bereich Sexualität, Gebetspraxis und Kleidung / Speise)
ausgerichtet wird, führt die Übernahme westlicher Jugendkultur-Konzepte (HardcorePunk, HipHop-Musik, soziales Engagement geschlechter-gemischter Jugendgruppen) zu einer Annäherung der Lebenswelten muslimischer und nichtmuslimischer
Jugendlicher im Rahmen der Jugendkultur.59
Insgesamt zeigt sich hinsichtlich der empirisch feststellbaren Formen der Religiosität
muslimischer Jugendlicher heute ein überaus heterogenes Bild, das in deutlichem
Gegensatz zu pauschalisierenden Annahmen über „die Muslime“ und der Vorstellung
eines unter Jugendlichen durchgängig verbreiteten „islamischen Fundamentalismus“
steht. Häufig erfolgt die öffentliche Thematisierung des Islams in Deutschland unter
54
55
56
57
58
59
Ebd., 273f.
MANSEL / SPAISER 2012.
SINUS Sociovision 2008; WIPPERMANN / FLAIG 2009, 7.
GERLACH 2010.
Ebd., 116.
Vgl. WENSIERSKI / LÜBCKE 2011, 171.
75
Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (2012), H.1, 64-79.
kulturchauvinistischem sowie sicherheitspolitischem Vorzeichen. Nicht berücksichtigt
wird dabei, dass nicht die Religion (der Islam) als ursächlich für die Resonanz fundamentalistischer bzw. antiwestlicher Orientierungen unter bestimmten Gruppen von
Jugendlichen anzusehen ist, sondern gesellschaftliche Strukturen, die zu ihrer Benachteiligung und Ausgrenzung führen. Aber auch unter Bedingungen von Benachteiligung und Ausgrenzung tendiert nur ein geringer Teil migrantischer Jugendlicher
zu solchen Orientierungen.
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Dr. René Gründer, Akademischer Mitarbeiter, Institut für Soziologie der
Pädagogischen Hochschule Freiburg i.Br.
Dr. habil. Albert Scherr, Professor für Soziologie, Bildungswissenschaftliche Fakultät der Pädagogischen Hochschule Freiburg.
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