LESEPROBE Einleitung Gisela Thiele Welche „Mission“ verfolgt eine Publikation, die einer in der Wissenschaft und Forschung verdienten Kollegin gewidmet ist? Im Wesentlichen ist es eine Danksagung und Ehrung, jener, die den Weg mit ihr ein Stück weit gegangen sind. Insofern ist es ein eher bunter Strauß, der zwar dem Thema sozialen Wandels verpflichtet ist, dabei aber keiner besonderen Systematik folgt. Vielmehr werden spezifische Wissenschaftsthemen aufgegriffen, die Ausdruck des aktuellen Schaffens der Beiträger und Beiträgerinnen sind und innovative Überlegungen zum weitgefassten, in drei Hauptkapitel unterteilten Rahmenthema „Gesellschaftlicher Wandel – wohin? Innovative Entwicklungen in den Sozialwissenschaften. Regional, international“ aufweisen. Dieses Rahmenthema korrespondiert mit Namen und Programm des Instituts TRAWOS (Institut für Transformation, Wohnen und soziale Raumentwicklung), welchem die Jubilarin acht Jahre vorstand, und ist insofern auch Ausdruck gegenwärtiger Forschungsschwerpunkte der beteiligten TRAWOS-Mitglieder. Das erste Hauptkapitel „Kulturelle Aspekte im Wandel“ vereint zwei Beiträge unterschiedlichster Thematik, die beide für sich verbuchen können, relativ neue Pfade zu begehen. Der erste Beitrag von Norbert Zillich befasst sich mit einer wissenschaftlich bisher eher vernachlässigten Thematik „Kulturelle Aspekte im Wandel. Verbreitung, Konsum und Wirkung von Pornografie bei Jugendlichen nach der Jahrtausendwende“. Er setzt sich mit der heterosexuellen Pornografie im Alltag, dem Zusammenhang zwischen Jugend, Sexualität und Internet und mit der Verbreitung von Pornografie sowie dem Zugang dazu auseinander. Es folgt ein Beitrag von Józef Zaprucki zum Thema „Deutsches Erbe in der polnischen Kultur Schlesiens als interkulturelles, didaktisches Potenzial“. Aufgegriffen werden kulturelle Interferenzen historischer Entwicklung auf der Suche nach regionaler Identität im Prozess der Kommunikation der Kulturen. Ausgangspunkt der Betrachtungen ist die deutsche Vorkriegsliteratur als auch die polnische Gegenwartsliteratur. Ziel ist es, Domänen der kulturellen Wirklichkeit Niederschlesiens als Materialgrundlage für ein innovatives Fach „Regionale Kulturkunde“ an niederschlesischen Ober- und Hochschulen zu entwickeln. Damit würden, so der Autor, regionales Bewusstsein und regionale Identität eine wesentliche Bereicherung erfahren. Das sich anschließende zweite Hauptkapitel „Soziale Arbeit – soziale Integration im Wandel“ wird mit Ute Straubs Beitrag eröffnet. Sie greift ein in der Sozialarbeitswissenschaft hierzulande bisher noch wenig zur Kenntnis genom- 10 Gisela Thiele menes Thema „‘Kreise schließen‘: Indigenisierte Soziale Arbeit auf dem Weg in den Mainstream“ auf. Hintergrund ihrer Ausführungen ist eine Weltsicht, die nicht in Dichotomien denkt, sondern die wechselseitige Abhängigkeit von Mensch, Gemeinschaft und Umwelt betont, und für Soziale Arbeit einfordert, von Hilfeansätzen bisher eher kolonialisierter indigener Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft zu lernen. Der Beitrag von Gisela Thiele „Wohnformen im Alter unter besonderer Berücksichtigung von integrativen Ansätzen in der Dementen–Betreuung“ beschäftigt sich mit neueren Entwicklungen in den Wohnformen für ältere Menschen. Es werden Anforderungen heraus gearbeitet, die der heute im Alter sehr häufig auftretenden Demenz hinsichtlich einer menschenwürdigen Betreuung entsprechen. Mit „Social integration of disabled people in Russia” ist der Beitrag von Olga I. Borodkina überschrieben. Sie schildert die Auswirkungen der ökonomischen und sozialen Reformen in der zweitgrößten Stadt Russlands, in St. Petersburg, auf die Lebenssituation Behinderter und skizziert künftige Entwicklungen. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Anteil Behinderter in Zukunft noch steigen wird, und nicht zuletzt damit die Bedeutung, die ihrer gesellschaftlichen Integration zukommt, untermauert. Dorothy McClellan greift mit “The Struggle for Prisoners Rights in US Prisons” ein Thema auf, welches in den Vereinigten Staaten zwar eine besondere Brisanz hat, gleichwohl aber kaum bearbeitet ist. Sie beschreibt die Lebensbedingungen von 2,4 Mio. Inhaftierten und zeigt Wege auf, wie das amerikanische System reformiert werden kann, um die derzeitige Krise des Strafvollzugs überwinden zu können. Die Jubilarin Erika Steinert verfasst mit Ulrike Schumacher und Katja Bienek das sich anschließende Kapitel „Partizipation älterer Menschen in der offenen Altenarbeit. Ein Vergleich zwischen ostsächsischen und US-amerikanischen Einrichtungen“. Die Autorinnen stellen ausgewählte Ergebnisse einer empirischen Studie über soziale Partizipation, verstanden als direkte Einflussnahme und Mitbestimmung älterer Menschen in sozialen Einrichtungen vor. Deutlich wird dabei, dass Partizipation in diesem Sinne in den untersuchten ostsächsischen offenen Angeboten kaum anzutreffen ist, da Partizipation ermöglichende Strukturen, wie sie im untersuchten US-amerikanischen „Senior Center“ vorgehalten werden, unüblich sind. Es folgt das dritte und letzte Hauptkapitel „Sozialstaat, Rechtsstaat und Gesellschaft im Wandel“, eröffnet mit dem von Rudolf Schweikart und Birgit Hoffmann verfassten Beitrag „Probleme kommunaler Gestaltungsräume am Beispiel der Zielvereinbarung in der Hilfeplanung“. Als zentrale Erkenntnis dieses Aufsatzes wird herausgearbeitet, dass für Hilfen zur Erziehung bestehende Einleitung 11 Gestaltungsspielräume sehr unterschiedlich genutzt werden und dass auf die Praxis überregionale Fachdiskussionen einen vergleichsweise geringen Einfluss haben, weil sie sich einem rechtlichen und fachlichen Rechtfertigungszwang kaum ausgesetzt sehen. Der nächste Beitrag stammt von Piotr Salustowicz und fragt: „Welfare policy in a time of economic crisis – is the concept of ‘unconditional basic income’ an effective response to protect people from market failure?” Diskutiert werden ethische Konsequenzen, die die aktuelle Rolle des Staats angesichts der von ihm zur Rettung ökonomischer Krisen verteilter unvorstellbarer Geldmengen mit sich bringt, und es wird die Frage verfolgt, ob hingegen ein Grundeinkommen als Menschenrecht verstanden werden kann und als eine effektive Möglichkeit, unabhängig von krisengeschüttelter marktökonomischer Entwicklung sein zu können. Mariana Cernicova berichtet in ihrem Beitrag „Building a sustainable and co-responsible society” über ein in Rumänien durchgeführtes EU-Projekt, mit dem ein neues Modell öffentlichen Lebens entwickelt und implementiert werden soll. Es ist u. a. charakterisiert durch partizipatorische Demokratie, die Vernetzung der sozialen Akteure und die Erfassung der Vorstellungen, die die Bevölkerung mit „wellbeing“ verbindet. Die Autorin stellt fest, dass die östlichen Länder 1989 für freie Marktwirtschaft, Medien und Demokratie auf der Straße gekämpft haben und 20 Jahre später feststellen müssen, dass diese Freiheiten allein die Qualität des Lebens nicht verbessern können. Die Publikation endet mit einem Beitrag von Eckehard Binas zum Thema „Faktoren der Regionalentwicklung – Überlegungen zu einem Modell der Simulation regionaler Entwicklungsprozesse“. Die Maßnahmen und Projekte, die Regionalentwicklung innerhalb eines Integrationsraumes zur Verringerung von regionalen Disparitäten fördern sollen, werden anhand eines hypothetischen – transdisziplinären und erfahrungsgesättigten – Faktorenmodells diskutiert, die der Modellierung von Eigenschaften und Abhängigkeiten dienen, um letztlich praktische Regionalplanung und -entwicklung unterstützen zu können. Die vorliegende Festschrift verweist auf differenzierte Themen, Herangehensweisen und Perspektiven, auf die Vielfalt sozialwissenschaftlicher Forschung bezogen auf divergierende Wandlungsprozesse. Wir hoffen auf Leser und Leserinnen, die zu weiterer Reflexion angeregt werden. Kulturelle Aspekte im Wandel Verbreitung, Konsum und Wirkung von Pornografie bei Jugendlichen nach der Jahrtausendwende Norbert Zillich In einer repräsentativen nationalen Stichprobe aus dem Jahre 2002 gaben 89,9% der norwegischen Bevölkerung an, Kontakt zu Pornografie gehabt zu haben. 87,9% der Männer und 62,9% der Frauen hatten Pornomagazine betrachtet, 77,2% der Männer und 55% der Frauen Pornofilme gesehen (vgl. Træen et al. 2004, S. 195). Im Rahmen des sexuellen Wandels seit den 60er Jahren ist die Verfügbarkeit von Pornografie einerseits ein Ausdruck von Liberalisierung geworden, andererseits ein kontroverses Thema gesellschaftspolitischer - besonders auch geschlechterpolitischer - Debatte geblieben. Bis zum Aufkommen des Internet um die Jahrtausendwende waren Produktion, Verbreitung und Konsum von Pornografie weitgehend beschränkt auf Erwachsene. Drei Merkmale des Internet ermöglichen seitdem jedoch auch Jugendlichen einen leichten Zugang: Accessibility, die Erreichbarkeit von Webseiten rund um die Uhr, Affordability, keine bis geringe Kosten, und Anonymity, die Herabsetzung von Hemmschwellen (vgl. Cooper 1998; in: Döring 2009, S. 1092). Publizisten und Forscher hypostasieren deshalb gewiss etwas vorschnell, generalisierend und etikettierend eine „Generation Porno“ (vgl. z.B. Knudsen et al. 2007; Gernert 2010). Ein zentraler Befund inzwischen zahlreich erschienener quantitativer und qualitativer Studien zum Konsum von Pornografie unter Jugendlichen und möglicher Folgen stellt verglichen mit anderen soziodemographischen Merkmalen wie Alter oder Schicht die durchgängige Bedeutung geschlechtsspezifischer Unterschiede dar. Deshalb geht dieser Beitrag nach einleitenden Bemerkungen unter diesem Hauptblickwinkel den Untersuchungsbereichen Verbreitung und Zugang, Rahmenbedingungen des Konsums sowie Wirkung und Verarbeitung nach und rezipiert die maßgeblich dazu erschienenen quantitativen und qualitativen empirischen Studien der letzten Jahre. Mit einer Ausnahme (Iconkids & Youth 2009) erhebt keine der zitierten Untersuchungen Anspruch auf Repräsentativität. Heterosexuelle Pornografie und Sexualität im Alltag Was macht Pornografie gesellschafts- und geschlechterpolitisch so kontrovers und bildet den Hintergrund für die Auseinandersetzung, in die weibliche und männliche Jugendliche unweigerlich hineingezogen werden? Jensen/Dines abs- 14 Norbert Zillich trahieren die heterosexuelle Porno-Standardszene: der weibliche Körper wird in maximaler Sichtbarkeit mit seinen Brüsten, seiner Vagina, seinen Labien, meistens passiv und unterwürfig sowie mit sexuellen Erregungsäußerungen gezeigt, der männliche Körper hingegen bleibt weitgehend unausgelotet, reduziert auf aktive Beckenbewegungen und erigierten Penis, häufig mit verhaltenem Lustausdruck (vgl. 1998, S. 73-77). Im Fokus auf die Penetration im Porno sind Frau und Mann zugleich entpersonalisiert, doch zweifellos trifft durch die differenziertere Ausleuchtung die Objektivierung die Frau und ihren Körper viel härter. Der weibliche Körper ist im Blickfang, der männliche Körper die Staffage. Hinzu kommen weitere Besonderheiten, die die ‚normale‘ heterosexuelle Porno-Standardszene entgrenzen und sich vielfach als unvorteilhaft für die Wahrnehmung von Porno-Darstellerinnen erweisen: weniger und kürzerer Cunnilungus, häufiger und längerer Fellatio, sexuelle Zusatzinteraktionen zwischen Frauen, nicht aber unter Männern, sexuelle Interaktionen zwischen einer „dienenden“ Frau und mehreren Männern sowie mehrerer „dienender“ Frauen und einem Mann sowie das eher nur erduldende Erleben von extravaginaler Ejakulation, Analverkehr und doppelter - gleichzeitig vaginaler und analer - Penetration durch weibliche Akteure. Heterosexuelle Pornografie kann möglicherweise als überspitzter, in jedem Falle als ernüchternder Zerrspiegel für die unausgewogene Balance aktueller Geschlechterverhältnisse betrachtet werden. Sie ist bisher überwiegend auf die Bedürfnisse von Männern zugeschnitten (vgl. jedoch auch Sabo 2007; Kay 2009). Lautmann nennt Sexualität einen Gegenstand von Beunruhigung (vgl. 2002, S. 19). In der Tat: Das Zärtliche und das Sinnliche, von denen Freud als den beiden kontrastierenden Strömungen des Sexuellen sprach (vgl. Freud 1972, S. 200), wollen nicht recht zusammenfinden, weder im Leben des Einzelnen, noch im Leben von Paaren. Überdies erfahren wir seit einiger Zeit die Brüchigkeit der Institutionen Ehe und Lebenspartnerschaft, die noch immer als gesellschaftlicher Ort definiert sind, Geborgenheit und Geilheit in Liebe zu vereinen. Kürzere, abwechselnde Beziehungen werden selbstverständlicher, neue Lebensformen wie Ein-Eltern-, Patchwork- oder Regenbogenfamilien gewinnen an Gewicht (Peuckert 2008). Trotz allem bleibt für Sigusch die individuelle Geschlechtsliebe deshalb eine für Menschen im Kapitalismus kostbare Idee und unverzichtbare Utopie, weil sie nicht hergestellt und verkauft werden kann (vgl. 2005, S. 19). Gesellschaft, Jugend, Sexualität und Internet In diesem Vibrationsraum konflikthaften Begehrens wachsen Jugendliche heran und erfahren ihre sexuelle Sozialisation. Dabei unterliegt Jugendsexualität selbst gesellschaftlichem Wandel. Flood fasst ihn in sechs Trends zusammen: (1) die Zeitspanne der Adoleszenz beginnt heute früher und dauert länger an, (2) Verbreitung, Konsum und Wirkung von Pornografie bei Jugendlichen 15 das Durchschnittsalter des ersten Geschlechtsverkehrs ist niedriger, (3) junge Leute experimentieren vergleichsweise zu Vorgängergenerationen - einschließlich Oral- und Analsex - in einem größeren Spektrum sexuellen Verhaltens, (4) sie haben während der Adoleszenz - und auch mit Vorausblick auf die gesamte Lebensspanne - eine größere Anzahl an Sexualpartnern als ihre Eltern, (5) eine Gruppe von Jugendlichen definiert sich im Vergleich zu früher selbstverständlicher les-bi-schwul und öffnet den Blick für sexuelle Pluralität und Wahloptionen, schließlich (6) wachsen Jugendliche von Werbung über öffentliche Debatten bis zur Pornografie in einer in ihrem Ausmaß bisher ungekannten ‚sexualisierten’ Kultur auf (vgl. 2007, S. 46). Empirisch ergibt ein deutscher Generationenvergleich in Vor-InternetZeiten, dass sich bei Jungen das Motiv für den ersten Geschlechtsverkehr, Gleichaltrige hätten bereits Sex gehabt, von knapp der Hälfte der befragten männlichen Jugendlichen 1970 verglichen mit 1990 mehr als halbiert und für Mädchen dieser Beweggrund völlig bedeutungslos geworden ist (vgl. Schmidt 1993, S. 39). Sozialer Druck als Grund für den ersten Sex hat in starkem Maße zugunsten innerer Motivlagen abgenommen. Mädchen berichten 1990 nur noch in 28 % der Fälle, dass ihr erster Geschlechtsverkehr auf Wunsch des Jungen stattgefunden hat, während es 1970 noch 85 % waren Das spricht für eine Annäherung der Geschlechter im Bereich sexueller Initiative (vgl. ebd., S. 28 f.). Und schließlich erleben wir unter Jugendlichen einen Bedeutungszuwachs des romantischen Liebesideals. Im Gegensatz zu 1970, wo 56% der Jungen und 73% der Mädchen dem Treuegebot („Man verspricht sich Treue und ist sich auch treu“) höchste Priorität einräumen, steigerten sich 1990 die Prozentwerte auf 89% bei den Jungen und 95% bei den Mädchen. Ähnlich ist der Zuwachs bei den Prozentzahlen, wonach Liebe die Voraussetzung für Sex sein sollte (vgl. ebd., S. 40). Ein stetiges Anwachsen der Beziehungsorientierung unter Jugendlichen seit den 80er Jahren bestätigt auch die aktuelle repräsentative Wiederholungsbefragung der BZgA (vgl. 2010, S. 131 ff.). Gewiss verstellen solche Haupttrends ein wenig den Blick auf das Exzessive, durch das Adoleszenz entwicklungspsychologisch zweifelsohne auch gekennzeichnet ist, und machen vielleicht auf eine empirische Lücke in der Jugendsexualforschung aufmerksam. Bedeutsamer ist es jedoch, eine Paradoxie festzuhalten: Vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Wandels, der das Leben in gesicherten Intimbeziehungen herausfordernder macht, entwickelt sich in weiten Teilen unter weiblichen und männlichen Jugendlichen in ihrem Verhältnis zu Partnerschaft und Liebe, Sexualität und Treue ein deutlicher Schub der Egalisierung. Es ist eine offene Frage, ob jemals zuvor durch die Einführung einer neuen Medientechnologie wie das Internet eine so große soziale Differenz zwischen einer jüngeren und älteren Generationen geschaffen wurde. Jugendliche nach der