Ute Frevert (Hg.) Bürgerinnen und Bürger Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 77 Bürgerinnen und Bürger Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert Zwölf Beiträge Mit einem Vorwort von Jürgen Kocka Herausgegeben von Ute Frevert Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bürgerinnen und Bürger: Geschlechterverhältnisse im 19. J h . ; 12 Beirr. / mit e. Vorw. von Jürgen Kocka. Hrsg. von Ute Frevert. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 77) ISBN 3-525-35739-7 NE: Frevert, Ute [Hrsg.]; GT © 1988, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 4 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 Inhalt Vorwort (Jürgen Kocka) 7 UTE FREVERT Einleitung 11 UTE FREVERT Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert 17 ISABEL V. HULL ›Sexualität‹ und bürgerliche Gesellschaft 49 DIRK BLASIUS Bürgerliche Rechtsgleichheit und die Ungleichheit der Geschlechter. Das Scheidungsrecht im historischen Vergleich 67 KARIN HAUSEN » . . . eine Ulme für das schwanke Efeu«. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert 85 YVONNE SCHÜTZE Mutterliebe - Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts 118 HUGH MCLEOD Weibliche Frömmigkeit - männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert 134 MARION KAPLAN Freizeit-Arbeit. Geschlechterräume im deutsch-jüdischen Bürgertum 1870-1914 157 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 ERIC J . HOBSBAWM Kultur und Geschlecht im europäischen Bürgertum 1870-1914 . . . . 175 HERRAD U. BUSSEMER Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum 1860-1880 190 JÜRGEN KOCKA Einige Ergebnisse 206 UTE GERHARD Andere Ergebnisse 210 Die Autorinnen und Autoren 215 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 Vorwort Vom Oktober 1986 bis zum August 1987 bestand im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld eine Forschungsgruppe zum Thema »Bürgertum, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Das 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich«. Etwa 40 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern nahmen daran teil. Zu den Zielen gehörte es (a) das Bürgertum als gesellschaftliche Großgruppe (›Formation‹) des 19. Jahrhunderts näher zu untersuchen, (b) nach der Bedeutung, dem Realisierungsgrad und den Grenzen der Bürgerlichkeit verschiedener sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Bereiche (Literatur, Unternehmerverhalten, Liberalismus, Behandlung von Minderheiten etc.) zu fragen sowie (c) die deutsche Entwicklung im internationalen Vergleich zu erforschen, um herauszufinden, ob es in bezug auf das Bürgertum und die Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts so etwas wie einen deutschen ›Sonderweg‹ gab, inwiefern, warum und inwieweit nicht. Die Ergebnisse dieser Forschungsgruppe werden gesondert veröffentlicht (J. Kocka [Hg.], Das Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988). Im Rahmen dieses Projektes fanden mehrere Konferenzen statt, an denen auch Wissenschaftler teilnahmen, die nicht zur Forschungsgruppe gehörten. Nach einer Vorbereitungskonferenz, deren Ergebnisse bereits veröffentlicht wurden (J. Kocka [Hg.], Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987) und einer Auftaktveranstaltung Anfang Oktober 1986 wurden Konferenzen zu folgenden Themen abgehalten: Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert (Leitung: Ute Frevert); Bürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich (Leitung: Dieter Langewiesche); das Bürgertum in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert (Leitung: Waclaw Dlugoborski); Professionalisierung und Bürgertum (Leitung: Hannes Siegrist). Die Ergebnisse dieser Konferenzen sollen in vier Bänden der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« veröffentlicht werden. Im folgenden finden sich die überarbeiteten Beiträge zur Konferenz über »Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert« (22.-24.1. 1987), die von Ute Frevert, Bielefeld, vorbereitet und geleitet wurde. Die Thematik wäre vermutlich noch vor zehn Jahren nicht zum Gegenstand einer Konferenz gemacht worden. Daß dies möglich geworden ist, dafür können frauen- und geschlechtergeschichtliche Initiati- 7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 ven der letzten Jahre das Verdienst beanspruchen. Es ist unschwer zu erkennen, daß die Thematik von zentraler Bedeutung für die Fragen nach Bürgertum und Bürgerlichkeit ist, zumindest in dreifacher Weise: 1. erlaubt sie, die Frage nach den inneren Differenzierungen, Spannungen und Verflechtungen der sozialen Großgruppe »Bürgertum« genauer zu stellen. In der Regel untersucht man die Lage-, Interessen-, Erfahrungs- und Haltungsunterschiede von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, von Groß- und Kleinbürgertum, von verschiedenen bürgerlichen Berufs- und Herkunftsgruppen, wenn es darum geht, die inneren Differenzierungen des Bürgertums zu erfassen. Neben der konfessionellen Differenzierung wird die nach Geschlecht in der Regel vernachlässigt. 2. Man weiß aus der Arbeitergeschichte, daß Männer und Frauen verschiedenartige Beiträge zur Klassenbildung geleistet haben, entsprechend ihren unterschiedlichen Positionen im System der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Zweifellos fand im 19. Jahrhundert so etwas wie die Konstituierung des Bürgertums statt: die Herausbildung einer sozialen Großgruppe »Bürgertum« mit gemeinsamem Nenner und abgrenzender Besonderheit, mit gemeinsamen Interessen und Erfahrungen, Binnenverflechtung und Außenabgrenzung, Gemeinsamkeitsbewußtsein und kollektiven Handlungspotentialen, obwohl die Grenzen dieses Konstituierungsprozesses immer sehr deutlich blieben, denn das Bürgertum war innerlich äußerst heterogen, nach außen verfließend, empirisch und begrifflich schwer zu fassen. Dies war ein zentrales Thema der einjährigen Forschungsgruppe. Welches waren die spezifischen Beiträge von Bürgerinnen zu diesem Konstituierungsprozeß? Als Mütter, Erzieherinnen und Verwalter des tradierbaren »kulturellen Kapitals«? Als Ehe- und Hausfrauen, die den Männern außerhäusliche Tätigkeiten allererst ermöglichten? Als Organisatoren und Gestalter von nicht in Arbeit und Politik aufgehenden, für soziale Konstituierungsprozesse gleichwohl zentral wichtigen Tätigkeiten und Räumen (ζ. Β. »Frei­ zeit«, »Kultur«)? Durch Teilhabe an Kommunikationsnetzen, die zur sozia­ len Konstituierung von Großgruppen gehören? 3. »Der gesellschaftliche Fortschritt läßt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Häßlichen eingeschlossen)«, schrieb Marx an Kugelmann am 12. 12. 1868. Dieser Gedanke läßt sich auf bürgerliche Gesellschaft und Bürgerlichkeit beziehen und in doppelter Weise konkretisieren: Knüpft man - einerseits - an den freiheitlichen und egalitären Elementen des Projekts »Bürgerliche Gesellschaft« an, dann läßt sich der erreichte Grad von Bürgerlichkeit gegebener Gesellschaften auch daran messen, welche - mehr oder weniger gleichen - Selbstverwirklichungschancen sie den Individuen ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Rasse und ihres Geschlechtes einräumen. Das Maß der Durchsetzung der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft läßt sich dann u. a. am Grad der Emanzipation und Gleichstellung der Frauen in einer Gesellschaft ablesen. Und andererseits läßt sich argumentieren, daß fundamentale soziale Ungleichhei- 8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 ten zu den Funktionsvoraussetzungen jeder bürgerlichen Gesellschaft gehören - stillschweigend, entgegen ihren Ansprüchen oder mühsam legitimiert. Viel spricht dafür, daß neben den sozialen Klassenunterschieden zwischen Produktionsmittelbesitzern und Lohnarbeitern die Geschlechterdifferenz zu diesem konstitutiven Ungleichheitssockel bürgerlicher Gesellschaften gehört. Es ist ja im Rückblick nicht zu übersehen, wie selbstverständlich Frauen die Staatsbürgereigenschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein vorenthalten wurde. Wer das Privatrecht mit Dieter Grimm als zentrale Säule bürgerlicher Gesellschaften versteht, muß beeindruckt sein von der sich auch noch verschärfenden Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in verschiedenen Privatrechtsbereichen. Ute Gerhard hat dies früh herausgearbeitet. Zwar wurde die soziale Diskriminierung der Frauen früher allmählich reduziert als ihre öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Unterberechtigung, aber dafür hielt sie sich länger, teilweise bis heute. War und ist diese geschlechtsspezifische Ungleichheit vielleicht konstitutiv für bürgerliche Gesellschaften? Dies war ein kontroverser Diskussionspunkt während der hier dokumentierten Konferenz und während der Arbeit der Forschungsgruppe insgesamt. Von der Antwort hängt viel für die Beurteilung des Projekts »Bürgerliche Gesellschaft« ab. Die folgenden Beiträge liefern Bausteine für diese Antwort, die umfassend nur gegeben werden könnte, wenn intensiv mit vorbürgerlichen Zeiten verglichen und die Untersuchung bis in die Gegenwart hinein fortgeführt würde. Unbestreitbar aber ist: Ob man nun dazu tendiert, die fortdauernde Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im 19. Jahrhundert als notwendigen Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen oder ob man eher meint, diese Ungleichheit als einen Widerspruch zu den Grundprinzipien bürgerlicher Gesellschaften zu sehen, der sich zwar lange hielt, aber dennoch als Konsequenz dieser Grundprinzipien allmählich zu weichen hat - die geschlechtergeschichtliche Perspektive und damit die hier zu dokumentierende Konferenz erhalten dadurch zentrale Bedeutung für die Frage nach dem Bürgertum und der Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts. Auch für den Vergleich Deuschlands mit anderen Ländern mag dadurch Neues zu gewinnen sein. Wie die Forschungsgruppe insgesamt wurde auch diese Konferenz vom Bielefelder Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) ermöglicht und beherbergt. Dafür gebührt ihm Dank. Jürgen Kocka 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 U T E FREVERT Einleitung Das 19. Jahrhundert ist schon von seinen Zeitgenossen oft das »bürgerliche« genannt worden, und spätere Geschichtsschreiber haben diese Bezeichnung übernommen. Das Bürgertum, heißt es, habe diesem Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt und eine Machtstellung errungen, die es ihm erlaubte, (fast) die ganze Gesellschaft nach seinen Ideen und Interessen umzugestalten. Bürgerliche Prinzipien wie Rechtsgleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Öffentlichkeit, Marktfreiheit oder individuelle Autonomie hätten sich ebenso wie bürgerliche Verkehrs- und Lebensformen mehr und mehr durchgesetzt und selbst in anderen sozialen Schichten Aufnahme und Anerkennung gefunden. Die innovativen Leistungen des Bürgertums beschränkten sich aber nicht auf die Bereiche politischer Öffentlichkeit, wirtschaftlicher Betriebsführung und Kultur. Zum bürgerlichen Habitus gehörten auch ein besonderer Umgang mit emotionalen und sexuellen Energien, eine neuartige Prägung männlich-weiblicher Rollen und eine ›moderne‹ Definition geschlechtsspezifischer Wirkungssphären. Wie wichtig die Bürger des 19. Jahrhunderts die »Geschlechtsverhältnisse« nahmen und welchen Stellenwert sie ihnen im Rahmen bürgerlicher Gesellschaftskonstruktionen zuwiesen, läßt sich paradigmatisch an einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1847 ablesen.1 Sein Autor, der liberale Professor, Publizist und Politiker Carl Welcker, verkündete als erstes, er werde sich jetzt mit einem Thema beschäftigen, das alles andere als marginal, nachrangig oder gar anekdotisch sei. »Das allgemeinste und wichtigste Verhältnis der menschlichen Gesellschaft«, hieß es da, »ist unstreitig das Verhältnis der beiden Geschlechter«. Es sei ein »Grundverhältnis«, von dessen »gerechter« und »weiser« Ordnung die gedeihliche Entwicklung der Gesellschaft insgesamt abhänge. Die Frage jedoch, wie dieses Verhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft, die sich vom »Despotismus« traditioneller Männergesellschaften verabschiedet habe, konkret beschaffen sei, galt Welcker als die »schwierigste für eine juristische und politische Theorie«. Eine einfache Antwort, etwa im Sinne männlich-weiblicher Gleichheit oder Gleichberechtigung, konnte es nicht geben. Als gewissenhafter Theoretiker verhehlte der Autor zwar nicht, daß dies mit der Programmatik des bürgerlichen Gesellschaftsmodells am besten harmonieren würde. Wenn im Namen der Menschenrechte gegen eine ständische, auf Geburt und Herkommen beruhende Gesellschaftsstruk- 11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 tur gestritten wurde und die formale Gleichheit des Rechts zu den Grundprinzipien der neuen Ordnung gehörte, müßte legitimerweise auch die Rechtsungleichheit von Frauen und Männern beseitigt werden. Daß diese Schlußfolgerung im politischen Diskurs seiner Zeit durchaus, wenn auch nicht gerade häufig, gezogen wurde, war Welcker offensichtlich bekannt, ohne ihn doch überzeugen zu können. Vielmehr beharrte er - stellvertretend für das breite bürgerlich-männliche Publikum - darauf, daß »wir die volle Gleichheit der Rechte nicht zugestehen könnten«. U m diese Verweigerung zu rechtfertigen, berief sich Welcker auf die Natur, die die Geschlechter »polarisch entgegengesetzt« geschaffen habe. Aus dem Fortpflanzungszweck, genauer aus der Anatomie des Geschlechtsakts seien alle körperlichen und geistig-moralischen Verschiedenheiten von Frauen und Männern abzuleiten: »Die ganze physische Natur . . . bezeichnet den stärkeren, kühneren, freieren Mann als schaffenden Gründer, Lenker, Ernährer und Schützer der Familie und treibt ihn hinaus ins äußere Leben zum äußeren Wirken und Schaffen, in den Rechts- und Waffenkampf, zu schöpferischen neuen Erzeugungen, zur Erwerbung und Verteidigung. Sie bezeichnete die schwächere, abhängige, schüchternere Frau zum Schützling des Mannes, wies sie an auf das stillere Haus, auf das Tragen, Gebären, Ernähren und Warten, auf die leibliche und humane Entwicklung und Ausbildung der Kinder, auf die häusliche Bewirtung und Pflege des Mannes und der häuslichen Familie, auf Erhaltung des vom Manne Erworbenen, auf die Führung des Haushalts, auf die Bewahrung der heiligen Flammen des häuslichen Herdes.« Dieses Bild beanspruchte überzeitliche, universale Geltung und sah geflissentlich darüber hinweg, daß eine solche, angeblich natürliche Aufgabenteilung in dieser Form in der historischen Empirie nur selten anzutreffen war. Weder konnte es sich eine Bäuerin, Spinnerin oder Handwerkersfrau während einer Schwangerschaft leisten, im »stillen Haus« ihr Kind auszutragen und sich nach der Geburt ganz auf seine Pflege zu konzentrieren, noch stimmte die Gleichsetzung von Mann/Erwerber und Frau/Erhalterin mit der ökonomischen Wirklichkeit in breiten ländlichen und städtischen Bevölkerungsschichten überein. Welcker selber scheint seinen der Natur entlehnten Argumenten nicht immer getraut zu haben, wenn er es für nötig hielt, der natürlichen Schöpfungslogik mit der Idee des allgemeinen Nutzens zu Hilfe zu eilen. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die Familie, in der, fernab vom konkurrenzbetonten Erwerbsleben, »edle Menschlichkeit« gepflegt werde. Zugleich baue aber auch das »bürgerliche Gemeinwesen« auf den in der Familie erlernten »geselligen Tugenden«, der »wohlwollenden Teilnahme«, der »geordnet in einander greifenden, wohlverteilten Arbeit«, auf »fester Treue« und »freudig und mutig aufopferndem Gemeingeist« auf. Als »Pflanzschule« der bürgerlichen Gesellschaft sei die Familie unersetzlich, und ihre Zerstörung käme dem Verfall des »freien, würdigen Staatswesens« gleich. Zerstört aber würde die Familie unweigerlich dann, wenn die natur- 12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 gewollte Arbeitsteilung der Geschlechter aufgehoben und Frauen in Familie und Staat die gleichen Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten zugestanden bekämen wie Männer. Eine solche, von »Ultrademokraten«, »weiblichen Amazoninnen« und »Blaustrümpfen« geforderte Gleichstellung sei identisch mit dem »Umsturz unserer bisherigen Gesellschaftsordnung« und daher auf das schärfste zurückzuweisen. Welcker war nun zwar davon überzeugt, daß die meisten Frauen eine solche Rechtsgleichheit nicht wünschten. Schließlich brächte es den »schwächeren« Frauen nur Nachteile, »mit den stärkeren Männern in naturwidrige und unweibliche Kämpfe sich einzulassen«. Trotzdem hielt er es für notwendig, Frauen auch mit gesetzlichen Verboten von bestimmten, Männern reservierten Handlungssphären fernzuhalten. Oberster Maßstab war immer und überall die »Erhaltung ehelicher und Familienverhältnisse«. So durfte das Privatrecht rechtliche Gleichheit der Geschlechter nur insoweit konzedieren, als die Stellung des Mannes als Familienoberhaupt mit weitgehender Verfügungs- und Entscheidungsautorität gewahrt blieb. Dagegen sei es der Familie nicht unbedingt abträglich, wenn Frauen am öffentlichen Leben Anteil nähmen, im Parlament zuhörten, Petitions- und Pressefreiheit genössen und »Frauenvereine für erlaubte wohltätige öffentliche Zwecke« gründeten. Nur am politischen Willensbildungsprozeß selber dürften sie nicht partizipieren, auch keine öffentlichen Ämter bekleiden oder gar Kriegsdienste leisten. Der Status des Staatsbürgers blieb Männern vorbehalten. Daß Welcker in seinem Artikel bürgerliche »Geschlechtsverhältnisse« definierte, beschrieb und rechtfertigte, ist nicht schwer nachzuvollziehen. Bürgerlich waren sie in einem doppelten Sinn: zum einen als historischer Typus, der einer auf individueller Freiheit und Vertragsdenken beruhenden bürgerlichen Gesellschaftsformation angehörte. Auch wenn die Natur und ihr planvolles Arrangement der Geschlechtsunterschiede überzeitliche Geltung beanspruchten, kamen sie doch erst in der bürgerlichen Gesellschaft zu ihrem Recht. Umgekehrt profitierte nach Meinung des Autors erst diese Gesellschaft von sozialen und moralischen, aus »weisen« und »gerechten« Beziehungen zwischen Frauen und Männern abgeleiteten Institutionen wie Ehe und Familie, die ihre Stabilität und Kontinuität langfristig gewährleisteten. Bürgerlich waren Welckers »Geschlechtsverhältnisse« aber auch, indem sie der Lebenswelt jener Schichten entsprachen, die das Bürgertum der damaligen Zeit repräsentierten. Wo sonst fand man eine Arbeitsteilung vor, die Männern den Erwerb, Frauen das Erhalten und Sparen vorschrieb, die Männer zu kreativer Produktion anspornte und Frauen die »häusliche Bewirtung und Pflege des Mannes« nahelegte, die Männer in den »Rechtskampf« schickte und Frauen auf die Kindererziehung verwies? Wo, wenn nicht im Bürgertum zeichneten sich Männer durch eine Vernunft aus, die sie zur »Durchdringung, schöpferischen Verbindung und neuen äußeren Gestaltung« befähigte? Wer, wenn nicht bürgerliche - oder auch adlige - 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 Frauen verfugten über die »Feinheit des Gefühls« und den »feinen sicheren Takt des Urteilens und Benehmens«, der Frauen angeblich generell eignete? Hatte Welcker damit einerseits ein Bild bürgerlicher Geschlechterbeziehungen entworfen, das auf der scharfen Abgrenzung weiblich-männlicher Wirkungssphären und Kompetenzen beruhte, hob er auf der anderen Seite immer wieder die beidseitigen Verknüpfungen und Abhängigkeiten dieser segmentierten Sphären hervor. Wenn er die »Geschlechtsverhältnisse« explizit zu den »tiefsten und wichtigsten Grundlagen der ganzen gesellschaftlichen Ordnung« zählte und immer wieder betonte, daß sie »in der größten Wechselverbindung . . . mit den öffentlichen Sitten und Entwicklungen stehen«, wenn er den Grad der hier verwirklichten Freiheit und Moralität mit zivilisatorischem Fortschritt gleichsetzte und die »höhere Cultur« der bürgerlichen Gesellschaft an die Struktur von Ehe und Familie band, bewies er einen Sinn für Synthese und Kombinatorik, der vielen späteren Wissenschaftlern und Politikern merkwürdig verloren gegangen ist. Der vorliegende Band sucht diesen Sinn erneut, aber auf etwas andere Weise herzustellen. Er versammelt die wichtigsten Beiträge, die auf einer Anfang 1986 im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung veranstalteten Konferenz über »Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert« diskutiert wurden. Im Unterschied zu Carl Welcker, der trotz aller Querverweise hauptsächlich über Frauen geschrieben hatte,2 ging es auf dieser Konferenz ausdrücklich darum, den Blick auf beide Geschlechter und ihre Beziehungen zu richten. Daß viele Beiträge dennoch in erster Linie nach Frauen fragten, ihre Erfahrungen und Handlungsbedingungen in den Mittelpunkt stellten, hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen zeigte sich daran der Einfluß der Frauengeschichte, die sich seit mehreren Jahren intensiv mit der Erforschung weiblicher Lebenswelten und Aktionsformen beschäftigt. Andererseits waren die Themen so gewählt, daß sie besonders Frauen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung bürgerlicher Gesellschaften und Gruppierungen allenfalls am Rande vorkamen, sichtbar machten. Ökonomie und Politik blieben als in der Regel Männern vorbehaltene Handlungsfelder fast gänzlich ausgespart - zugunsten von Religion, Kultur/Freizeit, Familie und Sexualität, die auf den ersten Blick vorwiegend mit Frauen identifiziert werden konnten. Auf den zweiten Blick jedoch mußte diese Gleichsetzung oft modifiziert werden, denn die von Welcker ebenso wie von vielen anderen zeitgenössischen Autoren und nachfolgenden Geschichtsschreibern so eindringlich vorgetragene Beschwörung einer strikten weiblich-männlichen Sphärentrennung hält genauerer historischer Nachprüfung nicht stand. Weder waren Frauen im Bürgertum ausschließlich und allein für Kirchgang, Romanlektüre oder Konzertbesuche zuständig, noch konnten Männer auf die ökonomischen und sozialen Zulieferdienste ihrer Familien verzichten. Funktional und personell blieben männliche und weibliche Aktionsräume eng miteinander verknüpft. Grenzüberschreitungen, allerdings nur in einer Rich14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 tung, lagen im Bereich des Möglichen und kamen, was die Gegenüberstellung ›öffentlicher‹ und ›privater‹ Sphären betraf, gegen Ende des hier behandelten Zeitraums immer häufiger vor. Ohnehin läßt sich das bürgerliche 19. Jahrhundert kaum als zeitliche Einheit denken. Seine ›Historisierung‹ fördert vielmehr deutliche Einschnitte und Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern zutage. Waren sie zu Beginn des bürgerlichen Gesellschaftsprojekts im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert noch stark von vorindustriellen Traditionen und Lebensbedingungen geprägt, unterstützte die Transformation von Ökonomie und Gesellschaft im Gefolge der Industrialisierung gerade im Bürgertum eine markantere Abgrenzung männlich-weiblicher Funktionsbereiche, die wiederum gegen Ende des Jahrhunderts auf zunehmende Kritik und Opposition stieß. Trotzdem ist die besonders in der angelsächsischen Forschung3 entwickelte These der »separate spheres«, der Trennung von Frauen- und Männerräumen in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, nicht überholt, selbst wenn die Grenzen manchmal nicht so scharf gezogen werden können wie ursprünglich angenommen. Diese in den sozial- und kulturhistorischen Beiträgen klar herausgearbeitete Tendenz wirft die Frage nach dem systemischen Stellenwert auf, den die Geschlechter-Differenz für die Konstitution und Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften besaß. Was besagt es über das Selbstverständnis dieser Gesellschaftsformation, über ihr Reformpotential, aber auch über ihr Traditionsbewußtsein und ihre Rechtfertigungsstrategien, wenn sie grundsätzlich zwischen Männern und Frauen unterschieden wissen wollte? Welchen Bedürfnissen kam eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung entgegen, die Frauen prinzipiell die Familie und Männern den öffentlichen Markt, die Assoziation und Politik als Lebensbühne zuwies? In welchem Maße wirkten ständische, vorbürgerliche Traditionslinien bei dieser Zuweisung mit? Welches waren typisch ›moderne‹ Züge des Geschlechterverhältnisses, und in welcher Beziehung standen sie zu den verschiedenen Handlungs- und Wertsphären, die sich in bürgerlichen Gesellschaften ausdifferenzierten und gegeneinander autonomisierten? Diese Fragen, die vor allem in den rechts- und politikhistorischen Beiträgen dieses Bandes angesprochen werden, berühren ein zentrales Problem, das über Anfänge und Hochphasen bürgerlicher Gesellschaften weit hinaus weist und auch für aktuelle politische Perspektiven von Bedeutung ist: Kann die systematische Trennung von Frauen und Männern, von Familie und Öffentlichkeit als fundamentales Organisationsprinzip bürgerlicher Gesellschaft begriffen werden, anderen Prinzipien gleichgeordnet, wenn auch quer dazu liegend und sie häufig sogar aufhebend? Oder ist der dauerhafte und bis heute nicht ganz überwundene Ausschluß von Frauen aus dem bürgerlichen Emanzipationsprojekt eher Ausdruck einer nur begrenzten Innovationskapazität sozialer Systeme - wobei dann aber zu erklären wäre, warum Frauen in ihrer Gesamtheit als letzte, lange nach jüdischen und 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3 Unterschichten-Männern, den Status vollberechtigter Staatsbürger und Rechtssubjekte erwarben, Geschlechteremanzipation also offenbar viel schwieriger auch nur zu denken war als religiöse und soziale Emanzipation. Anders gefragt: Bildete die Halbierung des Emanzipationsanspruchs, mit dem die bürgerliche Gesellschaft und das Bürgertum als ihre wichtigste Trägerschicht auf den Plan der Geschichte traten, nicht vielleicht die Bedingung dafür, daß dieser Anspruch wenigstens partiell - für Männer - eingelöst werden konnte? Und ist unter diesen Auspizien eine volle Emanzipation von Frauen in einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt möglich? Solche auf der Bielefelder Konferenz immer wieder intensiv und kontrovers diskutierten Probleme hatten schon Carl Welcker beschäftigt. Als er 1847 etwas bang sinnierte, ob die »geistreichen Männer« und »revolutionären Frauen«, die für die unbedingte Gleichheit der Geschlechter einträten, nicht vielleicht die historische Avantgarde verkörperten und ihrer Zeit nur etwas voraus wären, malte er ein bürgerliches Horrorgemälde an die Wand: »Soll eine weiter fortschreitende Civilisation uns wirklich dahin fuhren, die Unterordnung der Frau unter den Mann, und somit auch alle Festigkeit des Ehebandes und das wahre Familienleben aufzugeben, dahin, daß wir, statt der Weiblichkeit, Keuschheit und Schamhaftigkeit der Frauen, ihre gleiche unmittelbare Teilnahme an unseren öffentlichen Wahl- und Parlamentsversammlungen und an den Staatsämtern, überhaupt an allen männlichen Bestrebungen und Kämpfen, auch den kriegerischen, als ihre höchsten Ehren und Güter ansehen sollen?« Offensichtlich ist seinen Nachkommen diese Erfahrung nicht ganz erspart geblieben, ohne daß jedoch die im 19. Jahrhundert begründete, mit ungleichen Macht- und Einflußchancen verbundene Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern grundsätzlich aufgehoben worden wäre. Ob eine Gesellschaft, der diese Aufhebung gelänge, noch bürgerlich zu nennen wäre, ist allerdings nach dem Vorhergesagten und auf den folgenden Seiten Nachzulesenden mehr als zweifelhaft. Anmerkungen 1 C. Welcker, »Geschlechtsverhältnisse«, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hg. v. C. v. Rotteck u. C. Welcker, Bd. 5, Altona 1847, S. 654-679. Alle Zitate stammen, orthographisch modernisiert, aus diesem Artikel. 2 Welcker fügte dem Begriff »Geschlechtsverhältnisse« zu Beginn seines Artikels die erläuternden Bemerkungen hinzu: »Frauen, ihre rechtliche und politische Stellung in der Gesellschaft, Rechtswohltaten und Geschlechtsbeistände der Frauen, Frauenvereine und Vergehen in Beziehung auf die Geschlechtsverhältnisse« (S. 654f.). Zu dieser auch im heutigen politischen und wissenschaftlichen Diskurs üblichen Identifikation von »Geschlecht« und »Frauen« vgl. den Beitrag von I. Hull in diesem Band. 3 Als jüngstes beeindruckendes Forschungsbeispiel, das anhand einer detaillierten Analyse des englischen Bürgertums zwischen 1780 und 1850 zu zeitlich, räumlich und sozial vorbildlich differenzierten Aussagen über die Konstruktion männlich-weiblicherHandlungssphären gelangt, vgl. L. Davidoff u. C. Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English middle class, 1780-1850, London 1987. 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3