Seite 8 Mai 2005 PROPRAXIS PÄDIATRIE MEDIZIN Das Frühgeborene Eine Herausforderung für die kinderärztliche Praxis Frühgeborene Kinder stellen die zahlenmäßig größte Gruppe der sogenannten Risikokinder dar. 50.000 von ca. 800.000 jährlich in Deutschland geborenen Kinder sind Frühgeborene. Rund 8.000 dieser Kinder sind sehr kleine Frühgeborene unter 30 SSW, und ca. 1.000 sind extrem kleine Frühgeborene von 24 und 25 SSW. Neu- und besonders Frühgeborene haben aufgrund der partiellen Unreife ihres Immunsystems eine erhöhte Infektanfälligkeit und Probleme bei der Infektüberwindung. D ie Fortschritte in der neonatalen Intensivtherapie Aber nicht nur Bakterien stellen eine Gefahr für Frühge- haben es ermöglicht, die Sterblichkeit der Früh- borene dar, sondern auch Viren, wie Rota-, Adeno- und geborenen mit einem sehr kleinen Geburtsge- Enteroviren sowie RS-Viren. Die Übertragung findet meist wicht erheblich zu senken, aber gerade diese Frühgebo- durch Krankenhauspersonal während des stationären renen haben ein sehr hohes Risiko, an Infektionen zu er- Aufenthaltes oder zu Hause durch ältere Geschwister kranken. 65 % dieser Kinder haben in der Zeit unmittel- oder Familienmitglieder statt. bar nach der Geburt mindestens eine Infektion mit zum Was den Zeitpunkt der Entlassung angeht, sind sai- Teil schwerwiegenden Folgen. Betroffene Kinder leiden sonale und epidemiologische Schwankungen von Infektionen zu beachten. Gastrointestinale Infekte treten mit jahreszeitlichen Schwankungen sowohl im Krankenhaus als auch zu Hause auf. Infektionen der oberen und unteren Atemwege, beispielsweise mit RS-Viren, sind in den Herbstund Wintermonaten deutlich häufiger, ebenso die Influenza- und Pneumokokkeninfektionen. Therapeutisch wird empfohlen, beim Auftreten von Infektionen in den ersten Lebenswochen frühzeitig einzugreifen, um Schädigungen des Gehirns zu vermeiden. Eine Stabilisierung des Blutdrucks, die Sicherung einer ausreichenden Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff und die medikamentöse Unterdrückung von Entzündungsreaktionen sind notwendig. Langfristig müssten jedoch Wege gefunden wer- später sehr viel häufiger unter Entwicklungsstörungen. den, die hohen Infektionsraten bei extrem Frühgebore- Auch Infektionen, die nicht speziell das Nervensystem be- nen zu senken. treffen, können zu neurologischen Störungen führen. Gegen con-, prä-, intra- oder postnatale Infektionen In der Regel handelt es sich bei postnatalen Infektio- sowie gegen die Entstehung einer nosokomialen Infek- nen vor allem um nosokomiale Erreger. Besonders häu- tion können wir als niedergelassene Kinderärzte unsere fig sind grampositive Kokken wie Staphylococcus hae- Kleinsten nicht schützen. Wir sind für sie verantwortlich molyticus, Staphylococcus epidermidis sowie Pneumo- von dem Moment an, wo sie unsere Praxis betreten kokken und gramnegative Keime wie E. coli, Pseudomo- haben. Hier gilt es, jedem ehemaligen Frühgeborenen nas aeroginosa, Enterobacter, Serratien und Klebsiellen. den optimalen Präventionsschutz zu bieten und die El- Seite MEDIZIN 9 PROPRAXIS PÄDIATRIE tern umfassend zu informieren. Neben der Beratung der Heiserkeit“ ab. Jedes Kind bis zum Alter von 2 Jahren in- Eltern zur Frühgeborenenernährung und medikamentö- fiziert sich mindestens einmal, bis zum vollendeten 7. Le- sen Prophylaxe (z. B. Eisensubstitution und die erhöhte bensjahr sogar 2- bis 4-mal mit dem RS-Virus. Es ist eine Vitamin D-Verabreichung), nimmt die Prävention von In- deutliche saisonale Häufung in den Herbst-/Wintermo- fektionen besonders in den ersten Lebensmonaten einen naten feststellbar. zunehmenden Stellenwert bei der Betreuung ehemaliger Frühgeborener in der pädiatrischen Praxis ein. Je jünger die Kinder, je kleiner und unreifer die Frühgeborenen sind, umso distaler findet die Infektion statt. Wir haben also keine Infektion der oberen Atemwege „Was wir heute tun, entscheidet, wie die Welt morgen aussieht.“ Boris Pasternak (1890-1960) mehr, sondern der unteren Atemwege, wir finden keine unproblematischen Rhinitiden oder Pharyngitiden, sondern schwere Bronchitiden, Bronchiolitiden oder Broncho-Pneumonien. Das stellt eine ernstzunehmende Gefahr mit nicht zu unterschätzendem Gesundheitsrisiko Prävention beginnt bereits im Wartezimmer der Kin- für die allerkleinsten und besonders die einst beatmeten derarztpraxis. Die Kleinsten, besonders ehemalige Früh- Frühgeborenen oder für diejenigen dar, die an einer geborene, sollten nicht im vollen Wartezimmer warten bronchopulmonalen Dysplasie als Folge ihrer Frühge- müssen; auf gründliches Händewaschen beim Umgang burtlichkeit erkrankt sind. Es kommt zu Rehospitalisie- mit dem Kind ist zu achten, ebenso sind die Eltern über rungen, Aufnahmen auf der Intensivstation und erneu- die Rolle der Frischluft, die Vermeidung von Rauchen in ten maschinellen Beatmungen. der Umgebung des Kindes, die Rolle erkrankter Ge- Aber nicht nur die unmittelbaren Komplikationen schwister und Verwandter und die Vermeidung von einer RSV-Infektion unserer Kleinsten sind von Bedeu- Tröpfcheninfektionen aufmerksam zu machen. Diese prophylaktischen Maßnahmen ersparen aber keineswegs eine professionelle Prävention. Von der Deutschen Impfkommission (STIKO) wird die Impfung eines Neugeborenen nach dem 60. Lebenstag empfohlen; diese Empfehlung gilt auch für Frühgeborene. Empfohlen wird die Durchführung aller Impfungen des aktuell gültigen Impfplanes, der gerade für Frühgeborene mit möglicherweise herabgesetzter Immunabwehr von Bedeutung ist. Neben der bekannten und bewährten 6-fach Impfung ist besonders bei Frühgeborenen die Impfung gegen Pneumokokken (7-valenter Konjugatimpfstoff) hervorzuheben, da gerade Frühgeborene hier einer besonderen Gefahr ausgesetzt sind. Wie bei Säuglingen und Kleinkindern bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr ist ihr Immunsystem noch nicht in der Lage, eine Pneumokokken-Infektion ohne Hilfe abzuwehren. Pneumonien, Otitiden, Meningitiden oder gar Sepsiserkrankungen können dann die Folge sein. tung, immer mehr Studien beschäftigen sich mit der zu- Die Vorbeugung der RSV-Infektionen gewinnt seit der nehmenden Asthmainzidenz nach durchgemachter Zulassung des monoklonalen Antikörpers Palivizumab schwerer RSV-Infektion im frühesten Säuglingsalter. Noch durch die AAP 1998 in den USA weltweit eine zuneh- Jahre später ist die Rate bronchialer Obstruktionen er- mende Bedeutung. Auch in Deutschland gibt es inzwi- höht. PD Dr. Volker Stephan, Ruhruniversität Bochum, schen genaue Richtlinien für diese segensreiche Prophy- berichtete, dass in einer US-Studie über 1.000 Kinder bis laxe ehemaliger Frühgeborener unter der 35. SSW. zu 13 Jahre nachuntersucht worden sind, mit dem Er- Eine Infektion mit RS-Viren ist für Frühgeborene, Kin- gebnis, dass nach durchgemachter schwerer RSV-Infek- der mit chronischen Lungenerkrankungen und solche mit tion im Säuglingsalter noch mit sechs Jahren eine vier- angeborenen Herzfehlern mitunter lebensbedrohlich. Bei fach erhöhte Prävalenz rezidivierenden Giemens durch älteren Kindern und Erwachsenen läuft die Erkrankung eine Atemwegsobstruktion zu beobachten ist. Erst bei durch das RSV fast unbemerkt als „Husten, Schnupfen, 13-jährigen sei das Giemen nicht häufiger gewesen als Medizin Mai 2005 Seite 10 Mai 2005 PROPRAXIS PÄDIATRIE MEDIZIN bei Kindern ohne RSV-Infektion. Ein Grund mehr, die Prä- Die Störungen der kognitiven Entwicklung und des Ver- vention dieser Erkrankung indikationsbezogen noch lü- haltens können Ursache sein für Probleme in der Schule: ckenloser durchzuführen. In den Monaten zwischen Sep- Laut Daten der südbayerischen Entwicklungsstudie und tember und April ist das RS-Virus besonders aktiv, die einer holländischen Studie besuchen 20 % der kleinen Prophylaxe sollte also besonders in diesen Monaten bei Frühgeborenen später eine Sonderschule, 25 % besu- den ehemaligen Frühgeborenen erfolgen. chen nicht die altersgerechte Klasse und 15 % erhalten Sonderförderung in der Regelklasse. Wie ist die Langzeitprognose der Frühgeborenen? Dank verbesserter Primärversorgung und der daraus resultierenden verbesserten Lebenschancen schon für die Allerkleinsten und wegen veränderten Organisa- Durch die Fortschritte der modernen Geburtshilfe und tionsstrukturen in den Kliniken (Einführung der DRG’s), der Neugeborenen-Intensivmedizin haben sich die Über- wird es in der kinderärztlichen Praxis in Zukunft nicht lebensaussichten von extrem frühgeborenen Kindern dra- mehr allein auf die medizinische Versorgung kranker matisch verbessert. Das Entwicklungsrisiko ist für das ein- Kinder ankommen, sondern wir werden uns zunehmend zelne Frühgeborene sehr schwer vorherzusagen, da die um Kinder mit hohem Risiko kümmern. Kinder mit nicht Prognose von vielen Faktoren abhängt. Generell ist die kalkulierbarem sekundären Entwicklungsrisiko, Kinder Prognose um so besser, je reifer das Kind ist. Besonders mit Langzeitpflege und Beatmung, Kinder mit bleiben- gefährdet sind Frühgeborene, bei denen im Verlauf wei- den schweren Schädigungen werden ein fester Be- tere Komplikationen wie eine Hirnblutung, Hirnschädi- standteil unserer Arbeit werden. Diese neue Situation gungen, schwere Infektionen oder eine chronische Lun- setzt im Interesse der optimalen Versorgung von ge- generkrankung auftreten. Aber auch hier ist eine Vor- fährdeten Kindern und Jugendlichen eine interdiszipli- hersage äußerst schwierig, da Komplikationen von Kind näre Vernetzung der Versorgung voraus, koordiniert zu Kind unterschiedliche Auswirkungen haben können. durch uns Kinderärzte. ❍ In bisherigen Auswertungen zeigte sich, dass Kinder mit einem sehr niedrigen Geburtsgewicht (< 1.500 g) in allen Funktionsbereichen ein signifikant erhöhtes Risiko für Entwicklungsstörungen auf motorischer und kognitiver Entwicklungsebene aufweisen. Die Hypothese einer erhöhten Vulnerabilität frühgeborener Kinder für psychische Störungen konnte nicht bestätigt werden. Fallgestaltungen nach „Therapiehinweis nach Ziffer 14, Arzneimittel-Richtlinien“ zu Palivizumab Kinder mit chronischer Frühgeborene ohne chronische Lungenerkrankung (CLD) Lungenerkrankung (CLD) als Folge einer BPD Bis zum Alter von 2 Jahren: – 6 Monate vor Beginn der Saison nach CLD-Behandlung – bei schweren Formen auch im zweiten Jahr Vor Vollendung der 28. SSW geboren: Vor Vollendung der 29. bis 32. SSW geboren: Vor Vollendung der 32. bis 35. SSW geboren: • noch keine 12 Monate alt bei Beginn der RSV-Saison • noch keine 12 Monate alt bei Beginn der RSV-Saison • noch keine 6 Monate alt vor Beginn der RSV-Saison nur nach individueller Abwägung weiterer Risikofaktoren, die für schwere pulmonale Erkrankung disponieren Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie: Die DGPK empfiehlt die RSV-Prophylaxe mit Palivizumab bei: Säuglingen und Kleinkindern (unter 2 Jahren) mit hämodynamisch bedeutsamem Vitium. Darin eingeschlossen sind: 1 2 3 4 Relevante Links-Rechts-Shunt-Vitien Relevante Rechts-Links-Shunt-Vitien Patienten mit pulmonaler Hypertonie Patienten mit pulmonalvenöser Stauung Birgit Augustin, Kinderärztin in Mahlow