Inhalt 7 Einleitung: Religion in der pluralistischen

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Inhalt
VORWORT
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THOMAS M. SCHMIDT
Einleitung: Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit
9
FRANZ-XAVER KAUFMANN
Religion zwischen Tradition, Selbsterfahrung und Dauerreflexion
21
LUDGER HONNEFELDER
Ethik und Religion. Angesichts der
Herausforderung durch Wissenschaft und Technik
41
KENT GREENAWALT
On Religion and Politics in Liberal Democracies
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NICHOLAS WOLTERSTORFF
Religious Reasons, Liberal Theory and Coercion
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THOMAS M. SCHMIDT
Öffentliche Vernunft – vernünftige Öffentlichkeit?
Zum Verhältnis von Rationalität und Normativität in Rawls’
politischem Liberalismus
87
PAUL J. WEITHMAN
Religious Reasons and the Duties of Membership
105
JAMES BOHMAN
Deliberative Toleration
127
RAINER FORST
Tolerance as a Virtue of Justice
147
THOMAS RENTSCH
Negativität und Rationalität. Gibt es aus philosophischer Sicht irreduzible
Wahrheitsansprüche religiöser Vernunft?
161
LUDWIG NAGL
Erwägungen zum Status religiöser Wahrheitsansprüche
179
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Vorwort
Selten wurde über die politische Rolle der Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit so heftig gestritten wie in den letzten Jahren. Spätestens seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 stehen Fragen nach dem Verhältnis von Religion
und säkularer Moderne im Mittelpunkt der intellektuellen Aufmerksamkeit. Auch
unabhängig von der Diskussion über die Terroranschläge radikaler Islamisten hat
sich die Debatte über das Verhältnis von Religion und Politik dramatisch verändert.
Der Streit um Kruzifix und Kopftuch im Klassenzimmer und die Debatte über eine
religiöse Präambel der europäischen Verfassung haben die Frage nach der politischen, sozialen und kulturellen Bedeutung der Religion in einer säkularen Gesellschaft erneut in den Mittelpunkt gerückt.
Die Gewissheit, die Moderne sei mit säkularer Kultur gleichzusetzen, wurde
grundsätzlich erschüttert. Dagegen scheint unleugbarer denn je, dass die moderne
Weltgesellschaft eine pluralistische Gesellschaft ist. Pluralismus ist kein vorübergehendes Phänomen, sondern bleibendes Merkmal der entstehenden Weltgesellschaft. Dies schließt auch und gerade die Koexistenz von religiöser und säkularer
Kultur ein, eben jene paradoxe Gleichzeitigkeit von traditioneller Religion und moderner Lebenswelt. In der postsäkularen Gesellschaft müssen religiöse und säkulare
Bürgerinnen und Bürger unter gleichen und fairen Bedingungen am öffentlichen
Diskurs partizipieren können. Es müssen daher Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit formuliert werden, die religiösen wie säkularen Bürgern gleichermaßen
einleuchten können. Welche Rolle Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit
einer modernen Gesellschaft berechtigterweise zukommen sollte, kann daher nur in
internationaler und interdisziplinärer – in juristischer, philosophischer, soziologischer und theologischer – Perspektive angemessen erörtert werden. Dies dokumentieren die Beiträge dieses Bandes auf eindrückliche Weise.
Der internationale und interdisziplinäre Dialog über das Verhältnis von Religion
und säkularer Moderne steht seit Jahren im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit
des Instituts für Religionsphilosophische Forschung (IRF) der Johann Wolfgang
Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dies wird durch eine Fülle von Tagungen,
Kolloquien und Fachkonferenzen dokumentiert. Auch die hier vorliegenden Beiträge gehen zurück auf eine internationale Konferenz des IRF, die dankenswerterweise
von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität großzügig unterstützt
und gefördert wurde.
Ein besonderer Dank gilt Max Boost, Eva Kaminski und Vladislav Serikov, die
bei der Korrektur und Bearbeitung dieses Bandes unterstützend tätig waren. Für die
unverzichtbare Arbeit der Formatierung gilt ausdrücklicher Dank Marianne Viehl
und Petra Maeding.
Thomas M. Schmidt
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Thomas M. Schmidt
Einleitung: Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit
Jede Verhältnisbestimmung von Religion und Politik in der pluralistischen Öffentlichkeit hängt von der Definition der Grundbegriffe ab. Dabei spiegelt sich die veränderte öffentliche Rolle und Wahrnehmung von Religion in einer pluralistischen
Öffentlichkeit nicht zuletzt in einer gesellschaftstheoretischen Vieldeutigkeit des
Konzepts Religion. Franz-Xaver Kaufmann plädiert angesichts dieser Situation für
einen religionstheoretischen Ansatz, der die Multiperspektivität menschlicher Existenz ernst nimmt. Eine gesellschaftstheoretische Analyse von Religion muss über
Religionssoziologie im Sinne einer rein empirischen Erforschung religiöser Ideen,
Überzeugungen und Institutionen hinausgehen. Sie muss auf metatheoretische Weise jene Diskurse analysieren, in denen Religion als Gegenstand solcher empirischer
Beobachtung allererst kategorial bestimmt wird. Trotz der Vielfältigkeit des Phänomens Religion und der Religionsdiskurse zeichnet sich dabei doch im Zuge der
Modernisierung der Gesellschaft der Trend einer zunehmenden Subjektivierung von
Religion ab.
Gerade unter den pluralistischen Bedingungen gegenwärtiger Diskurse ist es daher von Bedeutung daran zu erinnern, dass der Religionsbegriff als solcher einer
partikularen, nämlich der okzidentalen Tradition entspringt. Erst durch die Säkularisierung, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung und als Resultat
von Konfessionsspaltung und Religionskritik der Aufklärung vollzieht, entsteht die
Notwendigkeit einer eigenständigen Definition von Religion. Religion kann unter
säkularen, pluralistischen Bedingungen nämlich nicht mehr mit der kultischen Praxis
und dem dogmatischen Selbstverständnis einer bestimmten Religion gleichgesetzt
werden, zugleich muss sie von anderen sozialen und kulturellen Phänomenen eindeutig unterschieden und abgegrenzt werden können. Zwei Definitionsstrategien
lassen sich seitdem beobachten, nämlich eine substantialistische und eine funktionalistische. Das Problem der substantialistischen Religionsbegriffe besteht darin, dass
angesichts der Individualisierung und Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft Religion keine fraglose, substantielle Grundlage individueller Sinnstiftung
anbietet, die so kommuniziert werden könnte, dass sie unter pluralistischen Bedingungen von allen geteilt werden könnte.
Das Grundproblem der funktionalistischen Ansätze, welche die spezifische Leistung von Religion in der Lösung bestimmter Aufgaben sehen, besteht nach Kaufmann darin, dass ein Funktionswandel der Religion stets als Verlust erscheint, etwa
als Werteverfall oder Orientierungsverlust. Es ist aus soziologischer Perspektive
unmöglich, etwa durch historischen Vergleich, einen allgemeinen normativen Maßstab zu gewinnen, um die Frage zu entscheiden, ob der jeweilige Funktionswandel
von Religion als Stärkung oder Verlust von Religiosität zu werten ist. Die Frage
nach einer spezifischen „Funktion“ der Religion stellt sich nämlich erst im Kontext
moderner, funktional ausdifferenzierter Gesellschaften. In weniger komplexen Gesellschaften ist die Funktion der Religion untrennbar mit anderen Funktionsträgern
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wie Recht, Moral, Kultur oder Wissenschaft verbunden, so dass sich eine spezifische, nur ihr eigentümliche Funktion der Religion in diesen Kontexten gar nicht
hinreichend bestimmen lässt. Der Diskurs über Religion und der religiöse Diskurs
nehmen so die spezifische Form einer Dauerreflexion an. Aufgabe dieser Dauerreflexion ist die Vermittlung zwischen den Beständen der kulturellen Tradition und
den Bedingungen humanen Lebens. Die Funktion der Religion lässt sich im öffentlichen Diskurs einer pluralistischen Gesellschaft weder auf die anthropologische Bedeutung von Subjektivierung und Selbstwerdung noch auf die gesellschaftliche
Funktion der kommunikativen Erzeugung gemeinsamer Vorstellungen und Werte
reduzieren. Sie stiftet keine dauerhafte substantielle Einheit zwischen individuellen
Sinnbedürfnissen und gesellschaftlichen Institutionen, sondern stellt ein Medium
multipler Vermittlungsprozesse zwischen beiden Bereichen dar. Die Aufgabe der
Religion besteht in der gegenwärtigen Situation gerade in der Vermittlung beider
Dimensionen, der anthropologisch-individuellen und der gesellschaftstheoretischkommunikativen; nur so leistet sie eine spezifische, für die Humanisierung der gegenwärtigen Kultur unverzichtbare Funktion.
So geht auch Ludger Honnefelder in seinem Beitrag davon aus, dass von religiösen
Lebensformen und Weltanschauungen gemeinhin ein signifikanter motivationaler
wie begründungstheoretischer Beitrag zu ethischen Fragen erwartet wird. Die veränderte Rolle der Religion unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Moderne
kann daher besonders anschaulich am Verhältnis von Ethik und Religion diskutiert
werden. Eine Ethik der Moderne wird vor allem durch die spezifisch modernen
Entwicklungen in Wissenschaft und Technik herausgefordert. Diese Herausforderungen verändern das traditionelle Verhältnis von gelebter Moral, philosophischer
Ethik und staatlichem Recht; diese Transformationsprozesse beeinflussen massiv
Ort und Bedeutung der Religion in der Moderne. Die rasante wissenschaftliche und
technologische Entwicklung der Moderne fordert in gleicher Weise die philosophische Ethik heraus. Einen spezifischen Charakter erhält diese Herausforderung zum
einen durch die Neuartigkeit der Handlungsmöglichkeiten, welche die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und die auf sie beruhenden Anwendungen, vor allem
im Bereich der Biomedizin, eröffnen.
Daher bieten weder die gewachsenen Lebensformen noch die bestehende Rechtsordnung eingespielte und bewährte normative Muster, an denen sich der Umgang
mit den neuen biomedizinischen Möglichkeiten orientieren könnte. Die Neuheit
dieser Entwicklung besteht aber nicht nur im Auftreten neuer Handlungsmöglichkeiten, für deren normative Regelung es bisher keine Präzedenzen gibt, sondern, radikaler noch, in einer damit verbundenen Veränderung der kognitiven Rahmenbedingungen. So werden beispielsweise die bisherigen Annahmen über Beginn und Ende
des Lebens strittig. Diese Veränderungen betreffen aber nicht nur die Inhalte unserer
grundlegenden Annahmen durch neue Informationen, sie betreffen unsere Orientierungsannahmen insgesamt. Kognitive Veränderungen bestehen darin, dass die Kategorie des Zufalls in Fragen der Vererbung ihre Bedeutung verliert und der Möglichkeit und dem damit wachsenden Verantwortungsdruck gezielter Intervention und
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Manipulation weicht. Mit der Manipulierbarkeit und wachsenden Planbarkeit
menschlichen Lebens – im biologischen Sinne – werden Bereiche der Natur, die
bislang dem menschlichen Zugriff weitgehend entzogen waren, zum Artefakt. Damit
verliert Natur als der Bereich des Vorgegebenen seine kognitive Funktion eines
Grenzen setzenden und damit Orientierung gebenden Gegenbegriffs zu Kultur als
Bereich des vom Menschen Bestimmten und Beherrschbaren. Natur bietet weder
„natürliche“, unverrückbare Grenzen noch spielt sie die Rolle einer Lehrmeisterin
und absoluten Gesetzgeberin. Seine besondere Bedeutung gewinnt dieser durch die
wissenschaftliche und technologische Entwicklung ausgelöste Prozess durch die
Verbindung mit der gesellschaftlichen und normativen Modernisierung. In der modernen Gesellschaft wachsen die Spielräume individueller Wertentscheidungen im
gleichen Maße wie der Vorrat an gemeinsamen Normen abnimmt. Angesichts der
neuen Herausforderungen durch Wissenschaft und Technik helfen daher weder
Kasuistik noch Sonderethiken weiter, die nur bestimmte Arten von Fällen oder bestimmte Lebensbereiche zu regulieren beanspruchen.
Als Ausweg bietet sich das Recht als Medium der Normierung und Regulierung
jener Konflikte an. Aber auch diese Lösung ist im Horizont der Öffentlichkeit einer
pluralistischen Gesellschaft nicht frei von Problemen, denn die neuen Rechtsnormen
können nicht vollständig von der Moral abgekoppelt werden. Unter den spezifisch
modernen Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft kann aber nicht auf eine
bestimmte Moral zurückgegriffen werden. Das Recht muss Honnefelder zufolge
daher in Beziehung gesetzt werden zur Ethik, das heißt zu einer philosophischen
Reflexion konkreter Moral. Angesichts der unhintergehbaren Vielfalt von Moralvorstellungen wird aber eine ethische Reflexion etwaige Gemeinsamkeiten und damit
gemeinsame Verbindlichkeiten eher in Form von allgemein akzeptierten Verfahrensregeln und weniger in Gestalt gemeinsamer inhaltlicher Wertvorstellungen feststellen und artikulieren können. Mit dieser Wende vom moralischen Inhaltlichen zur
philosophisch reflektierten Form drängt sich aber die Frage auf, wie neue Normen in
Bezug auf die durch die Wissenschaften radikal erweiterten und in ihrer Komplexität gesteigerten Handlungsmöglichkeiten artikuliert werden können. Auf diesem
Weg rückt nun die Religion wieder in das Licht der Aufmerksamkeit der ethischen
Reflexion einer pluralistischen Gesellschaft. Denn es ist diese Aufgabe der Normengenerierung in einem komplexen und radikal neuen Handlungsfeld, welches die
Ethik in ein neues Verhältnis zur Religion bringt. Selbst aus der Perspektive einer
ausdrücklich säkularen Theorie der Moral erscheint das „unabgegoltene semantische
Potential“ (J. Habermas) der Religion als eine mögliche Ressource der moralischen
Kritik von Fehlentwicklungen und der Formulierung von moralischen Prinzipien,
die auf neue Entwicklungen reagieren.
Kent Greenawalt setzt sich in seinem Beitrag nun explizit mit der Stellung der Religion im politischen System einer pluralistischen Gesellschaft auseinander. Besonders für liberale Demokratien ist diese Frage virulent, da sie ihre Konstituierung
häufig religiösen Auseinandersetzungen verdanken. Diese Spannung konkretisiert
sich in der Fragestellung Greenawalts, welche Reichweite und Universalität eine
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allgemeine politische Philosophie haben sollte, wenn sie die Stellung der Religion in
der Gesellschaft angemessen reflektieren will. Sollten Bürger bei politischen Entscheidungen auf ihre religiösen Überzeugungen zurückgreifen dürfen und in welchem Umfang soll das geschehen? Kent Greenawalt ist hier skeptisch gegenüber
einer universalistischen philosophischen Theorie der Politik.
Greenawalt wählt das Beispiel der USA, um seine Thesen skizzenhaft zu erläutern, bevor er die prinzipiellen Möglichkeiten des Verhältnisses von religiösen
Überzeugungen und rationalen Entscheidungsfindungsprozessen erläutert. Vom
Standpunkt der religiösen Person kann Glaube durchaus eine rationale Basis besitzen. In diesem Fall muss der Gläubige im politischen Diskurs nicht auf seine religiösen Überzeugungen verzichten. Allerdings können Gläubige auch ausdrücklich
behaupten, dass ihr Glaube zwar irrational sei, die Fundamente anderer ethischer
Argumentationen genauso irrational seien. Es bestehe daher für den Gläubigen kein
Grund, auf seine religiöse Überzeugung zu verzichten. Zuletzt hat der Gläubige auch
die Möglichkeit, die Bevorzugung der Rationalität bei Entscheidungen von öffentlichem Belang zu bestreiten. Trotzdem können einige Gläubige zu der Überzeugung
gelangen, dass Rationalität in öffentlichen Diskursen von Bedeutung ist und dass
religiöse Überzeugungen weniger Rationalität für sich beanspruchen können als
andere Wege ethischer Argumentation. Greenawalt greift hier auf Rawls zurück und
argumentiert, dass die von ihm in die politische Theorie eingeführten Unterscheidungen problematisch seien. Um die Probleme der Rawls’schen Distinktionen zu
beheben, unterscheidet Greenawalt Fragen der Rechtfertigung von Überzeugungen
von der Aufgabe der Legitimation von politischen Funktionen und Ämtern. Nach
Greenawalt sollte in Rechtfertigungskontexten auf explizite Bezugnahmen auf religiöse Begründungen und Überzeugungen verzichtet werden. Das bedeutet aber
nicht, dass die Funktionäre ihre religiöse Haltung leugnen sollten, sondern dass sie
ihre Begründungen in einer nicht-religiösen Terminologie vortragen sollten. Als
Bürger kann man jedoch von seinen religiösen Überzeugungen Gebrauch machen.
Wenn man hingegen eine mehr offizielle oder repräsentative gesellschaftliche Stellung innehat, sollte man sich eine Selbstbeschränkung im Hinblick auf die eigenen
religiösen Überzeugungen auferlegen. Dieser Vorschlag, so betont Greenawalt, ist
nicht auf alle liberale Demokratien anwendbar, sondern zunächst nur auf die USA.
Die politische Philosophie ist also nur eingeschränkt universal; sie muss die Kontexte berücksichtigen, innerhalb derer sie ihre Schlussfolgerungen ziehen will. Die
Überlegungen zeigen auch, dass die „Verbannung“ des Religiösen aus dem Entscheidungsfindungsprozess in liberalen Demokratien weder sinnvoll noch durchführbar erscheint. Es gilt, eine je situativ angemessene Lösung zu finden, die das
Dilemma von Exklusion und potentieller Instabilität löst.
Nicholas Wolterstorff schließt an Greenawalts Überlegungen an und unterzieht den
Grundgedanken des politischen Liberalismus einer ausführlichen Analyse. Dem
Liberalismus liegt Wolterstorff zufolge die Idee eines starken Konsensverfahrens
zugrunde. Die Begründung eines Gesetzes muss danach immer öffentlich erfolgen
und die betroffenen Personen müssen die Begründung akzeptieren können. Danach
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müsse auf die Unterstützung eines Gesetzes verzichtet werden, wenn die betroffenen
vernünftigen Personen die dargelegten Gründe für dieses Gesetz nicht akzeptieren.
Die Betroffenen, welche die Begründung des Gesetzes akzeptieren, stehen offensichtlich nicht unter dem Zwang des Gesetzes, sondern unterwerfen sich den Beschränkungen des Gesetzes freiwillig. Eine solche vernünftige Akzeptanz von Gesetzen garantiert nach der liberalen Auffassung die Gleichheit aller Bürger.
Liberale Theoretiker dieser Zwanglosigkeit gehen nach Wolterstorff davon aus,
dass die Bürgerethik einer liberalen Demokratie eine für alle gemeinsame Quelle
von Prinzipien haben müsse. Diese Quelle müsse selbstständig, d.h. unabhängig von
religiösen, philosophischen und anderen umfassenden Überzeugungsperspektiven
sein. Außerdem müssten aus dieser Quelle Prinzipien abgeleitet werden können, die
von allen Mitbürgern geteilt werden. Dies ist nach Wolterstorff aber ein falsches
Bild der realen Demokratie. Zum einen kann die Akzeptanz eines Gesetzes aufgrund
unterschiedlicher, aber gleich guter Argumentationen gewonnen werden, zum anderen ist die tatsächliche demokratische Praxis einer Gesetzgebung keine Konsens-,
sondern Mehrheitsentscheidung. Laut Wolterstorff ist es rätselhaft, warum es für alle
liberale Theoretiker von John Locke bis John Rawls und Robert Audi eine selbstständige Quelle für alle Prinzipien, die die Rawls’sche „öffentliche Vernunft“ konstituieren, geben müsse. Es könnte sein, dass hinter der Bedingung einer freistehenden, d.h. von übrigen Überzeugungen unabhängigen, Quelle eine praktische Logik
steckt. Denn es erscheint praktisch unmöglich, aus divergierenden Überzeugungsperspektiven zu einer freiwilligen Gesetzgebung zu kommen. Daher benötigt der
liberale Theoretiker laut Wolterstorff eine selbstständige Prinzipienquelle, um den
starken Konsensgedanken zu retten. Aber selbst wenn diesem Gedanken einer freistehenden Prinzipienquelle zugestimmt werden könnte, wäre die Möglichkeit nicht
ausgeschlossen, dass unterschiedliche Begründungen eines Gesetzes zwar aus derselben Quelle stammen, aber durch unterschiedliche Prinzipien generiert werden
könnten. Wenn aber unterschiedliche Begründungen für dieselbe Gesetzgebung
akzeptiert werden können, dann ist es arbiträr, auf einer einzigen Prinzipienquelle zu
bestehen. Wolterstorff kritisiert vor allem die nach seiner Meinung von allen Theoretikern des politischen Liberalismus geteilte Voraussetzung, die hinter dem Begriff
der „öffentlichen Vernunft“ verborgen steckt. Es handelt sich dabei um die Idee
eines kognitiven Zuganges zu einer „homogenen menschlichen Natur“, der von
unseren umfassenden Überzeugungen, also von der jeweiligen Bildung und Tradition, unabhängig sei. Nach seiner Auffassung stellt diese Idee eine Art der Wiedergeburt mittelalterlicher Vorstellungen von Homogenität dar, wonach gesellschaftliche
Gerechtigkeit und Stabilität nur unter der Voraussetzung einer gemeinsamen und
einheitlichen Theologie und Moralität möglich sei. Gegen solche Homogenitätsvorstellungen betont Wolterstorff, dass die Legitimität der demokratischen Gesetzgebung nicht auf der gemeinsamen zwangslosen Akzeptanz beruhe, sondern auf einem
vernünftigen Zugang aller Bürger zu öffentlichen Foren und fairen Wahlprozeduren
und auf einer Verfassung, welche die Unantastbarkeit bestimmter Rechte auch durch
demokratische Wahlentscheidungen garantiert.
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An Wolterstorffs Kritik an Rawls’ Idee einer unabhängigen Begründung knüpft der
Beitrag von Thomas M. Schmidt an, der die Grundthese von John Rawls’ Programm eines „Politischen Liberalismus“ untersucht. Diese These zielt nämlich auf
die Beantwortung der Frage, wie angesichts des Faktums eines dauerhaften Pluralismus vernünftiger umfassender Lehren eine stabile und gerechte Gesellschaftsordnung möglich ist. Wie aber kann eigentlich das Faktum eines permanenten und
zugleich vernünftigen Pluralismus erklärt werden?
Als erster Schritt einer Antwort bietet sich Rawls’ Unterscheidung zwischen Vernunft und Rationalität an. Das zentrale Kriterium, das Rawls für diese Unterscheidung von praktischer Rationalität und Vernunft in Anspruch zu nehmen behauptet,
ist der öffentliche Charakter der Vernunft. Das Vernünftige ist im Gegensatz zum
Rationalen in einer spezifischen Weise öffentlich. Um zu unterstellen, dass andere
Menschen rational sind, müssen wir keine gemeinsame öffentliche Welt betreten.
Um hingegen andere Personen als vernünftige Wesen anzuerkennen, muss ein Zusammenhang gemeinsamen Handelns gegeben sein. Die Zuschreibung von Vernunft
setzt eine gemeinsame Welt intersubjektiv geteilter Gründe und Prinzipien voraus.
Die Bürden der Urteilskraft oder der Vernunft sollen vor diesem Hintergrund nun
erklären, warum ein Pluralismus vernünftiger Überzeugungen wahrscheinlich ist.
Eine erste Form der Bürden des Urteilens resultiert daraus, dass nicht erwartet werden kann, dass politische Debatten zu einer solchen Art von Objektivität führen, wie
es im Fall naturwissenschaftlicher Diskurse unterstellt wird. Daher ist nicht denkbar,
dass sich soziale Institutionen und Staatsgewalt vollkommen frei, das heißt, ohne
Zwang und ausschließlich auf gesellschaftlichen Konsens gestützt, erhalten können.
Des Weiteren sind gerade politische Urteile abhängig von der Bewertung und Gewichtung einzelner Sachverhalte vor einem je individuellen Erfahrungshintergrund.
Die Lehre von den „Bürden der Vernunft“ trägt also dem Umstand Rechnung, dass,
selbst wenn Einmütigkeit darüber erzielt werden kann, welche Fakten relevant und
welche Überlegungen maßgeblich sind, immer noch unterschiedliche Auffassungen
über ihr Gewicht und ihre Bedeutung bestehen können, da sie im Lichte unterschiedlicher individueller Erfahrung gedeutet werden.
Hier zeigt sich jedoch eine entscheidende Ambiguität von Rawls’ Antwort auf die
Frage nach der Genese eines vernünftigen Pluralismus. Einerseits nämlich gehört
der Pluralismus von Überzeugungen zu den charakteristischen Eigenschaften der
Vernunft selbst, andererseits ist er das Ergebnis des Gebrauchs vernünftiger Kompetenzen im Rahmen einer bereits nach liberaldemokratischen Maßstäben geordneten pluralistischen Gesellschaft. Das Faktum eines vernünftigen Pluralismus wäre
dann als Resultat bestimmter Gesellschaften zu verstehen, die durch ein bestimmtes
Set an politischen Institutionen gekennzeichnet sind. Dieses Faktum würde dann
aber weder ein verallgemeinerungsfähiges Merkmal noch ein universelles normatives Kriterium von legitimer politischer Ordnung überhaupt darstellen. Wenn
diese Analyse zutrifft, dann erscheinen die von Rawls vorgenommenen Trennungen
zwischen der öffentlichen, moralisch-politischen Identität des Bürgers und der privaten, an Konzeptionen des Guten orientierten ethischen Identität des Individuums
willkürlich gesetzt. Damit erschiene dann aber auch eine Rechtfertigung jener für
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liberale Demokratien konstitutiven institutionellen Trennung von Religion und Politik, die auf diesen Unterscheidungen ruht, willkürlich. Sie würden den Verdacht
nahelegen, sekundär motiviert zu sein, etwa durch eine doch mit vorausgesetzte
umfassende liberale Lehre, die säkulare Orientierungen prinzipiell für wertvoller
hielte als religiöse. Wenn die Trennung zwischen Politik und Religion also auf eine
faire und für alle Bürger akzeptable Weise gerechtfertigt werden soll, bedarf es einer
stärker universalistischen Begründung des Vorranges weltanschaulich neutraler
politischer Institutionen vor dem Anspruch umfassender Lehren.
Als begrifflichen Rahmen für die Entscheidung über Fragen der Zulässigkeit oder
Unverzichtbarkeit religiöser Argumente im politischen Diskurs in einer liberalen
Demokratie betrachtet Paul J. Weithman das Konzept einer Ethik der Bürgerschaft.
Dieser Entscheidungsrahmen soll selbst kritisch hinterfragt werden; somit steht die
Natur der Bürgerschaft als Grundlage jeder demokratischer Gesellschaft im Mittelpunkt seiner Untersuchung. Der Schlüsselbegriff der vollständigen Mitgliedschaft,
den der britische Soziologe T. H. Marshall in seinem klassischen Essay Citizenship
and Social Class begründet hat, bildet den Ausgangspunkt für Weithmans Überlegungen. Nach Marshall ist es unmöglich, durch eine begriffliche Analyse zu bestimmen, welche Privilegien und Pflichten eine Person zum vollständigen Mitglied der
Gesellschaft machen. Diese Frage kann nur empirisch geklärt werden, da verschiedene Gesellschaften zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Privilegien und
Pflichten mit dem Kriterium der vollständigen Mitgliedschaft verbinden. Bürgerrechte und vollständige Mitgliedschaft haben somit dynamischen Charakter. Allgemein lässt sich nach Weithman sagen, dass ein vollständiges Mitglied einer Gesellschaft diejenige Person ist, die in das gemeinsame Projekt dieser Gesellschaft komplett integriert ist und als solche im politischen, ökonomischen und kulturellen Leben behandelt wird.
Am Beispiel der amerikanischen liberalen Demokratie untersucht Weithman die
Bedingungen vollständiger Mitgliedschaft. Es zeigt sich, dass die Akzeptanz vollständiger Mitgliedschaft für Bürger aus unterschiedlichen ethnischen, kulturellen
und religiösen Kreisen die notwendige Bedingung für eine mögliche Akzeptanz
religiöser Gründe seitens dieser Bürger darstellt. Für eine solche Rechtfertigung der
Verwendung von religiösen Gründen im öffentlichen Diskurs genügt allerdings eine
schwache Konzeption der vollständigen Mitgliedschaft; eine stärkere Form der Mitgliedschaft im Sinne aktiver politischer Partizipation wird nicht vorausgesetzt. Bürger dürfen aus religiösen Motiven Mitbürger wählen und politische Positionen einnehmen, sogar wenn andere Motive nicht vorhanden sind. Sie dürfen für ihre Auffassungen mit religiösen Gründen argumentieren, ohne dass diese durch andere
Gründe gerechtfertigt werden müssen. Als volle Mitglieder sollen auch die religiös
argumentierenden Mitbürger am politischen Leben die vollständige Teilnahme haben dürfen. Die Bedingung der Bürgerschaft in einer pluralistischen Gesellschaft
macht es unwahrscheinlich, dass es eine singuläre Sorte von Gründen gibt, die in
öffentlichen Debatten von allen Bürgern als allgemein gute Gründe angesehen werden könnten. In einer pluralistischen, liberalen Demokratie können Rechtsansprüche
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unterschiedlich begründet werden durch die Idee eines allgütigen Schöpfers, durch
Naturgesetz, durch hypothetische Übereinstimmung, durch Selbstevidenz und vieles
andere mehr. Die Akzeptanz einer bestimmten Begründung hängt davon ab, auf
welche Weise das Mitglied, das diese Begründung vorlegt, seine vollständige Mitgliedschaft erworben und die Integration erlebt hat. Die Zulassung verschiedener
Arten von Gründen zum öffentlichen Diskurs entspricht der Akzeptanz der vollständigen Mitgliedschaft aller Mitbürger und macht die öffentliche Deliberation reicher.
Die Beschränkung auf eine bestimmte Sorte von Gründen in der Öffentlichkeit birgt
die Gefahr, dass die vollständige Mitgliedschaft – mit ihrem subjektiven Gefühl der
Integration – bestimmten Mitbürgern faktisch verweigert wird. Allerdings gibt es
auch nach Weithman Bedingungen für die Zulassung von Begründungen in öffentlichen Diskursen. Diese Bedingungen zielen aber stets auf die Ermöglichung der
vollständigen Mitgliedschaft für jeden einzelnen Bürger. Laut Weithman ist daher
jeder Versuch, in Bezug auf eine bestimmte Art von mobilisierten Gründen, Bürgern
die volle Mitgliedschaft zu verweigern, mit den Prinzipien liberaler Demokratie
unvereinbar.
Auch James Bohman vertritt ein demokratietheoretisches Programm, das sich stärker am Konzept der Deliberation orientiert als an Rawls’ Projekt des politischen
Liberalismus. Angesichts des Faktum des Pluralismus plädiert Bohman für eine
Konzeption deliberativer Toleranz, die Demokratie als ein gemeinsames politisches
Projekt kontinuierlicher Selbstkorrektur und Selbsttransformation auffasst. Diese
Konzeption soll kein exklusivistisches Verfahren oder Rechtfertigungsprinzip darstellen, das zu einem statischen Überlegungsgleichgewicht führt. Dieses Rawls’sche
Modell muss, nach Bohman, auf religiöse Minderheiten intolerant wirken. Zugleich
unterschätzt es die Historizität und den dynamischen Charakter demokratischer
Gesellschaften. Bohman vertritt stattdessen ein inklusivistisches Modell der Deliberation, in dem sich auch das Überlegungsgleichgewicht selbst sowie die Prinzipien
der Rechtfertigung durchaus verändern können. Die Objekte der so verstandenen
Toleranz sind keine Einstellungen der opponierenden Parteien, sondern die Strukturen der Kommunikation selbst, welche die Begründungen, die die Opponenten liefern, ernst zu nehmen ermöglichen.
Bohman entfaltet seine Argumentation in vier Schritten. Im ersten Schritt zeigt er,
dass die neue Realität der pluralistischen Demokratien ein Problem der tiefen Konflikte zwischen verschiedenen sozialen und kulturellen Schichten bringt, das gelöst
werden muss. Im zweiten Schritt stellt er fest, dass nur deliberative Toleranz eine
Kommunikation zwischen Bürgern, auch im Falle tiefer Konflikte, ermöglichen
kann. Im dritten Schritt argumentiert Bohman gegen klassische liberale Theorien.
Sie sind laut Bohman tendenziell intolerant, da sie die demokratische Pflicht der
Rechtfertigung nicht in Bezug auf alle Mitbürger einer deliberativen Gemeinschaft
erfüllen. Sie leisten nämlich keine Rechtfertigung, die für die zuvor aus der Öffentlichkeit ausgeschlossenen Positionen akzeptabel erscheint; generell scheinen sie die
Kommunikation mit diesen Positionen nicht ernst genug zu nehmen. Allerdings
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diskutiert auch Bohman normative Standards für die Anpassung religiöser Minderheiten an den öffentlichen politischen Diskurs. Bohman zufolge zieht eine solche
Anpassung die Veränderung des Überlegungsgleichgewichts einer demokratischen
Gesellschaft nach sich. Dies führt zu einer Veränderung der demokratischen Rechtfertigungsstandards und damit zu einer Selbsttransformation des Charakters der
jeweiligen Demokratie in ihren zentralen Praktiken und Institutionen. Auf diese
Weise wird Toleranz religiöser Kommunikation in der Öffentlichkeit zu einem
grundlegenden Merkmal einer sich dynamisch entwickelnden Demokratie.
Generell wird die Frage nach der angemessenen öffentlichen Rolle von Religion in
einer pluralistischen Gesellschaft in normativer Hinsicht häufig als Problem der
Toleranz diskutiert. In welchem Umfang können und müssen religiöse begründete
Einstellungen und Praktiken geduldet werden? Ein zu restriktiver Gebrauch liberaler
Prinzipien ist selbstwidersprüchlich, ein zu weiter, „liberaler“ Gebrauch selbstzerstörerisch, da er die Voraussetzungen von Toleranz und demokratischem Respekt
fundamentalistisch zu untergraben droht. Rainer Forst analysiert in seinem Beitrag
den Begriff der Toleranz selbst. Dabei werden in einem ersten Schritt drei verschiedene Komponenten dieses Konzepts unterschieden, nämlich die Zurückweisungskomponente, die Akzeptanzkomponente und die Komponente der Ablehnung. Die
Ablehnungskomponente besagt, dass dasjenige, was toleriert werden soll, in irgendeinem Sinn abgelehnt wird, etwa weil man es für falsch, unmoralisch oder aus anderen Gründen für unrichtig hält. Die Akzeptanzkomponente besagt, dass dieses Objekt trotz der Ablehnung, die es erfährt, aus Gründen toleriert und damit in gewisser
Weise akzeptiert wird. Die Zurückweisungskomponente legt schließlich fest, welche
Überzeugungen und Praktiken definitiv ausgegrenzt werden. Bereits diese kurze
Übersicht zeigt, dass Toleranz eine komplexe Balance aus entgegen gesetzten Ansprüchen erfordert. Eine Theorie der Toleranz muss diesen Ansprüchen gerecht werden. So zeigt eine genaue Diskussion der Paradoxa der Toleranz nach Forst, dass der
Begriff der Toleranz ein normativ abhängiger Begriff ist, der nach einer autonomen
moralischen Basis verlangt. Forst ist der Überzeugung, diese Basis im Prinzip der
Gerechtigkeit gefunden zu haben. Im Zentrum der Gerechtigkeit steht das Prinzip
einer vernünftigen Rechtfertigung, das den Kriterien von der Allgemeinheit und
Reziprozität genügt. Toleriert werden muss demgemäß, was sich unter Anwendung
dieser Kriterien in öffentlichen Rechtfertigungskontexten nicht vernünftig zurückweisen lässt.
Forsts Toleranzkonzept erlaubt so, verschiedene Bereiche des Normativen zu differenzieren, insbesondere den ethischen Bereich divergierender Vorstellungen des
inhaltlich bestimmten Guten von der Sphäre universaler Moralbegriffe. Ohne die
Idee vom Guten oder vom gelingenden Leben aufgeben zu müssen, können übergreifende Prinzipien der Rechtfertigung formuliert werden, aus denen verlässliche
Kriterien der Toleranz gewonnen werden können. Dadurch wird es möglich, die
zentralen Paradoxa der Toleranz aufzulösen und zu bestimmen, welche Überzeugungen und Praktiken zu tolerieren sind. Forst räumt ein, dass diese Konzeption der
Toleranz in einem gewissen Sinn intellektualistisch ist, da die Teilnehmer an sol17
chen Rechtfertigungsdiskursen über ausreichend argumentative Kapazitäten verfügen müssen. Darüber hinaus müssen die Beteiligten auch willens sein, die Konsequenzen der Rechtfertigungsprozesse rational zu akzeptieren. Den in diesem Kontext gerade von religiös motivierten Kritikern erhobene Vorwurf der Persönlichkeitsspaltung kontert Forst durch eine ausführlichere Diskussion dieses Konzepts
einer rationalen Persönlichkeit im Rahmen der Philosophie des Geistes. So kann
gezeigt werden, dass die Fähigkeit, unterschiedliche Bereiche des Normativen zu
unterscheiden und sich in diesen Bereichen argumentativ bewegen zu können, keine
Schizophrenie impliziert, sondern gerade die rationalen Kompetenzen einer gefestigten und stimmigen Persönlichkeit ausmacht, die auch sich selbst gegenüber Toleranz
üben kann.
Im Zusammenhang mit der Toleranz werden rationalitäts- und wahrheitstheoretische
Fragen und Aspekte der Philosophie des Geistes thematisch. Dies zeigt, dass die
politisch-normative Debatte über den angemessenen Ort der Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit intern mit der religionsphilosophischen Frage nach dem rationalen Status und dem Wahrheitsanspruch religiöser Überzeugungen verbunden ist.
Thomas Rentsch geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob es überhaupt philosophische Gründe gibt, von irreduziblen Wahrheitsansprüchen religiöser Art zu sprechen. Zunächst diskutiert er die häufig anzutreffende These, der zufolge religiöse
Überzeugungen und wissenschaftliche Wahrheitsansprüche konkurrieren. Diese
Konstellation ergibt sich Rentsch zufolge aus einem Missverständnis religiöser Aussagen. Sätze wie „Jesus lebt“ oder „Christus ist für uns gestorben“ sind religiöse
Bekenntnisse, die nicht auf der Ebene empirischer Sätze oder wissenschaftlicher
Theorien angesiedelt sind. Es handelt sich dabei vielmehr um Artikulationen einer
fundamentalen Lebensorientierung. Daher weist Rentsch auch die verwandte These
zurück, dass es sich bei religiösen Wahrheitsansprüchen um Hypothesen handelt. Er
plädiert stattdessen dafür, die Verlässlichkeit und Gewissheit religiöser Überzeugung als Ausdrucksgestalten interpersonaler Vertrauensverhältnisse zu deuten. Wissenschaftstheoretische Methoden von Falsifikation oder Verifikation können die
spezifische Rationalität und Begründung solcher Aussagen nicht erfassen. Auch die
Vorstellung, bei religiösen Überzeugungen würde es sich um den Ausdruck von
Gefühlen handeln und ihr Wahrheitsanspruch würde sich in ihrem emotiven Status
erschöpfen, wird von Rentsch kritisiert. Die mit der emotiven Deutung einhergehende Psychologisierung und Subjektivierung werde von religiöser Seite selbst kritisiert. Überdies zeige die Religionsgeschichte eine zunehmende Rationalisierung und
Ethisierung der Überzeugungen und Lehren, die sich nur schwer mit der reduktionistisch-emotiven These vereinbaren lasse. Auch die häufig vorgetragene Behauptung, wonach Religion ihre Wahrheitsansprüche aus ihren sozialen oder individualpsychologischen Funktionen bezieht, scheitert Rentsch zufolge daran, dass die religiöse Sprache nicht der Logik instrumenteller Vernunft folgt. Auch entfremdungstheoretische Ansätze, welche die Religion auf die Kompensation und Stütze ökonomischer oder psychologischer Verhältnisse reduzieren, seien zurückzuweisen. Die
Religionen hätten nämlich auch ihre eigenen Formen der Kritik an den bestehenden
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Verhältnissen gefunden. Zudem leidet dieser Ansatz Rentsch zufolge an der Verwechslung von Geltung und Genese religiöser Überzeugungen. Aber auch eine Reduktion von Religion auf Ethik weist Rentsch energisch zurück, denn der Kern religiöser Einstellungen werde durch Verheißungen, Heilszusagen, Weisheitslehren und
Bekenntnisse gebildet, nicht durch Sollenssätze.
In einem weiteren Schritt expliziert Thomas Rentsch seine Auffassung der irreduziblen Wahrheitsansprüche von Religion. In mehreren Varianten erläutert er seine
folgende Kernthese, die besagt, dass Vernunft nur dann vernünftig bleibt, wenn sie
sich ihrer Grenzen in praktischer und theoretischer Hinsicht bewusst ist. Der Wahrheitsanspruch der Religion besteht nun genau darin, diese Grenzen der Vernunft
negativ zu bestimmen, in kulturellen Lebensformen zu institutionalisieren und bewusst zu gestalten. Religiöse Wahrheitsansprüche sind in diesem Sinn als Ansprüche auf eine irreduzible Sinnhaftigkeit menschlicher Praxis aufzufassen.
Ludwig Nagl reagiert auf die Ausführungen von Rentsch und entwickelt eine eigenständige Perspektive zur Frage nach dem Status religiöser Wahrheitsansprüche. Nagl
teilt ausdrücklich die Auffassung von Rentsch, dass die Teilnehmer eines religiösen
Sprachspiels, aus der Innenperspektive betrachtet, Wahrheitsansprüche erheben.
Jeder Versuch, diese Wahrheitsansprüche aus einer externen philosophischen Perspektive zu bewerten, muss dieses Problem der Innenperspektive in seine von außen
kommende Betrachtung mit einbeziehen. Nagl kritisiert allerdings die Auffassung
von Rentsch, wonach Wahrheitsansprüche der Religionen nicht relativistisch, sondern exklusiv verfasst seien. Es sei vielmehr der Fall, dass der Wahrheitsanspruch
einer jeden Religion intrareligiös gesehen immer problematisch sei. Im Blick auf die
Frage nach dem Wahrheitsanspruch religiöser Überzeugungen ist daher eine doppelte argumentative Denkbewegung von Nöten. Zum einen könne die philosophische
Rekonstruktion von Religionen immer nur deren formal-identische Grundstruktur
herausarbeiten, der schwache Status dieser internen „Geltungslogiken“ bleibe dabei
epistemologisch umstritten. Zum anderen könne es vor diesem Hintergrund zwar
möglicherweise gelingen, die so genannten „overbeliefs“ von Religionen stimmig zu
denken. Dies sei jedoch nur so lange möglich, wie die „overbeliefs“ sich nicht gegen
konkurrierende Glaubensinhalte aufspreizen.
Um die irreduziblen Ansprüche der Religionen reflexiv zu bestimmen, bedürfe es
daher zweier Denktraditionen, von denen sich Rentsch allzu schnell distanziere: die
Hoffnungslogik Kants und die Religionsphilosophie der Pragmatisten. Kants Postulatenlehre ermöglicht, den Ideen der spekulativen Erkenntnis objektive Realität zu
verleihen. Diese Lehre Kants sei jedoch auch einigen schweren Problemen ausgesetzt, da sie in einem starken Apriorismus verankert sei, der sich heute nicht mehr in
dieser Form halten ließe. Daher sei eine Vermittlung der Kantischen Position mit
pragmatistischen Überlegungen zur Rationalität und Wahrheitsfähigkeit religiöser
Überzeugungen geboten. So beruhe auch Rentschs Distanzierung vom Pragmatismus auf einem Missverständnis. Er distanziere sich von der pragmatistischen Religionsphilosophie, weil diese religiöse Überzeugungen zu stark an wissenschaftliche
Hypothesen angleiche. Diese Beurteilung ist Nagl zufolge jedoch vorschnell.
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Rentsch verzichte damit zugleich auf ein geeignetes methodisches Mittel zur Überwindung von Ambivalenzen seines eigenen Ansatzes. Er möchte nämlich auf der
einen Seite die radikale Metaphysikkritik beerben und auf der anderen Seite einen
empathischen, post-negativen Vernunftbegriff verteidigen. Diese beiden Theoriestränge seien jedoch nicht vollständig kompatibel; stattdessen böte sich eben eine
recht verstandene pragmatistische Bestimmung des Wahrheitsanspruches von Religion in einem post-metaphysischen, pluralistischen Kontext an. Die von Nagl vorgeschlagene Rehabilitierung des Pragmatismus stellt somit abschließend noch einmal
die Verbindung zwischen religionsphilosophischen, epistemologischen und politiktheoretischen Überlegungen her. Der Beitrag verweist so abermals auf die Komplexität und den unhintergehbar interdisziplinären Charakter der Frage nach dem angemessenen Ort der Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit.
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