Bürgerinnen und Bürger

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Ute Frevert (Hg.)
Bürgerinnen und Bürger
Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Band 77
Bürgerinnen und Bürger
Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert
Zwölf Beiträge
Mit einem Vorwort von Jürgen Kocka
Herausgegeben von
Ute Frevert
Vandenhoeck & Ruprecht
in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Bürgerinnen und Bürger:
Geschlechterverhältnisse im 19. J h . ;
12 Beirr. / mit e. Vorw. von Jürgen Kocka. Hrsg. von Ute Frevert. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988
(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 77)
ISBN 3-525-35739-7
NE: Frevert, Ute [Hrsg.]; GT
© 1988, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich
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insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
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Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.
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Inhalt
Vorwort (Jürgen Kocka)
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UTE FREVERT
Einleitung
11
UTE FREVERT
Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
17
ISABEL V. HULL
›Sexualität‹ und bürgerliche Gesellschaft
49
DIRK BLASIUS
Bürgerliche Rechtsgleichheit und die Ungleichheit der Geschlechter.
Das Scheidungsrecht im historischen Vergleich
67
KARIN HAUSEN
» . . . eine Ulme für das schwanke Efeu«. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert
85
YVONNE SCHÜTZE
Mutterliebe - Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des
19. Jahrhunderts
118
HUGH MCLEOD
Weibliche Frömmigkeit - männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert
134
MARION KAPLAN
Freizeit-Arbeit. Geschlechterräume im deutsch-jüdischen Bürgertum
1870-1914
157
5
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ERIC J . HOBSBAWM
Kultur und Geschlecht im europäischen Bürgertum 1870-1914 . . . .
175
HERRAD U. BUSSEMER
Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum
1860-1880
190
JÜRGEN KOCKA
Einige Ergebnisse
206
UTE GERHARD
Andere Ergebnisse
210
Die Autorinnen und Autoren
215
6
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Vorwort
Vom Oktober 1986 bis zum August 1987 bestand im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld eine Forschungsgruppe
zum Thema »Bürgertum, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Das
19. Jahrhundert im europäischen Vergleich«. Etwa 40 Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern nahmen
daran teil. Zu den Zielen gehörte es (a) das Bürgertum als gesellschaftliche
Großgruppe (›Formation‹) des 19. Jahrhunderts näher zu untersuchen, (b)
nach der Bedeutung, dem Realisierungsgrad und den Grenzen der Bürgerlichkeit verschiedener sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer
Bereiche (Literatur, Unternehmerverhalten, Liberalismus, Behandlung von
Minderheiten etc.) zu fragen sowie (c) die deutsche Entwicklung im internationalen Vergleich zu erforschen, um herauszufinden, ob es in bezug auf das
Bürgertum und die Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts so etwas wie einen
deutschen ›Sonderweg‹ gab, inwiefern, warum und inwieweit nicht. Die
Ergebnisse dieser Forschungsgruppe werden gesondert veröffentlicht
(J. Kocka [Hg.], Das Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988).
Im Rahmen dieses Projektes fanden mehrere Konferenzen statt, an denen
auch Wissenschaftler teilnahmen, die nicht zur Forschungsgruppe gehörten.
Nach einer Vorbereitungskonferenz, deren Ergebnisse bereits veröffentlicht
wurden (J. Kocka [Hg.], Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert,
Göttingen 1987) und einer Auftaktveranstaltung Anfang Oktober 1986
wurden Konferenzen zu folgenden Themen abgehalten: Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert (Leitung:
Ute Frevert); Bürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland
im europäischen Vergleich (Leitung: Dieter Langewiesche); das Bürgertum
in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert (Leitung: Waclaw Dlugoborski); Professionalisierung und Bürgertum (Leitung: Hannes Siegrist).
Die Ergebnisse dieser Konferenzen sollen in vier Bänden der »Kritischen
Studien zur Geschichtswissenschaft« veröffentlicht werden.
Im folgenden finden sich die überarbeiteten Beiträge zur Konferenz über
»Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im
19. Jahrhundert« (22.-24.1. 1987), die von Ute Frevert, Bielefeld, vorbereitet und geleitet wurde. Die Thematik wäre vermutlich noch vor zehn Jahren
nicht zum Gegenstand einer Konferenz gemacht worden. Daß dies möglich
geworden ist, dafür können frauen- und geschlechtergeschichtliche Initiati-
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ven der letzten Jahre das Verdienst beanspruchen. Es ist unschwer zu erkennen, daß die Thematik von zentraler Bedeutung für die Fragen nach Bürgertum und Bürgerlichkeit ist, zumindest in dreifacher Weise:
1. erlaubt sie, die Frage nach den inneren Differenzierungen, Spannungen
und Verflechtungen der sozialen Großgruppe »Bürgertum« genauer zu
stellen. In der Regel untersucht man die Lage-, Interessen-, Erfahrungs- und
Haltungsunterschiede von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, von
Groß- und Kleinbürgertum, von verschiedenen bürgerlichen Berufs- und
Herkunftsgruppen, wenn es darum geht, die inneren Differenzierungen des
Bürgertums zu erfassen. Neben der konfessionellen Differenzierung wird
die nach Geschlecht in der Regel vernachlässigt.
2. Man weiß aus der Arbeitergeschichte, daß Männer und Frauen verschiedenartige Beiträge zur Klassenbildung geleistet haben, entsprechend
ihren unterschiedlichen Positionen im System der geschlechtsspezifischen
Arbeitsteilung. Zweifellos fand im 19. Jahrhundert so etwas wie die Konstituierung des Bürgertums statt: die Herausbildung einer sozialen Großgruppe »Bürgertum« mit gemeinsamem Nenner und abgrenzender Besonderheit, mit gemeinsamen Interessen und Erfahrungen, Binnenverflechtung
und Außenabgrenzung, Gemeinsamkeitsbewußtsein und kollektiven
Handlungspotentialen, obwohl die Grenzen dieses Konstituierungsprozesses immer sehr deutlich blieben, denn das Bürgertum war innerlich äußerst
heterogen, nach außen verfließend, empirisch und begrifflich schwer zu
fassen. Dies war ein zentrales Thema der einjährigen Forschungsgruppe.
Welches waren die spezifischen Beiträge von Bürgerinnen zu diesem Konstituierungsprozeß? Als Mütter, Erzieherinnen und Verwalter des tradierbaren
»kulturellen Kapitals«? Als Ehe- und Hausfrauen, die den Männern außerhäusliche Tätigkeiten allererst ermöglichten? Als Organisatoren und Gestalter von nicht in Arbeit und Politik aufgehenden, für soziale Konstituierungsprozesse gleichwohl zentral wichtigen Tätigkeiten und Räumen (ζ. Β. »Frei­
zeit«, »Kultur«)? Durch Teilhabe an Kommunikationsnetzen, die zur sozia­
len Konstituierung von Großgruppen gehören?
3. »Der gesellschaftliche Fortschritt läßt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Häßlichen eingeschlossen)«, schrieb Marx an Kugelmann am 12. 12. 1868. Dieser Gedanke läßt
sich auf bürgerliche Gesellschaft und Bürgerlichkeit beziehen und in doppelter Weise konkretisieren: Knüpft man - einerseits - an den freiheitlichen und
egalitären Elementen des Projekts »Bürgerliche Gesellschaft« an, dann läßt
sich der erreichte Grad von Bürgerlichkeit gegebener Gesellschaften auch
daran messen, welche - mehr oder weniger gleichen - Selbstverwirklichungschancen sie den Individuen ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Rasse
und ihres Geschlechtes einräumen. Das Maß der Durchsetzung der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft läßt sich dann u. a. am Grad der Emanzipation und Gleichstellung der Frauen in einer Gesellschaft ablesen. Und
andererseits läßt sich argumentieren, daß fundamentale soziale Ungleichhei-
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ten zu den Funktionsvoraussetzungen jeder bürgerlichen Gesellschaft gehören - stillschweigend, entgegen ihren Ansprüchen oder mühsam legitimiert.
Viel spricht dafür, daß neben den sozialen Klassenunterschieden zwischen
Produktionsmittelbesitzern und Lohnarbeitern die Geschlechterdifferenz zu
diesem konstitutiven Ungleichheitssockel bürgerlicher Gesellschaften gehört. Es ist ja im Rückblick nicht zu übersehen, wie selbstverständlich
Frauen die Staatsbürgereigenschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein vorenthalten wurde. Wer das Privatrecht mit Dieter Grimm als zentrale Säule bürgerlicher Gesellschaften versteht, muß beeindruckt sein von der sich auch noch
verschärfenden Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in verschiedenen Privatrechtsbereichen. Ute Gerhard hat dies früh herausgearbeitet.
Zwar wurde die soziale Diskriminierung der Frauen früher allmählich reduziert als ihre öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Unterberechtigung,
aber dafür hielt sie sich länger, teilweise bis heute. War und ist diese geschlechtsspezifische Ungleichheit vielleicht konstitutiv für bürgerliche Gesellschaften?
Dies war ein kontroverser Diskussionspunkt während der hier dokumentierten Konferenz und während der Arbeit der Forschungsgruppe insgesamt. Von der Antwort hängt viel für die Beurteilung des Projekts »Bürgerliche Gesellschaft« ab. Die folgenden Beiträge liefern Bausteine für diese
Antwort, die umfassend nur gegeben werden könnte, wenn intensiv mit
vorbürgerlichen Zeiten verglichen und die Untersuchung bis in die Gegenwart hinein fortgeführt würde. Unbestreitbar aber ist: Ob man nun dazu
tendiert, die fortdauernde Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im
19. Jahrhundert als notwendigen Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft
zu verstehen oder ob man eher meint, diese Ungleichheit als einen Widerspruch zu den Grundprinzipien bürgerlicher Gesellschaften zu sehen, der
sich zwar lange hielt, aber dennoch als Konsequenz dieser Grundprinzipien
allmählich zu weichen hat - die geschlechtergeschichtliche Perspektive und
damit die hier zu dokumentierende Konferenz erhalten dadurch zentrale
Bedeutung für die Frage nach dem Bürgertum und der Bürgerlichkeit des
19. Jahrhunderts. Auch für den Vergleich Deuschlands mit anderen Ländern
mag dadurch Neues zu gewinnen sein.
Wie die Forschungsgruppe insgesamt wurde auch diese Konferenz vom
Bielefelder Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) ermöglicht und
beherbergt. Dafür gebührt ihm Dank.
Jürgen Kocka
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U T E FREVERT
Einleitung
Das 19. Jahrhundert ist schon von seinen Zeitgenossen oft das »bürgerliche«
genannt worden, und spätere Geschichtsschreiber haben diese Bezeichnung
übernommen. Das Bürgertum, heißt es, habe diesem Jahrhundert seinen
Stempel aufgedrückt und eine Machtstellung errungen, die es ihm erlaubte,
(fast) die ganze Gesellschaft nach seinen Ideen und Interessen umzugestalten.
Bürgerliche Prinzipien wie Rechtsgleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Öffentlichkeit, Marktfreiheit oder individuelle Autonomie hätten sich ebenso wie
bürgerliche Verkehrs- und Lebensformen mehr und mehr durchgesetzt und
selbst in anderen sozialen Schichten Aufnahme und Anerkennung gefunden.
Die innovativen Leistungen des Bürgertums beschränkten sich aber nicht
auf die Bereiche politischer Öffentlichkeit, wirtschaftlicher Betriebsführung
und Kultur. Zum bürgerlichen Habitus gehörten auch ein besonderer Umgang mit emotionalen und sexuellen Energien, eine neuartige Prägung
männlich-weiblicher Rollen und eine ›moderne‹ Definition geschlechtsspezifischer Wirkungssphären. Wie wichtig die Bürger des 19. Jahrhunderts die
»Geschlechtsverhältnisse« nahmen und welchen Stellenwert sie ihnen im
Rahmen bürgerlicher Gesellschaftskonstruktionen zuwiesen, läßt sich paradigmatisch an einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1847 ablesen.1 Sein
Autor, der liberale Professor, Publizist und Politiker Carl Welcker, verkündete als erstes, er werde sich jetzt mit einem Thema beschäftigen, das alles
andere als marginal, nachrangig oder gar anekdotisch sei. »Das allgemeinste
und wichtigste Verhältnis der menschlichen Gesellschaft«, hieß es da, »ist
unstreitig das Verhältnis der beiden Geschlechter«. Es sei ein »Grundverhältnis«, von dessen »gerechter« und »weiser« Ordnung die gedeihliche
Entwicklung der Gesellschaft insgesamt abhänge.
Die Frage jedoch, wie dieses Verhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft,
die sich vom »Despotismus« traditioneller Männergesellschaften verabschiedet habe, konkret beschaffen sei, galt Welcker als die »schwierigste für
eine juristische und politische Theorie«. Eine einfache Antwort, etwa im
Sinne männlich-weiblicher Gleichheit oder Gleichberechtigung, konnte es
nicht geben. Als gewissenhafter Theoretiker verhehlte der Autor zwar
nicht, daß dies mit der Programmatik des bürgerlichen Gesellschaftsmodells
am besten harmonieren würde. Wenn im Namen der Menschenrechte gegen
eine ständische, auf Geburt und Herkommen beruhende Gesellschaftsstruk-
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tur gestritten wurde und die formale Gleichheit des Rechts zu den Grundprinzipien der neuen Ordnung gehörte, müßte legitimerweise auch die
Rechtsungleichheit von Frauen und Männern beseitigt werden. Daß diese
Schlußfolgerung im politischen Diskurs seiner Zeit durchaus, wenn auch
nicht gerade häufig, gezogen wurde, war Welcker offensichtlich bekannt,
ohne ihn doch überzeugen zu können. Vielmehr beharrte er - stellvertretend
für das breite bürgerlich-männliche Publikum - darauf, daß »wir die volle
Gleichheit der Rechte nicht zugestehen könnten«.
U m diese Verweigerung zu rechtfertigen, berief sich Welcker auf die
Natur, die die Geschlechter »polarisch entgegengesetzt« geschaffen habe.
Aus dem Fortpflanzungszweck, genauer aus der Anatomie des Geschlechtsakts seien alle körperlichen und geistig-moralischen Verschiedenheiten von
Frauen und Männern abzuleiten:
»Die ganze physische Natur . . . bezeichnet den stärkeren, kühneren, freieren Mann
als schaffenden Gründer, Lenker, Ernährer und Schützer der Familie und treibt ihn
hinaus ins äußere Leben zum äußeren Wirken und Schaffen, in den Rechts- und
Waffenkampf, zu schöpferischen neuen Erzeugungen, zur Erwerbung und Verteidigung. Sie bezeichnete die schwächere, abhängige, schüchternere Frau zum Schützling des Mannes, wies sie an auf das stillere Haus, auf das Tragen, Gebären, Ernähren
und Warten, auf die leibliche und humane Entwicklung und Ausbildung der Kinder,
auf die häusliche Bewirtung und Pflege des Mannes und der häuslichen Familie, auf
Erhaltung des vom Manne Erworbenen, auf die Führung des Haushalts, auf die
Bewahrung der heiligen Flammen des häuslichen Herdes.«
Dieses Bild beanspruchte überzeitliche, universale Geltung und sah geflissentlich darüber hinweg, daß eine solche, angeblich natürliche Aufgabenteilung in dieser Form in der historischen Empirie nur selten anzutreffen war.
Weder konnte es sich eine Bäuerin, Spinnerin oder Handwerkersfrau während einer Schwangerschaft leisten, im »stillen Haus« ihr Kind auszutragen
und sich nach der Geburt ganz auf seine Pflege zu konzentrieren, noch
stimmte die Gleichsetzung von Mann/Erwerber und Frau/Erhalterin mit
der ökonomischen Wirklichkeit in breiten ländlichen und städtischen Bevölkerungsschichten überein.
Welcker selber scheint seinen der Natur entlehnten Argumenten nicht
immer getraut zu haben, wenn er es für nötig hielt, der natürlichen Schöpfungslogik mit der Idee des allgemeinen Nutzens zu Hilfe zu eilen. Im
Zentrum seiner Überlegungen stand die Familie, in der, fernab vom konkurrenzbetonten Erwerbsleben, »edle Menschlichkeit« gepflegt werde. Zugleich baue aber auch das »bürgerliche Gemeinwesen« auf den in der Familie
erlernten »geselligen Tugenden«, der »wohlwollenden Teilnahme«, der
»geordnet in einander greifenden, wohlverteilten Arbeit«, auf »fester
Treue« und »freudig und mutig aufopferndem Gemeingeist« auf. Als
»Pflanzschule« der bürgerlichen Gesellschaft sei die Familie unersetzlich,
und ihre Zerstörung käme dem Verfall des »freien, würdigen Staatswesens«
gleich. Zerstört aber würde die Familie unweigerlich dann, wenn die natur-
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gewollte Arbeitsteilung der Geschlechter aufgehoben und Frauen in Familie und Staat die gleichen Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten zugestanden bekämen wie Männer. Eine solche, von »Ultrademokraten«, »weiblichen Amazoninnen« und »Blaustrümpfen« geforderte Gleichstellung sei
identisch mit dem »Umsturz unserer bisherigen Gesellschaftsordnung«
und daher auf das schärfste zurückzuweisen.
Welcker war nun zwar davon überzeugt, daß die meisten Frauen eine
solche Rechtsgleichheit nicht wünschten. Schließlich brächte es den
»schwächeren« Frauen nur Nachteile, »mit den stärkeren Männern in naturwidrige und unweibliche Kämpfe sich einzulassen«. Trotzdem hielt er es
für notwendig, Frauen auch mit gesetzlichen Verboten von bestimmten,
Männern reservierten Handlungssphären fernzuhalten. Oberster Maßstab
war immer und überall die »Erhaltung ehelicher und Familienverhältnisse«. So durfte das Privatrecht rechtliche Gleichheit der Geschlechter nur
insoweit konzedieren, als die Stellung des Mannes als Familienoberhaupt
mit weitgehender Verfügungs- und Entscheidungsautorität gewahrt blieb.
Dagegen sei es der Familie nicht unbedingt abträglich, wenn Frauen am
öffentlichen Leben Anteil nähmen, im Parlament zuhörten, Petitions- und
Pressefreiheit genössen und »Frauenvereine für erlaubte wohltätige öffentliche Zwecke« gründeten. Nur am politischen Willensbildungsprozeß selber dürften sie nicht partizipieren, auch keine öffentlichen Ämter bekleiden
oder gar Kriegsdienste leisten. Der Status des Staatsbürgers blieb Männern
vorbehalten.
Daß Welcker in seinem Artikel bürgerliche »Geschlechtsverhältnisse« definierte, beschrieb und rechtfertigte, ist nicht schwer nachzuvollziehen.
Bürgerlich waren sie in einem doppelten Sinn: zum einen als historischer
Typus, der einer auf individueller Freiheit und Vertragsdenken beruhenden
bürgerlichen Gesellschaftsformation angehörte. Auch wenn die Natur und
ihr planvolles Arrangement der Geschlechtsunterschiede überzeitliche Geltung beanspruchten, kamen sie doch erst in der bürgerlichen Gesellschaft
zu ihrem Recht. Umgekehrt profitierte nach Meinung des Autors erst diese
Gesellschaft von sozialen und moralischen, aus »weisen« und »gerechten«
Beziehungen zwischen Frauen und Männern abgeleiteten Institutionen wie
Ehe und Familie, die ihre Stabilität und Kontinuität langfristig gewährleisteten. Bürgerlich waren Welckers »Geschlechtsverhältnisse« aber auch, indem sie der Lebenswelt jener Schichten entsprachen, die das Bürgertum
der damaligen Zeit repräsentierten. Wo sonst fand man eine Arbeitsteilung
vor, die Männern den Erwerb, Frauen das Erhalten und Sparen vorschrieb,
die Männer zu kreativer Produktion anspornte und Frauen die »häusliche
Bewirtung und Pflege des Mannes« nahelegte, die Männer in den »Rechtskampf« schickte und Frauen auf die Kindererziehung verwies? Wo, wenn
nicht im Bürgertum zeichneten sich Männer durch eine Vernunft aus, die
sie zur »Durchdringung, schöpferischen Verbindung und neuen äußeren
Gestaltung« befähigte? Wer, wenn nicht bürgerliche - oder auch adlige -
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Frauen verfugten über die »Feinheit des Gefühls« und den »feinen sicheren
Takt des Urteilens und Benehmens«, der Frauen angeblich generell eignete?
Hatte Welcker damit einerseits ein Bild bürgerlicher Geschlechterbeziehungen entworfen, das auf der scharfen Abgrenzung weiblich-männlicher
Wirkungssphären und Kompetenzen beruhte, hob er auf der anderen Seite
immer wieder die beidseitigen Verknüpfungen und Abhängigkeiten dieser
segmentierten Sphären hervor. Wenn er die »Geschlechtsverhältnisse« explizit zu den »tiefsten und wichtigsten Grundlagen der ganzen gesellschaftlichen Ordnung« zählte und immer wieder betonte, daß sie »in der größten
Wechselverbindung . . . mit den öffentlichen Sitten und Entwicklungen stehen«, wenn er den Grad der hier verwirklichten Freiheit und Moralität mit
zivilisatorischem Fortschritt gleichsetzte und die »höhere Cultur« der bürgerlichen Gesellschaft an die Struktur von Ehe und Familie band, bewies er
einen Sinn für Synthese und Kombinatorik, der vielen späteren Wissenschaftlern und Politikern merkwürdig verloren gegangen ist.
Der vorliegende Band sucht diesen Sinn erneut, aber auf etwas andere
Weise herzustellen. Er versammelt die wichtigsten Beiträge, die auf einer
Anfang 1986 im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung veranstalteten Konferenz über »Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert« diskutiert wurden. Im Unterschied
zu Carl Welcker, der trotz aller Querverweise hauptsächlich über Frauen
geschrieben hatte,2 ging es auf dieser Konferenz ausdrücklich darum, den
Blick auf beide Geschlechter und ihre Beziehungen zu richten. Daß viele
Beiträge dennoch in erster Linie nach Frauen fragten, ihre Erfahrungen und
Handlungsbedingungen in den Mittelpunkt stellten, hatte vor allem zwei
Gründe: Zum einen zeigte sich daran der Einfluß der Frauengeschichte, die
sich seit mehreren Jahren intensiv mit der Erforschung weiblicher Lebenswelten und Aktionsformen beschäftigt. Andererseits waren die Themen so
gewählt, daß sie besonders Frauen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung bürgerlicher Gesellschaften und Gruppierungen allenfalls am Rande
vorkamen, sichtbar machten. Ökonomie und Politik blieben als in der Regel
Männern vorbehaltene Handlungsfelder fast gänzlich ausgespart - zugunsten von Religion, Kultur/Freizeit, Familie und Sexualität, die auf den ersten
Blick vorwiegend mit Frauen identifiziert werden konnten.
Auf den zweiten Blick jedoch mußte diese Gleichsetzung oft modifiziert
werden, denn die von Welcker ebenso wie von vielen anderen zeitgenössischen Autoren und nachfolgenden Geschichtsschreibern so eindringlich
vorgetragene Beschwörung einer strikten weiblich-männlichen Sphärentrennung hält genauerer historischer Nachprüfung nicht stand. Weder waren Frauen im Bürgertum ausschließlich und allein für Kirchgang, Romanlektüre oder Konzertbesuche zuständig, noch konnten Männer auf die ökonomischen und sozialen Zulieferdienste ihrer Familien verzichten. Funktional und personell blieben männliche und weibliche Aktionsräume eng miteinander verknüpft. Grenzüberschreitungen, allerdings nur in einer Rich14
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tung, lagen im Bereich des Möglichen und kamen, was die Gegenüberstellung ›öffentlicher‹ und ›privater‹ Sphären betraf, gegen Ende des hier behandelten Zeitraums immer häufiger vor.
Ohnehin läßt sich das bürgerliche 19. Jahrhundert kaum als zeitliche Einheit denken. Seine ›Historisierung‹ fördert vielmehr deutliche Einschnitte
und Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern zutage. Waren sie zu Beginn des bürgerlichen Gesellschaftsprojekts im späten 18.
und frühen 19. Jahrhundert noch stark von vorindustriellen Traditionen und
Lebensbedingungen geprägt, unterstützte die Transformation von Ökonomie und Gesellschaft im Gefolge der Industrialisierung gerade im Bürgertum eine markantere Abgrenzung männlich-weiblicher Funktionsbereiche,
die wiederum gegen Ende des Jahrhunderts auf zunehmende Kritik und
Opposition stieß.
Trotzdem ist die besonders in der angelsächsischen Forschung3 entwickelte These der »separate spheres«, der Trennung von Frauen- und Männerräumen in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, nicht überholt,
selbst wenn die Grenzen manchmal nicht so scharf gezogen werden können
wie ursprünglich angenommen. Diese in den sozial- und kulturhistorischen
Beiträgen klar herausgearbeitete Tendenz wirft die Frage nach dem systemischen Stellenwert auf, den die Geschlechter-Differenz für die Konstitution
und Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften besaß. Was besagt es über das
Selbstverständnis dieser Gesellschaftsformation, über ihr Reformpotential,
aber auch über ihr Traditionsbewußtsein und ihre Rechtfertigungsstrategien, wenn sie grundsätzlich zwischen Männern und Frauen unterschieden
wissen wollte? Welchen Bedürfnissen kam eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung entgegen, die Frauen prinzipiell die Familie und Männern den
öffentlichen Markt, die Assoziation und Politik als Lebensbühne zuwies? In
welchem Maße wirkten ständische, vorbürgerliche Traditionslinien bei dieser Zuweisung mit? Welches waren typisch ›moderne‹ Züge des Geschlechterverhältnisses, und in welcher Beziehung standen sie zu den verschiedenen
Handlungs- und Wertsphären, die sich in bürgerlichen Gesellschaften ausdifferenzierten und gegeneinander autonomisierten?
Diese Fragen, die vor allem in den rechts- und politikhistorischen Beiträgen dieses Bandes angesprochen werden, berühren ein zentrales Problem,
das über Anfänge und Hochphasen bürgerlicher Gesellschaften weit hinaus
weist und auch für aktuelle politische Perspektiven von Bedeutung ist: Kann
die systematische Trennung von Frauen und Männern, von Familie und
Öffentlichkeit als fundamentales Organisationsprinzip bürgerlicher Gesellschaft begriffen werden, anderen Prinzipien gleichgeordnet, wenn auch
quer dazu liegend und sie häufig sogar aufhebend? Oder ist der dauerhafte
und bis heute nicht ganz überwundene Ausschluß von Frauen aus dem
bürgerlichen Emanzipationsprojekt eher Ausdruck einer nur begrenzten
Innovationskapazität sozialer Systeme - wobei dann aber zu erklären wäre,
warum Frauen in ihrer Gesamtheit als letzte, lange nach jüdischen und
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Unterschichten-Männern, den Status vollberechtigter Staatsbürger und
Rechtssubjekte erwarben, Geschlechteremanzipation also offenbar viel
schwieriger auch nur zu denken war als religiöse und soziale Emanzipation.
Anders gefragt: Bildete die Halbierung des Emanzipationsanspruchs, mit
dem die bürgerliche Gesellschaft und das Bürgertum als ihre wichtigste
Trägerschicht auf den Plan der Geschichte traten, nicht vielleicht die Bedingung dafür, daß dieser Anspruch wenigstens partiell - für Männer - eingelöst werden konnte? Und ist unter diesen Auspizien eine volle Emanzipation
von Frauen in einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt möglich?
Solche auf der Bielefelder Konferenz immer wieder intensiv und kontrovers diskutierten Probleme hatten schon Carl Welcker beschäftigt. Als er
1847 etwas bang sinnierte, ob die »geistreichen Männer« und »revolutionären Frauen«, die für die unbedingte Gleichheit der Geschlechter einträten,
nicht vielleicht die historische Avantgarde verkörperten und ihrer Zeit nur
etwas voraus wären, malte er ein bürgerliches Horrorgemälde an die Wand:
»Soll eine weiter fortschreitende Civilisation uns wirklich dahin fuhren, die Unterordnung der Frau unter den Mann, und somit auch alle Festigkeit des Ehebandes und
das wahre Familienleben aufzugeben, dahin, daß wir, statt der Weiblichkeit, Keuschheit und Schamhaftigkeit der Frauen, ihre gleiche unmittelbare Teilnahme an unseren
öffentlichen Wahl- und Parlamentsversammlungen und an den Staatsämtern, überhaupt an allen männlichen Bestrebungen und Kämpfen, auch den kriegerischen, als
ihre höchsten Ehren und Güter ansehen sollen?«
Offensichtlich ist seinen Nachkommen diese Erfahrung nicht ganz erspart
geblieben, ohne daß jedoch die im 19. Jahrhundert begründete, mit ungleichen Macht- und Einflußchancen verbundene Arbeitsteilung zwischen den
Geschlechtern grundsätzlich aufgehoben worden wäre. Ob eine Gesellschaft, der diese Aufhebung gelänge, noch bürgerlich zu nennen wäre, ist
allerdings nach dem Vorhergesagten und auf den folgenden Seiten Nachzulesenden mehr als zweifelhaft.
Anmerkungen
1 C. Welcker, »Geschlechtsverhältnisse«, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hg. v. C. v. Rotteck u. C. Welcker, Bd. 5, Altona 1847,
S. 654-679. Alle Zitate stammen, orthographisch modernisiert, aus diesem Artikel.
2 Welcker fügte dem Begriff »Geschlechtsverhältnisse« zu Beginn seines Artikels die erläuternden Bemerkungen hinzu: »Frauen, ihre rechtliche und politische Stellung in der Gesellschaft, Rechtswohltaten und Geschlechtsbeistände der Frauen, Frauenvereine und Vergehen in
Beziehung auf die Geschlechtsverhältnisse« (S. 654f.). Zu dieser auch im heutigen politischen
und wissenschaftlichen Diskurs üblichen Identifikation von »Geschlecht« und »Frauen« vgl.
den Beitrag von I. Hull in diesem Band.
3 Als jüngstes beeindruckendes Forschungsbeispiel, das anhand einer detaillierten Analyse
des englischen Bürgertums zwischen 1780 und 1850 zu zeitlich, räumlich und sozial vorbildlich
differenzierten Aussagen über die Konstruktion männlich-weiblicherHandlungssphären gelangt, vgl. L. Davidoff u. C. Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English middle
class, 1780-1850, London 1987.
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