Jugularvenenthrombose und Lemierre-Syndrom

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Übersicht 533
Jugularvenenthrombose und Lemierre-Syndrom –
schwerwiegende Komplikationen oropharyngealer
Infekte
Jugular vein Thrombosis and Lemierre’s Syndrome – Severe Complications of
Oropharyngeal Infections
Autoren
W. Maier1, P. U. Lohnstein2, J. Schipper2, C. Boedeker1
Institute
1
Schlüsselwörter
▶ Lungenembolie
●
▶ Pharyngitis
●
▶ Tonsillitis
●
▶ Thrombose
●
▶ Vena jugularis interna
●
Zusammenfassung
▼
HNO-Klinik, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg
Universitätsklinik Düsseldorf, Hals-, Nasen-, Ohrenklinik, Düsseldorf
Hintergrund: Infektionen in Mundhöhle und
Pharynx heilen in der Regel unter adäquater
Therapie folgenlos aus, sodass Komplikationen
primär nicht erwartet werden.
Patienten und Methoden: Wir berichten
über 3 Patienten, bei denen während oder nach
scheinbarer Ausheilung einer pharyngealen oder
perioralen Infektion eine einseitige dolente Halsschwellung mit Fieber und Leukozytose auffiel.
Ergebnisse: Die Farbdopplersonografie (FDS)
wies in allen Fällen eine unilaterale Thrombose der Vena jugularis interna (VJI) nach, worauf
wir eine parenterale antibiotische Abdeckung
und therapeutische Heparinisierung einleiteten.
Nachgewiesene peritonsilläre oder zervikale
Abszesse wurden gespalten, dennoch traten bei
einem Patienten septisch-embolische Lungeninfiltrate auf. In allen Fällen kam es zur klinischen
Remission der Infektion, bei dem Patienten mit
pulmonaler Beteiligung jedoch mit stark protrahiertem Verlauf. Bei diesem Patienten trat auch
nach mehrwöchiger Antikoagulation keine Reperfusion der VJI auf.
Schlussfolgerungen: Auch heute können bei
vermeintlich unkompliziert erscheinenden Infekten schwerwiegende regionäre oder systemische Komplikationen auftreten. Die FDS ist ein
geeignetes Verfahren, eine Jugularvenenthrombose (JVT) zügig und nichtinvasiv nachzuweisen.
Bei der JVT ist eine parenterale Antibiotikatherapie über mindestens 10 Tage geboten; eine
Vollheparinisierung wird im Schrifttum kontrovers diskutiert. Die von Lemierre beschriebene
septische Lungenembolie als Folge von pharyngealer Infektion und JVT war in der präantibiotischen Ära mit einer hohen Letalität assoziiert
und kann auch heute trotz maximaler Therapie
zum Exitus führen.
Einleitung
▼
Bibliografie
DOI http://dx.doi.org/
10.1055/s-0030-1255047
Laryngo-Rhino-Otol 2010; 89:
533–538 © Georg Thieme
Verlag KG Stuttgart · New York
ISSN 0935-8943
Korrespondenzadresse
Prof. Wolfgang Maier
HNO-Klinik
Universitätsklinikum Freiburg
Killianstraße 5
79106 Freiburg
[email protected]
Pharyngeale und orale Infektionen sind häufig
viraler, seltener bakterieller Natur und heilen im
Regelfall folgenlos aus. Bei der akuten bakteriellen Tonsillitis wird eine auf Mischinfektionen mit
Streptokokken und Staphylokokken wirksame
Therapie zur Vermeidung lokaler (Peritonsillarabszess) und systemischer (Rheumatisches Fieber) Komplikationen empfohlen [1]. Systemische
Komplikationen einer banal imponierenden pharyngealen Infektion sind bei Durchführung einer
adäquaten Therapie ungewöhnlich. Im Jahre
1936 beschrieb Lemierre das simultane Auftreten einer Trias bestehend aus Oropharynxinfektion, Jugularvenenthrombose (JVT) und septischer pulmonaler Embolie, einhergehend mit
einer Letalität von zum damaligen Zeitpunkt
90 % [2]. Diese nach ihrem Erstbeschreiber
„Lemierre-Syndrom“ (LS) benannte Trias ist zwischenzeitlich, bedingt durch den Einsatz von
Antibiotika, eine sehr seltene und daher auch nur
noch wenig bekannte Komplikation [3, 4]; sie
wird daher in der angelsächsischen Literatur
auch als die „vergessene Krankheit“ bezeichnet
[5, 6]. So beschreibt eine 2007 erschienene Übersicht nur 140 im vorangehenden Zeitraum von
25 Jahren in der Weltliteratur publizierte Fälle
eines LS [7].
Ätiologisch liegt dem LS eine Thrombophlebitis
als Folge der lokalen Infektion mit konsekutiver
JVT zugrunde, gefolgt von einer sekundären
Streuung, die im gesamten Körper, vorwiegend
pulmonal, septische Embolien verursachen kann
Verantwortlich für diese Rubrik: Prof. Dr. A. Dietz
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Key words
▶ pulmonary embolism
●
▶ pharyngitis
●
▶ tonsillitis
●
▶ thrombosis
●
▶ internal jugular vein
●
2
534 Übersicht
Patienten und Methoden
▼
Wir beobachteten innerhalb eines Zeitraumes von 30 Monaten 3
Patienten, bei denen sich nach einem zunächst unkompliziert
verlaufenden Infekt eine JVT oder ein LS entwickelten.
Ein 38-jähriger Patient stellte sich mit linkszervikalem dolentem
Ödem seit 3 Tagen vor; vorangegangen war eine passagere submandibuläre Schwellung 1 Woche zuvor, welche ohne Therapie
abgeklungen war. Die Spiegelbefunde waren bis auf einen geröteten überwärmten und druckdolenten Hals links unauffällig,
sodass wir die Verdachtsdiagnose einer Halsphlegmone stellten.
Laborchemisch imponierte eine Leukozytose über 25 000/μl sowie eine Erhöhung des C-reaktiven Proteins (CRP).
Ein 19-jähriger Patient stellte sich in unserer Ambulanz wegen
seit dem Vortag bestehender dolenter zervikaler Schwellung
rechts vor. Anamnestisch war ein flüchtiger pharyngealer und
laryngealer Infekt mit passagerer Heiserkeit ohne Allgemeinsymptome etwa eine Woche vorher abgelaufen, der spontan
ausgeheilt schien. Die weitere Vorgeschichte war unauffällig,
insbesondere ohne Hinweise auf eine immunsuppressive oder
maligne Erkrankung. Dementsprechend waren die klinischen
Befunde von Ohren, Nase, Pharynx und Larynx ohne jegliche
Zeichen auf eine Infektion. Rechts zervikal imponierte eine dolente, leicht gerötete und überwärmte Schwellung im Bereich
des M. sternocleidomastoideus (MSCL) ohne Fluktuation. Neben
anhaltendem Fieber fielen eine Leukozytose (12 000/μl) und eine
Linksverschiebung sowie ein pathologisch erhöhtes CRP auf, sodass klinisch der Verdacht auf eine Halsphlegmone rechts gestellt wurde.
Ein 31-jähriger Patient stellte sich mit seit wenigen Tagen bestehender linksseitiger fieberhafter Odynophagie vor. Ambulant
war bereits die orale Behandlung mit Penicillin V eingeleitet
worden. Vorerkrankungen waren bis auf eine klinisch abgeheilte
Mastoiditis im Jahr zuvor nicht bekannt. Die HNO-ärztliche Untersuchung zeigte eine paratonsilläre Rötung, jedoch fehlten
Hinweise auf einen Peritonsillarabszess wie Ödem oder Protrusion von Gaumenbögen oder lateraler Pharynxwand, Kieferklemme oder kloßige Sprache. Die Befunde an Ohr, Nase und
Kehlkopf einschließlich zervikalem Palpationsbefund waren unauffällig. Laborchemisch bestanden eine Leukozytose um
15 000/μl und eine CRP-Erhöhung. Die B-mode-Sonografie ergab
keinen Anhalt für eine zervikale Abszedierung. Wir nahmen den
Patienten mit der Verdachtsdiagnose einer Peritonsillitis zur i. v.
antibiotischen Therapie mit Cefuroxim (3 × 1,5g/die) stationär
auf. Darunter kam es zunächst zur klinischen Besserung, allerdings trat unter fortgesetzter parenteraler Antibiose am zweiten
Tag eine linksseitige Halsschwellung mit Schüttelfrost und Fieberschüben bis 39 ° C auf.
Bei allen Patienten wurden nun zur weiteren Diagnostik eine Bmode-Sonografie sowie eine Farbdopplersonografie (FDS) vorgenommen.
Ergebnisse
▼
Bei dem ersten Patienten war die Regio submandibularis sonografisch unauffällig, jedoch bestand unter dem MSCL eine
schlecht abgrenzbare inhomogen-echoarme Zone, in die mehrere vergrößerte Lymphknoten eingebettet waren. Die VJI konnte
verfolgt werden, wies jedoch über mehrere Zentimeter keine ve▶ Abb. 1).
nösen Pulsationen und in der FDS keinen Fluss auf (●
Echoleere Bezirke oder eine Fluktuation waren nicht nachweisbar, sodass wir eine Halsphlegmone, Lymphadenitis colli und
JVT links diagnostizierten, am ehesten nach passagerer pharyngealer, enoraler oder submandibulärer Infektion. Das CT von
Kopf und Hals stellte weder eine lokale Abszedierung noch einen
sinugenen oder otogenen Fokus dar, jedoch ein peritonsilläres
Ödem. Da kein Abszess nachweisbar war, entschieden wir uns
zur konservativen parenteralen antibiotischen Therapie mit Ciprofloxcin (bei Penicillinallergie) und Metronidazol sowie zur
therapeutischen Heparinisierung für 10 Tage.
Bei dem zweiten Patienten sahen wir sonografisch neben pathologisch vergrößerten zervikalen Lymphknoten inhomogenechoarme, teils echoleere Areale im Bereich der betroffenen
Halsgefäßscheide, weiterhin eine ödematöse Auflockerung des
▶ Abb. 2a, b). Somit bestand der Verdacht auf Abszess
MSCL (●
rechts zervikal. Die VJI war nicht abgrenzbar, und es konnten
keine venösen Pulsationen und auch mittels Valsava-Manöver
Abb. 1 Fall 1: Farbdopplersonografie (FDS): Fehlende Strömung in der
VJI rechts (Pfeil).
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[7]. Verantwortlich sind, wie von Virchow beschrieben, Alterationen von Gefäßendothel, Blutströmung und Blutzusammensetzung, befördert durch bakterielle Toxine [8, 9].
Infektiös bedingte JVT und LS treten meist bei ansonsten gesunden jungen Patienten auf, bei denen man a priori eine schwere
Komplikation einer pharyngealen oder oralen Infektion nicht erwarten würde, zumal die Primäraffektion häufig einen sehr geringen klinischen Schweregrad aufweist [4, 10]. Dies kann dazu
führen, dass für eine JVT oder ein LS typische Befunde erst verzögert richtig interpretiert werden, zumal nur ca. 5 % aller
Thrombosen im Kopf-Hals-Bereich auftreten [11]. So erscheint
es sinnvoll, Krankheitsbild, Diagnostik und Therapie von JVT
und LS anhand typischer Verläufe, die für diese schwerwiegenden Komplikationen eines zunächst häufig banalen Infektes
als exemplarisch angesehen werden können, in Erinnerung zu
rufen.
Übersicht 535
kein venöses Lumen dargestellt werden. In der FDS zeigte sich
ein vollständig aufgehobener venöser Fluss in der rechten VJI bei
normalem kontralateralem Befund und unauffälliger Strömung
▶ Abb. 2c), sodass wir eine JVT rechts diagnostider A. carotis (●
zierten. Da diese nach kranial und kaudal nicht abgrenzbar war,
wurde ein CT mit Kontrastmittel vom Kopf, Hals und oberer Thoraxapertur durchgeführt, welches einen Fokus im Bereich des
Mastoides und der Nebenhöhlen ebenso ausschließen konnte
wie eine Ausdehnung der JVT in den Sinus sigmoideus oder die
V. subclavia. Der Abszess unter der VJI wurde von uns am selben
Tag operativ entlastet. In der bakteriologischen Analyse des Abszessinhaltes waren weder Bakterien noch säurefeste Stäbchen
nachweisbar. Wir leiteten daneben eine parenterale antibiotische Abdeckung mit Cefuroxim 3 × 1,5g/die über 10 Tage ein,
begleitet von einer Vollheparinisierung über denselben Zeitraum.
Bei dem dritten Patienten zeigte sich in der Kontroll-Sonografie
des Halses ein neu aufgetretenes Ödem des unter dem MSCL ge▶ Abb. 3); es waren keine Lumenschwanlegenen Fettgewebes (●
kungen der linken VJI entsprechend dem Venenpuls oder bei
Valsalva nachweisbar. Die FDS ergab ein Fehlen der Blutströ▶ Abb. 4a) bei Normalbefund der Gegenmung in der VJI links (●
▶ Abb. 4b) und sicherte die Diagnose einer JVT links. Im
seite (●
Kopf-Hals-CT mit Kontrastmittel zeigte sich neben der aufgehobenen Perfusion der linken VJI ein Abszess am linken unteren
Tonsillenpol. Obwohl wir unverzüglich die Fokussanierung
durch Abszeßtonsillektomie vornahmen und die parenterale antibiotische Abdeckung mit Cefuroxim durch Metronidazol
(2 × 0,5 g/die) und eine Vollheparinisierung ergänzten, persistierten die Fieberschübe. Das Thorax-CT ergab, dass die Thrombose bis an den Venenwinkel reichte, die V. subclavia jedoch
nicht betroffen war. Weiterhin imponierten septische pulmona▶ Abb. 5) und ein Pleuraerguss, welcher drainiert
le Embolien (●
werden musste. Somit war das Vollbild des Lemierre-Syndroms
gegeben. Blutkulturen ergaben eine anaerobe Bakteriämie mit
Wachstum von Bacteroides species und Streptococcus intermedius, der auch im intraoperativ entnommenen Abstrich aus der
Abszeßhöhle nachweisbar war.
Bei allen Patienten kam es unter der stationären Therapie zur
klinischen Remission der Symptome. Jedoch waren die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Remission unterschiedlich.
Bei den ersten beiden Patienten waren die Symptome rasch regredient und bei Entlassung nach jeweils 10 Tagen waren die
Beschwerden fast vollständig abgeklungen. Allerdings bestand
Abb. 3 Fall 3: B-mode-Sonografie: echoarme ödematöse Durchtränkung
des Fettgewebes der betroffenen Halsgefäßscheide unter dem MSCL. Die
VJI ist unscharf begrenzt (Pfeil). a: horizontale Ebene. b: vertikale Ebene.
Abb. 4 Fall 3: FDS (vertikale Schallkopfposition): fehlende Perfusion
der linken VJI (a; Pfeil) bei normalem Blutstrom in der ACC und normaler
Perfusion der VJI der gesunden rechten Seite (b; Pfeil).
sonografisch die Thrombose zunächst fort, sodass sich eine
ambulante Antikoagulation über 6 Wochen anschloss. Bei dem
ersten, ausschließlich konservativ behandelten Patienten wurde
diese als low dose Heparinisierung vorgenommen, beim zweiten
Patienten, dessen Halsabszess operativ entlastet worden war, als
therapeutische Antikoagulation mit Marcumar®. Danach konnte
bei beiden Patienten durch sonografische Verlaufskontrolle die
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Abb. 2 Fall 2: B-mode-Sonografie: schlecht
abgrenzbare echoarme Zone unter dem MSCL,
entsprechend einer Einschmelzung mit umgebendem Ödem. Die VJI ist nicht darstellbar (Pfeile).
a: horizontale Ebene. b: vertikale Ebene. c: FDS:
Fehlen von Strömungen in der VJI rechts (Pfeil) bei
nachweisbarer Strömung in der A. carotis communis (ACC; vertikale Schallkopfposition).
Abb. 5 Fall 3: Thorax-CT mit Darstellung der septischen Lungenembolie
beidseits (Pfeile) sowie des Pleuraergusses links.
Rekanalisierung der VJI nachgewiesen werden. Der dritte Patient, der ein Vollbild des LS aufwies, wurde für 3 Wochen parenteral antibiotisch mit Metronidazol und Cefuroxim behandelt
sowie vollheparinisiert, woraufhin er beschwerdefrei entlassen
werden konnte. Auch die Pleuraergüsse bildeten sich zurück, jedoch konnten wir eine Rekanalisierung der VJI über mehrere
Wochen hinweg nicht nachweisen. Weiteren von uns erbetenen
Nachkontrollen kam der Patient nicht nach.
Diskussion
▼
Unsere Fallberichte zeigen, dass auch die scheinbar banale Infektion des Oropharynx mit einer JVT und sogar schwerwiegenderen Komplikationen wie dem LS einhergehen kann. Überraschend tritt das LS in mehr als 70 % der publizierten Fälle bei
sonst gesunden jungen Patienten auf [12, 13] und die Primäraffektion kann einen geringen klinischen Schweregrad aufweisen,
was Diagnosestellung und frühzeitige Einleitung einer adäquaten Therapie verzögern kann. Hierzu trägt bei, dass die entzündliche JVT heute selten geworden ist: während in der präantibiotischen Ära die überwiegende Anzahl der JVT durch Entzündungen im Kopf-Hals-Bereich bedingt war [14–16], werden
heute vermehrt paraneoplastische JVT [17], bedingt durch Hyperkoagulopathie bei ansteigenden Werten von Faktor VIII, Fibrinogen und Thrombozyten [14], sowie JVT durch stumpfe Halstraumata [16] und (besonders im amerikanischen Schrifttum)
intravenösen Drogenabusus mit zervikaler Injektion [18] beschrieben. Weiterhin stehen iatrogene JVT im Vordergrund, wie
nach Schrittmacherimplantation [16] oder nach Einlage eines
Venenkatheters [14, 16, 19], aber auch nach ausgedehnter Halsoperation [20].
Während spontane JVT wie in der Schwangerschaft [15], bei Hyperkoagulopathie [15, 16], sowie paraneoplastisch [14, 16] beim
subjektiv beschwerdefreien Patienten im Rahmen einer zervikalen Sonografie als Zufallsbefund auffallen können [14], stehen
bei entzündlich bedingten JVT wie in unseren Fällen Halsschwellung, Cephalgie, Temperaturerhöhung und evtl. eine Schonhaltung des Kopfes im Vordergrund.
Das LS wird in 3 Stadien eingeteilt [12]: zunächst liegt eine bakterielle Invasion in das parapharyngeale Gewebe vor, einhergehend mit Schmerz und Heiserkeit bei mehr als 80 % der Patienten. Als zweite Stufe wird die Thrombophlebititis der VJI beschrieben; sie ist ätiologisch bedingt durch Fortleitung der lokalen Infektion [16] und geht bei der Mehrzahl der Patienten, jedoch nicht immer, einher mit einer zervikalen Schwellung und
Dysphagie [16]. Verantwortlich scheinen Exo- und Endotoxine
vorwiegend anaerober Bakterien zu sein [8, 9]. Durch die so entstehende Endothelalteration und die konsekutive Verminderung
des Blutflusses mit vermehrter Stase ist die Prädisposition zur
Thromboseentstehung gegeben. Als weiteres Element der
Virchow-Trias kann die Hyperkoagulopathie durch Interleukinerhöhung sowie Dehydratation hinzutreten [21], letztere bedingt durch reduzierte Flüssigkeitsaufnahme wegen Odynophagie sowie Flüssigkeitsverlust durch Fieber. Ist einmal eine JVT
entstanden, kann jederzeit durch septische Streuung, welche
meist pulmonal, muskuloskeletal oder hepatisch [6, 7] auftritt,
das Vollbild eines LS entstehen. Die frühzeitige Erkennung der
Erkrankung, die auch heute noch mit einer Letalität von 5–15 %
einhergeht [11, 12, 22], ist entscheidend für den weiteren Verlauf [10].
Beim LS sind die zugrunde liegenden Erreger zu ca. 90 % der Fälle
Bacteroides species, welche Bestandteil der physiologischen
Mundflora sind. Zumeist handelt es sich dabei um Fusobacterium, insbesondere den strikt anaeroben Erreger F. necrophorum
[6], aber auch Mischinfektionen mit Bacteroides, Proteus mirabilis, Peptostreptokokken, Staph. aureus und epidermidis können
beim LS vorliegen [12, 13]. In diesem Jahrzehnt wurden erstmals
auch Infektionen mit Streptokokken der Gruppe A als Ursache
eines LS dokumentiert [23, 24].
Die in über 10 % der Fälle negativen Blutkulturen werden als Folge einer aufgrund der pharyngealen Symptomatik vorgenommenen initialen empirischen Antibiotikatherapie erklärt [12].
Auch ein für die Diagnostik anaerober Erreger inadäquates
Transportmedium kann falsch negative Ergebnisse zur Folge haben [7], sodass manche Autoren zusätzlich die PCR empfehlen
[7]. Sinaves Forderung, für die Einstufung als LS neben einer oropharyngealen Infektion, einer JVT und septischen Emboli auch
eine positive Blutkultur zu fordern [13], erscheint vor diesem
Hintergrund sowie angesichts der Letalität des LS fragwürdig.
Unseres Erachtens sollte auch bei negativer Blutkultur im Falle
der klinisch nachgewiesenen JVT und bei auf eine Septikämie
hinweisender Symptomatik die Verdachtsdiagnose eines LS gestellt und eine adäquate Therapie eingeleitet werden.
Unsere Berichte verdeutlichen, dass die Diagnose einer JVT rasch
und nichtinvasiv mittels moderner ultrasonografischer Verfahren gestellt werden kann. Bereits im B-mode können das Fehlen
venenpulssynchroner Lumenschwankungen, mangelnde Kompressibilität sowie ausbleibende Dilatation beim ValsalvaManöver beobachtet werden [5, 14]. Die Thrombose selbst imponiert inhomogen mit dorsaler Schallverstärkung. Die FDS
kann die Verdachtsdiagnose durch Nachweis der fehlenden intraluminalen Strömung sichern und zwischen einer vollständigen und einer partiellen Thrombosierung differenzieren.
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536 Übersicht
Übersicht 537
Erkrankung unzureichende antibiotische Therapie verschleiert
werden, was die korrekte Diagnosestellung weiter verzögert
[6, 17]. Die Resonanz auf einen Vortrag zum LS auf dem Kongress
der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in
Erfurt 2005 [27] zeigte, dass selbst erfahrene Infektiologen der
Hals-Nasen-Ohrenheilkunde keine Gelegenheit hatten, das LS
persönlich zu sehen. Umso wichtiger erscheint es uns, das LS zu
präsentieren, da es auch heute selbst bei optimaler Therapie
eine relevante Letalität aufweist [11, 22]. Da die entzündlich bedingte JVT als zweite Phase des LS grundsätzlich stets in ein
volles LS übergehen kann, sollte bei protrahiertem Verlauf einer
oralen oder oropharyngealen Entzündung, insbesondere bei
Auftreten einer zervikalen Schwellung oder anderweitig auffälligen Symptomatik, immer an eine JVT gedacht und eine frühzeitige Diagnostik und Therapie eingeleitet werden.
Abstract
Jugular vein Thrombosis and Lemierre’s Syndrome
– Severe Complications of Oropharyngeal Infections
▼
Background: Acute oral or pharyngeal infections usually heal
under adequate therapy within a few days. Therefore severe regionary or systemic complications are not regularly seen.
Patients and methods: We report on 3 patients in whom
during or after apparent recovery from a pharyngeal or perioral
infection a one-sided painful swelling of the neck associated
with fever and leucocytosis developed.
Results: Color Doppler sonography (CDS) revealed unilateral
thrombosis of the internal jugular vein (IJV) in all cases, whereupon we initiated high-dosed parenteral antibiotic therapy and
therapeutic heparinisation. Furthermore, we drained detectable
abscess formations. Nonetheless, in one patient fever attacks
occurred postoperatively, accompagnied by septic-embolic lung
infiltrates, corresponding to Lemierre’s syndrome. In all cases,
we achieved clinical recovery and remission of infection. The
course was significantly prolonged in the patient with pulmonary involvement and in this patient no reperfusion of the IJV
was achieved.
Conclusions: Even today serious complications may occur unexpectedly in presumed everyday oral or pharyngeal infections.
CDS is a suitable procedure to disclose a jugular vein thrombosis
(JVT) promptly and non-invasively. Parenteral antibiotic therapy for at least 10 days is usually the therapy of choice for JVT;
additional full-heparinisation is controversially discussed in the
professional literature. Septic pulmonary embolism following
pharyngeal infection and JVT, as described by Lemierre, was associated with a high rate of mortality in the pre-antibiotic era,
and even today may be fatal in spite of appropriate and maximal
therapy.
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Dennoch sollte auch nach Diagnosesicherung stets ein CT mit
Kontrastmittel von Schädel, Hals und Thorax veranlasst werden,
um das Ausmaß der Thrombose retrograd zu dem intrakraniellen Sinus und anterograd zur Vena subclavia darzustellen [16]
und die Frage intrathorakaler Komplikationen (Mediastinitis,
septische Embolie) zu klären [10]. Weiterhin unterstützt das CT
die klinische Fokussuche in Nebenhöhlen, Pharynx und Mastoid
und kann einen sonografisch nicht sicher nachweisbaren tiefen
Abszess darstellen [15].
Therapeutisch sollte, sofern ein Abszess nachweisbar ist, in erster Linie die Fokussanierung (Abszessdrainage) durchgeführt
werden; daneben muss eine zunächst breite, gegen grampositive und gramnegative sowie anaerobe Erreger wirksame antibiotische Abdeckung erfolgen [4, 12, 22], die nach Erhalt bakteriologischer Untersuchungsergebnisse spezifiziert werden sollte.
Eine entscheidende Rolle für den Verlauf kann die rechtzeitige
Applikation eines anaerobierwirksamen Antibiotikums wie Metronidazol oder Clindamycin spielen [22, 25]; eine ausschließliche Therapie der anaeroben Keime ist aufgrund einer meist
vorhandenen primären Mischinfektion allerdings insuffizient
[7]. Darüber hinaus liegt jedoch kein einheitliches und akzeptiertes Therapiekonzept vor [15], meist wird die Kombination
von Penicillin G, eines Breitbandpenicillins oder Cephalosporins
mit Metronidazol empfohlen [7, 13].
Die Frage, ob eine therapeutische Antikoagulation bei JVT oder
LS vorzunehmen sei, wird im Schrifttum angesichts des Fehlens
prospektiver randomisierter Studien kontrovers diskutiert [10]:
während einige Autoren die Antikoagulation zur Verhütung einer retrograden intrakraniellen Thrombusapposition oder zur
rascheren Lyse des infizierten Thrombus befürworten [26], verzichten andere auf eine Antikoagulation [4, 15] oder schlagen
diese nur bei retrograd progredienter Thrombosierung vor [26].
Auch wird die poststationäre ambulante Antikoagulation unterschiedlich sowohl hinsichtlich der Indikationsstellung als auch
ihrer Dauer (von wenigen Wochen bis zu einem halben Jahr) beurteilt [4, 15, 25]. Die Ligatur oder Resektion eines Thrombus der
VJI war in der präantibiotischen Ära üblich, wird mittlerweile
jedoch nur noch vereinzelt empfohlen, so beim Auftreten unkontrollierbarer septischer Emboli [7, 10] sowie bei Abszedierung im Bereich des Thrombus [15, 16, 25]. Entsprechend wurde
bei unserem zweiten Patienten die Abszessdrainage vorgenommen, jedoch ohne Ligatur der Vene. Letzteres ermöglichte inzwischen bei diesem Patienten die medikamentöse Rekanalisierung
der Vene unter Heparinisierung.
Jedoch kann selbst bei septischen Embolien eine Ligatur unmöglich oder gar kontraproduktiv sein: bei Ausdehnung des Thrombus bis nahe an den Venenwinkel zwischen VJI und V. subclavia
kann es zu dessen manipulativ bedingter Lösung und iatrogener
Embolie kommen. Deshalb haben wir bei unserem Patienten mit
LS auf eine operative Intervention im Bereich der JVT verzichtet.
Wir veranlassen jedoch stets zur Vermeidung einer progredienten Thrombosierung die systemische Heparinisierung und
antibiotische Abdeckung für mindestens 10 Tage, im Falle einer
Embolisation bis zum Abklingen der Symptomatik. Liegt das
Vollbild eines LS vor, wird eine Antibiotikaapplikation von 3 bis
6 Wochen empfohlen [7, 12].
Entscheidend ist, dass bei entsprechender Symptomatik der behandelnde Arzt das Vorliegen einer JVT oder gar eines LS in seine
differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezieht. Seit der
flächendeckenden Verwendung von Antibiotika wurden nur
noch wenige Fälle eines LS beschrieben und das Vollbild kann
durch eine angesichts der (primär nicht erkannten) schweren
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