Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Stimmen von Eltern und anderen Experten aus der Versorgung Netzwerk Neonatologie Bundesverband „Das frühgeborene Kind” e.V. Bundesverband „Das frühgeborene Kind” e.V. Impressum Herausgeber Bundesverband „Das frühgeborene Kind” e.V. Speyerer Str. 5-7 60327 Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten Text, Redaktion & Layout Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. Satz & Druck Volkhardt Caruna Medien GmbH & Co. KG Fotos © Olga Gabai - Fotolia.com © hansenn - Fotolia.com © Tyler Olson - Fotolia.com © Robert Kneschke - Fotolia.com © kanate - Fotolia.com © abcmedia - Fotolia.com © Dmitry Naumov - Fotolia.com © Dirk Schumann - Fotolia.com © Valua Vitaly - Fotolia.com © Michael Blackburn - i-stockphoto.com © rzdeb - i-stockphoto.com Stand April 2014 Danksagung Wir bedanken uns bei allen Eltern, die sich an der Online-Befragung beteiligt haben, deren Ergebnisse in den Tenor dieser Broschüre eingeflossen sind. Zudem bedanken wir uns bei den in der Broschüre genannten Vertretern der beteiligten Fachgesellschaften, Verbände und Institutionen für ihre wertvolle Mitarbeit. Unser Dank gilt zudem den Unternehmen AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG , Medela Medizintechnik GmbH & Co. Handels KG, Chiesi GmbH, GHD GesundHeits GmbH Deutschland und GETEMED Medizin- und Informationstechnik AG. Vorwort 4 Zahlen & Fakten 5 Einleitung 6 Während der Schwangerschaft 12 Nach der Geburt 14 Übergang nach Hause 16 Erstes Lebensjahr 18 Die Kindergarten- und Schulzeit 20 Gemeinsam für die Allerkleinsten22 Botschaften an die Politik 24 Checkliste Politik26 Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Netzwerk Neonatologie 3 Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, bereits seit mehr als 20 Jahren setzt sich der Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. erfolgreich für die Verbesserung der Situation von zu früh oder krank geborenen Kindern und deren Familien in Deutschland ein. Aus diesem Grund engagieren wir uns auch im 2012 gegründeten Netzwerk Neonatologie, das den Impuls für die vorliegende Broschüre gegeben hat. Trotz des Engagements von Akteuren aus unterschiedlichsten Bereichen gibt es noch viel Verbesserungspotenzial, wie die in dieser Broschüre auszugsweise veröffentlichten Rückmeldungen von betroffenen Eltern eindringlich verdeutlichen. Stand noch vor 20 Jahren primär die intensivmedizinische Versorgung des Kindes im Mittelpunkt der ärztlichen Bemühungen, so hat sich dieser Fokus in den vergangenen Jahren erfreulicherweise zunehmend auf die gesamte Familie des Kindes verlagert. Letztendlich sind es in der Regel Mutter und Vater, die sich im Anschluss an die ersten Lebenswochen oder Monate auf der neonatologischen Station adäquat um ihr zu früh geborenes Kind kümmern und es mitunter aufwendig versorgen müssen. Aufgrund dessen sollten sie auch möglichst frühzeitig in ihre Rolle als Eltern eines zu früh geborenen Kindes hineinwachsen dürfen und dabei neben der medizinischen, praktischen und psychologischen Unterstützung zudem das Maß an staatlicher Förderung und Unterstützung erhalten, das sie in ihrer konkreten Situation benötigen. Jedes Frühchen ist anders. Gleiches gilt für seine Eltern. Deshalb ist es besonders wichtig, genau das Maß an Unterstützung und Entlastung anbieten zu können, das der individuellen Lebenssituation der jeweiligen Familie entspricht. Wie unsere Handlungsempfehlungen deutlich machen, reicht manchmal schon eine andere Sicht auf die Situation der Familien, um diesen in den verschiedenen Lebensphasen von der zu frühen Geburt des Kindes bis zu seiner Einschulung und, falls nötig, darüber hinaus effektive Unterstützung anbieten zu können Glücklicherweise überstehen die meisten ehemals zu früh geborenen Kinder ihren vorzeitigen Start ins Leben ohne gravierende, langfristige und dauerhafte Beeinträchtigen. Dennoch kontaktieren uns immer wieder Eltern, deren Kinder die zu frühe Geburt vermeintlich problemlos überstanden, nun aber Schwierigkeiten in der Schule haben. Das macht deutlich, dass wir alle die ehemals Allerkleinsten nicht mit dem Verlassen der neonatologischen Station aus den Augen verlieren dürfen. Sie brauchen auch weiterhin aufmerksame und zugewandte Eltern, im Umgang mit Frühgeborenen erfahrene Ärzte und Therapeuten sowie informierte und entsprechend sensibilisierte ErzieherInnen und LehrerInnen, damit wir sie gestärkt und gut vorbereitet in ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben entlassen können. Engagieren Sie sich mit uns, damit aus kleinen Kämpfern und ihren Eltern starke Familien werden können, denn Deutschland braucht starke Familien! Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. 4 Netzwerk Neonatologie Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Zahlen & Fakten Wann ist ein Neugeborenes ein „Frühchen“? Normalerweise dauert eine Schwangerschaft ca. 40 Wochen. Wenn ein Baby vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche (SSW) geboren wird, dann ist es ein sogenanntes „Frühchen“. Frühgeborene in Deutschland nach Schwangerschaftswochen (SSW): Die meisten Frühgeborenen wiegen bei ihrer Geburt weniger als 2. 500 Gramm. Das Erreichen der 23. SSW gilt in Deutschland als Grenze der Lebensfähigkeit von Frühgeborenen mit medizinischer Hilfe. Abhängig von Geburtsgewicht und Schwangerschaftswoche, in der ein Kind zur Welt kommt, wird zudem noch einmal wie folgt unterschieden: ▶▶Späte Frühgeborene: Kinder, die zwischen der 34. und der 37. SSW zur Welt kommen, wer- den als sogenannte späte Frühgeborene (LPI = „late preterm infants“) bezeichnet. Bezüglich Gewicht und Körpergröße unterscheiden sie sich von reifgeborenen Kind nur unwesentlich. Dennoch fehlt auch ihnen wertvolle Entwicklungszeit. ▶▶Sehr niedriges Geburtsgewicht: Als Frühgeborene mit sehr niedrigem Geburtsgewicht (VLBW = „very low birth weight infants“) werden Babys bezeichnet, wenn sie weniger als 1.500 Gramm wiegen. Sie kommen meist vor der 32. SSW zur Welt. Im Jahr 2012 waren das in Deutschland 9.568 Kinder. ▶▶Extrem niedriges Geburtsgewicht: Frühgeborene mit extrem niedrigem Geburtsgewicht (ELBW = „extremely low birth weight infants“) wiegen anfangs weniger als 1.000 Gramm und werden in der Regel vor der 29. SSW geboren. 32-36 SSW = 83 Prozent 49.282 Kinder 28-31 SSW = 10, 4 Prozent 6.160 Kinder <28 SSW = 6,6 Prozent 3.938 Kinder gesamt < 37 SSW = 59.380 Frühgeborene Im Jahr 2012 wurden deutschlandweit insgesamt 59.380 Kinder zu früh geboren. Das entspricht einer Zahl von ca. 8,92 Prozent im Hinblick auf die Gesamtzahl aller Geburten des Jahres 2012. 562 lebend geborene Kinder wogen bei ihrer zu frühen Geburt weniger als 500 Gramm. Ihre Überlebenswahrscheinlichkeit liegt mittlerweile bei knapp 50 Prozent. In der Gewichtsklasse zwischen 1000 Gramm und 1499 Gramm lag die Überlebenswahrscheinlichkeit bereits bei über 98 Prozent. 1581 Kinder kamen bereits tot zur Welt. 741 Frühchen starben noch vor dem 7. Lebenstag. Damit dokumentiert die Geburtshilfestatistik 2012 den Tod von insgesamt 2.322 Frühchen bis zum 7. Lebenstag.* *Anm.: Kinder die nach dem 7. Lebenstag starben, werden von der Geburtshilfe-Statistik nicht erfasst. Quelle: AQUA-Länderauswertung Geburtshilfe 2012 Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Netzwerk Neonatologie 5 Einleitung Familienorientierte Versorgung – Eine interdisziplinäre Aufgabe In Deutschland kommt jedes elfte Neugeborene zu früh zur Welt – das sind jährlich fast 60.000 Kinder. Mediale Aufmerksamkeit erhalten oft nur die extrem kleinen Frühgeborenen, die in der 23. oder 24. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von teilweise unter 500 Gramm geboren werden. Sie verbringen ihre ersten Lebensmonate in der Regel auf der Intensivstation, wo sie umfassend überwacht und medizinisch versorgt werden müssen. „… nicht nur das Kind selber zu behandeln, sondern die Eltern als Experten ihres Kindes in die Versorgung von Anfang an mit einzubeziehen.“ Prof. Dr. med. Rainer Rossi, Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin „Die Eltern sind nicht nur ‚Gäste‘ am Bett ihres Kindes, sondern Teil der Behandlung. Der psychischen Belastung der Eltern durch Frühgeburt wird Rechnung getragen, indem es eine ausreichende psychologische Begleitung gibt.“ Eltern eines Frühgeborenen 6 Netzwerk Neonatologie Komplikationen bleiben oftmals nicht aus. Deren Folgen können das weitere Leben dieser Hochrisikopatienten auch langfristig beeinträchtigen. Aber nicht nur die sogenannten Extremfrühchen müssen einen steinigen Weg ins Leben bewältigen. Auch bei später, aber noch deutlich vor dem errechneten Geburtstermin geborenen Kindern, können Entwicklungsverzögerungen auftreten. Für Familien von Frühgeborenen bricht eine sorgenvolle und belastende Zeit an. Die akutmedizinische Versorgung von Frühchen in Deutschland ist vergleichsweise gut. Dennoch gibt es Verbesserungspotenzial, wie ein Blick in andere Länder, beispielsweise Schweden, zeigt. Perinatalzentren und neonatologische Intensivstationen sorgen dafür, dass die größte Kinderpatientengruppe Deutschlands medizinisch möglichst optimal betreut wird. Um Entwicklungsdefiziten im weiteren Leben vorzubeugen, kommt es jedoch nicht allein auf die intensivmedizinische Versorgung an. Ebenso zentral ist eine entwicklungsfördernde Betreuung der Frühgeborenen durch deren Eltern sowie Fachpersonal. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von familienorientierter Frühgeborenenversorgung. Damit sind unterschiedliche Ansätze und Konzepte sowohl im stationären als auch später im ambulanten Bereich gemeint, bei denen die ganze Familie in die Versorgung eines frühgeborenen Kindes einbezogen wird. Neben medizinischen stehen dabei auch sozialmedizinische Aspekte im Vordergrund. Was Eltern und an der Versorgung von Frühgeborenen beteiligte Berufsgruppen wie Ärzte, Pfleger und Hebammen unter Familienorientierung verstehen, illustriert die nachfolgende Wortwolke. Sie zeigt das Ergebnis einer Eltern- und Expertenbefragung, auf die im weiteren Verlauf noch näher eingegangen wird. Je größer ein Begriff erscheint, desto häufiger wurde er genannt. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Einleitung „Professionelle Versorgung und Unterstützung des gesamten familiären Systems schon vor der Geburt bis in die Schulzeit, um letztendlich die Ausgangssituation der betroffenen Kinder und ihrer Familien zu verbessern, damit diese langfristig profitieren.“ Dr. med. Cathrin Schäfer, Zentrum für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Rheinhessen-Fachklinik Mainz Im Zentrum von Familienorientierung stehen zweifelsohne das Kind und seine Eltern, aber auch andere Familienmitglieder werden häufig genannt: Geschwisterkinder, die selbst noch klein sind und auf einmal „zurückstecken“ müssen oder Großeltern, die der jungen Familie wichtigen Halt geben können. Was die Begriffssammlung außerdem zeigt, sind Hoffnungen und Erwartungen: Hier spielen Unterstützung, Einbeziehung und Information eine zentrale Rolle. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung „Familienorientierung heißt, den Fokus in der Unterstützung von Paaren und Familien, die ein frühgeborenes Kind haben, nicht allein auf das ‚kranke‘ Kind zu richten, sondern auch die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder wahrzunehmen und zu befriedigen.“ Susanne Steppat, Deutscher Hebammenverband Netzwerk Neonatologie 7 Einleitung Einbeziehung bereits in der Klinik Psychologische Unterstützung und Nachsorge Die wichtige Eltern-Kind-Bindung Lernen aus Best-Practice-Beispiele Fehlende Rahmenbedingungen für Familienorientierung 8 Netzwerk Neonatologie Schon im Krankenhaus können mit einer familienorientierten Versorgung wichtige Grundlagen für die weitere Entwicklung des Kindes gelegt werden. Während Eltern von reifgeborenen Kindern bereits wenige Stunden nach der Geburt den ersten körperlichen Kontakt zu ihrem Nachwuchs aufnehmen, sehen Eltern von Frühgeborenen ihr Kind in den ersten Tagen häufig hinter den Scheiben eines Inkubators. Die ersten Berührungen werden von der Sorge begleitet, etwas falsch zu machen und dem Kind zu schaden. Eine frühzeitige Anleitung und Schulung der Eltern kann dabei helfen, diese Hemmschwelle zu überwinden. Die Einbeziehung in tägliche Pflegeund Versorgungshandlungen – Wickeln, Füttern, Waschen – stärkt das Selbstvertrauen der Eltern in die eigenen Kompetenzen und fördert zudem die Bindung zum Kind. Zeitgleich werden sie auf den großen Tag vorbereitet, an dem sie ihr Kind endlich mit nach Hause nehmen dürfen und allein für seine Pflege verantwortlich sind. Häufige Arztbesuche und regelmäßige Therapien können auch die Zeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bestimmen, oft erstrecken sich Behandlungen über mehrere Jahre. Wie schon im Krankenhaus ist es auch hier wichtig, Eltern möglichst aktiv in die Versorgung einzubeziehen und die gesamte Familie im Blick zu behalten. Eine psychosoziale Begleitung, die auf die jeweilige individuelle Familiensituation eingeht, kann den Eltern zusätzlich emotionale Stabilität geben, die sich auch auf ihre Beziehung zum Neugeborenen überträgt. Untersuchungen zeigen, wie positiv sich diese unterschiedlichen Maßnahmen auf die Eltern-Kind-Bindung auswirken. Eine gefestigte Beziehung ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für den weiteren Lebensverlauf. Durch die professionelle Begleitung der Familien im Klinikbetrieb und in der ambulanten Nachsorge gewinnen sie die Sicherheit, die sie im Alltag zu Hause für die Versorgung ihrer Kinder benötigen. Bereits heute nehmen innovative Versorgungskonzepte die vielfältigen sozialmedizinischen Folgen von Frühgeburtlichkeit in den Blick. Eltern berichten immer wieder von positiven Erfahrungen, sogenannten „Leuchtturmbeispielen“, die zeigen, wie Familienorientierung konkret in der Praxis umgesetzt werden kann. Guten Einzelprojekten, sei es im Krankenhaus oder in der ambulanten Nachsorge mangelt es jedoch häufig an den optimalen Rahmenbedingungen, um Familienorientierung in die tägliche Behandlung von Frühgeborenen zu integrieren. Einigen Initiativen fehlt ausreichend Zeit mit den Eltern, andere benötigen mehr finanzielle Mittel oder sind den Eltern schlichtweg nicht bekannt. In vielen Fällen ersetzt das ehrenamtliche Engagement von Elterngruppen, Fördervereinen und Einzelpersonen die dringend benötigten sozialmedizinischen Angebote. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Einleitung Familienorientierte Frühgeborenenversorgung – Eine gesellschaftliche Aufgabe Die vorliegende Broschüre verfolgt unterschiedliche Ziele. Zunächst bietet sie einen qualitativen Einblick in die Versorgungsrealität in Deutschland, beschreibt gut funktionierende Konzepte und benennt Verbesserungspotenziale für mehr Familienorientierung. Darüber hinaus verleiht diese Broschüre den Eltern und Berufsgruppen, die unmittelbar an der akut- und sozialmedizinischen Betreuung beteiligt sind, eine Stimme und lässt damit diejenigen zu Wort kommen, die sich täglich für Frühgeborene einsetzen. Schließlich richtet sich die Broschüre an bundespolitische Entscheidungsträger. Sie sollen mit der Versorgungssituation von Frühgeborenen vertraut gemacht und für die daraus resultierenden Herausforderungen und Probleme sensibilisiert werden. Die Ausführungen beschränken sich dabei nicht darauf, ausschließlich Defizite zu beleuchten. Die konkreten Verbesserungsvorschläge richten sich an Politiker in unterschiedlichen Verantwortungsbereichen, die mit ihrem persönlichen Einsatz maßgeblich dazu beitragen können, die Entwicklungsperspektiven von Frühchen in Deutschland entscheidend zu verbessern. Bei knapp 60.000 neuen Frühgeborenen jährlich befinden sich in Summe über eine halbe Millionen Kinder in den hier beschriebenen Phasen (von der Geburt bis in die ersten Jahre der Grundschule). Die Broschüre soll daher Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen – der Gesundheits-, Familien- und Sozialpolitik – verdeutlichen, welche Rahmenbedingungen konkret verbessert werden können, um in allen Betreuungsphasen mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung zu erreichen. Ziel der Broschüre Lobbyarbeit für Frühgeborene und konkrete Verbesserungsvorschläge Grundlage der Broschüre bildet eine vom Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. deutschlandweit durchgeführte Onlinebefragung zur Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung, an der sich Ende 2013 mehr als 200 Eltern beteiligt haben. Die Erhebung war öffentlich zugänglich und wurde über das Verbandsmagazin des Bundesverbands sowie unterschiedliche Online-Kanäle und Verteiler in sozialen Netzwerken publik gemacht. Die Datenerhebung erfolgte anonym. Analog zu den verschiedenen Lebensphasen der Kinder – während der Schwangerschaft, stationär nach der Geburt, am Übergang vom Krankenhaus in die ambulante Versorgung, im ersten Jahr zu Hause und am Übergang in die Grundschule – haben die Eltern jeweils drei offene Fragen beantwortet. (1) Von welchen Personen und Einrichtungen wurden Sie besonders unterstützt? (2) Welche Form der Unterstützung hat Ihnen besonders geholfen? (3) In welchen Bereichen hat es Ihnen an Unterstützung gefehlt? Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Erfahrungen aus unterschiedlichen Lebensphasen Netzwerk Neonatologie 9 Einleitung Abschließend formulierten die Eltern ihre Wünsche und Erwartungen an politische Entscheidungsträger für bessere Rahmenbedingungen einer familienorientierten Frühgeborenenversorgung. Auswertung der Befragung Experten aus allen Versorgungsphasen Die Auswertung der Befragung lag in den Händen von Mauss-Research, einem in Berlin ansässigen Unternehmen für qualitative Meinungsforschung. Die Antworten der Eltern wurden zuerst nach qualitativen Kategorien kodiert. Danach wurden sie in Oberkategorien zusammengefasst und entsprechend der Fragestellung ausgewertet. Das Ergebnis stellt eine qualitative „Bestandsaufnahme“ dar, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Ergänzt werden die Erfahrungen der Eltern um Statements der folgenden, an der Versorgung von Frühgeborenen beteiligten Expertengruppen: • Prof. Dr. med. Christoph Bührer, Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) • Dr. med. Christian Nonhoff, AG Niedergelassene Neonatologen (AG Neo) • Prof. Dr. med. Rainer Rossi, Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) • Dr. med. Cathrin Schäfer, Zentrum für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie Rheinhessen-Fachklinik Mainz (RFM) • Susanne Steppat, Deutscher Hebammenverband (DHV) Lesehinweise für die Broschüre 10 Netzwerk Neonatologie Die Broschüre ist analog zu den fünf Phasen der Elternerhebung gegliedert und dementsprechend jeweils unterschiedlich farblich markiert. Der Fließtext fasst die zentralen Ergebnisse zusammen und wird von inhaltlich unveränderten Originalzitate ergänzt. Äußerungen von Eltern sind jeweils orange, Expertenstatements blau gekennzeichnet. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Einleitung Die Ideen für Erhebung und Broschüre gehen auf Impulse aus dem Netzwerk Neonatologie zurück. Gegründet Anfang 2012 ist dieses Netzwerk ein interdisziplinärer Zusammenschluss aller Akteure, die an der Versorgung von Frühgeborenen beteiligt sind. Zu den Netzwerkpartnern zählen Eltern, Ärzte, Pfleger, Hebammen, Psychologen, Therapeuten, Wissenschaftler und Unternehmen. Interdisziplinäre Netzwerkarbeit als Impuls für Befragung und Broschüre Ziel der Netzwerkarbeit ist es, die bestmöglichen Rahmenbedingungen für die Versorgung von Frühgeborenen und die größtmögliche Unterstützung für ihre Familien zu erreichen. Mit der vom Netzwerk initiierten Befragung und dieser Broschüre soll insbesondere bundespolitischen Entscheidungsträgern in Deutschland das Thema „Familienorientierung“ in der Frühgeborenenversorgung nähergebracht werden. Anschubfinanziert wird die Initiative, die Erhebung und diese Broschüre mit freundlicher Unterstützung von AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Netzwerk Neonatologie 11 Während der Schwangerschaft „Da mir meine Frauenärztin vorher nicht sagte, dass es ein Frühchen werden könnte, war niemand auf so eine Situation eingestellt.“ Eine Frühgeburt kommt für die Eltern meist überraschend. Während einigen etwas „Vorbereitungszeit“ bleibt, vergehen bei anderen nur Stunden oder wenige Tage zwischen der Diagnose und der Geburt ihres Kindes. Eine umfassende Aufklärung über die Risiken einer Frühgeburt kann deswegen im Vorfeld nur selten erfolgen. Ein ausführliches Gespräch über die aktuelle Situation, mögliche Folgen und Risiken unmittelbar nach der Einweisung in die Klinik, oder im Falle einer Risikoschwangerschaft schon viel früher, kann den Eltern in dieser kritischen Phase helfen. Die Geburtshilfe-Statistik des Jahres 2012 dokumentiert insgesamt 651.696 Schwangerschaften. = Schwangere mit Risiko*: 75,6 % = Schwangere ohne Risiko: 24,4 % *Zu den Risiken zählen bspw. bereits erlebte Frühgeburt, Mangelgeburt, Diabetes mellitus, Alter der Schwangeren >35 Jahre „Die Ärzte der Kinderintensivstation haben uns darüber aufgeklärt, was uns erwartet, waren sehr einfühlsam und haben uns Mut gemacht.“ „Ich hätte seitens des niedergelassenen Gynäkologen erwartet, mir mehr über Neo-Intensivstationen und die Bedeutung der richtigen Kinderklinik für das Überleben von Frühgeborenen zu erläutern.“ 12 Netzwerk Neonatologie Die Ärzte, in der Regel Neonatologen, sind in dieser Zeit zentrale Bezugspersonen für die Eltern. Mehr als die Hälfte der befragten Eltern bewertet die Unterstützung durch das medizinische Fachpersonal schon vor der Entbindung positiv. Neben der intensiven medizinischen Aufklärung über den Gesundheitszustand des Kindes hilft den Eltern vor allem das richtige Maß an Einfühlsamkeit und emotionaler Unterstützung sowie die Sicherheit, jederzeit einen kompetenten Ansprechpartner vorzufinden. Während viele der Befragten mit der Betreuung in dieser Phase zufrieden waren, machten auch knapp die Hälfte der befragten Familien in der Phase vor der Geburt negative Betreuungserfahrungen. Trotz bekannter Risikoschwangerschaft fühlten sich einige nicht bestmöglich auf die bevorstehende Frühgeburt vorbereitet und geben als Gründe hierfür beispielsweise eine fehlende Aufklärung durch die betreuende Gynäkologin an. Rund ein Viertel der befragten Eltern bemängelt die fachliche Betreuung durch Ärzte und kritisiert die zum Teil unzureichenden Informationen über den Gesundheitszustand von Mutter und Kind sowie die sich daraus ergebenden notwendigen medizinischen Maßnahmen. In Einzelfällen wurde auch mangelnde Sensibilität seitens des Fachpersonals beanstandet. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Während der Schwangerschaft Ohne Frage steht die werdende Mutter im Mittelpunkt der Stationsabläufe. Jedoch tut es den Frauen besonders gut, wenn auch andere Familienmitglieder als Unterstützung vor Ort waren und das Krankenhaus dies ermöglichen konnte. Defizite sind vor allem in der psychologischen Betreuung erkennbar. Mehr als die Hälfte der Familien hätte sich in diesem Bereich mehr und bessere Unterstützung gewünscht. Die vielfältigen Antworten zeigen, wie unterschiedlich die Unterstützung sein kann und wie sehr eine gute Betreuung noch immer vom Engagement und der Initiative einzelner Personen der Krankenhaus-Belegschaft abhängig ist. „Es wäre schön gewesen, wenn einem etwas sensibler mitgeteilt würde, was alles passieren kann. In dieser mental anstrengenden Zeit reichen wenige unsensible Worte für einen Zusammenbruch aus.“ „Psychologische Unterstützung gab es erst nach der Geburt. Das hätte ich mir vorher schon gewünscht.“ Was Familien schon vor der Geburt in der Klinik brauchen: ✓✓ Regelmäßige Aufklärungsgespräche ✓✓ Emotionale Unterstützung, Einfühlungsvermögen und Sensibilität ✓✓ Vorgeburtlicher Besuch der neonatologischen Station ✓✓ Unterbringung anderer Familienmitglieder im Krankenhaus Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Netzwerk Neonatologie 13 Nach der Geburt „An erster Stelle muss ich die Schwestern erwähnen, die tagtäglich für das Überleben der Frühchen kämpfen. Von denen kam die meiste Unterstützung.“ Die Zeit unmittelbar nach der Geburt ist eine besonders belastende Phase für die Eltern von Frühgeborenen. Große Angst um das Überleben des Kindes prägt den Krankenhausaufenthalt. Besonders wichtig für das Wohlbefinden der Eltern sind in dieser Phase die Ärzte und Pfleger der Station. Dabei steht nicht allein die medizinische Versorgung im Fokus, sondern auch der persönliche Kontakt in Form von Gesprächen und emotionaler Anteilnahme. In der Mehrzahl der Fälle übernimmt das Pflegepersonal diese zentrale Aufgabe. „Am positivsten waren für mich die Situationen, in denen ich mit meinem Kind im Krankenhaus fast wie mit einem normal geborenen Kind umgehen konnte. Wickeln, Füttern, Känguruhen, mein Kind halten und es berühren war für mich besonders schön.“ „Wichtig ist, dass die Eltern auf Augenhöhe und letztlich als Spezialisten für ihre Kinder in die Behandlung ihrer Kinder einbezogen sind.“ Prof. Dr. med. Christoph Bührer, Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin 14 Netzwerk Neonatologie Für die Eltern ist es wichtig, so früh wie möglich Kontakt zu ihrem Kind aufzubauen. Indem sie von Anfang an in die Pflege einbezogen werden, erhalten sie die Gelegenheit, emotionale Nähe zu ihrem Kind herzustellen und sich als Familie zu fühlen. Häufiger Körperkontakt stärkt die wichtige Bindung, das sogenannte Bonding, zwischen Eltern und Frühgeborenem zusätzlich und wirkt sich positiv auf die Entwicklung des Kindes aus – hier hat sich die Maßnahme des Känguruhens, bei dem das nur mit einer Windel bekleidete Baby auf dem nackten Oberkörper von Mutter oder Vater liegt, besonders bewährt. Leider haben Eltern von Frühgeborenen in manchen Kliniken nur eingeschränkten Zugang zu ihrem Kind. Das führt oftmals dazu, dass Eltern sich als Zuschauer an den Rand gedrängt fühlen, obwohl sie sich gerne aktiv in die Betreuung ihres Kindes mit einbringen wollen. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Nach der Geburt Für die Beziehung zwischen Mutter und Kind spielt auch das Stillen eine hervorgehobene Rolle. Neben den positiven Auswirkungen für die Gesundheit des Neugeborenen bietet es den Müttern individuelle Gelegenheit, aktiv zur optimalen Nahrungsversorgung ihres Kindes beizutragen. Das Abpumpen der Muttermilch erfordert jedoch meist viel Kraft und Geduld. Die Betreuung durch eine Stillberaterin wird in der Regel sehr dankbar angenommen, oftmals fehlen im Stationsalltag jedoch solche konkreten Angebote. Als sehr belastend blieben vielen Eltern unpassende Äußerungen des Krankenhauspersonals in Erinnerung. Eine unverständliche oder mangelnde medizinische Aufklärung und zum Teil widersprüchliche Empfehlungen von Ärzten oder Pflegeteam wirkten sich in einigen Fällen negativ auf das Vertrauensverhältnis aus. Hier wird erneut deutlich, welch wichtige Rolle eine offene und zugleich einfühlsame Kommunikation zwischen Ärzten, Pflegern und Eltern spielt. Nach der Geburt benötigen die Familien intensive seelische Unterstützung, sei es in Form von Gesprächen mit erfahrenen Eltern oder einfacher Anwesenheit, um ihnen Ängste zu nehmen und Zuversicht zu spenden. Rund ein Viertel der Befragten gab an, dass ihnen eine professionelle psychologische Betreuung gefehlt hat. „Es liegen uns wissenschaftliche Daten vor, dass Frühgeborene, die mit Muttermilch ernährt wurden und die ein gutes Bonding mit der Mutter nach der Erstversorgung hatten, sich besser entwickeln.“ Dr. med. Christian Nonhoff, AG Niedergelassene Neonatologen „Es wurde sich toll um meine Tochter gekümmert, doch ich stand ganz allein mit meinen Ängsten und Sorgen da.“ Das hilft und unterstützt Familien nach der Geburt in der Klinik: ✓✓ Einbeziehung in die Pflege ✓✓ Häufiger und intensiver Kontakt zum Kind ✓✓ Sensibilität, Anteilnahme und psychologische Betreuung Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung „Pflegekräfte spielten sich oft als Erziehungsberechtigte auf, trafen gegen unseren Willen Entscheidungen, nahmen uns nicht ernst.“ Netzwerk Neonatologie 15 Übergang nach Hause „Wir konnten jederzeit die Stationsärztin und auf der Station das Pflegepersonal anrufen und Fragen bei Unklarheiten stellen.“ „Die Ruhe und Zuversicht meiner Hebamme war mir die größte Unterstützung.“ „Geholfen hat mir eine Krankenschwester, die zum ersten Kinderarztbesuch mitkam und uns zu Hause besuchte, um uns im Umgang mit dem Monitor zu schulen.“ 16 Netzwerk Neonatologie Der Übergang vom Krankenhaus ins häusliche Umfeld ist für viele Eltern ein zwiespältiger Moment. Mitunter werden sie von einem auf den anderen Tag mit ihrem Kind aus einer 24-Stunden-Rundumversorgung in den Alltag entlassen. Einerseits freuen sich die Eltern auf den großen Moment, endlich gemeinsam mit ihrem Kind nach Hause gehen zu können, anderseits stellt die Übernahme der alleinigen Verantwortung für viele Familien eine große Herausforderung dar. Noch immer begleiten sie die Sorgen um die weitere Entwicklung ihres Kindes. Eine umfassende Vorbereitung auf die Entlassung und das Leben danach kann viele Unsicherheiten nehmen und den Einstieg ins selbstbestimmte Familienleben deutlich erleichtern. Eine gezielte Schulung der Eltern, vor allem ein Training im Umgang mit dem frühgeborenen Kind, vermittelt den Familien das nötige Know-How und Selbstbewusstsein, um den Übergang von der stationären Versorgung in die ambulante Nachsorge erfolgreich zu meistern. Nicht selten werden insbesondere ehemals sehr kleine Frühgeborene mit Monitorüberwachung nach Hause entlassen, damit Ärzte ihre Vitalfunktionen regelmäßig auswerten und beobachten können. Der korrekte Umgang mit dem Gerät und die richtigen Reaktionen auf immer wiederkehrende Warnsignale und Alarme bedeuten zusätzlichen Stress für die Eltern. Spezielle Monitorsprechstunden können hier zu einer konkreten Entlastung führen. Die Möglichkeit, Ärzte und Pfleger, die die Eltern über Monate hinweg begleitet haben, auch nach der Entlassung um Rat fragen zu können, gibt den Eltern zusätzliche Sicherheit. Ebenso stellt der regelmäßige Kontakt zu ihrer Hebamme oder Nachsorgekrankenschwester eine große Entlastung dar. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Übergang nach Hause Etwa die Hälfte der befragten Eltern empfand die Informationen und Vorbereitung auf die Entlassung jedoch als ungenügend. So sieht sich beispielsweise jede fünfte Familie schlecht informiert, woraus Unsicherheiten im Umgang mit ihren zu früh geborenen Kindern entstehen. Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt, dass von etwa einem Viertel der befragten Familien der Übergang zwischen stationärer und ambulanter Betreuung generell als negativste Betreuungserfahrung eingestuft wird. Ebenso wie in den vorangehenden Phasen wird auch an diesem neuralgischen Punkt deutlich, dass sich die Eltern psychologische Betreuung gewünscht hätten, um das Erlebte zu verarbeiten und um die neue Situation, plötzlich alleine für ihr Kind verantwortlich sein zu müssen, bestmöglich bewältigen zu können. Es scheint, als ob der Zugang zu solch wichtigen Hilfsangeboten für die Eltern noch nicht niedrigschwellig genug ist. Die komplizierten Verrechnungsregeln von Mutterschaftsgeld- und Elterngeldansprüchen führen zusätzlich zu zeitlichen und finanziellen Belastungen. Je kleiner das ehemals zu früh geborene Kind ist, desto gravierender werden die Auswirkungen dieser Verrechnungspraxis. Dies kann dazu führen, dass Eltern, die nach dem ersten Lebensjahr des Kindes in den Job zurückkehren wollen, bereits wieder einsteigen müssen, wenn das Kind zwar faktisch ein Jahr alt, aufgrund der Frühgeburt in seiner tatsächlichen Entwicklung aber wesentlich jünger ist. Das hilft Familien beim Übergang nach Hause: ✓✓ Intensive Vorbereitung und Schulung der Eltern im Umgang mit ihrem Kind ✓✓ Vermittlung einer Nachsorgeschwester oder nachbetreuenden Hebamme ✓✓ Kontaktmöglichkeiten zu bisher behandelnden Ärzten „Wir hätten uns eine bessere Aufklärung darüber gewünscht, wer die Ansprechpartner und welche Therapien nötig sind.“ „Sorgen, Ängste und Verarbeitung der Frühgeburt wurden überhaupt nicht beachtet, die Psyche überhaupt nicht aufgefangen, obwohl dies ein traumatisches Erlebnis war. Sicher nicht nur für mich.“ „Wenn wir es schaffen, von Anbeginn die Frühgeborenen in ein stabiles, förderndes und liebendes Familienumfeld zu entlassen und diese Familien über Jahre gut zu begleiten, dann wird sich das positiv auf die Entwicklung der Kinder auswirken.“ Dr. med. Christian Nonhoff, AG Niedergelassene Neonatologen ✓✓ Schriftliche Erstinformationen über potenzielle Hilfs- und Fördereinrichtungen mit Kontaktdaten in der Region Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Netzwerk Neonatologie 17 Erstes Lebensjahr „Der Kinderarzt schaute sich anfangs das Kind 2x pro Woche an, das gab etwas Sicherheit.“ „Die Physiotherapie hat uns gerettet.“ „Bei der entwicklungsneurologischen Untersuchung wurden Fragen beantwortet, Ängste und Beschwerden besprochen.“ Zu Hause angekommen, nimmt die Bedeutung der richtigen Unterstützung keineswegs ab, son- dern ist nach wie vor zentral für Eltern von Frühgeborenen. Sowohl der behandelnde Kinderarzt als auch unterschiedliche Nachsorgeeinrichtungen stehen hier im Zentrum. Auch das persönliche Netzwerk aus Freunden und Verwandten kann bei Alltagstätigkeiten unterstützen. Das Bedürfnis nach umfassender Aufklärung ist bei Frühcheneltern oftmals ausgeprägter als bei Eltern reifgeborener Kinder. Deswegen ist es sehr wichtig, dass der Kinderarzt, der in der Regel neuer Hauptansprechpartner ist, diesem Bedürfnis gerecht werden kann. Ferner sind gezielte Therapien und eine angemessene Frühförderung entscheidend für die weitere Entwicklung des Kindes. Mit Abstand am häufigsten loben die Eltern die frühzeitige Physiotherapie für ihre Kinder. Bei der Aufklärung über Therapiemöglichkeiten und der Vermittlung an entsprechende Einrichtungen bieten im besten Fall Frühförderstellen, sozialpädiatrische Zentren, spezielle Vereine sowie lokale Elterninitiativen umfassende Hilfestellungen. Diese Angebote sind allerdings noch nicht überall vorhanden. Dort wo es sie gibt, fehlt es oftmals an Bekanntheit oder an der optimalen Vernetzung der Hilfsangebote. Idealerweise versorgen bereits die ins häusliche Umfeld entlassenden Stationen Eltern mit potenziell relevanten regionalen Informationen und sensibilisieren im Rahmen des Entlassungsmanagements für möglicherweise auftretende Probleme. „Neonatologische Versorgung endet oft mit der Entlassung aus der Klinik. Es ist aber eine jahrelange Weiterbetreuung der Kinder und Familien notwendig. Hier gibt es immer wieder lokale engagierte Konzepte, aber kein gut geregeltes und gut finanziertes überregionales Gesamtkonzept. Meist scheitert es an finanziellen Mitteln.“ Dr. med. Christian Nonhoff, AG Niedergelassene Neonatologen 18 Netzwerk Neonatologie Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Erstes Lebensjahr Familienzuwachs bedeutet immer eine Neuausrichtung des bisherigen Alltags. Weil Frühgeborene ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit, Zuwendung und Fürsorge benötigen, ist ihre Betreuung vielfach wesentlich zeitaufwendiger als die von reifgeborenen Kindern. Zusätzliche Erledigungen im Alltag, die Betreuung von Geschwisterkindern oder die Arbeit im Haushalt überfordern die Eltern von Frühchen daher häufig. Nicht immer kann die Familie aushelfen, so dass Unterstützung von außen notwendig wird. Die meisten Menschen im näheren Umfeld von Frühchenfamilien sind oftmals nicht in der Lage, nachzuvollziehen, wie traumatisch und belastend das Erlebte für Mutter und Vater sein kann. Das Erlebte kann sich auch negativ auf die Beziehung der Eltern auswirken, denn nicht immer sind sie in der Lage, über ihre Gefühle hinsichtlich der erlebte Frühgeburt des Kindes zu sprechen. Das führt mitunter zu wachsendem Unverständnis zwischen den Eltern. Hier kann der Kontakt zu anderen Betroffenen besonders hilfreich sein, um sich mitzuteilen und Verständnis zu erfahren. So bedeutsam der Austausch mit anderen Betroffenen auch ist, kann er eine professionelle psychologische Betreuung häufig nicht ersetzen. Damit sich mögliche psychische Belastungen nicht negativ auf die Eltern-Kind-Beziehung niederschlagen, benötigen Familien Frühgeborener auch hier aktive und leicht zugängliche Unterstützung. Was viele Familien im ersten Jahr zu Hause brauchen: „Habe hier in der Region keine psychologische Betreuung erhalten und musste deswegen zu einer Heilpraktikerin für Psychotherapie gehen und die Therapie selber zahlen.“ „Ich wüsste nicht, was ich ohne meine Familie und Freunde, die auf den Kleinen aufgepasst haben und mir mit Rat und Tat zur Seite standen, gemacht hätte.“ „Unsere Selbsthilfegruppe war eine wichtige Stütze, um sich mit anderen betroffenen Eltern auszutauschen, da man als Extrem-Frühcheneltern oft schwer mit Eltern ‚normal‘ geborener Kinder in Kontakt kommt.“ ✓✓ Flächendeckendes Angebot von Nachsorgeeinrichtungen und Frühförderung ✓✓ konkrete Angebote für Entlastungen im Alltag ✓✓ Förderung von und Kontaktvermittlung zu Selbsthilfegruppen ✓✓ Beratungsangebote im häuslichen Umfeld Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung „Oft sind konkrete Hilfen für die Familien nur schwer zu bekommen. Bundesweit gibt es weder einheitliche und verbindliche Nachsorgekonzepte noch eine gesicherte Finanzierung.“ Dr. med. Cathrin Schäfer, Zentrum für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie Rheinhessen-Fachklinik Mainz Netzwerk Neonatologie 19 Die Kindergarten- „Das Verständnis der Erzieher und der Leitung war ein Glücksfall. Sie haben schnell gemerkt, dass die Kinder nicht krank sind, sondern ggf. nur ein wenig mehr Zeit benötigen, um die gleichen Leistungen zu erbringen.“ „Unterstützung war ab der Schulzeit schwierig. Ich wünsche mir, dass ab der Schulzeit klarer informiert wird, welche Möglichkeiten der Förderung es gibt.“ Eine der häufigsten Folgen extremer Frühgeburten ist eine veränderte Gehirnentwicklung beim Kind. Frühchen sind dabei nicht per se weniger intelligent, sondern benötigen manchmal lediglich etwas mehr Zeit, um sich dieselben Fertigkeiten wie gleichaltrige Kinder anzueignen. Während einige der „ehemaligen“ Frühchen immer noch intensive medizinische Betreuung benötigen, können andere während der Kindergartenzeit zu ihren Altersgenossen aufschließen. Einschränkungen bei frühgeborenen Kindern treten in ganz unterschiedlichen Bereichen auf. Die meisten dieser Unsicherheiten lassen sich durch eine gezielte Förderung jedoch leicht überwinden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass das Personal in Kitas und Schulen um die spezielle Situation von Frühgeborenen weiß und über mögliche Fördermaßnahmen aufgeklärt ist. Häufig zeigen sich bei Frühgeborenen allerdings kurz nach der Einschulung kognitive Schwächen und eine Vielzahl von Schwierigkeiten, mit den Anforderungen des Schulalltags zurecht zu kommen. Viele Eltern und Experten halten es deshalb für sinnvoll, den errechneten und nicht den faktischen Geburtstermin als entscheidend für den Beginn der Schulpflicht festzusetzen. Wenn Frühgeborene und ihre Familien nicht ausreichend Unterstützung erfahren, dann kann die Schulzeit für sie zu einer sehr belastenden Phase werden. 20 Netzwerk Neonatologie Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung und Schulzeit Viele Grundschulen verfügen bisher leider noch nicht über die notwendigen Kapazitäten, um den Kindern bei Bedarf eine individuelle, sonderpädagogische Förderung an die Seite zu stellen. Ebenso wenig darf für den schulischen Erfolg der Kinder eine ruhige und fördernde Klassenatmosphäre unterschätzt werden. Kleine Lerngruppen können sich positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirken und ein Mehr an individueller Förderung ermöglichen. Wird jedoch nicht ausreichend und adäquat auf die Lernprobleme der betroffenen Kinder eingegangen, laufen sie Gefahr, durch Misserfolge langfristig das Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu verlieren. Das Selbstbewusstsein der Kinder muss deswegen durch kleinere Erfolgserlebnisse, Zuwendung, Geduld und Lob von Seiten der Lehrer und Eltern regelmäßig gestärkt werden. Was früh geborene Kinder und deren Familien beim Schuleintritt brauchen: ✓✓ Flexiblere Einschulungstermine ✓✓ Individuelle Förderung und sonderpädagogische Unterstützung ✓✓ Aufklärung und Schulung von Lehrpersonal Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung „‚Auf Ihr Frühgeborenes können wir keine Rücksicht nehmen, da sind ja noch andere Kinder in der Klasse‘, waren Sätze, die wir immer wieder hörten.“ „Die Schulzeit erleben wir als einen Albtraum. Im Kindergarten schien sich unser Sohn ganz gut zu entwickeln, seit Schulbeginn haben wir nur Probleme. Er hat jetzt sehr viele Ängste, hat jetzt das zweite Schuljahr wiederholt. Er braucht einfach mehr Zeit, aber bekommt einfach nicht genug Unterstützung in der Schule.“ „Die Vernetzung mit dem Bildungssystem ist unabdingbar. Dies betrifft sowohl die Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätte, Schule, Elternhaus, ÄrztInnen und TherapeutInnen, wie auch die Ausgestaltung der Ausbildung von ErzieherInnen und des Lehramtstudiums im Hinblick auf eine inklusive Betreuung und Beschulung aller Kinder.“ Dr. med. Cathrin Schäfer, Zentrum für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie Rheinhessen-Fachklinik Mainz Netzwerk Neonatologie 21 Gemeinsam... Gynäkologie Perinatalmedizin Geburtshilfe Neonatologie Psychologie Elternberatung Kinderkrankenpflege Auf dem Weg ins Leben müssen Frühgeborene und ihre Eltern viele Hürden überwinden – die lange Zeit im Krankenhaus, eine große psychische Belastung vor und insbesondere nach der Geburt, der schwierige Übergang nach Hause sowie viele Folgetherapien in den ersten Lebensjahren. Auf diesem Weg benötigen Familien fortwährend Unterstützung, um die vielfältigen Herausforderungen zu meistern. Die Grafik zeigt, welche Experten aus den unterschiedlichen Bereichen Frühchen und ihre Eltern in den ersten Lebensjahren begleiten. 22 Netzwerk Neonatologie Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung ...für die Allerkleinsten Pädiatrie Sozialpädiatrie frühkindliche Pädagogik Therapie Schulpsychologie Integrationshilfe Je besser die Vernetzung der Akteure untereinander gelingt, desto zielgerichteter können auch die Familien unterstützt werden. In einem gut funktionierenden Netzwerk lassen sich so Barrieren abbauen und Hürden leichter überwinden. Zusätzlich zum persönlichen Engagement Vieler ist jedoch auch die Politik gefragt, die richtigen Rahmenbedingungen für eine familienorientierte Frühgeborenenversorgung zu schaffen. Auf der nächsten Seite finden sich daher Wünsche und Botschaften von Eltern und Experten an politische Entscheidungsträger. Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Pädagogik Netzwerk Neonatologie 23 Botschaften an die Politik In der Elternbefragung wurden die Teilnehmer gebeten, ihre Wünsche an die Politik zu formulieren. Auszüge dieser Botschaften und Hoffnungen sind nachfolgend mit Originalzitaten aufgeführt: „Ich hätte mir gewünscht, dass nach der Frühgeburt psychologische Hilfe angeboten wird, denn ich habe mich nicht getraut, von alleine nachzufragen.“ „Es muss möglich sein, dass gerade eine Mutter, deren Kind 10 Wochen zu früh geboren ist, auch das volle Elterngeld ausschöpfen darf.“ „Mehr fachausgebildete Schwestern! Eine Schwester war entwicklungsfördernd weitergebildet. Das hat man sehr gemerkt!“ „Diese Kinder brauchen einfach ein MEHR, mehr Zuwendung, mehr Unterstützung, mehr Aufmerksamkeit, mehr Liebe. Sie haben aber auch schon mehr geleistet! Diese Unterstützung in Form von Frühchenförderung, Rehas oder auch die unproblematische spätere Einschulung, sollte nicht zu erkämpfen sein müssen.“ 24 Netzwerk Neonatologie Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Botschaften an die Politik Die unterschiedlichen, an der Versorgung von Frühgeborenen beteiligten Experten wurden ebenso gebeten, ihre Erwartungen an politische Entscheidungsträger zu formulieren: „Die tätige Unterstützung für die Eltern von Frühgeborene muss deutlich entbürokratisiert werden, z.B. im Hinblick auf die Unterstützung durch eine Haushaltshilfe oder die Hebammenhilfe. Es sollte die Bescheinigung reichen, ein zu früh geborenes Kind zu haben, um diese Unterstützung zu erlangen, ohne zermürbende Anrufe, Mails und das Aufsuchen von Geschäftsstellen und Ämtern.“ Susanne Steppat, Deutscher Hebammenverband „Um die Schnittstellen zwischen der postpartalen stationären Behandlung und der anschließenden ambulanten Versorgung verlässlich zu gestalten, ist ein bundesweit einheitliches, verbindliches Nachsorgekonzept erforderlich.“ Dr. med. Cathrin Schäfer, Zentrum für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie Rheinhessen-Fachklinik Mainz „Eine Verbesserung der neonatologischen Nachsorge und deren Finanzierung könnten das Outcome der Frühgeborenen deutlich verbessern.“ Dr. med. Christian Nonhoff, AG Niedergelassene Neonatologen „Die wichtigste Kernbotschaft ist die Institutionalisierung des Dialogs zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den bestehenden Organisationen auf Bundesebene, konkret dem Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. und den beiden Fachgesellschaften GNPI und DGPM.“ Prof. Dr. med. Christoph Bührer, Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Netzwerk Neonatologie 25 Checkliste Politik Fünf politische Aufgaben und ihr jeweiliger Beitrag für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung: :: Entwicklungsfördernde Pflege und Betreuung im Krankenhaus flächendeckend unterstützen Ziel: Eltern werden so früh wie möglich in die Pflege und Betreuung ihrer Kinder einbezogen – entsprechend individualisierte Beratungs- und Schulungsangebote in Kliniken werden flächendeckend unterstützt und ausgebaut. :: Begleitende psychologische und psychosoziale Betreuung der Eltern in der Klinik und in der Nachsorge ausbauen Ziel: Die in den Qualitätsrichtlinien des G-BA verankerte psychologische Betreuung steht allen Frühcheneltern über den gesamten Behandlungszeitraum zur Verfügung. :: Zugang zur sozialmedizinischen Nachsorge und ambulanten Nachbetreuung für alle Frühgeborenen ermöglichen Ziel: Alle Frühgeborenen haben einen Anspruch auf sozialmedizinische Nachsorge nach §43 SGB V und erfahren eine ihren Bedürfnissen angepasste, ambulante Versorgung. :: Finanzielle Nachteile beim Elterngeld beseitigen Ziel: Das Elterngeld passt sich in Auszahlungsdauer und -höhe der besonderen Situation von Familien Frühgeborener an. :: Einschulungstermin und pädagogische Unterstützung dem individuellen Entwicklungstand der Kinder anpassen Ziel: Der Termin der Einschulung sowie pädagogische Fördermaßnahmen und Unterstützungsangebote orientierten sich in allen Bundesländern an der individuellen Entwicklung der Kinder. 26 Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Ansprechpartner Koordinierungsstelle Netzwerk Neonatologie c/o Miller & Meier Consulting Französische Straße 55 l 10117 Berlin Tel: +49 30 288 765 90 Bundesverband „Das frühgeborene Kind” e.V. ✂ Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung Dann nehmen Sie doch einfach direkt Kontakt mit uns auf. Wir freuen uns über Ihre Nachricht! Netzwerk Neonatologie Sie möchten sich für das Thema Frühgeborene stark machen, haben Anmerkungen oder Fragen zum Netzwerk Neonatologie? 11011 Berlin Platz der Republik 1 nd . 8/ n u nden ter: ete1 e n n T un rd se en JE mei eiden rte abtr nete/n finden /abgeo d g a Ge sschn ch Postksabgeorternet zuundesta In /b fa ag au Ein ndest ist im ag.de t Bu se/ r ndes Die w.bu ww w Die Broschüre „Für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung“ finden Sie unter www.fruehgeborene.de :: Einschulungstermin und pädagogische Unterstützung dem individuellen Entwicklungsstand der Kinder anpassen :: Finanzielle Nachteile beim Elterngeld beseitigen :: Zugang zur sozialmedizinischen Nachsorge und ambulanten Nachbetreuung für alle Frühgeborenen ermöglichen :: Begleitende psychologische und psychosoziale Betreuung der Eltern in der Klinik und in der Nachsorge ausbauen :: Entwicklungsfördernde Pflege und Betreuung im Krankenhaus flächendeckend unterstützen Fünf politische Aufgaben für mehr Familienorientierung in der Frühgeborenenversorgung: Absender: , MdB Bitte freimachen ✂ N! ZT M m nsa l a h HE ie A n - ie örtlic C d re n/d MA IT ür ssie an de f kleschick r le b e/n en t s in en ad re Diese Broschüre wurde ermöglicht und gedruckt mit der freundlichen Unterstützung von In neonatology for life