Infotext Sdg. 2. + 9.12.2015, 21.00 Uhr Kleine Kämpfer – große Helfer Reportage aus der Frühchenstation der Charité Berlin Film von Erika Brettschneider und Kathrin Zauter Frühgeborene medizinisch zu versorgen ist eine extrem anspruchsvolle Aufgabe. Und je kleiner und leichter die Babys zur Welt kommen, desto mehr Intensivmedizin ist nötig. Eine Frühgeburt ist immer eine kritische Situation für Kind, Eltern, Ärzte und Pflegepersonal. Wann sprechen wir von einer Frühgeburt? Wie viele Kinder sind betroffen? Eine Schwangerschaft dauert normalerweise 40 Wochen, gerechnet vom ersten Tag der letzten Regelblutung. Als zu früh geboren gilt ein Baby, wenn es vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommt. In Deutschland liegt die Rate der Frühgeborenen bei etwa 9 von 100 Kindern. Pro Jahr werden in Deutschland rund 63.000 Kinder vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren. Vor der 30. Schwangerschaftswoche geborene Kinder gelten als „frühe Frühgeborene“. Sie wiegen meist unter 1.500 Gramm. Etwa 8.000 bis 10.000 Babys erblicken jährlich vor der 32. Schwangerschaftswoche das Licht der Welt. Die Grenze der Überlebensfähigkeit liegt heute etwa bei 23 vollendeten Schwangerschaftswochen. Je früher Babys geboren werden, desto größer ist das Risiko für Komplikationen: Immun- und Verdauungssystem funktionieren noch nicht ausreichend. Die Lunge ist unreif - ohne Beatmung oder zusätzlichen Sauerstoff könnten viele von ihnen nicht überleben. Wichtig für die Überlebenschancen von Frühgeborenen - und auch anderen Neugeborenen, die sofort nach der Geburt medizinische Hilfe benötigen - ist die sofortige Versorgung durch spezialisierte Kinderärzte. Die so genannten Neonatologen betreuen Frühgeborene aber auch kranke Neugeborene. Eine räumliche Nähe von Entbindungsstationen und Neonatologie-Stationen verbessert die Chancen der Kinder. Ursachen und Risikofaktoren für eine Frühgeburt Bei den Ursachen für eine Frühgeburt unterscheiden die Mediziner zwischen der spontanen Frühgeburt durch vorzeitige Wehen oder einen Blasensprung und der eingeleiteten Frühgeburt, wenn es Mutter oder Kind schlecht geht. Erkrankungen bzw. Kriterien seitens der Mutter • Früh- und Fehlgeburten in der Vorgeschichte • Infektionen: vaginal aufsteigend, Harnwegsinfekte, chronische Zahn(fleisch-) entzündungen • körperliche und psychische Überforderung, psychosomatische Störungen 1 • • • • • ungünstige soziale und wirtschaftliche Bedingungen schwere Erkrankung der Mutter, beispielsweise ein HELLP-Syndrom, einer Art Abstoßungsreaktion zwischen Mutter und Kind Rauchen, Drogen- und Genussmittelmissbrauch hormonelle Störungen Kinderwunschbehandlung Faktoren im Bereich der Gebärmutter • veränderter Gebärmutterhals wie nach Konisation (operativer Eingriff, bei dem Gewebe entfernt wird, um eine mögliche Entwicklung von Gebärmutterhalskrebs zu verhindern) • veränderte Gebärmutter durch größere oder zahlreiche Myome • Blutungen, wenn die Plazenta ganz oder teilweise vor dem Muttermund liegt oder sich vorzeitig löst • zu viel Fruchtwasser • zwei oder mehr Schwangerschaftsabbrüche Faktoren seitens des Kindes • schwere Mangelversorgung des Kindes • kindliche Fehlbildung oder schwerwiegende Erkrankung des Kindes • fetaler „Stress“ durch unzureichende Sauerstoffversorgung des Kindes • Mehrlingsschwangerschaft Modifiziert nach: http://www.saling-institut.de/ Wie lassen sich Frühgeburten verhindern? Gewisse Faktoren, die zu Frühgeburten führen können, lassen sich von den Schwangeren beeinflussen – durch eine gesunde Lebensweise, wie z.B. Verzicht auf Nikotin und Alkohol und regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen. Vier von zehn Frühgeburten werden durch eine Infektion der werdenden Mutter ausgelöst. Besonders häufig sind Blasenentzündungen. Sie müssen deshalb bei Schwangeren grundsätzlich behandelt werden, auch wenn sie noch keine Beschwerden bereiten. Deshalb kontrolliert der Frauenarzt bei allen zehn gesetzlich vorgesehenen Schwangerschaftsuntersuchungen den Urin auf Anzeichen einer Infektion. Handschuh zur Prävention von Scheideninfektionen Eine weitere Quelle: Scheideninfektionen. Um sie rechtzeitig zu erkennen, bzw. im Vorfeld zu verhindern, hat man am Erich-Saling-Institut in Berlin-Neukölln einen Testhandschuh entwickelt, mit dem Schwangere den pH-Wert ihrer Scheide selbst überprüfen können. Der wiederum ist ein wichtiger Indikator für eine drohende Infektion. Eine groß angelegte Studie im Land Thüringen konnte belegen, dass sich durch die Selbstuntersuchung die Rate der Früh- und Fehlgeburten deutlich senken ließ. Verfärbt sich der Teststreifen gelb, ist alles in Ordnung. Die Scheide hat ein ausreichend saures Milieu – und bietet damit besten Schutz gegen einfallende Bakterien. Verfärbt 2 sich der Teststreifen grün, sollte die Schwangere schnell zum Frauenarzt gehen. Eine Scheideninfektion droht. Der Frauenarzt entscheidet, ob und welche Medikamente nötig sind, um das Ungeborene vor aufsteigenden Keimen zu schützen. Schwangere sollten den pH-Wert in der Scheide am besten zwei Mal in der Woche testen. Die Testhandschuhe müssen selbst bezahlt werden. Es gibt sie für einen Euro pro Stück in Packungen zu 50 und 20 in jeder Apotheke oder direkt beim Saling-Institut. Übergewicht und Diabetes Neben Infektionen spielt auch Übergewicht eine wesentliche Rolle: So bringen übergewichtige Frauen einer Vielzahl von Studien zufolge ihre Kinder häufiger frühzeitig zur Welt. Mit steigendem Körpergewicht steigt auch das Risiko für einen Schwangerschaftsdiabetes, also eine „Zuckererkrankung“ in der Schwangerschaft. Der wird bei fast vier Prozent aller werdenden Mütter in Deutschland diagnostiziert. Der Schwangerschaftsdiabetes erhöht ebenfalls das Risiko für eine Frühgeburt. Auch in der Folge des Diabetes auftretender Bluthochdruck und Harnwegsinfekte sind wiederum auch Risikofaktoren für eine Frühgeburt. Versorgungssituation Frühgeborener in Deutschland In Deutschland kommen etwa 9% aller Neugeborenen (ca. 63.000 Kinder) mehr als 3 Wochen zu früh auf die Welt. Portugal oder Schweden, die Frühchen nur noch in spezialisierten Kliniken behandeln, gehören zu den Ländern mit der niedrigsten Frühgeborenen-Rate. Auch hier in Deutschland gibt es für die Kleinsten spezielle Stationen, auf denen sich Ärzte und Schwestern mit allen Möglichkeiten der modernen Medizin um die Neugeborenen kümmern: In hoch qualifizierten, so genannten Level-1-Zentren arbeiten Neonatologen und ärztliche Geburtshelfern Wand-an-Wand: Entbindungsstation, Operationssaal und Neugeborenen-Intensivstation mit mindestens sechs Plätzen sind räumlich eng miteinander verbunden. Sie verfügen unter anderem über ständige Arztbereitschaft und einen Neugeborenen-Notarzt. Besondere Risikoschwangerschaften, zum Beispiel Mehrlingsschwangerschaften ab 3 Kinder sollten nur in Level-1-Zentren entbinden. Level-2-Zentren müssen bei sonst ähnlichen Kriterien vier Intensivpflegeplätze für Neugeborene vorhalten. Sie sollen einfache Risikogeburten, etwa Zwillinge oder Schwangerschaftsvergiftungen versorgen. In den Level 1 Perinatalzentren bemühen sich Ärzte und Schwestern rund um die Uhr um die allerkleinsten Patienten. Der Gesetzgeber hat im Jahr 2010 versucht, spezielle Vorgaben für diese Einrichtungen zu machen: Sehr kleine Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von unter 1.250 Gramm sollen nur noch in Zentren betreut werden, die mindestens 30 dieser kleinen Babys pro Jahr behandeln – statt wie bisher 14. Dieser Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) wurde durch ein Verwaltungsgericht jedoch gekippt. Als Maßnahme zur Qualitätsverbesserung wurde aber jüngst der Pflegeschlüssel neu definiert, so dass die kleinsten Frühgeborenen in jeder Schicht von nur einer Pflegekraft betreut werden. Und den Geburtsmedizinern gelingt es immer besser Frühgeburten zu vermeiden, insbesondere bei Einlingen. Weil es aber mehr Mehrlingsschwangerschaften gibt, bleibt die Zahl der Frühchen derzeit konstant. Ein hohes Maß an Erfahrung in der Geburtsmedizin und der Neonatologie bleiben für die Prognose besonders unreifer Frühgeborener mit einer Schwangerschaftsdauer von unter 29 Wochen entscheidend. 3 In Berlin haben mehrere Kinderkliniken spezialisierte Frühchenstationen. Die drei größten befinden sich in der Charité an den Standorten Mitte und Wedding und im Vivantes Klinikum in Neukölln. Auch in Brandenburg können vier Zentren die gesetzlichen Vorgaben für die Behandlung von Extremfrühchen erfüllen: Das Klinikum in Frankfurt (Oder), das Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus, das Ernst von Bergmann Klinikum in Potsdam und das Klinikum Brandenburg, Havel. Kangarooing „Kangarooing“ gehört zum Alltag auf Frühchenstationen. Dafür werden die Kleinsten auf Brust oder Bauch ihrer Eltern gelegt, um Haut an Haut die Wärme und deren Herzschlag zu spüren. Der direkte Hautkontakt ist wichtig für die Entwicklung der Allerkleinsten. Früher hätte man es gar nicht für möglich gehalten, dass das der Gesundheitszustand der Kinder erlaubt. Doch mittlerweile hat sich gezeigt, dass das Kangorooing die Kinder sogar stabilisiert. Die sanfte Bewegung des Brustkorbs der Eltern bewegt die Kinder mit und wirkt so wie eine natürliche Physiotherapie. Und das kann beispielsweise auch die Lungenfunktion verbessern. Für die Kinder ist es zudem vielleicht sogar überlebenswichtig, dass sie den unmittelbaren körperlichen Kontakt regelmäßig haben. Genau wie für die Eltern auch: Ihnen fällt es dadurch leichter, eine Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen. Gefährdung von Frühgeborenen durch Krankenhauskeime Das Immunsystem sehr kleiner Frühgeborener ist noch nicht in der Lage, Keime effektiv zu bekämpfen. Frühgeborene sind deshalb bei (Krankenhaus)-Infektionen besonders gefährdet. Da jeder erwachsene Mensch Träger von Millionen Keimen ist, lässt sich für die Frühgeborenen die Infektionsgefahr niemals völlig ausschließen, zumal bei diesen kleinen Kindern die natürlichen Barrieren wie Haut und Schleimhaut noch nicht ausgereift sind und Katheter, Beatmungsschläuche usw. Eintrittspforten für Keime sein können. Eine Besiedlung mit Keimen bedeutet, dass sich Bakterien auf der Schleimhaut oder Haut befinden und sich vermehren, ohne dass sie eine Erkrankung verursachen. Die Betroffenen nennt man auch Keim-Träger. Bei einer Infektion durchbrechen die Keime die Haut- oder Schleimhaut-Barriere und können das Neugeborene krank machen. Deshalb wird auf den Stationen sehr auf Hygiene geachtet. Das Hände waschen und desinfizieren gehört zum Standard. Vermindert wird das Infektionsrisiko beispielsweise auch dadurch, dass für jedes Frühchen ein eigenes Stethoskop am Bettchen bereitgehalten wird. Und auch dadurch, dass jede Pflegekraft nur wenige Babies gleichzeitig versorgt. Wie geht es den frühgeborenen Kindern im späteren Leben? Ob sich ein früh geborenes Kind gesund entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab: Ist seine Lunge reif genug? Treten Komplikationen wie Atemnot, Hirnblutungen oder lebensgefährliche Infektionen auf? Je unreifer ein Kind bei der Geburt ist, desto höher ist auch das Risiko für eine behandlungsbedürftige Entwicklungsstörung. Lediglich ein Drittel aller Frühgeborenen ist völlig gesund und weist keinerlei Spätschäden auf. Ein weiteres Drittel der Kinder benötigt intensive Betreuung und Unterstützung sowie vielfältige Therapien, um eingeschult werden zu können. Das letzte Drittel hat schwere 4 neurologische und körperliche Behinderungen für den Rest des Lebens. Die Gründe dafür: Die Kinder kommen mit Organen auf die Welt, die nicht ausgereift sind. Dadurch funktionieren sie einerseits noch nicht, andererseits sind sie für weitere Schädigungen besonders anfällig. Vor allem Lunge, Magen-Darm und Herz machen bei Frühgeborenen Probleme: So sind Asthma, Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln oder Entzündungen im Darm typische Langzeitfolgen einer Frühgeburt. Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) In Sozialpädiatrischen Zentren helfen Therapeuten den Frühgeborenen, Entwicklungsrückstände aufzuholen. Dafür arbeiten verschiedene Fachbereiche intensiv zusammen. Die Mediziner kennen viele Kinder von Geburt an und können am besten beurteilen, wie gut sich die Kleinen entwickeln. Auch weitere Diagnostik und Versorgung ist im SPZ Alltag: Logopädie, Ergotherapie und Heilpädagogik sind ebenso selbstverständlich wie der Blick auf die psychische Entwicklung des Kindes. Die Behandlung im SPZ ist für Kassenpatienten kostenlos – lediglich eine Überweisung vom behandelnden Kinderarzt ist nötig. Die Familien werden in die Behandlung immer mit einbezogen und betroffene Kinder werden über die gesamte Kindheit bis ins Jugendalter, gegebenenfalls bis zum 18. Lebensjahr betreut. Kontaktadressen: Charité - Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Klinik für Neonatologie Augustenburger Platz 1 13353 Berlin http://neonatologie.charite.de/ Deutsches Herzzentrum Berlin Augustenburger Platz 1 D-13353 Berlin Tel: 030 4593 1000 Fax: 030 4593 1003 https://www.dhzb.de Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. Speyerer Straße 5-7 60327 Frankfurt am Main Tel.: 069 - 58 700 990, Fax: 069 - 58 700 999 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.fruehgeborene.info Erich Saling-Institut für Perinatale Medizin e.V. (am Vivantes Klinikum Berlin-Neukölln, Haus 16) Rudower Str. 48, 12351 Berlin Tel.: 030 - 13014 - 8335 E-Mail: [email protected] Internet: www.saling-institut.de 5 Bestellung der Handschuhe für Selbstuntersuchung: http://www.saling-institut.de/german/06contact/03sva-teilnahme.php Traglinge e.V. c/o Evangelisches Krankenhaus Spandau, Haus 13, Stadtrandstr. 555 – 561, 13589 Berlin eMail: [email protected] Internet: www.traglinge-ev.de Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin eV. (DGSPJ) Chausseestraße 128/129 10115 Berlin Deutschland [email protected] http://www.dgspj.de/ Links: Ärztliche Leitlinie zur „Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes“ http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/024-019.html Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPN): http://www.dgpm-online.org/ http://www.dgpm-online.org/termin-detail/id-27-deutscher-kongress-fuer-perinatalemedizin.html Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI): Internet: http://www.gnpi.de Bücher, Broschüren und andere Produkte für Frühgeborene: http://shop.fruehgeborene.de Text Constanze Löffler, Susanne Faß 6