Theoretische und statistische Grundlagen zur Beurteilung der

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Theoretische und statistische Grundlagen
zur Beurteilung der modernen
Angestelltenfrage
Emil Lederer
Zur Beurteilung der modernen Angestelltenfrage
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Entwicklung zur allgemeinen Interessentenpolitik
Die Diskussionen über die materialistische Geschichtsauffassung sind ein Symptom
dafür, dass aus dem Untergrund der ökonomischen Gegebenheiten zum mindesten
eine ungeheure Aktivität herausbricht, deren Kräfte den breiten Strom des Wollens
in eine bestimmte Richtung drängen und alles Geschehen influenzieren. Es trägt
vielleicht zum Verständnis der Erscheinungen bei, anzunehmen, dass die mit dem
Schlagwort der materialistischen Geschichtsauffassung gekennzeichnete Form der
Entwicklung eine historische ist; dass also jeweils verschieden starke Komponenten
des Geschehens aus wirtschaft lichen Gegebenheiten erwachsen – schon deshalb,
weil ja die Produktionsverhältnisse selbst (z. T. aus technischen Gründen) nicht
immer gleich tief ins Leben eingreifen und es daher auch nicht immer in gleicher
Weise zu erfüllen vermögen, aber auch deshalb, weil eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse je nach der Kraft der anderen Institutionen auf sehr verschiedene
Widerstände stoßen kann, wodurch die Schaff ung des neuen ,Überbaues‘ (im
Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung) erschwert oder verhindert wird.
Endlich auch deshalb, weil das Bewusstsein von den Klasseninteressen (auch nach
der materialistischen Geschichtsauffassung selbst) ein sehr differentes sein kann
und von demselben der aktive Klassenkampf, Abwehr und Angriff, abhängt. Diese
Variabilität in der Wirkung der ökonomischen Gegebenheiten (die keine Aufhebung
des Prinzips bedeutet) müsste auch von den Vertretern der materialistischen Geschichtsauffassung zugegeben werden. Denn diese Einschränkungen resultieren
nur aus der Überführung des reinen Prinzips in die Mannigfaltigkeit des Bestehenden; sie sind samt und sonders Reibungswiderstände, mit denen ja auch die
materialistische Geschichtsauffassung rechnen muss, Reibungswiderstände, die in
P. Gostmann, A. Ivanova (Hrsg.), Schriften zur Wissenschaftslehre und Kultursoziologie,
Klassiker der Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-03243-2_2,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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einer bestimmten Periode besonders stark sein können, gerade wenn in der vorangegangenen die Entwicklung ganz eindeutig nach den ökonomischen Interessen
orientiert war, die alle Institutionen entscheidend bestimmten.
Die Konstruktion der materialistischen Geschichtsauffassung, insbesondere
die Gliederung der Gesellschaft in Klassen, deren entscheidendes geschichtliches
Handeln in der Richtung ihrer ökonomischen Interessen erfolgt, wurde gewiss durch
die Ausbildung der Wirtschaftswissenschaft vorbereitet: Denn die Betrachtung
des Wirtschaftslebens, schon in ihren Anfängen, bei den Klassikern, bezweckt die
Konstruktion des speziellen Gebietes menschlicher Betätigung, der Wirtschaft aus
ganz speziellen Motiven; und ebenso gut als die moderne Nationalökonomie, die
österreichische Schule z. B. , einen ,Wirtschaftsmenschen‘ konstruieren musste, um
aus dessen Aktionen die wirtschaftliche Seite des sozialen Geschehens zu erschließen, so ist auch die Untersuchung komplexer wirtschaftlicher Phänomene, oder
der ökonomischen Sphäre in den sozialen Erscheinungen überhaupt, nur möglich,
wenn und insoweit die Konstruktion aus den wirtschaftlichen Gegebenheiten, aus
den Produktionsverhältnissen, der wirtschaftlichen Situation der Klassen usw.
erfolgt; wenn also in aller Enge der Anschauungsweise nur das als wirtschaft1iches
Geschehen betrachtet wird, das und insoweit es die Menschen als wirtschaftende
angeht und alle menschlichen Handlungen nur dann als in die Wirtschaft gehörend kategorisiert werden, insoweit sie von wirtschaftenden Menschen gesetzt
werden. Alles Geschehen oder Handeln außerhalb dieser Sphäre jedoch ist aus der
Mechanik des Wirtschaftslebens nicht verständlich zu machen, hat seine eigenen
Bestimmungsgründe und kann höchstens eine Bedingung, Einschränkung oder
Beförderung wirtschaftlichen Geschehens oder Handelns bilden. Gegenstand der
Wirtschaftswissenschaft jedoch vermöchte es nicht zu sein. Die Abgrenzung eines
einheitlichen Forschungsgebietes hat so die materialistische Geschichtsauffassung
vorbereitet; dieselbe ist aus dem Reflex der rein wirtschaftlichen Motivationen auf
die übrigen Gebiete menschlicher Betätigung konstruierbar – in abgeschwächter
Form in dem Sinne, dass die wirtschaftlichen Interessen das übergeordnete Prinzip
alles Wollens und Handelns sind, so dass sich kein Gebiet menschlicher Betätigung
im Widerspruch mit diesen zu entwickeln vermöchte. (Eine Interpretation, die ein
wirtschaftlich uninteressiertes Wollen und Handeln zulässt, nur ein den eigenen
tatsächlichen oder vermeintlichen wirtschaftlichen Interessen entgegengesetztes
ausschließt.) Auch für diese Auffassung aber müsste, wie bereits angedeutet, ein
gradueller Unterschied der wirkenden Kräfte zugegeben werden; insoferne als
nämlich die ökonomische Situation über eine Klasse entscheidet – auch in ihrem
Bewusstsein. Oder, mit anderen Worten, je nachdem die Klasse sich in irgendwelcher
Weise in ihrer ökonomischen Situation bedrängt und bedroht fühlt oder nicht. Die
materialistische Geschichtsauffassung aber setzt alle Klassen in ihrer Aktion gleich
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– was gewiss nicht zutrifft. Denn weder setzen sich die ökonomischen Interessen
bei allen Klassen mit der gleichen Intensität durch, noch bilden alle Klassen auf
analoge Weise Organe aus, um diese ökonomischen Interessen zu vertreten. So ist
es kein Zufall, dass die Konstruktion der materialistischen Geschichtsauffassung
gerade erfolgte, als das Proletariat zum Bewusstsein seiner selbst erwachte. Denn
gerade in ihm wirken weit mächtiger als in den übrigen Klassen die ökonomischen
Interessen, und sie sind es allein, welche ein eigenes und spezielles Wollen dieser
Klasse tragen. Gerade diese eindeutige Orientierung aller Aktion auf ökonomisches
Geschehen musste auch alle Aktionen der übrigen Klassen influenzieren und in
eine ähnliche Richtung leiten, es stärken und den übrigen Interessen gegenüber
betonen, wo es schon vorhanden war, es bewusst machen, wenn es vordem nur im
Unbewussten wirken mochte. Diese Differenzen in der Verfassung der einzelnen
Klassen werden von der materialistischen Geschichtsauffassung im Allgemeinen
nicht hervorgehoben. Sie sieht über die Unterschiede in der Intensität, mit der
die wirtschaftlichen Motivationen bei den verschiedenen Klassen alle anderen
influenzieren, hinweg. Die Stärke, mit der wirtschaftliche Interessen auch wirklich
empfunden und bewusst werden, ist aber gewiss von entscheidender Bedeutung.
Dass diese Differenzen in der ökonomischen Empfindlichkeit der Klassen und
damit auch in der Intensität der Aktion nach der Richtung des ökonomischen
Interesses, besonders für die Vergangenheit, wenig Berücksichtigung gefunden,
hat seinen Grund wohl darin, dass die sichtbaren Aktionen sowohl, als auch die
vorgebrachten Enunziationen (der ,ideologische Überbau‘) nicht auftreten als Aktionen und Enunziationen ökonomisch unmittelbar interessierter geschlossener
Schichten oder Klassen. Die Zertrümmerung des gebundenen Wirtschaftssystems
durch den modernen Kapitalismus hat alle vorher organisierten wirtschaftlichen
Kräfte zersprengt, die Individuen zu Trägern der ökonomischen Klasseninteressen
gemacht. Während bis dahin Organisationen bestanden hatten, jedoch die Fragen wirtschaftlicher Existenz und des Anteils der Klassen am gesellschaftlichen
Gesamtertrag in eingelebter Weise gelöst wurden, also irgendeine Bedrohung
oder Erschütterung des Gleichgewichtszustandes nicht befürchtet wurde, die
Organisationen sich also auch nicht als Instrumente des Kampfes der Klassen
bewusst waren – ließ die Zertrümmerung der wirtschaftlichen Gebundenheit,
das Auftreten neuer, die Umformung aller alten Klassen erst den Kampf um den
Anteil an der volkswirtschaftlichen Gesamtproduktion, erst die Konflikte existent
werden, aus denen jene tiefgehende Beeinflussung alles gesellschaftlichen Lebens
folgte, deren Niederschlag die materialistische Geschichtsauffassung darstellt.
Und das kapitalistische System hat – dies allerdings erst in der Gegenwart – die
ökonomischen Interessen aller Klassen, zum großen Teil durch das überwiegende
ökonomische Interesse des Proletariats, so gesteigert, dass es auch zur Ausbildung
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eigener Organe für die Vertretung wirtschaftlicher Klasseninteressen gekommen
ist. Und damit vollzieht sich eine Umformung der Gesellschaft, die ganz in der
Richtung der materialistischen Geschichtsauffassung liegt, d. h. die jetzt in den
modernen Staaten eine soziale Struktur und ein soziales Geschehen schafft, wie
es von der materialistischen Geschichtsauffassung mit Anspruch auf universelle
Geltung konstruiert wurde. Dadurch wird nun auch die Möglichkeit geschaffen, die
Differenzen in der Intensität ökonomisch orientierter Aktion seitens der Klassen
zu erfassen und wenigstens für Teilgebiete des gesellschaftlichen Geschehens die
reale Wirkung ökonomischer Klasseninteressen zu erkennen. Die angedeutete
Entwicklung: dass der Kampf der Klassen um ökonomische Interessen nun mit
eigenen Organen erfolgt, ist erst in den Anfangsstadien. Bisher und auch gegenwärtig
noch waren es andere Medien, in denen sich die ökonomischen Klasseninteressen
durchzusetzen suchten, da sie unmittelbar durch die Interessentenschicht nicht
zur Aktion gelangen konnten. Als das wichtigste dieser Medien müssen bis zur
Gegenwart die Parlamente angesprochen werden.1
Der Parlamentarismus erfasst in seinen Anfängen die Menschen nicht als
konkrete soziale Existenzen, sondern als abstrakte Staatsbürger, als Träger einer
juristischen Qualität. Sowie das Parlament zunächst seine wichtigste Aufgabe
darin sehen musste und sah, dem Staat die Verfassung zu geben, galt auch der
Einzelne nur als Objekt der Verfassung. Der Beginn des Parlamentarismus ist
zugleich charakterisiert durch die Herrschaft liberaler Ideen – notwendigerweise,
da ja Parlamentarismus als Reaktion auf den Absolutismus nur möglich ist als
Auswirkung liberaler, demokratischer, freiheitlicher Ideen. Dass die konservativen
Parteien sich später auch auf den Boden des Parlamentarismus stellten, ist erst eine
Konsequenz der Herrschaft des Parlamentarismus. Die dominanten liberalen Ideen
aber gruppieren sich ja sämtlich um das Ideal des freien Staatsbürgers – tendieren
auf die Entfesselung aller Potenzen, sind also am weitesten davon entfernt, die
Bürger nach einer speziellen sozialen Funktion (z. B. als wirtschaftliches Subjekt
oder als Steuerträger oder als Angehöriger einer bestimmten Bildungsschicht) zu
kategorisieren. Bezeichnenderweise beginnt auch vielfach der Parlamentarismus
mit der absoluten staatsbürgerlichen Gleichheit – mit dem allgemeinen, gleichen
und direkten Wahlrecht, und erst Gedankengänge, welche im Grunde genommen
1
Infolge des den nachstehenden Untersuchungen zugrunde liegenden beschränkten
Themas nur diese Andeutungen. Sie können für den Zweck dieser Arbeit umso mehr
genügen, als ja die Gruppen, welche man mit dem Wort Privatangestellte und -beamte
bezeichnet, auf keine historische Entwicklung zurückblicken und daher die Art, wie im
Laufe der geschichtlichen Entwicklung wirtschaftliche Interessen zur Geltung kamen
und auf das gesamte gesellschaftliche Leben einwirkten, für die Privatangestellten und
-beamten nur indirekt von Bedeutung ist (mit Rücksicht auf ihre Herkunft).
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der Idee des Parlamentarismus in ihrer reinsten Ausgestaltung feindlich sind,
bringen die verschiedenen Wahlrechte, die Einschränkungen in der Souveränität
des Parlaments gegenüber den Ministern usw.
Die Verknüpfung des Parlamentarismus mit den wirtschaftlichen Interessen
der Staatsbürger war aus diesen Gründen zunächst eine rein negative. Es handelt
sich in erster Linie nur darum, die Beschränkungen hinweg zu räumen, welche
der Staat oder die auf Gesetz beruhenden Zwangskorporationen dem einzelnen
Wirtschaftssubjekte auferlegten. Nicht positives Eingreifen, sondern Wegräumen
von Hindernissen, Eröffnung der Möglichkeiten freiester und individuellster Betätigung wurden als Aufgabe der gesetzgebenden Körperschaften angesehen. Die
Gesetze sollten nur Vehikel des Verkehrs sein, Ausschaltung von Widerständen,
nicht aber die Form und den Inhalt des Wirtschaftens bestimmen. Dieser in den
wildesten Stürmen auflodernde leidenschaftliche Drang nach Freiheit löschte alles
Bestimmte in den Menschen aus und einigte sie über alle speziellen Gestaltungen
der Persönlichkeit, des individuellen Lebens und der Klasse hinweg in abstrakten
Ideen. Diese liberale Epoche erscheint in ihren Wirkungen ganz ohne Zusammenhang mit speziellen Klasseninteressen: Denn die Umwälzung in den ökonomischen
Grundlagen, späterhin im ,Überbau‘ (im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung) musste mit der Erkenntnis der Notwendigkeit einer Reform und mit dem
Bestreben beginnen, herrschende Werte zu zerstören, und man kann es vielleicht
als Symptom dafür, wie stark doch auch damals die wirtschaftlichen Interessen
waren und wie sie unbewusst wirkten, ansehen, dass letzten Endes doch nichts
geschah, was der Klasse, deren Vertreter im Parlamente saßen, hätte irgendwelchen
Abbruch tun können. Von bewusster Betätigung des Klasseninteresses kann aber
wohl in jener ersten Zeit des Parlamentarismus nicht gesprochen werden – in einer
Zeit, wo die eine liberale Partei allein die überwiegende Mehrheit besaß. Die Zeiten
des Überganges und der Spaltung können hier nicht weiter untersucht werden. Es
sei nur erwähnt, dass auch die Parteibildung der nächsten Zeit, als Widerspiel des
Liberalismus, beherrscht ist von Gesichtspunkten ganz ,ideologischer Natur‘, und
dass erst relativ spät sich den Parteien ganz spezielle Gruppeninteressen zuordnen
(von der Sozialdemokratie abgesehen; darüber siehe unten).
Von da an beginnt eine prinzipiell neue Epoche des Parlamentarismus, eine Zeit,
in der Abgeordnete und Parteien immer deutlicher die Exponenten wirtschaftlicher
Klassenbildung werden. Und es bildet heute das Verhältnis zwischen den Klassen,
also den wirtschaftlich interessierten und orientierten sozialen Gruppen und dem
Parlamente, das zentrale Problem des Parlamentarismus, also auch ein zentrales
Problem der inneren Politik.
Wenn auch späterhin ganze politische Parteien nur unter dem Gesichtspunkte
des Klasseninteresses gebildet wurden, so bringt es doch schon die Eigentümlichkeit
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des Parlamentarismus als solchen, seine ganze Geschichte und die Art und Weise,
wie Parteien sich in den Parlamenten zum Ausdrucke bringen können, endlich die
Notwendigkeit des Zusammenlebens verschiedener Parteien in einem Hause, mit
sich, dass die tiefere Begründung und Legitimierung eines Klassenstandpunktes
immer aus einem höheren beherrschenden Gesichtspunkte gesucht wird – der
niemals ein Klasseninteresse sein kann, aus welchem es höchstens gefolgert wird
–, aus einem Gesichtspunkte, der auch anderen gegenüber Geltung beansprucht
und die Unterordnung konträrer Bestrebungen fordert. Dass die Programme der
Parteien von einem solchen höheren beherrschenden Gesichtspunkte aus konstruiert zu werden pflegten, hat zweifelsohne unter anderem auch den historischen
Grund, dass sie samt und sonders Reaktionserscheinungen auf die herrschenden,
durchaus prinzipiellen liberalen Ideologien sind und schon deshalb ebenso prinzipiell, mit Anspruch auf allgemeine Geltung aufzutreten bemüht sein mussten.
Aber es ist ganz deutlich, wie die ideologischen Elemente der Parteiprogramme
zurücktraten hinter den praktisch-politischen, unter denen wiederum sozial-(d. h.
klassen-)-politische den ersten Rang einnehmen. Den politischen Parteien aggregieren sich eben in immer höherem Maße geschlossene Kreise von Interessenten, und
zwar in Organisationen, die, von vornherein aus Gruppeninteressen entstanden,
selbst nie ihre Tätigkeit nach übergeordneten, allgemein verbindlichen Prinzipien
orientieren, sondern umgekehrt diese (vielfach unbewusst) aus ihren konkreten
Interessen heraus konstruieren.
Für die Entwicklung des politischen Lebens ist es ungemein wichtig, dass in
Deutschland, im Rücken der politischen Parteien mächtige Organisationen erwuchsen, deren Bildung im Anfange des politischen Lebens weder vorausgesehen
noch gewünscht wurde. Diese Organisationen hatten alle ganz jenseits allgemeiner ethischer und staatserhaltender Erwägungen die Tendenz, das Bewusstsein
der ihnen angehörenden Kreise allmählich umzuformen, die Gedanken und den
Willen auf die Realitäten des täglichen Lebens und den harten Kampf der Klassen untereinander zu lenken und so allmählich die ,großen Gesichtspunkte‘ der
Politik, die schöne Geste der Redner, alle die Begeisterung und den Elan aus der
Jugendzeit des Parlamentarismus zu beseitigen und an ihre Stelle die nüchterne,
schwere, tägliche Arbeit zu setzen, welche immer wieder dieselben Fragen stets von
anderer Seite behandelt und deren Um und Auf schließlich die Verteilung wirtschaftlicher Güter bildet. Diese ständige, unermüdliche, in ihren Tendenzen stets
unveränderte, von starren Interessengesichtspunkten beherrschte Einwirkung der
nichtpolitischen Interessentenorganisationen ist eine der wichtigsten Triebkräfte
in der Umbildung des Parlamentarismus. Insbesondere deshalb von der größten
Wichtigkeit, weil durch die Interessentenorganisationen ein Element der Stetigkeit
in die Politik hineinkommt, dessen Einfluss nicht unterschätzt werden darf. Es ist
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für die ,alten politischen Parteien‘ eine bittere Notwendigkeit, mit ,Schlagworten‘ zu
operieren, die breiten Massen kurz vor den Wahlen mit Argumenten, welche in die
Tiefen des Bewusstseins wirken und an die ältesten transzendentalen Vorstellungen und Werte anknüpfen, zu gewinnen. Neben den rein persönlichen Einflüssen
prominenter Individualitäten im Wahlkampfe war es gewiss diese Anknüpfung an
transzendentale Elemente, welche im politischen Kampfe mitentschied und deren
Wandlung als Element der Unsicherheit politischer Konstellationen ins Kalkül
gezogen werden musste. Die Interessentenorganisationen, welche die Staatsbürger
ständig in den auch ihnen zentralen Angelegenheiten erfassen und bestimmen (besser gesagt, welche die aus den zentralen Interessen der Staatsbürger erwachsenden
Bestrebungen erst zur Geltung zu bringen suchen und ihn dadurch wiederum in
Wechselwirkung bestimmen), entscheiden für sie nun auch in politicis und bringen
dadurch, wie bereits erwähnt, ein Element der Stetigkeit und der Gleichmäßigkeit
in die politische Bewegung, das zur Zeit der ,alten politischen Parteien‘ in dieser
Bestimmtheit gewiss mangelte.
Die Entwicklung lehrt aber, dass keineswegs die Interessentenorganisationen die
politischen Parteien ersetzen. Dies ist in der heutigen Form des Parlamentarismus2
gesetzlich sowohl als technisch nicht möglich. Im Gegenteil: Das naive Empfinden
der Interessenten, das niemals Bedenken trägt, den eigenen Vorteil ohne weiteres
als seinsollend, als allgemein gültige Maxime zu verkünden, das mit rührender
Selbstverständlichkeit den (wirklichen oder vermeintlichen) Vorteil unbewusst
in eine Staats- und Weltauffassung einbaut, wird im parlamentarischen Getriebe,
wenn man so sagen kann, verfälscht. Es muss sich an dem ebenso unbedingten,
radikalen, naiven Programm anderer konträrer Gruppen messen und wird so
genötigt, sich vor diesem zu legitimieren – ein Problem, das im Kreise der Interessenten ein und derselben Kategorie niemals aufgeworfen wird. Wenn so auf der
einen Seite durch den Parlamentarismus die Interessentenorganisationen immer
wieder auf Gesichtspunkte übergeordneter Kategorien gedrängt werden, so sind es
andererseits wieder die von jeder Voraussetzung freien, in ihren Wünschen durch
keine Rücksicht auf allgemeine Gesichtspunkte gehemmten Interessentenorganisationen, welche auf die ihnen nahestehenden Parteien einen Druck ausüben,
ihnen das ,Rückgrat steifen‘ und so die Festigkeit verleihen, die sie aus sich heraus
niemals besitzen würden. So ringen heute noch Gesellschafts- und Klassenpolitik
miteinander, und das erklärt es vielleicht auch, warum der Parlamentarismus so
vielfachen Anfeindungen unterliegt, warum niemand in ihm die wirkliche Repräsentanz des Volkes erblicken will. Dieser unbefriedigende Zustand besteht auch
2
Noch immer besteht die gesetzliche Fiktion, dass der Abgeordnete Repräsentant der
Gesamtheit sei.
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deshalb, weil die Interessentenorganisationen, so sehr sie auch in der letzten Zeit
gewachsen sein mögen, so rasch ihr Einfluss auch stieg, doch noch weit entfernt
davon sind, in ihrer Gesamtheit das Volk ganz zu umspannen und – was vielleicht
noch mehr bedeutet – noch keineswegs alle ihre Mitglieder zu bewussten (und
tätigen) Mitstreitern machen konnten. Einer Annäherung an dieses Ziel aber
streben wir gewiss zu, und es ist kein Zweifel, dass der Organisationsgedanke –
gegenwärtig vielleicht einer der stärksten Gedanken im öffentlichen Leben, dem
jedenfalls kein gleichwertiger Gegner hinderlich im Wege steht – sobald er einmal
auf der ganzen Linie gesiegt hat, auch alle öffentlichen Institutionen, insbesondere
den Parlamentarismus, ergreifen und für seine Zwecke umzubilden trachten wird.
Damit aber streben wir unaufhaltsam einem Zustande entgegen, in welchem
die Politik der Klassen ganz unverhüllt miteinander ringt – in dem all das, was
jetzt verschleiert als Sozialpolitik das Wohl der Gesellschaft zu fördern vorgibt,
als bewusste Interessentenforderung auftreten und verhandelt werden wird. Die
Förderung der Klasseninteressen wird damit bewusst und planmäßig; es fehlt das
Medium des ,allgemeinen Interesses‘.
Es mag in den Augen Vieler bedauerlich erscheinen, dass ein immer größerer
Teil des Volkes sich mit bloßer Interessenpolitik bescheidet, dass das Bedürfnis
nach einer Weltanschauung und einheitlichen Lebensauffassung, die weiter reicht
als die unmittelbaren Interessen des täglichen Lebens, so ganz in den Hintergrund
zu treten droht. Hier kann diese Entwicklung nur konstatiert und zur Erklärung
darauf hingewiesen werden, dass eben große Massen des Volkes erst in der letzten
Zeit dazu genötigt wurden, ihr Interesse öffentlichen Angelegenheiten zuzuwenden;
Kreise, die früher nicht überzeugte Anhänger einer Weltanschauung waren, sondern
Mitläufer einer ihrem Wesen fremden Idee oder gänzlich unbeteiligte Zuschauer.
Daraus resultiert eine immer stärkere Anteilnahme am öffentlichen Leben. Was
die ,alten Parteien‘ nicht vermochten, die prinzipiell das Volksganze umfassten,
allgemeine Prinzipien vertraten, bringen die Interessentenparteien zuwege. Sie erfassen die Kreise, für welche sie gebildet wurden, tatsächlich und ganz, sie erfassen
sie auch dauernd und halten sie infolgedessen fest. Daher vielfach geradezu eine
Abhängigkeit der politischen Parteien alten Stiles von den Interessentenorganisationen, welche zum Teile darüber entscheiden, wie sich am Tage der Wahl ihre
Mitglieder in den Komplex politischer Parteien einfügen werden.
Dieser Umschwung in den Machtverhältnissen zwischen Interessentenorganisation und politischer Partei erklärt sich weiterhin auch daraus, dass die politischen Parteien in früherer Zeit die einzige Organisation der Staatsbürger bildeten,
die zugleich auch Klasseninteressen vertrat und daher über die Massen verfügen
konnte. Nunmehr streben diese einer ideell beschränkteren, aber materiell wertvolleren Organisation zu.
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Eine erschöpfende Theorie der Interessentenbewegung, alle ihre Voraussetzungen
und ihre soziologische Struktur zu entwickeln, ist hier nicht möglich. Es sei nur
versucht, einiges zur Erklärung dieser Erscheinung (des Überhandnehmens und
der, zweifelsohne, immer mehr wachsenden Macht der Interessentenorganisationen) beizutragen. Charakteristisch für die Interessentenbewegung, besonders in
ihren Anfängen, ist eine eigentümliche Ideologie. Natürlich ist diese weitaus nicht
so universeller Art wie die Ideologien der politischen Parteien. Aber immerhin ist
hervorzuheben, dass die Interessentenorganisationen nicht die Menschen einfach
an sich ziehen als nach bestimmter Richtung materiell orientierte Gruppen, sondern dass sie, namentlich in ihren Anfängen, eben durch ein Hinausgreifen über
den Kreis der unmittelbaren Klasseninteressen wirkten. Dies vielleicht besonders
deshalb, weil sie ja in Anknüpfung an politische Parteien oder wenigstens mit der
Tendenz, auf diese zu wirken, entstanden. Nur ist durchgehend zu beobachten –
und dies macht eben die Organisationen zu Interessentenorganisationen – dass
diese Ideologien, diese weitergehenden, über die speziellen Interessen hinausreichenden Gesichtspunkte, doch immer in strikter Übereinstimmung blieben mit
dem speziellen Interesse und von diesem aus konstruiert wurden. Genau so, wie
die extreme Richtung der materialistischen Geschichtsauffassung die Ausbildung
von Ideologien überhaupt vorstellt, sind die Ideologien der Interessentenorganisationen tatsächlich entstanden. Daher lässt sich aus den Ideologien auch ein Rückschluss auf die in den Organisationen vertretenen Interessentenkreise ziehen: Die
Ideologien, in concreto also die Motivationen, werden umso mehr ins Allgemeine
gehen, die Anknüpfung an das Gemeinwohl anstreben, über das Gebiet materieller
Interessen, der Wirtschaft, hinausgehen, je heterogener (ökonomisch) die Gruppen
sind, welche von der Organisation erfasst werden. Und sie wird sich umso enger
an die eigentliche ökonomische Funktion der Gruppen anlehnen, je geschlossener
diese, je mehr daher auch ihr Programm in ökonomischen Postulaten gipfelt. Die
Argumentationen der Unternehmer, Arbeiter einerseits, die des Mittelstandes, der
Agrarier andererseits, sind der deutlichste Beweis hierfür.
Diese Ideologie der Interessentenbewegung nach außen hin baut sich auf eine
Ideologie im Innern: Dies hat seinen Grund darin, dass die Interessentenorganisationen eine wenn auch nur vorläufige Zurücksetzung individueller Interessen
gegenüber den allerdings recht beschränkten Gemeininteressen zur Voraussetzung
haben. Die Interessentenorganisation muss von ihren Mitgliedern die Unterordnung unter höhere, gemeinsame Interessen fordern, wenn sie es auch nur tut und
mit Erfolg tun kann, weil die Förderung dieser gemeinsamen Interessen tatsächlich hinausläuft auf die Förderung aller individuellen Interessen, die sie umfasst.
Dieser Umstand, dass die Vertretung gemeinsamer anfänglich den Widerstand
der individuellen Interessen mühsam überwinden muss, schafft eine Disposition
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zu allgemeiner Einstellungs- und Betrachtungsweise. Und so wie die Interessentenorganisation nach innen nur zu wirken vermag, indem sie das Interesse der
Gesamtheit der Interessenten darstellt als individuellstes Interesse jedes Einzelnen,
ebenso wird sie bemüht sein, nach außen darzustellen, wie das Interesse der ganzen
großen Gesamtheit geknüpft ist gerade an das Interesse der speziellen Gruppe, die
sie vertritt. Dieses Widerspiel, dass das individuelle Interesse seine Befriedigung
findet in der Hingabe an das allgemeine (Gruppeninteresse), wohingegen wiederum
das allgemeine Interesse nur gewahrt werden könnte bei Wahrung eines speziellen
Gruppeninteresses (das ja dem allgemeinen Interesse gegenüber ein Individualinteresse ist), charakterisiert jede Interessentenbewegung als solche und unterscheidet
sie scharf von den politischen Parteiströmungen.
Der eben gekennzeichnete Charakter der Ideologien von Interessentenorganisationen erklärt auch ihren überraschenden Erfolg, ihre, im Vergleiche zu politischen Parteirichtungen betrachtet, ganz erstaunliche Ausdehnung. Die Ideologie
der Interessentenorganisation knüpft für ihre Mitglieder an deren wirtschaftliche
Interessen an, und so viel ist doch ganz gewiss, dass eine ausgebildete Gesellschaftsanschauung, die vom Gesichtspunkte der Interessen aus konstruiert ist, ungleich
leichter, rascher und dauernder Wurzel schlägt als eine andere, die von einem
allgemeinen Prinzip aus Maximen für das Verhalten ableiten möchte.
Was bedeutet nun eine Gesellschaft von lauter Interessentenorganisationen?
Zunächst einen weitgehenden ,Relativismus‘, wenn man so sagen kann: Die Organisationen betrachten die von ihnen erfassten Gruppen gewiss als ausschlaggebend,
die Erhaltung derselben als oberstes Ziel staatlicher Tätigkeit, die Förderung als im
Interesse des Gesamtwohles gelegen; aber sie umfassen doch nie, zum Unterschied
zu den politischen Parteien nicht einmal prinzipiell, das Volksganze. Sie ,wahren‘
immer ,das berechtigte Interesse‘ ihrer Gruppe. In einer Gesellschaft, deren Mitglieder von lauter Interessentenorganisationen erfasst werden, strebt daher, soweit
diese das öffentliche Leben gestalten, nicht ein Prinzip zur Herrschaft, nicht eine
als richtig anerkannte allgemeine Auffassung; die Gesellschaft wird nicht als die
Inkarnation eines für richtig erkannten Staatszweckes aufgefasst, in ihr stehen
prinzipiell gleich berechtigte, nur verschieden wichtige (wirtschaftliche) Interessen zum Ausgleiche.3 Die ,politische Partei‘ kämpft für die Herrschaft einer Idee,
für oder gegen ein ,System‘ – die Interessentenorganisationen kämpfen für die
Wahrung ihrer Interessen ,im Rahmen des Gesamtwohles‘. Die Durchsetzung der
Gesellschaft mit Interessentenorganisationen und ihr wachsender Einfluss auf das
3
Das hier Gesagte gilt natürlich nur, wenn und insoweit die Interessentenorganisationen tatsächlich das öffentliche Leben der Staatsbürger erfüllen und gegenüber den
Interessentenorganisationen die politischen Parteien nichts mehr entscheiden – wie es
tatsächlich immer mehr der Fall wild.
http://www.springer.com/978-3-658-03242-5
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