7.3 Generelle Prinzipien der

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7 Höhere Verarbeitungsprozesse
Generelle Prinzipien der
Informationsverarbeitung
Informationsverarbeitung im Gehirn unterliegt verschiedenen Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien. Das einfachste Prinzip ist die lineare Verarbeitung, „Schritt
für Schritt“. Es gibt aber eine ganze Anzahl anderer Prinzipien, die parallele Verarbeitung von Information, und die „dezentralisierte“ Verarbeitung in neuronalen Netzen, in denen die Information nicht in diskreten „Paketen“ kodiert ist,
sondern über das Netz verteilt (verschmiert?) ist. Im Gehirn scheinen alle diese
Prinzipien zur Anwendung zu kommen. Jedes der Prinzipien hat besonderen
Eigenschaften und Begrenzungen, die hier im Detail besprochen werden.
7.3.1
Probleme mit linearer Informationsverarbeitung
Bis hierher wurde der Informationsfluss und die Informationsverarbeitung im Gehirn in einer linearen, hierarchischen Weise beschrieben: Visuelle Information erreicht die Retina, wird über die Sehbahn über den speziellen Thalamuskern (den lateralen Kniehöcker, Geniculatum laterale) zum primären visuellen Cortex gesandt
und dort von sekundären Arealen weiterverarbeitet. Dabei wird die Information
nach verschiedenen Qualitäten verarbeitet, wie Farben, räumliche Tiefe und Bewegung. Diese Darstellung ist stark vereinfacht, idealisiert und so nicht zutreffend.
Das Problem mit der Zeit
Da zwischen den einzelnen Cortexarealen lange Signalwege zu überbrücken sind,
deshalb Verzögerungen der Informationsweiterleitung durch die axonalen Laufzeiten und die synaptischen Verschaltungen auftreten, würde es etwa eine halbe Sekunde dauern, bis beispielsweise ein Gesicht erkannt werden kann. Die analysierenden Areale für Farbe, Form, Geschwindigkeit, 3D-Projektion müssten ja alle untereinander Verbindung aufnehmen.
Ableitungen im Cortex haben jedoch gezeigt, dass komplexe Prozesse wie Gesichtserkennung bereits nach rund 75 Millisekunden abgeschlossen sind. Das entspricht ungefähr der Zeitdauer, die die Information von der Retina über den Sehhöcker zum visuellen Cortex zurücklegt. Es bliebe keine Zeit, Information etwa vom
Farbareal zum Objekterkennungsareal zu schicken. Ein rein lineares System kann
eine solch schnelle Leistung daher nicht vollbringen.
Das Problem mit der Speicherung
Bei linearer Informationsverarbeitung müsste die Information kontinuierlich konvergent auf immer weniger Neurone zugeleitet werden, die immer kompliziertere
Prozesse codieren (z. B. ein Gesicht). Irgendwann gelangte man auf eine Stufe, bei
der alle Informationen über ein Gesicht auf ein einziges Neuron konvergieren wür-
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den. Ein solch hypothetisches Neuron wird auch „Großmutterzelle“ genannt, da es
alle visuellen Informationen, also auch die über die eigene Großmutter, repräsentiert und auch speichert. Jedes Objekt braucht in diesem System eine Zelle, die die
Information speichert. Man kann sich leicht ausrechnen, dass man bald keine frei
verfügbaren Neurone mehr im visuellen System hätte. Obwohl der Cortex eine
große Anzahl von Zellen besitzt, ist die Zahl der visuellen Eindrücke, die man im
Leben aufnimmt, größer. Auch wäre dieses System sehr unflexibel. Wenn man
etwas Neues sähe, wäre dieses unflexible System nicht in der Lage, Gemeinsamkeiten zu bisher gesehenen und gespeicherten Objekten zu erkennen. Wir könnten
also neue Objekte erst einmal überhaupt nicht erkennen, auch wenn sie Ähnlichkeiten mit bereits bekannten haben. Tatsächlich ist unser visuelles System aber
sehr flexibel, und wir können auch neue Objekte „verstehen“ und die Ähnlichkeiten
mit bekannten Objekten sofort erkennen.
Das Problem mit der Verlässlichkeit
Ein weiteres Argument gegen die lineare „Großmutterzellen“-Architektur des Gehirns ist die Tatsache, dass Neurone chronisch unzuverlässig sind. Das Rauschverhältnis ist extrem hoch im Nervensystem, da Neurone spontan aktiv sein können,
oder umgekehrt auch bei starker Aktivierung nicht immer feuern. „Großmutterzellen“ dürften aber nicht spontan feuern, da ja sonst Halluzinationen auftreten
würden, und sie müssten extrem zuverlässig feuern, wenn der richtige Stimulus
erscheint, damit wir die Personen auch erkennen.
Auch wäre der Tod einer solchen „Großmutterzelle“ eine Katastrophe, da die gesammelte Information plötzlich und vollständig verloren ginge. Tatsächlich sterben
aber täglich Tausende von Neuronen ab, ohne dass es uns bewusst wird. Im Gegenteil – der Cortex ist sogar sehr tolerant gegenüber Zellverlust. Bei jüngeren Menschen können im Extremfall ganze Cortexareale (z. B. durch Epilepsie) zerstört werden, ohne dass es zu größeren Ausfällen kommt. In einem Fall wurde einem Kind
die ganze linke Hirnhälfte entfernt, da es der Herd von nicht-behandelbaren epileptischen Anfällen war. Nach einer Erholungsphase zeigten sich die Eltern und die
Ärzte überrascht, wie gering die Ausfälle bei dem Kind waren. Einige Aktivitäten
konnte das Kind sogar besser durchführen. Vermutlich funktionierte die linke Hirnhälfte bereits seit geraumer Zeit nicht mehr zuverlässig, und die Funktionen der linken Hirnhälfte waren bereits von der rechten weitgehend übernommen worden,
inklusive des Sprachvermögens.
Der Psychologe Karl Lashley unternahm in den 30er-Jahren eine Reihe von Versuchen bei Ratten um herauszufinden, welches corticale Areal für welche Verhaltensleistung zuständig ist. Zu seiner Überraschung konnte er keine spezifischen
Verluste nach der Entfernung verschiedener Cortexanteile feststellen, und nur die
Gesamtmenge des entfernten Cortex schien eine Auswirkung auf die Fähigkeiten
zu haben, etwa den Weg durch ein Labyrinth zu erlernen. Er stellte die Vermutung
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7.3 Generelle Prinzipien der Informationsverarbeitung
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Warum sind Menschen so schlecht im Kopfrechnen? Was ist die Quadratwurzel von 127?
Nun? Warum dauert es so lange, ein verhältnismäßig leichtes Algebra-Problem zu lösen?
Jeder billige Taschenrechner kann das Problem im Bruchteil einer Sekunde lösen. Im Vergleich dazu sind unsere Fähigkeiten erstaunlich begrenzt. Jedoch: Wir sind sehr gut in
der Objekterkennung. So ist es für uns kein Problem, einen Menschen wiederzuerkennen,
auch wenn er inzwischen älter, übergewichtiger, kahler geworden ist, einen Bart hat und
eine Sonnenbrille trägt. Bisher ist es nicht möglich gewesen, einen Computer zu bauen,
der eine solche „leichte“ visuelle Aufgabe lösen kann. Tauben sind übrigens auch in der
Lage, ähnliche Aufgaben zu lösen.
Der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Computer besteht darin, dass Computer mit einer linearen Informationsverarbeitungs-Architektur arbeiten. Sie haben Prozessoren, die relativ schwierige Probleme in jedem Schritt bewältigen können. Allerdings
können sie nicht viele Probleme gleichzeitig lösen. Gehirne dagegen arbeiten nach dem parallelen Verarbeitungsprinzip. Dadurch kann ein Problem in viele relativ einfache Unterprobleme aufgeteilt werden, die alle gleichzeitig bearbeitet werden, und die Bildverarbeitung so viel schneller vonstatten gehen lässt. Außerdem wird dabei kein hochspezieller Prozessor gebraucht, sondern die Arbeit kann von vielen eher einfachen Prozessoren (also Neuronen) ausgeführt werden. Ein Nachteil: Algebraische Probleme lassen sich nicht beliebig in
einfache Probleme aufspalten, sie sind also ideal für lineare Informationsverarbeitung.
Unser Gehirn ist nicht ohne weiteres in der Lage, komplexe algebraische Prozesse in
einem Schritt zu bewältigen.
Die Aufgabe, Menschen wiederzuerkennen, ist eine Mustervervollständigungsaufgabe.
Neuronale Netze sind sehr gut auf diesem Gebiet, aber lineare Informationsverarbeitungssysteme nicht.
Das Problem mit der Informationszusammenführung
Ein weiteres Problem wäre, die jeweiligen Eigenschaften von Dingen (also Farbe,
räumliche Dimensionen, Bewegung), die bei strikt linearer Informationsverarbeitungsweise in verschiedenen Cortexarealen analysiert werden, wieder zusammenzuführen, um ein vollständiges Objekt zu erhalten. Ein Hund zum Beispiel hat verschiedene Eigenschaften, eine bestimmte Farbe, bestimmte Bewegungsweisen
oder eine bestimmte Größe. Woher weiß das Gehirn, dass die Farbe zu dem
Hund gehört? Die Areale, die Farbanalysen betreiben, sind relativ weit entfernt
von den Arealen der räumlichen Analyse. Wie werden die Eigenschaften synthetisiert, die Einzeleigenschaften also wieder zu einem Hund „zusammengefügt“? In
einem linearen Informationsverarbeitungssystem wäre dies nur unter erheblichem
Aufwand zu machen, der vor allem Zeit braucht. Die jeweiligen Informationsanteile
müssen gekennzeichnet werden, dass sie zu dem Objekt „Hund“ gehören, und dann
über Verbindungsleitungen zusammengeführt werden.
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auf, dass der Cortex nicht sehr spezialisiert ist, und nur die Quantität eine Rolle
spielt.
7.3 Generelle Prinzipien der Informationsverarbeitung
Die Antwort: Parallele Informationsverarbeitung
und neuronale Netzwerke
Eine Methode, die Informationsverarbeitung zu beschleunigen, ist die parallele Informationsverarbeitung. Anstatt wie bei einem Computer jeden Bildpunkt nacheinander zu rechnen, kann ein paralleles System alle Bildpunkte gleichzeitig berechnen. Wie wir von der Anatomie des visuellen Systems wissen, wird die Information parallel an das ZNS weitergeleitet. Die Bildverarbeitung kann daher sehr
schnell erfolgen. Neurone sind ideal für ein parallel geschaltetes System: Sie können
nur verhältnismäßig einfache Probleme bearbeiten und sind sehr langsam (im Vergleich zu Computerprozessoren), aber parallel geschaltet ist die Gesamtverarbeitung schneller als in einem Computer. Parallele Verarbeitung allein löst aber
noch nicht das Problem mit der Verlässlichkeit und dem Speichern großer Datenmengen. Auch haben wir noch das Problem mit dem Rauschen der Neurone.
Neuronale Netzwerke: holistische Informationsverteilung
Sogenannte neuronale Netzwerke sind Verknüpfungen von vielen Neuronen. Im
Idealfall ist jedes Neuron mit möglichst vielen anderen Neuronen über synaptische
Verbindungen verknüpft. Alle Neurone und alle Verbindungen sind zunächst
gleichwertig. Ein Reiz aktiviert eine Reihe von diesen Neuronen und Synapsen,
und das entstehende Erregungsmuster enthält die Information des Reizes. Dieses
Aktivitätsmuster kann man speichern, wenn die synaptischen Verbindungen veränderbar sind, wenn etwa oft genutzte Synapsen ihre Übertragungseigenschaften
verbessern.
Die Informationsverteilung in neuronalen Netzwerken ist prinzipiell der Erzeugung von Hologrammen sehr ähnlich: Die Information ist über das gesamte Netz
verteilt. Das hat eine Reihe von wichtigen Auswirkungen:
Toleranz gegenüber Verlust von corticalem Gewebe: Da die Information nicht
auf einzelne Neurone beschränkt, sondern vielmehr verteilt ist, kann das neuronale
System den Verlust von Neuronen ohne weiteres ertragen. Daher haben auch größere Cortexverluste unter Umständen wenig funktionale Auswirkungen. Auch
kann die Unzuverlässigkeit einzelner Neuronen auf diese Weise aufgefangen werden.
Große Speicherkapazität: Im Gegensatz zu linearen Systemen, die „Großmutterzellen“ produzieren, die dann für keine weiteren Aufgaben zur Verfügung stehen, ist die Speicherkapazität in neuronalen Netzwerken nicht so streng begrenzt.
In neuronalen Netzwerken haben Neurone keine genau definierte Rolle, sondern
können Teil von beliebig vielen Netzwerken sein. Die tatsächliche Speicherkapazität eines neuronalen Netzwerks hängt von der konkreten Architektur ab. Die Architektur des Hippocampus legt nahe, dass relativ wenige Synapsen an der Informationsverarbeitung und -speicherung beteiligt sind (das Prinzip des sparse coding),
sodass dieses Netzwerk riesige Datenmengen speichern kann, die auch in einem
langen Menschenleben nicht ausgeschöpft werden können.
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Rauschtoleranz: Das Rauschen von einzelnen Neuronen hat wenig Auswirkung
auf die Information im Netzwerk insgesamt. Wenn ein Neuron spontan aktiv ist, beeinflusst dieses Rauschen nur einen lokal begrenzten Bereich des neuronalen Netzwerkes. Bei einer geeigneten Architektur kann sich das Rauschen über viele Neuronengruppen hinweg statistisch herausmitteln.
Mustervervollständigung: Neuronale Netzwerke können unvollständige Informationspräsentationen aus dem Gedächtnis vervollständigen. Wenn ein Reizmuster (z. B. ein Gesicht) von dem Netzwerk „gelernt“ wurde, wenn also die in der Lernphase aktivierten Synapsen sich verändert haben, dann kann auch bei unvollständiger Reizpräsentation (also nur ein halbes Gesicht) das neuronale Aktivitätsmuster, was vorher bei der vollständigen Reizpräsentation auftrat, wieder aktiviert
werden. Dieser „Erinnerungsprozess“ kann erklären, warum unser visuelles System
große Fähigkeit zur Wiedererkennung von Menschen und Objekten hat, obwohl
sich die Lichtverhältnisse ständig ändern, uns die Objekte immer aus einer etwas
anderen Orientierung präsentiert werden und Menschen verschiedene Kleidungsstücke tragen.
Zusammenbinden der Einzeleigenschaften zu einem Objekt: Da die Information in neuronalen Netzwerken nicht streng lokalisiert ist, sondern auf viele
Neurone verteilt, ergibt sich eine elegante Lösung des Problems, wie die einzelnen
Eigenschaften von Objekten zusammengefasst werden können. Zwar gibt es spezialisierte Areale im Cortex, die bestimmte Aufgaben bevorzugt durchführen (z. B.
Farbanalyse), jedoch darf man sich diese Arbeitsteilung nicht zu streng vorstellen.
Neuronale Netze kennen keine 100 %ige Lokalisierung von Information, sondern
nur „stärkere Beteiligung“ an der Verarbeitung von bestimmten Informationen.
Demnach sind auch andere Areale an der Informationsanalyse von Farbe beteiligt,
jedoch nur zu einem kleineren Anteil. Das „Farbzentrum“ ist also nicht exklusiv für
die Farbbestimmung zuständig, sondern nur hauptsächlich. Wenn also das neuronale Netz die Gesamtinformation in nicht-lokaler, verteilter Form enthält, dann ist
das Areal, das Formen analysiert, auch mit dem Areal, das Farben oder Bewegung
analysiert, verbunden. Das Problem, die richtigen Informationen nach der Verarbeitung wieder zusammenzuführen, entfällt.
Geschwindigkeit ist keine Hexerei: Wenn das Areal, das Formen analysiert,
auch mit dem Areal, das Farben oder Bewegung analysiert, als Netzwerk funktional
verbunden ist, entfällt auch der Zeitverlust, den ein Informationstransfer von Farbareal zu Formenareal beinhalten würde. Die Information ist sofort präsent und war
immer als Netzwerk verbunden. So kann man erklären, wie Gesichtserkennung in
nur 75 Millisekunden erfolgen kann.
Ein Konzept, wie solche Aktivitätsmuster in neuronalen Netzwerken im Gehirn
zusammengeführt oder zusammengehalten werden, ist das der synchronisierten
Aktivität von Netzwerken, wie sie an der Gesichtserkennung beteiligt sind.
Wenn also Hirnareale zusammenarbeiten, um beispielsweise eine gezielte Bewegung auszuführen, dann müssen Motorcortex und visuelle Cortexanteile zusammenarbeiten. Die Zusammenführung neuronaler Aktivitätsmuster erfolgt durch
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zeitliche Synchronisation der Feueraktivität der Neurone. Neurone, die an der gleichen Informationsverarbeitung beteiligt sind, feuern zur gleichen Zeit, während
die, die andere Information verarbeiten, zu anderen Zeiten aktiv sind. Wenn Cortexareale nicht an der gleichen Informationsverarbeitung beteiligt sind, sind sie auch
nicht synchronisiert. Dadurch entfällt auch eine mögliche Interferenz durch nichtrelevante Information aus Nachbararealen, die andere Analysen durchführen. Die
Synchronisation von neuronaler Aktivität könnte durch Membran-Oszillationen
gesteuert werden, das heißt, eine Signalerkennung ist im Netzwerk als Resonanz
eines periodischen Stimulus mit einer inhärenten Oszillation der Neuronen zu verstehen. Solche Oszillationen lassen sich im EEG nachweisen. Sie werden in der
Hauptsache von Schrittmacher-Kernen, Neuronengruppen im Gehirn, die über
sogenannte Schrittmacher-Ionenkanäle verfügen, im Stammhirn gesteuert.
Hologramme – holistische Informationsspeicher: Ein Hologramm ist ein Interferenzmuster, das ein Laserstrahl, der ein Objekt beleuchtet, mit einem anderen Referenzlaserstrahl
produziert. Wenn das Hologramm entwickelt ist, reproduziert es das Interferenzmuster.
Ein Hologramm enthält also mehr als nur die zweidimensionale Information auf einem herkömmlichen Foto. Zum einen enthält es die dreidimensionale Information, zum anderen ist
die Information „holistisch“ über das Hologramm verteilt, und nicht lokal wie bei einem
Foto. Eine interessante Auswirkung davon ist, dass, wenn man ein Stück des Hologramms
abschneidet, immer noch das gesamte Bild zu sehen ist. Schneidet man das Hologramm
in viele Stücke, so ist das gesamte Bild auf jedem Einzelstück zu sehen. Je kleiner das
Stück ist, desto grobkörniger sieht es aus und desto weniger Details enthält das Bild. Natürlich passiert das bei einem herkömmlichen Foto nicht. Der abgeschnittene Teil eines Fotos
enthält Informationen, die dem Gesamtbild verloren gehen.
Ein Beispiel für eine solche holistische Informationsverarbeitung im Gehirn ist die
Geruchswahrnehmung. Die Geruchssinneszellen befinden sich in der Riechschleimhaut der Nasenhöhle (S. 523). Beim Menschen sind vermutlich ~350 verschiedene Geruchsrezeptoren in den Membranen der Geruchssinneszellen lokalisiert, die jeweils verschieden stark von einem Geruchsstoff aktiviert werden.
Viele Sinneszellen senden dann gleichzeitig Information an den Riechkolben, wo
Geruchsinformation verarbeitet wird. Jeder Geruch hat daher ein individuelles
Aktivitätsprofil von mehr oder weniger aktivierten Sinneszellen. Es wurde lange
Zeit versucht, spezialisierte Gebiete innerhalb des Riechkolbens auszumachen,
also zum Beispiel ein Areal, welches von dem Duft von Geranien spezifisch aktiviert
wird. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass Gerüche Aktivitätsmuster im gesamten
Riechkolben auslösen, und nicht auf einen Unterbezirk des Riechkolbens begrenzt
sind. Die Information steckt also nicht in der Aktivität eines Neurons oder einer
kleinen Gruppe von Neuronen, sondern im Aktivitätsmuster des gesamten Netzwerkes. Da nur einige Neurone durch die Sinneszellen aktiviert werden, entstehen
Aktivitätsmuster, die für jeden Geruch individuell sind und über den gesamten
Riechkolben verteilt sind. Solche Aktivitätsmuster wurden mit verschiedenen
Methoden nachgewiesen, z. B. durch Ableiten von neuronaler Aktivität im Riechkolben oder durch bildgebende Messmethoden wie der MRI-Technik (s. o.).
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Bottom-up- und Top-down-Dynamik
Ein weiteres wichtiges Prinzip der Informationsverarbeitung im Gehirn ist das der
Rück-Propagation und Rückkopplung. Bisher wurde in diesem Kapitel die Informationsverarbeitung als Einbahnstraße beschrieben, als ob sie nur von den sensorischen Organen unidirektional zum ZNS geschickt wird, wo sie die verschiedenen
Ebenen der Informationsverarbeitungshierarchie durchläuft (auch Bottom-up-Informationsfluss genannt). Anatomische Untersuchungen der Faserbündel und Projektionen im Gehirn zeigen jedoch, dass diese einfache Annahme nicht richtig ist.
So sind die meisten axonalen Projektionen im Gehirn in beide Richtungen entwickelt. Die Information wird also von der Retina an einen speziellen Thalamuskern
(den Sehhöcker, Corpus geniculatum laterale) gesandt, von dort zum primären Sehcortex, dann zum sekundären visuellen Cortex, und so weiter. Gleichzeitig gibt es
sehr starke Projektionen in die umgekehrte Richtung. Insbesondere ist die Projektion vom primären Sehcortex zurück zum Sehhöcker sehr stark ausgeprägt. Dies
legt die Vermutung nahe, dass Information zurückgeführt wird, um die Weiterleitung zu steuern. Dies ist als Top-down-Prinzip bekannt. Welche Funktion könnte
dieses Top-down-System haben?
Durch Top-down-Rückkopplung wird die Aktivierung von speziellen Arealen
gesteuert, die ein bestimmtes Problem bearbeiten. Dadurch wird eine Fokussierung der Informationsanalyse auf relevante Information erreicht. Zum Beispiel
sind, wenn man ein bestimmtes Gesicht in der Menge sucht, die Areale aktiviert,
die bei der Gesichtsanalyse wichtig sind. Dazu muss zunächst das Gesicht aus
dem Gedächtnis aufgerufen werden. Durch Top-down-Rückkopplung werden
dann die Unterareale aktiviert, die bestimmte Eigenschaften analysieren können,
wie Haarfarbe oder Nasenform. Daher erkennt man eine Person schlecht, wenn
man nach einer rothaarigen Person sucht, die Person aber inzwischen blonde
Haare hat. Die Areale der Erkennung „rothaarig“ sind aktiviert, und die der Erkennung „blondhaarig“ in der Aktivität heruntergeregelt, damit keine Interferenz von
nichtrelevanten Stimuli entstehen kann. Durch die Top-down-Rückkopplung kann
die Suchdauer stark verkürzt werden, da nicht erst die Analyse von allen Gesichtern
stattfinden muss, sondern bereits bei der Erkennung relativ einfacher Stimuli die
Suche beendet werden kann. Da aber einfache Merkmalsdetektoren nicht ganze
Gesichter analysieren und entscheiden können, welche Anteile des Gesichtes relevant sind, muss die Suchinformation aus den komplexeren Stimulidetektoren rückgekoppelt werden.
Damit dieses System der „Fokussierung“ funktioniert, muss das Gehirn in der
Lage sein, die Aktivität der Areale selektiv zu steuern. Areale, die nicht an der Informationsverarbeitung beteiligt sind, sollten möglichst wenig aktiv sein, um Interferenz zu vermeiden, während Areale, die wichtige Aufgaben erfüllen, besonders
aktiv sein und die Information sicher und schnell verarbeiten sollten. Wie das auf
der Ebene der Neurone funktioniert, ist bisher nur ansatzweise verstanden. Ob
dabei mehr Neurone an der Verarbeitung beteiligt werden oder die Auswahl der
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Diese Kerne haben jeweils ihren eigenen Neurotransmitter, z. B. Acetylcholin, Dopamin, Serotonin, um Interferenz der Signale zu vermeiden. Da diese Systeme die Aktivität ganzer
Hirnregionen zwecks Verbesserung der Aufmerksamkeit steuern, ist es nicht verwunderlich, dass andere Substanzen, die die Rezeptoren dieser Neurotransmitter aktivieren, oft
starke Wirkungen auf die Wachheit generell und die Aktivität verschiedener Hirnareale
haben, z. B. LSD, Cocain und Amphetamine (S. 568).
Negative Rückkopplung könnte als Sicherheitssperre dienen, indem zu viel Aktivierung durch inhibitorische Rückprojektionen gedämpft wird. Allerdings wären
für eine solche einfache Sicherheitskonstruktion keine so stark entwickelten Rückprojektionen notwendig, wie sie im Gehirn zu finden sind.
Das Prinzip der Rück-Propagation ermöglicht selbstoptimierende Systeme.
Zum Beispiel kann beim Erlernen einer neuen Tätigkeit die Abweichung von der
Idealbewegung durch Veränderung der synaptischen Gewichte im Netzwerk
Schritt für Schritt in die optimale Richtung verändert werden. Der sensorische Anteil dieses Lernvorgangs läge in der Information über den Erfolg oder Misserfolg
und die daraus resultierende Optimierung. Die Abweichung von der Ideallinie
wird durch Rückprojektionen an die niederen Ebenen rückgekoppelt. Dort verändern sich dann die synaptischen Verbindungen. Solche Systeme sind relativ einfach
zu konstruieren und sehr leistungs- und anpassungsfähig. Jedoch müssen erst einige Trainingsphasen durchlaufen werden, bis ein stabiles Optimum erreicht
wird. Übung macht so den Meister. Künstliche neuronale Netzwerke, die eine solche Architektur der Rückprojektionen haben, können als selbst-justierende Systeme die Bewegung von Roboterarmen wesentlich schneller errechnen als herkömmliche Steuerprogramme.
Es ist denkbar, dass solche geschlossenen neuronalen Rückkopplungskreisläufe
als dynamisches Gedächtnis dienen, indem sie die neuronale Aktivität über eine
gewisse Zeit erhalten. Ein Arbeitsspeicher kann auf diese Weise Information für
kurze Zeit speichern. Im präfrontalen Cortex feuern Neurone kontinuierlich während eines Arbeitsgedächtnistests. Allerdings ist dieses System sehr anfällig für Störungen. Ablenkungen können dieses dynamische Gedächtnis stören, und die Information ist unwiederbringlich verloren.
Eine weitere Möglichkeit, die sich durch diese Rückkopplungskreislauf-Architektur ergibt, ist die Signalverstärkung durch wiederholte Eingabe von Information.
Wenn ein Durchgang der Informationsverarbeitung nicht ausreicht, kann ein zwei-
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beitragenden Neurone verbessert wird, ist noch ungeklärt. Diesen Prozess nennen
wir Aufmerksamkeit, und er erfüllt einige wichtige Funktionen: Messungen der
Hirnaktivität zeigen, dass verschiedene Areale tatsächlich sehr schnell und selektiv
aktiviert oder deaktiviert werden. Dieser Prozess wird von Kerngebieten im Hirnstamm und dem basalen Vorderhirn gesteuert. Diese Kerne unterhalten axonale
Projektionen in fast alle Hirngebiete und können auf diese Weise die Hirnaktivität
global steuern. Es existieren mehrere solcher Steuersysteme, die jeweils verschiedene Funktionen ausführen.
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Parallele Informationsverarbeitung: Problem wird in weniger komplexe Unterprobleme geteilt und gleichzeitig bearbeitet, Gesamtverarbeitung schneller als bei linearer Informationsverarbeitung.
Neuronales Netzwerk: Verschaltung von Neuronen, Information wird verteilt.
bottom up: Unidirektionaler Informationsfluss von den sensorischen Organen zum
ZNS, spiegelt die verschiedenen Ebenen der Informationshierarchie wider.
top down: Bidirektionaler Informationsfluss von den sensorischen Organen zum
ZNS und umgekehrt, Voraussetzung für selbst-optimierendes System und dynamisches Gedächtnis.
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ter Durchgang eventuell eine Verbesserung, insbesondere bei der Mustervervollständigung, bringen. Reicht die Erregung des Netzwerkes zunächst nicht aus, um
das gesamte gespeicherte Informationsnetzwerk zu reaktivieren, so kann ein zweiter Durchlauf eventuell erfolgreich sein. Auch arbeitet dieser Mechanismus kontrastverstärkend und unterdrückt damit das Rauschen im System.
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