Trivialisierung - Supervision / Coaching / psychosoziale Beratung

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Trivialisierung und/oder Empowerment ?
Dr.in Ramita G. Blume MSc, MSc
Vortrag, gehalten am Ludwig Boltzmann Institut Health Promotion Research,
Wien, am 13. Juni 2012.
Die Schule ist trotz der großen Reformbewegungen im letzten Jahrhundert in der Krise.
Kritische Stimmen behaupten, sie sei nicht mehr zeitgemäß und nicht in der Lage, sich den
veränderten Bedingungen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit anzupassen. Wenn die
Erziehung der nächsten Gesellschaft, wie Dirk Baecker meint, weiterhin ratlos bleibt 1 , steigt
damit auch das gesellschaftliche Risiko, das aus einem zu späten oder verspäteten Reagieren
des Erziehungssystems (Nachhinken des Bildungssystems!) auf die aktuelle Problemlage, die
mittlerweile ein globales Ausmaß erreicht hat, resultiert. Dieses Risiko betrifft nichts
Geringeres als das Fortbestehen der Gesellschaft und die Zukunft des Menschen.
Düsteren Prognosen entgegen lassen sich jedoch in vielen wissenschaftlichen Disziplinen
Ansätze und Ideen erkennen, die eine grundlegende Neugestaltung von Denk‐ und
Lebensformen anregen und auch für die Schule richtungsweisende Impulse geben können.
Entsprechende Inspirationen findet man vor allem im systemischen Denken. Mit dem Begriff
Systemisches Denken bezeichne ich eine Haltung, eine Einstellung, eine Denkweise, die aus
systemtheoretischen Überlegungen (Niklas Luhmann), konstruktivistischen Konzepten und
der Kybernetik zweiter Ordnung gewonnen werden kann. Besonders erwähnen möchte ich
den philosophischen Mentor des systemischen Denkens: Heinz von Foerster, den man nicht
zu Unrecht als den Sokrates der Kybernetik ‐ Peter Sloterdijk nannte ihn den Cyber‐Sokrates ‐
bezeichnet hat. Auch George Spencer‐Brown soll nicht unerwähnt bleiben, dessen Laws of
Form in die Systemtheorie Luhmanns aber auch in Heinz von Foersters Überlegungen
Eingang gefunden haben.
Den Zusammenhang von systemischem Denken und Ethik thematisierend, werden wir
zunächst der Frage nachgehen, ob und wie sich systemisches Denken und Ethik zu einer 2nd‐
Order Ethik verbinden lassen und wie eine 2nd‐Order Ethik in Zusammenhang mit dem
Thema der Erziehung für die Schule eine neue Perspektivenentwicklung anregen kann. Aus
dem Konnex von 2nd‐Order Ethik, Erziehung und der Zukunft von Individuum und
Gesellschaft gewinnen wir das Hauptargument für einen notwendigen Paradigmenwechsel
der Schule, der in einem zweiten Schritt skizziert werden soll. In diesem Zusammenhang
werde ich insbesondere auf den meines Erachtens kardinalen Systemfehler und blinden
Fleck der Schule aufmerksam machen. In einem kurzen dritten Abschnitt soll eine
systemtherapeutische Perspektive und Lösung zweiter Ordnung für die Schule skizziert
werden.
1
Dirk Baecker (2007) in seinen Studien zur nächsten Gesellschaft.
1
1
2nd‐Order Ethik, Erziehung und die Zukunft von Individuum und
Gesellschaft
Die Bedeutung und Funktion der Erziehung im Zusammenhang mit der Frage der Zukunft der
Gesellschaft und der Menschheit hat den Dalai Lama vor einigen Jahren dazu bewogen, eine
Konferenz zu diesem Thema zu initiieren. Einer der Teilnehmer, der bekannte chilenische
Anthropologe und Psychotherapeut Claudio Naranjo, titulierte seinen Beitrag: Zivilisation:
eine Erkrankung, die die Erziehung heilen kann. Die Zivilisation befindet sich im Stadium
einer Krise und steuert auf eine entscheidende Wende zu. Das Erziehungssystem so wie wir
es heute haben, betrachtet er als Teil des Problems. Nur eine radikale Transformation des
Erziehungswesens könne seiner Überzeugung nach den katastrophalen Verlauf der
Geschichte verändern.
Auch Peter Sloterdijk betont in seinem Buch Du musst dein Leben ändern die Notwenigkeit
eines Wandels, einer ethischen Revolution, eines Paradigmenwechsels: „Die globale Krise
selbst diktiert uns den Wandel. Wir müssen unser Leben entscheidend ändern, weil wir
andernfalls an einem ökonomischen und ökologischen Selbstauslöschungsprogramm
teilnehmen.“ 2
1.1
2nd‐Order Ethik
Die didaktische Strategie Heinz von Foersters, wie ein solcher notwendiger
Paradigmenwechsel vollzogen und nachvollzogen werden kann, besteht in seiner
Aufforderung, die epistemologische Grundfrage zu beantworten:
"Befinde ich mich außerhalb des Universums? (Das heißt: Immer wenn ich meine Augen
darauf richte, sehe ich wie durch ein Guckloch auf das sich entfaltende Universum.)" 3 Die
Position des Helmholtzschen Locus observandi bezeichnet einen von der Welt getrennten
Ort völlig neutraler (objektiver) Beobachtung. Das Beobachten des Beobachters nimmt
keinerlei Einfluss auf das Beobachtete, die Welt wird entdeckt.
"Oder: Bin ich Teil des Universums? (Das heißt: Immer wenn ich etwas tue, verändere ich
sowohl mich als auch das Universum.)" 4 Im Sinne der Teilhabe und Teilnahme ist der
Beobachter verbunden mit anderen Beobachtern und beteiligt an der Ko‐Konstruktion
sozialer Wirklichkeit.
paradoxe Logik
Mit der klassischen Logik von Entweder‐oder ist Heinz von Foersters Frage allerdings
unentscheidbar, weil Teilhabe/Teilnahme und Guckloch in einem Verhältnis gegenseitiger
Implikation stehen und jede Antwort ihr Gegenteil notwendig einschießt. Das Problem ist
paradox, denn sind wir nicht sowohl Guckloch als auch Teil der Welt?
Aufgrund der operationalen Geschlossenheit unseres Gehirns sind wir isoliert und getrennt
von der Welt (Guckloch). Geschlossenheit ist aber zugleich Bedingung der Möglichkeit für
Offenheit und damit für Teilhabe/Teilnahme.
Seit Heisenberg (das Beobachten beeinflusst das Beobachtete), Einstein (eine Beobachtung
ist nicht absolut, sondern relativ zum Standpunkt des Beobachters) und Spencer‐Brown (das
2
Sloterdijk, 2009, S. 702.
Foerster, 1993, S. 75.
4
Ebenda.
3
2
Beobachten kreiert, erschafft das Beobachtete: "Draw a distinction and a universe comes
into being“ 5 ) wissen wir, dass wir uns selbst aus der Welt unserer Beobachtungen nicht
herausnehmen können.
Die Didaktik ‐ oder besser: Magie (!) ‐ Heinz von Foersters besteht bereits im Stellen der
Frage selbst. Wer immer sich auf diese Frage einlässt, muss erkennen, dass er eigentlich nur
noch für Teilhabe/Teilnahme entscheiden kann, denn eine Identifikation mit der Guckloch‐
Position setzt eine Naivität voraus, die durch das bloße Stellen der ethischen Frage schon
gebrochen wird. Denn: Indem wir uns der Frage stellen, sind wir gezwungen, uns auf eine
Metaebene der Reflexion zu begeben, auf der es logisch gar nicht mehr anders möglich ist,
als zu erkennen, dass wir als Guckloch Teil der Welt sind. Diese Metaebene der Reflexion,
von der hier die Rede ist, entspricht einem Beobachten des Beobachtens, einem Beobachten
zweiter Ordnung. Ein Beobachter zweiter Ordnung ist ein Beobachter, der einen Beobachter
erster Ordnung ‐ ein Guckloch, das er selbst sein könnte ‐ beim Beobachten beobachtet.
Der von Heinz von Foerster angeleitete Erkenntnisprozess ‐ der epistemologische
Paradigmenwechsel auf die Ebene zweiter Ordnung ‐ lässt sich anhand M.C. Eschers
Lithographie Die Galerie veranschaulichen:
Die Galerie, M.C. Escher, 1956
6
Der Beobachter erster Ordnung (das Guckloch) ‐ in Eschers Bild der junge Mann (linke untere
Ecke) ‐ ist zwar Teil der Welt, die er beobachtet, er ist sich dessen aber nicht bewusst; er
kann dies nicht sehen (erkennen), weil er sich selbst und sein Beobachten nicht zugleich
mitbeobachten kann.
Die Blindheit des Beobachters erster Ordnung kommt in Eschers Bild durch die weiße Stelle
in der Bildmitte zum Ausdruck. Das verblüffende am blinden Fleck ist aber, dass wir ihn eben
nicht sehen. Heinz von Foerster: "Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen. Wir sind blind für
unsere Blindheit." 7
Den blinden Fleck können wir uns nur durch ein Beobachten zweiter Ordnung bewusst
machen. Heinz von Foerster: „Wenn ich nicht sehe, dass ich blind bin, dann bin ich blind;
wenn ich aber sehe, dass ich blind bin, dann sehe ich."8
5
Spencer Brown, 1994, S. 3f.
http://www.mcescher.com/Gallery/recogn‐bmp/LW410.jpg (Download 25.5.2012).
7
Foerster/Pörksen, 1999, S. 116f.
8
Ebenda.
6
3
kybernetische Wende
Der Ebenenwechsel, der hier vollzogen wird ‐ die Umstellung von Beobachten erster
Ordnung auf Beobachten zweiter Ordnung ‐ kennzeichnet die kybernetische Wende.
Fragen der Steuerung im Kontext der Kybernetik erster Ordnung werden im Kontext der
Kybernetik zweiter Ordnung zu Fragen der Steuerung der Steuerung:
Wer oder was steuert die Steuerung? Wer oder was steuert den Steuermann? Wer oder was
steuert den Beobachter? Ist er autonom, ist er selbstbestimmt? Oder ist er heteronom,
fremdbestimmt?
Die Unterscheidung Autonomie/Heteronomie, Selbstbestimmung/Fremdbestimmung ist
jedoch keine Frage von Entweder‐oder, vielmehr handelt es sich um ein paradoxes Problem:
Systemtheoretisch und in der Sprache Spencer‐Browns gilt es, ein Re‐entry der Differenz
Autonomie/Heteronomie auf einer Seite der Differerenz zu vollziehen. Eine Seite muss
bevorzugt behandelt werden, eine Seite muss operativ werden ‐ analog zu Luhmanns
Systembegriff als Re‐entry der Differenz System/Umwelt auf der Seite des Systems.
Ein Re‐entry der Differenz Autonomie/Heteronomie auf der Seite der Autonomie bedeutet,
dass Heteronomie, Fremdbestimmung, im Dienste und unter Kontrolle der Autonomie
gedacht werden muss.
Bedingung der Möglichkeit von Autonomie, von Selbstbestimmung, ist Freiheit,
Wahlmöglichkeit. Wer frei ist und sich selbst bestimmt, ist auch selbst verantwortlich.
Die Begriffe Selbstbestimmung, Freiheit und Verantwortung stellen die Zentralreferenz einer
neuen Ethik dar, deren Logik der Kybernetik zweiter Ordnung, die Heinz von Foerster auch
als soziale Kybernetik (im Sinne des Bewusstseins als Guckloch Teil‐der‐Welt zu sein)
bezeichnet hat, entspricht. Heinz von Foerster spricht von KybernEthik.
Mein Begriff dafür ist 2nd‐Order Ethik 9 . Gemeint ist eine Ethik, die implizit bleibt, die sich
jeglicher Was‐Explikationen enthält, die also nicht präskriptiv ist, sondern auf das Wie des
Beobachtens umstellt. Heinz von Foerster: "Handle stets so, dass die Anzahl der
Möglichkeiten wächst“ 10 . Die Anzahl der Möglichkeiten darf hier allerdings nicht quantitativ
(miss)verstanden, sondern muss als qualitative Dimension aufgefasst werden.
1.2
Erziehung als Anthropotechnik Nummer eins
Die Technologien bewusster Selbstbestimmung, Selbststeuerung, Selbstformung ‐ bei Michel
Foucault die Technologien des Selbst 11 ‐ fasst Peter Sloterdijk im Begriff der
Anthropotechnik. Anthropotechniken gründen auf der anthropologischen Erkenntnis, dass
der Mensch das Tier ist, das, weil es über sich selbst nachdenken auch an sich selbst arbeiten
kann, um über sich selbst hinauszuwachsen. Anthropotechniken meinen Technologien,
Mittel und Wege eines Selbststeigerungsprozesses, eines nach oben offenen
Selbsttransformationsprozesses.
2nd‐Order Kompetenz als Bezeichnung für die Kompetenz zur Selbststeuerung,
Selbstformung, Selbstbestimmung und damit Verantwortung (Selbstverantwortung und
soziale Verantwortung) entsprechend der 2nd‐Order Ethik, realisiert sich nicht von selbst,
sondern braucht Anleitung und will gelernt sein.
9
Blume, 2012.
Foerster, 1999, S. 36.
11
Vgl. Foucault, 2007, S. 254.
10
4
Grundsätzlich, so Peter Sloterdijk, ist die Erziehung Anthropotechnik Nummer eins, weil sie
Technik am Menschen und in diesem Sinne die Kunst der Beziehungs‐ und
Menschenformung ist. Eine Erziehung, die im Sinne Claudio Naranjos die Erkrankung heilen
und eine Zukunft für Individuum und Gesellschaft ermöglichen soll, muss allerdings daran
arbeiten, Menschen hervorzubringen, die nicht mehr mit dem alten Strom schwimmen, die
aufhören, wie Peter Sloterdijk sagt, ein Gewächs der ersten Kultur zu sein und die beginnen,
vom Ufer aus eine neue Welt mit neuen Einwohnern zu gründen. 12
Der Fokus der Erziehung müsste in diesem Sinne auch auf einer entsprechenden
Komplexierung der Erziehungskommunikation liegen. Ihre Themen sind:
a) die Konditionierungen: das sind die Ergebnisse aus primären Sozialisations‐ und
Enkulturationsprozessen der ersten Kultur.
b) deren Dekonstruktion: für die Erziehung besteht die Aufgabe, Reflexions‐ und
Feedbackprozesse sowie kulturelle Vergleiche anzuregen. Das Einbringen neuer und anderer
Perspektiven in den eigenen kulturellen Habitus und Komplex lässt eine Haltung kognitiver,
aber auch emotionaler Distanz gegenüber dem bisher Selbstverständlichen (erste Kultur)
entstehen, das sich relativiert und kontingent wird.
c) die Rekonstruktion der eigenen Kondition: Die Dekonstruktion ist die Bedingung der
Möglichkeit einer bewussten Rekonstruktion der eigenen Kondition, also Grundlage von
Selbstbestimmung, aber auch Bedingung der Möglichkeit für das Entstehen einer neuen
Kultur, die freilich nur noch als Kultur der Kulturen bestimmbar wird. Eine Kultur der
Kulturen ist keine uniforme Weltkultur, auch nicht Vermischung der Kulturen, sie versteht
sich als eine Kultur des Nicht‐Bestimmten, des offen und gestaltbar Bleibenden und meint in
diesem Sinne nicht das Resultat, sondern den Prozess des Kulturschaffens.
Um den entsprechenden Erziehungsaufgaben ‐ Erziehung zur Selbstbestimmung, zur
Verantwortung, Förderung von 2nd‐Order Kompetenz und Vorbereitung auf eine Kultur der
Kulturen ‐ auch gerecht zu werden, ist auch eine Neubestimmung der grundlegenden
Konstituenten des Erziehungssystems, ein Paradigmenwechsel der Schule, unumgänglich.
2
Paradigmenwechsel der Schule, Aufdecken des blinden Flecks und
Systemfehlers der Schule
Heinz von Foersters viel zitierte Unterscheidung trivialer und nicht‐trivialer Maschinen
erweist sich als ideales Instrument und Argument für das Aufzeigen eines
Paradigmenwechsels für die Schule.
Im Gegensatz zur Trivialmaschine, die durch eine starre und eindeutige Input‐Output
Relation gekennzeichnet ist, die sie berechenbar und voraussagbar macht, besitzt die nicht‐
triviale Maschine eine eigendynamische komplexe Binnenstruktur. Jedes Mal, wenn die
nicht‐triviale Maschine eine Operation durchführt, verändert sich auch ihr innerer Zustand.
Nicht‐triviale Maschinen sind vergangenheitsabhängig, nicht voraussagbar, nicht
berechenbar und das, so Heinz von Foerster, macht sie so schrecklich unbeliebt. Menschen
12
Vgl. Sloterdijk, 2009, S. 302.
5
sind nicht‐triviale Maschinen: sie verändern sich, sind unzuverlässig, eigensinnig ‐ aber
lernfähig.
Triviale (a) versus nicht‐triviale (b) Maschinen
2.1
13
Trivialisierung
Die Schulen selbst schlugen sich, historisch betrachtet, vor allem auf die Seite der
Trivialisierung. Ein triviales Bildungssystem ist primär output‐fixiert, wobei die geforderten
oder gewünschten Outputs in der Regel eindeutig bestimmt sind. Wissen wird eingetrichtert
und soll auf Anordnung rezitiert werden. Über ein Belohnungs‐/Bestrafungssystem werden
SchülerInnen konditioniert, trivialisiert und damit vorhersagbar und berechenbar gemacht.
Heinz von Foerster: "Tests sind Instrumente, um ein Maß an Trivialisierung festzulegen. Ein
hervorragendes Testergebnis verweist auf vollkommene Trivialisierung: der Schüler ist völlig
vorhersagbar und darf daher in die Gesellschaft entlassen werden. Er wird weder
irgendwelche Überraschungen noch auch irgendwelche Schwierigkeiten bereiten." 14
Das Nicht‐Triviale zu trivialisieren, bedeutet es einzuschränken und auf bestimmte
erwünschte Outputs hin zu konditionieren. Genau das macht die Trivialisierung im Bereich
des Nicht‐Trivialen aber auch gefährlich, denn sie minimiert die Bedingung der Möglichkeit
des Lernens von Selbstbestimmung und Verantwortung, autonomen Entscheidens und
Handelns und macht anfällig für Manipulation und blinden Autoritätsgehorsam.
Wenn wir anfangen, so Heinz von Foerster, einander zu trivialisieren, dann werden wir nicht
nur alle bald blind sein, wir werden vielmehr blind gegenüber der Blindheit sein. Diese
Blindheit gegenüber der Blindheit hat sich beispielsweise in Milgrams Experiment deutlich
gezeigt. Mehr als die Hälfte der Versuchspersonen war den Anweisungen des
Wissenschaftlers, der Autoritätsperson, mit blindem Gehorsam gefolgt. Nicht dass sie die
Wahlmöglichkeit, die sie zweifelsfrei hatten, bloß nicht sehen konnten. Sie kamen vielmehr
gar nicht auf den Gedanken, dass es überhaupt eine solche (Wahl) geben könne. Die Frage
der Wahl und damit der eigenen Verantwortung stellte sich ihnen gar nicht – und das ist das
eigentliche Problem, das Gefährliche.
2.2
Empowerment
Heinz von Foerster plädiert für eine Form der Erziehung, die die Sichtbarkeit der Freiheit und
die Vielzahl der Möglichkeiten nicht behindert oder einschränkt, sondern fördert, erweitert,
unterstützt. Im Wesentlichen entspricht diese Form der Erziehung der Idee des
13
14
Foerster, 1993, S. 357f.
Foerster, 1999, S. 67f.
6
Empowerment: Erziehung als Empowerment. Aufgabe der Schule ist es in diesem Sinne, die
Heranwachsenden bei der Aneignung von 2nd‐Order Kompetenz anzuleiten und zu
unterstützen.
Die Einführung der Differenz Empowerment/Trivialisierung in erzieherische Prozesse und
Strukturen ist Wolfgang Dürs originärer Beitrag zur Theorie und Praxis der
Gesundheitsförderung im Bereich der Schule 15 . Trivialisierende oder empowernde Prozesse
und Strukturen der Erziehungskommunikation lassen unterschiedliche Möglichkeiten für die
angekoppelten psychischen Systeme – für Lehrer und Schüler – erkennen. Trivialisierung
wirkt in Richtung Einschränkung, Verminderung, Reduktion, Empowerment in Richtung
Erweiterung, Steigerung, Vermehrung von Komplexität, Kreativität und 2nd‐Order
Kompetenz. Auf der Trivialisierungsseite werden pathogenetische, auf der
Empowermentseite salutogenetische Entwicklungen forciert.
Empowerment, das sagt schon der Name, hat vor allem etwas mit power zu tun. Klassisch
wird die power im Empowerment nahe des Selbstwirksamkeitsbegriffs (Albert Bandura) als
die Macht zu sein und die Macht zu handeln definiert (Howard Clark, 1998).
Eine Definition des Machtbegriffs interessiert aber nicht nur auf der Ebene des Individuums,
sondern auch auf Ebene der Kommunikation, der Diskurse, der Beziehungen ‐ wie wir sie in
Michel Foucaults Machtanalyse finden. 16
Machtbeziehungen bezeichnen mit Foucault keine starren Systemzustände, sondern
zeichnen sich vielmehr durch Flexibilität, Wechsel und Umkehrbarkeit der Rollen aus.
Machtbeziehungen sind immer reversibel.
Macht muss von Herrschaft abgegrenzt werden. Herrschaftsverhältnisse treten dann auf,
wenn es ein Individuum, eine soziale Gruppe (Gemeinschaft) oder die Gesellschaft fertig
bringt, das bewegliche und flexible Gefüge von Machtbeziehungen zu starren Strukturen zu
verfestigen.
Machtbeziehungen kann es aber nur in dem Maße geben, in dem die beteiligten Individuen
auch frei sind. Macht und Freiheit stehen in einem einander konstituierendem Verhältnis:
Ohne Freiheit keine Macht und ohne Macht keine Freiheit. Man muss sich der Freiheit
ermächtigen als Bedingung der Möglichkeit von Selbstbestimmung und damit
Selbstverantwortung und sozialer Verantwortung. Achtet die Macht jedoch nicht auf den
Erhalt der Freiheit (als ihre Verantwortung!), wird sie selbst zur Herrschaft und legitimiert
Widerstand und Gewalt. In diesem Sinne ist Freiheit zwar mächtig und Macht frei. Aber
Freiheit kann nicht herrschen, weil Herrschaft Freiheit beseitigt. Erich Fried: Wer sagt: Hier
herrscht Freiheit, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht.
Die Logik der Machtbeziehung operiert im paradoxen Raum, denn die Machtbeziehung ist
gleichzeitig symmetrisch und asymmetrisch: Das asymmetrische Element ist Bedingung der
Möglichkeit, dass in der Beziehung auch entschieden und gehandelt wird. Das symmetrische
Element reflektiert das Ausmaß, in dem ein asymmetrisches Element der Beziehung sinnvoll
und akzeptabel ist.
Die Paradoxie der Macht zu entfalten, entspricht der Fähigkeit, mit sich selbst und anderen
Abmachungen zu treffen und die symmetrische Grundlage aller dabei konstruierten
Asymmetrien stets mitzuführen ‐ meines Erachtens ein wesentlicher Aspekt dessen, was
man als natürliche Autorität (Autorität jenseits formaler Zuschreibungen) bezeichnet.
15
16
Vgl. Dür, 2008, S. 147ff.
Vgl. Foucault, 1994, S. 256ff.
7
2.3
Trivialisierung und/oder Empowerment ?
Die möglicherweise irritierende Formulierung Trivialisierung und/oder Empowerment? spielt
auf die paradoxe Problemlage an. Systemtheoretisch und in der Sprache Spencer‐Browns
geht es um die Frage eines Re‐entry der Differenz Empowerment/Trivialisierung auf einer
Seite der Differenz (wieder analog zu Luhmanns System als Re‐entry der Differenz
System/Umwelt auf der Seite des Systems). Eine Seite muss bevorzugt behandelt werden,
eine Seite muss operativ werden. Empowerment oder Trivialisierung?
Empowerment = Empowerment/Trivialisierung
In der Erziehung statt auf Trivialisierung auf Empowerment zu setzen, kann nicht bedeuten,
dass auf Prozesse der Trivialisierung vollständig verzichtet werden könne. Das Re‐entry der
Differenz Trivialisierung/Empowerment auf der Seite des Empowerment meint nicht
Ausschluss von Trivialisierung, sondern Einschluss, sodass Trivialisierung im Dienste und
unter Kontrolle des Empowerment gedacht werden muss.
So entspricht jedes Eintrainieren von Fähigkeiten und Fertigkeiten (wie schreiben lernen,
lesen lernen, Klavierspielen lernen, Vokabel lernen) einem Trivialisierungsprogramm, das
jedoch im Dienste der Erweiterung des nicht‐trivialen Selbstausdrucks und der Kreativität zu
verstehen ist. Ein hohes Maß an Trivialisierung im Kontext des Klavierspielens beispielsweise
meint ein hohes Maß an Virtuosität als Grundlage für eigene Bearbeitungen,
Interpretationen und Kreationen.
Die Lernprozesse auf der Seite der Trivialisierung gründen auf Piages Prinzip der
Assimilation: Probleme werden mittels vorhandener Lösungsschemata gelöst. Jede
erfolgreiche Wiederanwendung des Schemas ‐ in der Sprache Spencer‐Browns: jede
Operation des Konfirmierens ‐ bestätigt die entsprechenden Strukturen, die damit gefestigt
(automatisiert) werden. In Übungs‐ und Trainingsprozessen sollte man Fehler darum auch
möglichst vermeiden.
Die Lernprozesse auf der Seite des Empowerment sind kreativ und folgen dem Prinzip der
Akkommodation (Piaget): Das Lösungsschema für ein Problem muss (selbstorganisiert)
hergestellt, konstruiert werden. Kreatives Lernen geschieht immer dann, wenn Probleme
mittels vorhandener Bewältigungsstrategien nicht gelöst werden können (Aufhebung bei
Spencer‐Brown), wenn kreative Konflikte entstehen und zum Anlass genommen werden um
zu lernen. Lernen in diesem Sinne ist fehlerfreundlich, denn Fehler führen zu kreativen
Konflikten.
Trivialisierung = Trivialisierung/Empowerment
School is not about learning but about avoiding mistakes (Peter M. Senge).
Wenn es aber in der Schule nicht ums Lernen geht, wie Peter Senge kritisch bemerkt,
sondern darum, Fehler zu vermeiden, dann setzt die Schule eindeutig auf die Seite der
Trivialisierung.
Ein Re‐entry der Differenz Empowerment/Trivialisierung auf der Seite der Trivialisierung
bedeutet, dass Empowerment im Dienste und unter Kontrolle der Trivialisierung steht.
Dies stellt eine Denkfigur dar, die zunächst einmal gar nicht so einfach vorstellbar ist, denn
das Re‐entry auf der Seite der Trivialisierung besagt, dass das kreative Element des Lernens
im Dienste und unter Kontrolle des Trivialen operiert.
8
Aber haben wir nicht heute exakt diese Situation in den Schulen? Da Schüler ihrem Wesen
nach nicht‐triviale Systeme sind, bedeutet dies, dass sie kreativ sind, wenn es darum geht,
mit trivialisierenden Konstellationen der Schule umgehen zu lernen. Sie lernen so zu tun als
ob sie trivial wären.
Damit sind wir beim Thema des blinden Flecks der Schule: Die Rede ist vom heimlichen
Lehrplan und den paradoxen Konflikten oder double binds, welchen Schüler und Lehrer
ausgesetzt sind.
Mit dem Ziel, gute Noten und entsprechende Nachweise über erfolgreiche Abschlüsse (als
Eintrittskarten in bessere Zukunftsbedingungen und ‐chancen) zu erwerben, lernen
SchülerInnen, Wissen vorzutäuschen und Unwissen (oder Unsicherheit) über eine Sache zu
verbergen, anstatt mehr darüber (und damit in Zusammenhang: über sich selbst) zu lernen –
und dies ungeachtet der eigenen Neugierde und des eigenen Interesses. Die Schule steht
dem Lernen im Wege.
Der Lehrer, der auf eine ehrliche Rückmeldung seiner Schüler angewiesen ist um diese auch
angemessen fördern zu können, beginnt seinen Schülern zu misstrauen, denn jedes
Verhalten, jede Äußerung des Schülers gerät unter Simulationsverdacht.
Der Lehrer ist aufgefordert, seine Schüler einerseits zu unterstützen, andererseits muss er
sie entsprechend seines Selektionsauftrages auch bewerten und beurteilen. Kurz und
pointiert: Der Lehrer ist gleichzeitig Freund und Feind des Schülers. Der Schüler erhält
gleichzeitig zwei Botschaften, von denen die eine die andere aufhebt. Lehrer und Schüler
sind in diesem Sinne in einem Teufelskreis, in einer Zwickmühle, einem klassischen double
bind (Gregory Bateson), gefangen.
Double binds zeichnen sich dadurch aus, dass zwei logisch widersprüchliche Positionen,
Funktionen, Rollen, Aufgaben oder Aufträge gleichzeitig erfüllt werden sollen. Dazu kommt
das unausgesprochene Verbot, über diese Widersprüchlichkeit zu (meta‐)kommunizieren,
sowie das Verbot, den Raum zu verlassen. Die Struktur des double bind ist auf Dauer gestellt,
das heißt, sie wird für alle Beteiligten zur habituellen Erfahrung.
Man denke in diesem Zusammenhang an die besorgniserregend hohe Burnout‐Rate (Studie
von Schaarschmidt 17 ) von LehrerInnen, die durch das double‐bind Problem geradezu
vorprogrammiert scheint. 50 Prozent der Betten in den psychosomatischen Abteilungen der
Krankenhäuser in Deutschland sind, so Manfred Spitzer in einem Vortrag, mit LehrerInnen
besetzt.
Die Schule selbst ist einem double bind, denn wie soll sie ihre gesellschaftliche Funktion der
Selektion und ihre am Kind orientierte Erziehungsaufgabe in Einklang bringen?
Das Problem des Widerspruchs von Erziehung und Selektion betont auch Niklas Luhmann:
„Die Schule ist in gewissem Sinne die Einheit zweier Funktionen, die in der pädagogischen
Reflexion nicht mehr integriert werden können, nämlich der Funktion der Erziehung und der
Funktion der sozialen Selektion – sei es für weiterführende Erziehung, sei es für Berufe im
Wirtschaftssystem. Als Pädagoge hält der Lehrer sich nur für Ausbildung und Erziehung
zuständig, als Schulmann betreibt er mit dem Urteil, das er kommuniziert, Selektion.“ 18
Durch das Verbot der Metakommunikation bleiben die double bind Problematik und der
heimliche Lehrplan aber im blinden Fleck der Schule.
17
Vgl. Schaarschmidt: http://www.rzuser.uni‐heidelberg.de/~ke9/zlb/download/potsdamer‐
lehrerstudie_info.pdf.
18
Luhmann, 1998, S. 977.
9
2.4
Paradigmenwechsel
Eine Möglichkeit, die sich als Lösung des Dilemmas anbietet, ist die Externalisierung der
Selektion und damit die Umstellung der Funktion der Schule von Selektion auf Integration.
Diese Umstellung würde schließlich jene Prozesse ermöglichen, die durch die
Selektionsfunktion ver‐ und behindert werden. Die Rede ist von qualitativen ehrlichen
Feedbackprozessen.
Feedback ist kein Lob, keine Kritik, nicht Anerkennung oder Ablehnung. Es geht nicht um
Bewertungen (Auf‐ oder Abwertung), nicht um Beurteilung, sondern um rückgemeldete
Wirkung. Feedbackgeber und Feedbacknehmer, Lehrer und Schüler, bilden einen
kybernetischen Lern‐Lehrkreislauf: Der Lehrer ist neugierig interessiert an der Rückmeldung
des Schülers und wird sein Lehrverhalten entsprechend regulieren oder variieren. Schüler
sind ebenfalls interessiert an einer ehrlichen Rückmeldung, was ihren Lernprozess betrifft
und werden ebenfalls ihr Verhalten entsprechend regulieren und variieren (lernen).
Die Rolle des Lehrers und der Prozess des Lehrens verschieben sich dabei in Richtung
Coaching. Coaching umfasst nicht nur kognitive, sondern auch motivationale und emotionale
Faktoren (ein Coach ist, wie Peter Sloterdijk sagt, jemand, der will, dass ich will). Die
Verantwortung für den eigenen Lernprozess geht an den Schüler, der als autonomes System
betrachtet wird, das das erzieherische Einwirken im Sinne seiner Selbstorganisation
verarbeitet.
Feedback setzt statt auf Misstrauen und Kontrolle auf Vertrauen. Ehrliches und qualitatives
Feedback geben und nehmen zu können, setzt Vertrauen voraus und gleichzeitig ist
Vertrauen das Resultat qualitativer Feedbackprozesse. Der Lehrer verzichtet dabei auf
traditionelle
Superioritäts‐
und
Dominanzansprüche
und
auf
eine,
auf
Herrschaftsbeziehungen begründete Autorität. Auf diese Weise entsteht eine gleichwürdige
Beziehung (Jesper Juul), die Foucaults Definition der Machtbeziehung, die produktiv,
konstruktiv und zugleich symmetrisch und asymmetrisch ist, entspricht.
Wir fassen die Umstellungen, die sich für die Schule im Sinne eines Paradigmenwechsels
ergeben, zusammen:
Paradigmenwechsel der Schule
TRIVIALISIERUNG =
Trivialisierung/Empowerment
EMPOWERMENT =
Empowerment/Trivialisierung
SELEKTION
Beurteilung, Bewertung
INTEGRATION
Misstrauen, Kontrolle
Vertrauen
Lehrer Freund/Feind
Dominanz
Herrschaftsbeziehung
Lehrer als Coach
Gleichwürdigkeit (Jesper
Juul)
Machtbeziehung
Feedback – rückgemeldete Wirkung
10
3
systemtherapeutische Perspektive
Erziehung, Bildung, Ausbildung, Betreuung, Beratung und Therapie sind nach systemischer
Auffassung auch auf einem gemeinsamen Kontinuum angesiedelt. Erziehung und Therapie
haben nicht nur einiges an Gemeinsamkeiten, sie können einander auch befruchten und
neue Perspektiven geben.
Kersten Reich spricht sich in diesem Sinne für eine LehrerInnenausbildung aus, die sich an
Konzepten, die sich in der Ausbildung zur systemischen Psychotherapie oder Beratung
bewährt haben, orientiert und die vor allem Bereiche wie Selbsterfahrung, biographische
Reflexion, Gruppendynamik und Supervision eigener Erfahrungen beinhalten müsse.
Grundsätzlich richtet der systemtherapeutische Blick seinen Fokus auf das
Kommunikationssystem als hochkomplexes Spiel (Simon), dessen Elemente oder
Bestandteile nicht die Spieler sind, sondern die Spielregeln. Die Spieler sind die
Voraussetzung für das Spiel, denn ein Spiel wird nur realisiert, wenn es auch Spieler gibt. Im
Falle der Schule: Die Schule gibt es nur dann, wenn es auch Lehrer und Schüler gibt.
Die systemische Perspektive
Kommunikations‐
system
Kommunikations‐
regeln/‐muster
Individuen
SPIEL
SPIELREGELN
SPIELER
Was
Schule
Wie
Heimlicher Lehrplan
Wer
Schüler, Lehrer
(Symptomträger,
Indexpatienten)
Die Eigenheiten und Unterschiede zwischen Spielen sind jedoch nicht die Spieler, sondern
die Spielregeln, nach welchen gespielt wird. In der Schule: nach den Spielregeln des
heimlichen Lehrplans, die nicht kommuniziert werden (deshalb im blinden Fleck verortet
werden), aber nichtsdestotrotz wirksam sind und das Verhalten aller Beteiligten steuern und
sich in Form von Symptomen und Problemen der Symptomträger (oder Indexpatienten) des
Spiels Schule – das sind vor allem die Lehrer und die Schüler – zeigen.
Systemische Arbeitsweisen beobachten die Rekursivität von Verhalten und Beziehung, von
Verhalten und Kommunikation, und setzen an der Schnittstelle, an den Spielregeln (daran,
wie kommuniziert wird), an. Sie initiieren Prozesse der Kommunikation über die
Kommunikation, der Reflexion und des Feedbacks, wodurch die blinden Flecken des Systems
aufgedeckt werden und eine Re‐ und Neuorganisation sowohl auf individueller als auch auf
systemischer Ebene angeregt wird.
Ein Beispiel aus dem systemischen Methodenkatalog sei das zirkuläre Fragen: Martin wird
gefragt, was er denke, wie Anna Stephans Verhalten wahrnehme und was dieses bei ihr
auslöse. Martin, der durch diese Art der Fragestellung zunächst irritiert ist, ist aufgefordert,
sich in Anna hineinzuversetzen und eine Antwort zu erfinden. Damit spricht Martin zwar
über seine Vorstellungen, die er Anna zuschreibt, generiert mit seiner Aussage aber sofort
eine neue Wirklichkeit, auf die sich jetzt auch die anderen – Anna und Stephan ‐ einstellen
und auf die sie antworten.
11
In diese Form des zirkulären Feedbacks werden alle Beteiligten involviert. Die
unterschiedlichen Beobachtungen oder Beschreibungen zweiter Ordnung lassen
unterschiedliche Sichtweisen und Deutungen ans Licht treten, wodurch sich festgefahrene
Standpunkte, Verhaltensweisen und Beziehungsdefinitionen relativieren (verflüssigen) und
neue Möglichkeiten, sich aufeinander zu beziehen (Spielregeln), ausgehandelt werden. Der
Prozess des Loslassens einer Einstellung, einer Haltung, der gewohnten Denkweise wird
eingeübt und der Möglichkeitssinn aller Beteiligten, Als‐ob‐Realitäten zu entwerfen, die
niemanden festlegen, aktiviert. Martin, Anna und Stephan in unserm Beispiel gewinnen
immer wieder neue Möglichkeiten, sich selbst und ihre Beziehungen zueinander zu
definieren und zu gestalten. Die Erwartungen und Erwartungserwartungen verändern sich,
neue Spielregeln des Miteinander‐Umgehens bilden sich heraus.
Die Lernprozesse, die sowohl auf individueller wie auch auf der Ebene des sozialen Systems
angeregt werden, entsprechen qualitativen Veränderungen und führen zu Lösungen zweiter
Ordnung (Paul Watzlawick):
Lösungen 2. Ordnung (Paul Watzlawick)
qualitative Veränderungen
soziales System
Individuum
Spiel
Spieler
Wandel 2. Ordnung
(Ross Ashby)
Lernen III
(Gregory Bateson)
neues Spiel
2nd-Order Kompetenz
Selbstbestimmung,
Verantwortung
NEUE SCHULE
Für die Spieler (die Individuen) geht es dabei nicht primär um das Lösen eines Problems,
sondern darum, zu lernen, dass und wie man Lösungen konstruieren kann (wie auch
Probleme). Gregory Bateson, einer der Väter der Systemischen Familientherapie, spricht von
„Lernen III“, das Lernen wie man lernt: etwas über die Arbeitsweise der Kognition zu lernen,
etwas über das Konstruieren des Konstruierens zu lernen. Für die Spieler geht es in diesem
Sinne um das Lernen von 2nd‐Order Kompetenz.
Qualitative Veränderungen auf der Ebene des Spiels, des sozialen Systems, in unserem Fall
der Schule, bezeichnet Ross Ashby als Wandel zweiter Ordnung, bei dem sich das soziale
System auf einer neuen Ebene re‐organisiert. Ein Wandel zweiter Ordnung ist immer mit
einem Paradigmenwechsel, einer veränderten Denkweise und veränderten Spielregeln
verbunden. Auch für die Schule geht es um einen Wandel zweiter Ordnung, einen
Paradigmenwechsel, um das Erfinden neuer Spielregeln.
Damit bin ich am Ende meines Vortrags angelangt und möchte ‐ im Sinne Spencer‐Browns
Re‐entry ‐ an den Anfang erinnern, von dem wir ausgegangen sind: von der Frage der Ethik
und der Zukunft von Individuum und Gesellschaft und von Claudio Naranjos Überzeugung,
dass nur eine radikale Transformation des Erziehungswesens den verhängnisvollen Verlauf
unserer Geschichte verändern kann. Diese Transformation (Wandel zweiter Ordnung) kann
nur durch das Erfinden neuer Spielregeln gelingen, das die Schule in ein neues Spiel
verwandelt. Und nur neue Spiele schaffen eine neue Wirklichkeit und eine neue Zukunft für
Individuum und Gesellschaft.
Denn die Zukunft die wir wollen, so Joseph Beuys, muss erfunden werden. Sonst bekommen
wir eine, die wir nicht wollen.
12
Literatur
Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Blume, Ramita (2012): Ethik hat keinen Namen. Erziehung als Anthropotechnik bewusster
Evolution von Individuum und Gesellschaft. Heidelberg: Carl‐Auer Systeme Verlag.
Dür, Wolfgang (2008): Gesundheitsförderung in der Schule. Empowerment als
systemtheoretisches Konzept und seine empirische Umsetzung. Bern: Hans Huber.
Foerster, Heinz von (1993): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. 3. Auflage.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foerster, Heinz von/Pörksen, Bernhard (1999): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.
Gespräche für Skeptiker. 3. Auflage. Heidelberg: Carl‐Auer Systeme Verlag.
Foucault, Michel (2007): Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebens‐kunst. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Simon, Fritz (2007): Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg: Carl‐
Auer Verlag.
Sloterdijk, Peter (2009): Du musst dein Leben ändern. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Spencer‐Brown, George (1994): Laws of form. Gesetze der Form. 2. Auflage. Lübeck:
Bohmeier.
13
Inhalt
1
2
2nd‐Order Ethik, Erziehung und die Zukunft von Individuum und Gesellschaft ........... 2
1.1
2nd‐Order Ethik ...................................................................................................... 2
1.2
Erziehung als Anthropotechnik Nummer eins ........................................................ 4
Paradigmenwechsel der Schule, Aufdecken des blinden Flecks und
Systemfehlers
der Schule ............................................................................................................................... 5
2.2
2.1
2.3
Trivialisierung ......................................................................................................... 6
Empowerment ........................................................................................................ 6
Trivialisierung und/oder Empowerment ? .............................................................. 8
Trivialisierung = Trivialisierung/Empowerment.................................................................. 8
2.4
14
Para
digm
enw
echsel ................................................................................................................... 10
3
systemtherapeutische Perspektive .............................................................................. 11
Literatur ............................................................................................................................... 13
Empowerment = Empowerment/Trivialisierung ................................................................ 8
15
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