Predigtdokumentation: die da geistlich arm sind

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St. Markus, München
SELIG SIND ...
... die da geistlich arm sind
Prof. Dr. Christoph Levin
2. Mai 2010, 11.15 Uhr
Predigt über Matthäus 5,3
Und Jesus zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und predigte das
Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen im Volk.
Und die Kunde von ihm erscholl durch ganz Syrien. Und sie brachten zu ihm alle
Kranken, mit mancherlei Leiden und Plagen behaftet, Besessene, Mondsüchtige und
Gelähmte, und er machte sie gesund. Und es folgte ihm eine große Menge aus
Galiläa, aus den Zehn Städten, aus Jerusalem, aus Judäa und von jenseits des
Jordans. Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine
Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind,
die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.
Liebe Gemeinde,
mit diesem Satz beginnt im Evangelium nach Matthäus die Botschaft Jesu. Nachdem
Johannes der Täufer gefangen gesetzt worden ist, geht Jesus nach Galiläa, um dort
dessen Verkündigung fortzusetzen: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe
herbeigekommen !« Alsbald vollbringt er die ersten Wunder, sammelt Jünger um
sich, und eine große Volksmenge heftet sich an seine Fersen. Soweit folgt die
Darstellung der Vorlage des älteren Markus-Evangeliums.
Dann aber weicht sie ab. Matthäus lässt Jesus einen Berg besteigen. Heute zeigt
man am Ufer des Sees Gennesaret den »Berg der Seligpreisungen«. Der Text sagt
indes nicht, dass der Berg am See gelegen habe, wie überhaupt jede weitere
Ortsangabe fehlt. Der Berg ist symbolisch zu nehmen. Das sieht man auch daran,
dass Jesus sich auf dem Berg hinsetzt, so wie in der Synagoge der Vorsteher sich
zur Schriftauslegung zu setzen pflegt. Die feierliche Eröffnung »Er tat seinen Mund
auf, lehrte sie und sprach« zeigt uns, dass Jesus nunmehr mit seiner eigenen Lehre
beginnt.
Die Typologie ist leicht zu entschlüsseln. Der Berg als Schauplatz verweist auf den
Sinai. Dort empfing Mose von Gott die Gebote, um sie dem Volk weiterzugeben. Mit
dem Berg gibt der Evangelist die Bergpredigt als das Gesetz Christi zu verstehen. In
beiden Gesetzen liegt das Gewicht auf dem Anfang. Das Gesetz des Mose beginnt:
»Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft,
geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« In diesem Ersten
Gebot ist das ganze Gesetz enthalten, das im Anschluss entfaltet wird. Das Gesetz
Christi beginnt: Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.
In dieser Seligpreisung ist das ganze Evangelium enthalten.
Beide Sätze handeln von Gottes Liebe. Beide geben zu verstehen, dass Gottes
Liebe uns frei macht, wenn wir sie annehmen. Beide sagen, oder deuten wenigstens
an, dass Gottes Liebe auf Gegenliebe wartet. Aber beide Sätze unterscheiden sich
auch: Das Erste Gebot des Alten Testaments richtet sich an ein einzelnes Du, das
freilich, wenn es auf die Befreiung aus Ägypten zurückblickt, sich nur als Glied des
Volkes Gottes verstehen kann. Die Seligpreisung hingegen beschreibt eine Mehrheit:
Selig sind, die ..., aber die Aussage bewahrheitet sich am einzelnen: an jedem
Jünger und an jedem unter der Volksmenge, der Jesus zuhört: »Du bist selig!« Mit
diesem Unterschied verbindet sich ein weiterer: Am Sinai steht am Anfang der
Befehl, das große »Du sollst«. In Jesu Lehre steht am Anfang eine Feststellung:
Selig sind!
Das große »Du sollst« vom Sinai, das »ewig Kurzgefasste«, hat eine tiefe
Plausibilität, die sich jedem, der seine Sinne beisammen hat, vermittelt. Es ist die
Grundlage unserer Sittlichkeit, an der wir beweisen können, ja müssen, dass wir
Menschen sind. Diese elementare Ethik funktioniert in der modernen Welt sogar
ohne den Gottesbezug, auf den für das Alte Testament einst alles ankam; denn sie
verifiziert sich im Handeln. Hingegen ist die Behauptung Selig sind alles andere als
plausibel. Ohne den Gottesbezug funktioniert sie überhaupt nicht. Das »ewig
Kurzgefasste« Jesu zielt nicht auf unser Handeln, sondern auf den Glauben. Deshalb
muss man es immer von neuem predigen, wie wir es in diesem Semester nicht
weniger als sechsmal tun. Man muss es nicht nur anderen predigen, sondern vor
allem sich selbst: »Du bist selig!« Denn unsere Lebenserfahrung wie auch unsere
Selbsteinschätzung sprechen dagegen.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, dem Mangel an Plausibilität aufzuhelfen und
insofern die Zumutung des Glaubens zu erleichtern. Eine Möglichkeit ist der
Zeitbezug: Im landläufigen Verständnis ist Seligkeit ein künftiger, kein gegenwärtiger
Zustand. Er erwartet uns nach unserem irdischen Lebensweg, außerhalb unserer
Erfahrung. Erst in jener Zukunft wird sich der Widerspruch auflösen, der sich
zwischen dem Zuspruch der Seligkeit und unserer unseligen Wirklichkeit auftut. So
verstanden, wandelt der fromme Christ, geführt und geleitet vom Heiligen Geist,
»den Weg zur ewgen Seligkeit«, aber er ist noch nicht am Ziel. Als Jesus davon
spricht, dass der Reichtum den Zugang zum Himmelreich verstellen kann – »Es ist
leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe!« – antworten die Jünger bestürzt:
»Wer kann dann selig werden?« Auch sie erwarten die Seligkeit erst dereinst. Für die
Bedrängnisse und Verfolgungen der frühen Christen galt: »Wer aber beharrt bis an
das Ende, der wird selig.« »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun
an.« Noch heute setzt die Seligsprechung durch den Heiligen Stuhl voraus, dass der
selig Gesprochene verstorben ist, so dass man die Gesamtheit seines Lebens und
insbesondere seiner Taten übersehen und beurteilen kann. Denn auf die Taten
kommt es entscheidend an: »Schaffet, dass ihr selig werdet!«
Damit eröffnet sich die andere Möglichkeit, die Seligkeit plausibel zu machen: indem
man auch das »ewig Kurzgefasste« Jesu als Gesetz des Handelns versteht. Da die
Seligpreisungen offensichtlich unserer Erfahrung widerstreiten, man aber gleichwohl
im hier und jetzt schon die Seligkeit erfahren will, könnte man Bedingungen
definieren, unter denen sie gültig werden. Man hat die Reihe, die die Bergpredigt
eröffnet, in diesem Sinne als einen Katalog von Bedingungen aufgefasst, die die
Voraussetzungen der Seligkeit definieren. Sie geraten auf diese Weise ganz nah an
die Seite des Dekalogs.
Kommt, lasst euch den Herren lehren!
Kommt und lernet allzumal,
Welche die sind, die gehören
In der rechten Christen Zahl:
Die bekennen mit dem Mund,
Glauben auch von Herzensgrund
Und bemühen sich daneben,
Guts zu tun, so lang sie leben.
Selig sind, die Demut haben
Und sind allzeit arm im Geist,
Rühmen sich gar keiner Gaben,
Dass Gott werd allein gepreist,
Danken ihm auch für und für,
Denn das Himmelreich ist ihr`.
Gott wird dort zu Ehren setzen,
Die sich selbst gering hier schätzen.
Das stammt immerhin von Johann Heermann, fehlt aber, im Unterschied zu anderen
seiner Lieder, mit Recht im Gesangbuch.
Das gilt leider nicht für den Ohrwurm aus der kirchlichen Ökobewegung, der unter Nr.
644 in das Bayerische Gesangbuch aufgenommen worden ist:
Selig seid ihr, wenn ihr einfach lebt.
Selig seid ihr, wenn ihr Lasten tragt.
Selig seid ihr, wenn ihr lieben lernt.
Selig seid ihr, wenn ihr Güte wagt.
Selig seid ihr, wenn ihr Leiden merkt.
Selig seid ihr, wenn ihr ehrlich bleibt.
Selig seid ihr, wenn ihr Frieden macht.
Selig seid ihr, wenn ihr Unrecht spürt.
An dieser rührseligen Persiflage ist nur soviel richtig, dass das Himmelreich darin
nicht mehr vorkommt. Wer das singt, und sei es, um sich in einer Menschenkette Mut
zu machen, spricht sich selbst selig. Die Bedingungen sind kalkuliert und erfüllbar.
Wer will nicht gern einfach leben und ehrlich bleiben. In der Bergpredigt verhält es
sich gänzlich anders. Dort ist nicht nur in jeder Zeile das Himmelreich im Spiel; dort
folgt auf die Seligpreisungen die harte Tora-Verschärfung, mit der Jesus lehrt, dass
mit unserem Tun nichts getan ist. Gegen solche fromme Gottlosigkeit hilft der
Sarkasmus Christian Morgensterns:
Selig sind die geistig Armen,
denn sie stecken nie die Nase
in den Brunnenschacht des Lebens
voll gefährlich gift’ger Gase.
Trinken oben aus dem Becken
fromm mit Ochs und Schaf zugleich.
Und dereinst, wenn sie sich strecken,
erben sie das Himmelsreich.
Jesus selbst hat, wenn wir dieses Bild aufnehmen, die Nase in den giftigen
Brunnenschacht gesteckt, und damit die Selbstbeweihräucherung als das
bloßgestellt, was sie ist. Die bedingungslose Gnade ist keine billige Gnade. Seligkeit
betrifft nicht unser Handeln, sondern unser Sein. Wenn Jesus selig spricht, geht es
um unser Leben. Wenn Jesus sagt: Selig sind, dann verweist er damit nicht auf ein
Jenseits, sondern meint seine Zuhörer jetzt und hier, damals die Jünger und die
Menge, und heute seine Gemeinde, dich und mich. Und er meint es in einer so tiefen
Radikalität, dass alles, was wir dazu allenfalls beitragen könnten, gegenstandlos
wird. Er spricht nicht unser Tun, sondern unsere Person selig. Und das tut er, ohne
noch zu warten; »denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen«. Wir werden
nicht erst dereinst selig sein, sondern in seiner Gegenwart sind wir es.
Weil aber Jesus unsere Person selig preist, tut er es nicht ohne Ansehn der Person.
Die Seligpreisungen benennen und charakterisieren ihre Adressaten. Unter dieser
Voraussetzung ist es ganz folgerichtig, dass die erste Seligpreisung diejenigen selig
spricht, die gegenüber Gott nichts anderes sind und sein können als Empfänger. Wer
vor Gott selig ist, ist in einem elementaren Sinne ganz und gar passiv. Deshalb Selig
sind die Armen. Das Wort πτωχός »arm« ist das stärkste griechische Wort für Armut.
Es bezeichnet den Bettler, der sich »nicht durch eigene Vernunft noch Kraft« zu
helfen vermag.
Selig, die Abgebrochenen,
Die Verwirrten, die in sich Verkrochenen.
Die Ausgegrenzten, die Gebückten,
Die an die Wand Gedrückten,
Selig sind die Verrückten!
Es sind die Bettelarmen an den Hecken und Zäunen, die Menschen mit den leeren
Händen und den leeren Herzen, die Jesus an erster Stelle selig spricht; denn sie
können nichts anderes als empfangen. Im Himmelreich gilt: »Nehmen ist seliger als
Geben«, so wie Jesus auch den Kindern in besonderer Weise die Nähe des
Himmelreichs zuspricht, weil sie in ihrer ganzen Unbefangenheit nichts anderes tun
als empfangen.
Das ist nicht moralisch, das ist auch nicht romantisch, das ist nüchtern bis zur Härte.
Denn es verlangt von uns, dass wir erkennen, dass unsere Hände tatsächlich leer
sind, wenn wir vor Gott stehen. Wir können Gott nur unsere leeren Hände hinhalten,
die sich sonst darin gefallen, stark und reich gefüllt zu sein, denen es in den Fingern
juckt zuzupacken, zu helfen, etwas zu bewirken im guten Sinne. Seligkeit kann man
aber nicht bewirken. Seligkeit bedeutet, Gott zu erlauben, dass er uns bedingungslos
liebt. Es führt kein andrer Weg zur Seligkeit.
Damit sind wir bei der Besonderheit, dass Jesus, jedenfalls in der Fassung des
Matthäusevangeliums, nicht einfach die Armen selig spricht, sondern die Armen im
Geiste. Armut ist in der Geschichte der Kirche nicht selten deshalb gesucht worden,
weil sie als Voraussetzung geistlichen Reichtums galt. »Geh hin, verkaufe alles, was
du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben.« Dieser
Armut, die sich als ein paradoxer Reichtum versteht, erteilt Jesus ebenfalls eine
entschiedene Absage. Das hat Meister Eckhart gut erfasst:
Zum ersten heißt der ein armer Mensch, welcher nichts will. Diesen Sinn
verstehen etliche Leute falsch. ... Diese Leute sagen wohl, wer nichts wolle, sei
ein geistlich Armer; sie fassen das aber so auf, als müsse der Mensch derart
beschaffen sein, daß er nimmer und in gar nichts mehr seinen eigenen Willen
erfülle, sondern danach trachte, Gottes liebsten Willen zu erfüllen. Diese
Menschen sind nicht übel dran, denn sie meinen es gut; wir wollen sie darum
loben, – Gott in seiner Barmherzigkeit wird ihnen wohl das Himmelreich
gewähren. ... Doch ich behaupte, dass sie Esel sind, welche die göttliche
Wahrheit gar nicht erfasst haben. ... Solange der Mensch noch in der
Verfassung steht, daß er den Willen hat, Gottes allerliebsten Willen erfüllen zu
wollen, solange hat er nicht die Armut, von der wir sprechen wollen.
Er hat sie nicht, weil, so verstanden, noch immer Voraussetzungen im Spiel sind, wo
doch die voraussetzungslose Liebe Gottes zum Ziel kommen will.
Auch unserer heutigen Kirche darf man mit geistlicher Armut nicht kommen.
Stattdessen ist vielerorts die sogenannte Spiritualität zum Programm geworden. Man
meint, ein religiöses Bedürfnis der Menschen befriedigen zu sollen, und dafür sei ein
bestimmter Habitus erfordert. Sogar in der Ausbildung der Pfarrer ist Spiritualität
gefragt und wird notfalls eingeübt. Jesus hätte über diese Bemühungen, sich selbst
religiös interessant zu machen, den Kopf geschüttelt.
Wir sollten uns gerade in diesen Wochen, wo der geistliche Reichtum in
erschreckender Weise zerfällt, weil eine Kirche sich als Himmel auf Erden von der
übrigen Gesellschaft schied und eben dadurch nur um so mehr zu einem Teil der
Erde wurde, auf die geistliche Armut besinnen. Dietrich Bonhoeffer, dem man einen
Mangel an religiösem Charisma nicht nachsagen kann, in einem seiner berühmten
Briefe aus dem Tegeler Gefängnis:
Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit
einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die
Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich
möchte ein Heiliger werden (– und ich halte für möglich, daß er es geworden ist
–); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und
sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen. Lange Zeit habe ich die Tiefe
dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben lernen,
indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. Als das
Ende dieses Weges schrieb ich wohl die »Nachfolge«. Heute sehe ich die
Gefahren dieses Buches, zu dem ich allerdings nach wie vor stehe, deutlich.
Später erfuhr ich, und erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen
Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat,
aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten
Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen
Gerechten oder Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies
nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und
Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott
ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das
Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane;
... und so wird man ein Mensch, ein Christ.
Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Wer dieses
Evangelium annimmt, findet sich in Gottes Armen und zugleich in der vollen
Diesseitigkeit wieder. Er kann sich nicht mehr abgrenzen und will es nicht. Die
Bedingungslosigkeit dieser Botschaft macht alles zunichte, worauf wir uns vor Gott
etwas zugute halten könnten. »Wir sind Bettler. Das ist wahr!« Aber das ist eben
keine Schande, sondern es ist der Anfang des Himmelreichs.
Selig, wir Abgebrochenen,
Wir Verwirrten, wir in uns Verkrochenen.
Wir Ausgegrenzten, wir Gebückten,
Wir an die Wand Gedrückten,
Selig sind wir Verrückten!
»Als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben;
als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich;
als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles
haben.«
Man versteht sofort, dass die Bergpredigt, die mit dieser Botschaft einsetzt,
keineswegs der Gleichgültigkeit gegen den Mitmenschen das Wort redet. Sie ist im
Gegenteil der radikalste ethische Text, den es gibt; so radikal, dass die Debatte, ob
diese Ethik des Friedens, der Liebe und des Verzichts überhaupt umsetzbar sei,
ohne die gesellschaftliche Ordnung zu gefährden, nicht enden wird. Die Botschaft
von der bedingungslosen Seligkeit reißt alle Schranken zwischen den Menschen
nieder. Der Plural ist grundlegend: Selig sind, die ... Selig vor Gott kann man nicht als
einzelner sein, sondern wir sind es alle gleichermaßen. Die Seligkeit macht die
religiöse und die ethische Eitelkeit gegenstandslos. Das mögen wir nicht. »Den
Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.«
Jesus nimmt uns, wenn wir denn seinen Zuspruch für uns gelten lassen,
unterschiedslos in die Arme und damit unterschiedslos in die Pflicht. Aber diese
Pflicht ist zugleich die Verheißung: »Was ihr getan habt einem unter diesen meinen
geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« Wir sollten nie vergessen, wer hier zu
uns spricht! Es geht nicht um Normen und Prinzipien. Es geht um unser Leben im
Himmelreich. Es geht um Gott als Person und um meine eigene Person. Selig sind,
die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Seligkeit bedeutet, Gott zu
erlauben, dass er uns bedingungslos liebt.
Amen.
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30. Mai 2010
Prof. Dr. Jörg Jeremias
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