DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT Augenärztliche Technik. Von Prof. Abeisdorfi und Dr. K. Steindorit in Berlin. VII. Technik der Sehprüfung1). Von Dr. Kurt Steindorff. Der Brillenkasten, dessen sich der praktische Arzt zur Prüfung der Sehkraft bedient, braucht nicht die Vollständigkeit an Oläsern aufzuweisen, wie sie der Facharzt nötig hat. Denn im allgemeinen wird der Praktiker die mühselige und zeitraubende Wahl der Gläser bei Astigmatikern und bei angeborenen und erworbenen Anomalien der lichibrechenden oder lichtempfangenden Teile des Auges dem Augenarzt überlassen. Es muß natürlich der Uebung und Erfahrung des einzelnen überlassen bleiben, sowie dem Zutrauen, das er in seine ophthalmologischen Kenntnisse zu setzen berechtigt ist, welche Fälle er selbst auskorrigieren zu können glaubt und welche er fachärztlicher Untersuchung zuführen will. In dieser Hinsicht kann man keine allgemein gültigen Forderungen und zahlenmäßig begrenzten Regeln aufstellen. Immerhin dürfte der Praktiker gut daran tun, wenn er da, wo er mit Gläsern nicht wenigstens die Hälfte der normalen Sehschärfe erreicht, den Augenarzt zuzieht, der feststellen mag, ob Astigmatismus oder eine Augenkrankheit Ursache der Schwachsichtigkeit Ist. Für seine Zwecke ist der praktische Arzt genügend ausgerüstet, wenn er in seinem Brillenkasten je 15 Paar sphärisch konkave und sphärisch konvexe Gläser (0,5; 0,75; 1,0; 1,5; 2,0; 2,5; 3,0; 4,0; 5,0; 6,0; 8,0; 10,0; 12,0; 16,0; 20,0) utid je 8 Paar zylindrische Konkavund Konvexgläser (0,5; 0,75; 1,0; 1,5; 2,0; 2,5; 3,0; 4,0) vorrätig hat. Er kann sich damit alle für ihn nötigen Oläsernummern kornbinieren. Prismengläser, die für die Untersuchung des Muskelgleich- gewichts in Frage kommen, kann er entbehren. Als Probierb r j I I e ist ein Nickelgestell mit doppelter Nute zur gleichzeitigen Aufnahme von sphärischen und zylindrischen Gläsern und mit Gradbogen ausreichend. Als L e s e p r o b e n zur Bestimmung der Sehschärfe für die Ferne bediene man sich einer der üblichen, nach dem Snellenschen Prinzip konstruierten, die auf fester Pappe aufgezogen sind. Da die Patienten die Tafeln absichtlich oder unabsichtlich leicht auswendig lernen, hält man am besten je 2 Zahlen- und ebenso viele Buchstabentafeln vorrätig, außerdem für Kinder und Analphabeten eine mit Haken oder unterbrochenen (sog. Landoltschen) Ringen, bei denen anzugeben ist, nach welcher Seite die Striche des Hakens bzw. die Lücken der Ringe zeigen. Die Tafel hänge man an die dem Fenster gegenüberliegende Wand, um eine möglichst gute und gleichmäßige Beleuchtung zu haben; noch besser ist eine gegen den zu Untersuchenden abgeblendete künstliche Beleuchtung der Lesetafeln. Der Patient setzt sich mit dem Rücken gegen das Fenster in einer Entfernung von 5 m vor die Tafeln. Als Grundregel für die Sehprüfung ist festzuhalten, daß immer nur ein Auge untersucht wird; es muß also das jeweils an der Prüfung nicht beteiligte Auge durch eine Binde oder besser durch eine in die Probierbrille eingeklemmte, gut deckende Metailscheibe ausgeschaltet werden, an der das Auge nicht vorbeisehen kann. Es ist nicht ratsam, das Auge mit der Hand zuzuhalten, weil hierbei leicht ein Druck ausgeübt und vorübergehende Unregelmäßigkeit der Hornhautwölbung und damit Herabsetzung der Sehschärfe hervorgerufen wird. Man gewöhne sich, stets mit der Untersuchung des rechten Auges zu beginnen und erst, wenn diese beendet ist, das linke zu prüfen, weil man so ärgerlichen Verwechslungen zwischen rechts und links am ehesten entgeht. Eine scheinbar übertriebene Pedanterie ist in dieser Hinsicht nur zu empfehlen. Der Arzt zeigt nun dem Patienten aus jeder Zeile, mit den großen beginnend und zu den kleineren von Reihe zu Reihe aufsteigend, ein oder mehrere Zeichen, um so ein Auswendiglernen zu vermeiden. Die Sehschärfe (= S) wird durch einen Bruch ausgedrückt, dessen Zähler die Entfernung angibt, in der die Prüfung vorgenommen wird, während der Nenner die der abgelesenén Zeile vorgedruckie Zahl ist und die Entfernung angibt, in der ein normales Auge diese Zeile lesen soll. Um immer die Entfernung erkennen zu können, in der die Sehprüfung vorgenommen wurde, soll man diesen Bruch nicht kürzen. Die vom unbewaffnefen Auge erzielte Sehschärfe wird als Sehleistung (= V) bezeichnet. Beträgt sie 5/s, so kann Myopie und Astigmatismus nicht vorliegen, es kann sich nur um Emmetropie oder Hyperopie handeln. Man setzt nun + 05 D. sphär. vor das Auge. Gibt der Patient jetzt an, er sehe schlechter, es sei ihm, als sähe er durch ein beschlagenes Olas oder durch einen Schleier, so kann es sich nicht um Hypermetropie handeln, denn der Hypermetrop sieht durch das Konvexglas so gut wie ohne Glas oder gar noch besser. Wird mit + 0,5 D. sph. so gut wie ohne Olas oder beser gesehen, so steigt man mit der Stärke der vorgehaltenen Konvexgläser jedesmal um 0,5 D. solange, bis angegeben wird, daß sich das Sehen verschlechtert. Das stärkste +-Olas, mit dem noch deutlich gesehen wird, entspricht dem Grade der ,,manifesten" Hypermetropie, d.h. dem Teile der 0e1) Vgl. diese Wocheuschrift 1921Nr. 4. 1351 samthypermetropie, der nicht ,,latent" bleibt, nicht durch die Akkommodation gedeckt wird, also mit zunehmendem Alter immer größer wird. Ist die Sehleistung nicht gleich und wird sie durch +-Oläser noch schlechter, so sucht man, in der Annahme, einen Myopen vor sich zu haben, durch Vorsetzen von --Gläsern eine Besserung zu erzielen. Auch hier beginnt man mit der schwächsten Nummer ( 0,5 D. sphär.) und steigt um je eine halbe Dioptrie, bis die beste Sehschärfe erzielt ist. Darauf geht man, um besonders bei jugendlichen Individuen eine Mitwirkung der Akkommodation auszuschalten, nochmals um 0,5 bis 1,0 D. durch Vorsetzen von 0,5 bzw. + 1,0 D. zurück und stellt fest, ob der gleiche Orad von Sehschärfe erzielt wird wie zuvor. Das schwächste --Glas, mit dem noch die beste Sehschärfe erreicht wird, entspricht dem brade der vorhandenen Kurzsichtigkeit. Sowohl bei Hypermetropie wie auch bei Myopie muß, nachdem die Prüfung jedes einzejnen Auges beendet ist, nochmals binokular geprüft werden. Dadurch wird die Akkommodation ausgeschaltet und oft ein stärkeres +- bzw. schwächeres --Olas angenommen als bei der monokularen Prüfung. Zumal bei Kindern täuscht eine Anspannung der Akkommodation leicht eine höhere Myopie vor, als tatsächlich. voehanden ist, oder es werden infolgedessen Konkavgläser von Emmetropen oder Hypermetropen angenommen. In solchen Fällen muß man vor Beginn der Sehprüfung einen Tropfen einer I o/igen Lösung von Homatropin. hydrobrom. einträufeln, um die Akkommodation zu lähmen. Mit dem Beginn der Sehprüfung muß man dann bis zum Eintritt der vollen Wirkung des Mittels, also etwa 3/ bis I Stunde, warten. Bei Erwachsenen soll die medikamentöse Lähmung der Akkommothtion nur im äußersten Notfall mit Rücksicht auf die dadurch hervorgerufene Störung des Sehens bzw. der Arbeitsfähigkeit angewendet werden. Erzielt man mit sphärischen Gläsern allein keine volle Sehschärfe, so setzt man außerdem Zylindergläser vor, in der Annahme, daß A s t j g ma t I s m u s vorliegt, d. h. jene Brechungsanomalie, bei der zwei aufeinander senkrechte Hornhautmeridiane verschieden gekrümmt sind (regelmäßiger Astigmatismus). Am häufigsten ist der ,,Astigmatismus nach der Regel", bei dem der vertikale Meridian stärker gekrümmt ist als der horizontale. Man setzt zunächst einen schwachen +-Zylinder mit senkrechter Axe vor, der also den emmetropischen vertikalen Meridian unbeeinflußt läßt und die zu geringe Brechkraft des hanzoiitalen ausgleicht, und ermittelt allmählich steigend den schärfsten +-Zylinder, mit dem am besten gesehen wird. Kommt man mit +Zylindern nicht zum Ziel, so prüft man mit --Zylindergläsern, deren Axe horizontal gestellt wind, weil man bei emmetropischer Refraktion dieses Meridians die zu große Brechkraft des senkrechten Meridians durch den --Zylinder ausgleichen will. Man ermittelt die beste mit dem schwächsten Konkavzylinder erreichbare Sehschärfe. Beim ,,Astig- matismus gegen die Regel" muß, da hier der horizontale Meridian stärker gekrümmt ¿st, die Achse des +-Zylinders wagerecht, die des --Zylinders senkrecht vorgehalten werden. Schließlich muß man, wenn man auch so keine Besserung der Sehschärfe erreicht, die Gläser im Kreise vor dem Auge herumdrehen, um zu sehen, ob etwa die Meridiane stärkster und schwächsten Brechkraft schief stehen. Die Oläserbestimmung beim gemischten Astigmatismus, bei dem der eine Hornhautmeridian myopisch, der andere hypermetropisch ist, bleibt besser dem Augenarzt vorbehalten, ebenso die bei unregelmäßigem Astigmatismus. Wenn das Sehvermögen so weit gesunken ist, daß mit keinem Glase in der für die Sehprüfung vorgeschriebenen Entfernung auch die größten Zeichen der Lesetafel erkannt werden, so muß der Abstand zwischen dem Patienten und der Tafel verkürzt werden, also der Patient näher herantreten, oder die Tafel muß dem Patienten nähergebracht werden. Oder man hilft sich damit, daß man die auf dunklem Hintergrunde gespreitzten Finger, die das normale Auge noch in 50-60 m erkennt, zählen läßt. ist der Kranke auch dazu nicht mehr fähig, ist das qualitative Sehen" erloschen, so hat man festzustellen, ob noch Hell und Dunkel unterschieden wird, ob ,,quantitatives Sehen" vorhanden ist. Man prüft, ob der Kranke die Bewegungen der Hand wahrnimmt und, wenn auch das nicht mehr möglich ist, ob er im verdunkelten Raum das Licht einer in einem Abstande von 1, 2 und 5 m vorgehaltenen Kerze oder elektrischen Taschenlampe wahrnimmt, oder ob er beim Hineinleuchten mit dem Augenspiegel Lichtempfindung hat und ob er anzugeben vermag, aus welcher Richtung der Lichtschein in sein Auge dringt (Projektion). Man muß hierbei natürlich jedes Auge gesondert prüfen und sorgsam darauf achten, daß in das zugebundene Auge kein Lichtschimmer von der Seite her gelangen kann. Nachdem man so die Brechkraft des Auges und seine Sehschärfe für die Ferne festgestellt hat, muß die Fähigkeit, sich für die Nähe einzustellen, die A k komm ada t ion, untersucht werden, die von der mit den Jahren abnehmenden Elastizität der Linse abhängt. Wir verrichten die meisten Nahearbeiten, wie Lesen, Schreiben Nahen, in einem Abstand von 30-40 cm. Um das 45. Lebensjahr beginnt die Akkommodation für die erforderliche Annäherung der Objekte nicht mehr auszureichen, es stellt sich Weit- oder Alterssichtigkeit (Presbyopie) ein. Wir prüfen mit feinen Schniftproben, z. B. den von Nieden, Snellen, Schweigger, Birkhäuser u. a. angegebenen, die bei möglichst guter Beleuchtung dem Auge so weit genähert werden, wie sie noch scharf und klar erkannt werden, mit andern Worten, man bringt sie in den Nahepunkt des Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Ó. Oktober 1922 1352 DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT Nr.40 Auges. Ntan mißt mit einem Bandmaß die Entfernung zwischen der Schriftprobe und dein äußern knöchernen Augenhöhlenwinkel. Der Emmetrop von 45-50 Jahren braucht im allgemeinen eine Lesebrille von + 0,75 D. sph., über 50 Jahre von + 1,0 bis + 1,5 D., über 55 Jahre von + 2,0 bis + 2,5 D. und mit 60 Jahren und darüber + 3,0 D. Da der Hypermetrop seine Akkommodation schon zum deutlichen Sehen in die Ferne in Anspruch nehmen muß, so macht sich bei ihm die Presbyopie schon vor dem 45. Lebensjahre geltend, und man muß zu dem seinem Alter entsprecehenden oder Hypermetropen, sodaß der leicht Kurzsichtige zunächst ohne Leseglas auskommt, später mit einem schwachen ±-Olas, der stärker Kurzsichtige mit einem --Olas, dessen Brechkraft aus der Differenz zwischen der Stärke seines Fernglases und des für sein Alter erforderlichen +-Olases errechnet wird. Außer dem Alter und der Refraktion ist noch die Entfernung zu berücksichtigen, in der die Arbeit verrichtet wird; ein Uhrmacher, ein Retoucheur oder eine Stickerin müssen ihre Arbeit dem Auge mehr nähern als ein Schuhmacher oder Tischler, brauchen also stärkere Konvexgläser als diese. Dic Sehprüfung gibt Auskunft über die Leistungsfähigkeit der Netzhautmitte (direktes Sehen), über die der Netzhautperipherie (indirektes Sehen) unterrichtet uns die Untersuchung des Gesichtsfeldes. Die feinere graphische Registrierung der Außengrenzen und inselförmigen Defekte (Skotome) am Perimeter ist Sache des Augenarztes; für den praktischen Arzt genügt eine grobe, orientierende Methode. Er stellt sich in etwa 50 cm Abstand vor den Patienten, dessen eines Auge zugebunden wird, und schließt sein eigenes, dem geschlossenen des Patienten entsprechendes Auge, sodaß er also mit seinem rechten das linke Auge des Kranken prüft und umgekehrt. Der Patient muß nun das freie Auge des Arztes scharf ansehen und angeben, wann er die von oben, unten, rechts und links aus der äußersten Peripherie zur Mitte zu bewegten Finger- spitzen eben auftauchen sieht. Der Arzt kann auf diese Weise kontrollieren, ob er gleichzeitig mit dem Kranken oder später diese Bewegung wahrnimmt. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Konvexglas noch das seine Hypermetropie ausgleichende hinzugeben. Dagegen macht sich beim Myopen die Abnutzung des Akkommodationsapparates gar nicht oder viel später geltend als beim Emmetropen