Freitag, 06.02.2015 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Susanne Stähr Echtes Sammlerstück MAGNIFICAT & CONCERTI Antonio Vivaldi Johann Sebastian Bach Pierre Hantaï (Cembalo) La Capella Reial de Catalunya Le Concert des Nations Jordi Savall (Leitung) AliaVox AVSA 9909D, SACD + DVD Verdienstvolle Edition Wilhelm Friedemann Bach Claviermusik II Sonaten und Fantasien Léon Berben (Tafelklavier und Cembalo) Carus 83.388 Poet am Klavier Felix Mendelssohn Bartholdy Lieder ohne Worte Javier Perianes (Klavier) HMC 902195 Kammermusik im besten Sinne Luise Adolpha Le Beau Chamber Music Violin-Sonata op. 10 Cello-Sonata op. 17 Piano Trio op. 15 Bartek Nizioł (Violine) Denis Severin (Violoncello) Tatyana Korsunskaya (Klavier) MDG 903 1872-6 Unsentimental und geistvoll Lux aeterna Visions of Bach Werke von Johann Sebastian Bach in Klaviertranskriptionen von Wilhelm Kempff, Alexander Siloti und Ferruccio Busoni Béatrice Berrut (Klavier) Aparté AP 100 Am Mikrophon begrüßt Sie herzlich: Susanne Stähr. Allerlei Tastenkünstler werden Ihnen in der heutigen Sendung begegnen – hochrangige Virtuosen, die ihre Fertigkeiten auf dem Cembalo, auf dem historischen Tafelklavier und natürlich auch auf dem modernen Konzertflügel vorführen. Außerdem habe ich eine Rarität mitgebracht und verspreche Ihnen, dass Sie melodiöse und eingängige Kammermusik zu hören bekommen, die Ihnen zuvor sicher noch nie begegnet ist. Beginnen aber wollen wir mit zwei barocken Chorwerken und zunächst einmal einen Lobgesang anstimmen: das Magnificat. „Meine Seele erhebet den Herrn“: Folgt man dem Lukas-Evangelium, dann antwortete die Jungfrau Maria mit diesen Worten auf die Prophezeiung des Engels Gabriel, der ihr die Geburt eines Sohnes verheißen hatte. Als Magnificat ist dieses hymnische Gebet in die Geschichte eingegangen – und zu einem der meistvertonten Texte in der klassischen Musik avanciert. Seit der Renaissance haben sich Dutzende von Komponisten diesen Versen gewidmet, von Thomas Tallis bis Arvo Pärt. Die bekannteste Adaption aber stammt fraglos von Johann Sebastian Bach – es ist diese Musik, die jeder wohl zuallererst mit dem Titel „Magnificat“ verbindet: Johann Sebastian Bach: Magnificat BWV 243, 3’00 Nr. 1 Chor „Magnificat“ La Capella Reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall (Leitung) Sie hörten den Eingangschor aus dem Magnificat von Johann Sebastian Bach: Das ist ein musikalisches Fest, mit jubilierenden und triumphierenden Klängen, als sängen hier die himmlischen Heerscharen. Der katalanische Dirigent und Gambist Jordi Savall, die Capella Reial de Catalunya und das Orchester Le Concert des Nations haben das Werk bei AliaVox jetzt auf CD vorgelegt – und mit einer anderen Vertonung desselben Texts gekoppelt, mit der von Antonio Vivaldi. Und dieser Vergleich könnte kaum aufschlussreicher sein. Vivaldi nähert sich den biblischen Versen nämlich aus einer ganz anderen Perspektive, er greift die IchForm des Gebets auf und rückt den einzelnen Menschen in den Blickpunkt. Anders als Bach lässt Vivaldi deshalb keinen entrückten und verzückten Engelschor antreten, sondern präsentiert ein Individuum, das demütig in die Knie zu gehen scheint. Antonio Vivaldi: Magnificat RV 610, 3’25 Nr. 1 Chor „Magnificat“ und Nr. 2 Chor mit Soli „Et exultavit“ La Capella Reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall (Leitung) Das waren nun die ersten beiden Nummern aus dem Magnificat von Antonio Vivaldi, das Jordi Savall und seine Ensembles der berühmten Bach-Vertonung gegenüberstellen – und der Kontrast ist in der Tat gewaltig. Vivaldis Eingangschor wirkt zunächst einmal nur wie die langsame Einleitung zum nachfolgenden „Et exultavit“, das neben dem Chor auch zwei Soprane und einen Altisten solistisch zum Einsatz bringt. Doch es ist nicht allein das Tempo, sondern vielmehr die Gebetshaltung, die hier den Unterschied macht. „Dein Wille geschehe“: Das ist der Geist, der die Zwiesprache mit Gott bei Vivaldi prägt. Es scheint eine zentnerschwere Bürde zu sein, die dem betenden Individuum auf den Schultern lastet und ihn schicksalsergeben sein Opfer erbringen lässt. Von einer festlichen Stimmung wie bei Bach ist weit und breit keine Spur zu finden. Vivaldis Magnificat ist auch wesentlich knapper gefasst als das Bachsche Opus, dabei aber dramatisch angelegt. Und es setzt erstaunlich plastische Bilder frei. Ich spiele Ihnen zwei weitere Nummern vor, das „Fecit potentiam“, das trotz seiner Kürze ein veritables Unwetter entfacht und schon nach 30 Sekunden in das „Deposuit“ mündet, hinter dem man fast einen Volksaufstand vermuten könnte: Antonio Vivaldi, Magnificat RV 610, 1’20 Nr. 4 Chor „Fecit potentiam“ und Nr. 5 Chor „Deposuit potentes“ La Capella Reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall (Leitung) „Deposuit potentes“, „Er stößt die Mächtigen vom Thron und erhebet die Niedrigen“: Antonio Vivaldi lässt in diesem Satz den Chor und das Orchester jeweils unisono antreten. Mit vereinten Kräften vertreibt das Volk Gottes die Potentaten, die sich die irdische Macht angemaßt haben – eine frappierend sinnbildliche Vertonung der Worte aus dem LukasEvangelium. Und das wird ebenso bildkräftig von der Capella Reial de Catalunya und dem Orchester Le Concert des Nations unter Leitung von Jordi Savall umgesetzt. Savall hat die Interpretation der Magnificat-Vertonungen von Bach und Vivaldi im Rahmen eines Meisterkurses erarbeitet, den er im Juni 2013 in Barcelona durchführte. Daran haben 20 junge Berufssänger aus ganz Europa teilgenommen, die dann gemeinsam mit den Solisten der Capella Reial den Chor bildeten und die Werke anschließend bei Konzerten im Schloss von Versailles präsentierten: Die CD ist ein Live-Mitschnitt dieser beiden Abende. Tontechnisch ist das fabelhaft gelungen, denn es wurde nicht nur die Musik aufgenommen, sondern auch die Atmosphäre der Chapelle Royale, aber trotzdem verschwimmt nichts im Hall, jedes Instrument ist detailscharf zu hören. Und was die Rhetorik dieser Musik anbelangt, die Deklamation, Artikulation, Phrasierung und Ornamentik, hat Jordi Savall ohnehin ganze Arbeit geleistet. Hören Sie zum Beweis noch die letzten beiden Sätze aus dem Bachschen Magnificat, die Fuge „Sicut locutus est“ und den Schlusschor „Gloria Patri“. Johann Sebastian Bach: Magnificat BWV 243, 4’00 Nr. 11 Chor „Sicut locutus est“ und Nr. 12 Chor „Gloria Patri“ La Capella Reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall (Leitung) „Wie es war am Anfang“: Mit diesen Worten schließt der Lobgesang des Magnificat. Und auch Bach greift deshalb – so ist es gute Tradition – am Ende des Werks die Einleitungsmusik noch einmal auf. Es musizierten die Capella Reial de Catalunya und Le Concert des Nations unter Jordi Savall auf ihrer neuen Einspielung bei AliaVox. Ob Vivaldi oder Bach: Savall verfolgt ein Klangideal ohne Härten und Schärfen, nichts klingt bei ihm grell oder schneidend, alles ist vielmehr warm timbriert, fast wie auf Goldgrund gemalt, ob im Orchester oder auch im Chor, der mit 24 Sängern schlank besetzt ist. Die Aufnahme besticht durch die Kantabilität des Vortrags – und hebt sich damit positiv von jenen Interpretationen ab, die vor allem von der Metrik her gedacht sind und eine Art von Barockgymnastik exerzieren. Auf der CD sind übrigens noch zwei Instrumentalkonzerte zu hören, und eines davon, Bachs d-Moll-Konzert für Cembalo und Orchester mit Pierre Hantaï als Solisten, erweist sich dabei als wahrer Knüller. Johann Sebastian Bach: Konzert für Cembalo und Orchester d-Moll BWV 1052, 1. Satz Allegro Pierre Hantaï, Le Concert des Nations, Jordi Savall (Leitung) 7‘35 Tja, das hat Wucht, obwohl hier nur ein „Orchester“ von gerade einmal elf Musikern zu Werke ging und gemeinsam mit dem französischen Cembalisten Pierre Hantaï unter Leitung von Jordi Savall den Kopfsatz aus Bachs d-Moll-Konzert BWV 1052 spielte. Wie eine barocke Rache-Arie mutet diese furiose Interpretation zeitweilig an, und sie offenbart, warum bei Bachs sogenannten „Klavierkonzerten“ das Cembalo einfach die bessere Wahl ist als der moderne Konzertflügel. Beim Cembalo werden die Saiten angerissen, und dieser „bissigere“ Ton mischt sich fantastisch mit dem Klang der Streicher – manchmal weiß man gar nicht mehr, welches Instrument da gerade spielt. Es ist ein Klanggitter, das auf diese Weise entsteht, ein arabeskenartiges Gebilde. Und die unermüdlichen Repetitionen, die Hantaï wie besessen heraushämmert, führen zu einer geradezu narkotischen Sogwirkung. Jahrhunderte später hat die Minimal Music diese Technik nachzuahmen versucht – und ist doch nur selten zu einem so eindrucksvollen Ergebnis gelangt. Übrigens ist Savalls neuer CD neben dem wunderbar illustrierten Booklet in fünf Sprachen auch eine DVD beigegeben, auf der man sich zur Ergänzung die Aufführung noch als Videomitschnitt ansehen kann. Ein echtes Sammlerstück also. Wir bleiben bei historischen Tasteninstrumenten und bei Bach – allerdings nicht bei Johann Sebastian, dem Vater. Die CD, die ich Ihnen als nächstes vorstellen möchte, ist vielmehr seinem ältesten Sohn gewidmet, nämlich Wilhelm Friedemann. Im Rahmen der höchst verdienstvollen Friedemann-Bach-Edition bei Carus hat der niederländische Cembalist Léon Berben „Klaviermusik“ des Meisters herausgebracht. Wobei das „Klavier“, auf dem er spielt, natürlich kein modernes Instrument heutiger Bauart ist – das befand sich damals noch in einem frühen Entwicklungsstadium. Léon Berben hat sich vielmehr im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg umgetan, wo er ein Tafelklavier entdeckte, das 1787 in der Werkstatt von Gottlob Christian Hubert im fränkischen Ansbach gefertigt wurde. Und das klingt so: Wilhelm Friedemann Bach: Sonate e-Moll BR-WFB A 9 / FK deest, 3. Satz Vivace, Leon Berben (Tafelklavier) 3‘30 Das war Léon Berben mit dem Schlusssatz der e-Moll-Sonate von Wilhelm Friedemann Bach, die erst vor einigen Jahren wiederentdeckt worden ist. Eingespielt hat er dieses Werk auf einem Tafelklavier: Dort werden die Saiten schon, wie beim heutigen Flügel, von kleinen Hämmerchen angeschlagen, und außerdem gibt es ein sogenanntes Forte-Pedal zur Aufhebung der Dämpfung. Daraus resultiert der starke Nachhall, der den Ton zwar sphärisch wirken lässt, aber bei schnelleren Figurationen zu einem etwas verschmierten Klangbild führt. Nun galt Friedemann Bach als Inbegriff eines Originalgenies, als ein radikaler Exzentriker, der vor allem für seine hemmungslos subjektiven Improvisationen bestaunt wurde. Léon Berben hält ihn sogar für „den ersten Romantiker“ überhaupt. Und genau so interpretiert er auch Friedemanns Musik: Er präsentiert uns einen „jungen Wilden“, der sich auf seinen Tasteninstrumenten austobt. Selbst wenn er ein Frühwerk wie die um 1740 entstandene C-Dur-Sonate spielt, dann deutet er sie aus dem Geist des Sturm und Drang heraus, aus einer ästhetischen Haltung also, die eigentlich erst 30 Jahre später zu Geltung gelangen sollte. Léon Berben bleibt selten streng im Metrum, er lässt stattdessen immer wieder Verzögerungen zu, die wie Gedankenpausen anmuten, als müsse hier einer erst mal überlegen, wie es nun weitergeht. Hören wir uns den Beginn dieser C-Dur-Sonate an – diesmal musiziert auf einem Cembalo. Wilhelm Friedemann Bach: Sonate C-Dur BR-WFB A 2a / FK 18, 1. Satz Allegro, Leon Berben (Cembalo) 3’30 Léon Berben spielte Wilhelm Friedemann Bach, den Beginn des Kopfsatzes seiner um 1740 entstandenen C-Dur-Sonate. Das klingt zupackend, unmittelbar, musikantisch und spontan – aber die Frage sei doch erlaubt: Würde diese Musik möglicherweise noch gewinnen, wenn man ihr etwas mehr weltmännische Eleganz gewährte, etwas mehr Schliff und Souveränität? Auch mit der Tontechnik bin ich nicht wirklich zufrieden: Die CD ist allzu direkt und raumlos aufgenommen. Man hat das Gefühl, als würde man mitten in den Instrumenten drin sitzen. Dadurch werden die Tastengeräusche überdeutlich hörbar – man nimmt den Apparat stärker wahr, als es nötig wäre. Sie hören SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. In seinen letzten Lebensjahren, die er in Berlin verbrachte, hatte Friedemann Bach eine einzige Schülerin: Es war Sarah Itzig, eine Großtante von Felix Mendelssohn. Sie vermachte dem jungen Felix nicht nur ein Autograph ihres Lehrers, nein, sie sorgte auch dafür, dass in ihren Berliner Privatkonzerten die Werke der gesamten Bach-Familie lebendig blieben und rege gespielt wurden. Damit hat sie Mendelssohn in seiner kompositorischen Entwicklung zweifellos geprägt. Wie stark das Vorbild Bach in Mendelssohns eigener Musik weiterlebt, das beweist eine neue Klavier-CD, die der spanische Pianist Javier Perianes bei Harmonia Mundi herausgebracht hat. Fangen wir mit Mendelssohns Präludium und Fuge in e-Moll an: Felix Mendelssohn: Präludium und Fuge e-Moll op. 35 Nr. 1 Javier Perianes (Klavier) 8‘45 Javier Perianes interpretierte Felix Mendelssohns Präludium und Fuge in e-Moll op. 35 Nr. 1. Der 1978 geborene spanische Pianist zeigt eine unglaubliche Meisterschaft des polyphonen Klavierspiels: Jede einzelne Stimme hat ihre eigene Individualität und ihren unverwechselbaren Klang. Es wirkt, als musiziere hier ein ganzes Ensemble. Ob gesangliche Linien oder Basspizzicati, Streicher- und Orgelklänge – Perianes verfügt über alle Register, die er mit vielfältigen Anschlagsnuancen und einer klugen Pedalisierung umsetzt. Die einzelnen Stimmen scheinen im Raum verteilt zu sein: Mal tönen sie von Ferne ins Geschehen herein, dann treten sie in den Vordergrund und gewinnen Kontur. Die größte Stärke von Perianes aber ist sein warmes und farbenreiches Pianissimo, wie er es vor allem in Mendelssohns Liedern ohne Worte zum Einsatz bringt. Zum Beispiel in diesem Andante con moto: Felix Mendelssohn: Lied ohne Worte op. 19 Nr. 1 Javier Perianes (Klavier) 3‘10 Eine hauchzarte Intonation, getupfte Bässe und Begleitstimmen, die wie ein Schatten die Hauptlinien sanft umhüllen: Das war Javier Perianes mit Mendelssohns Lied ohne Worte op. 19 Nr. 1. In seiner spanischen Heimat gilt der 36-jährige Pianist längst als ein Star. Früh hat er schon mit Daniel Barenboim zusammengearbeitet, aber als seine Vorbilder nennt er auch Maria João Pires, Radu Lupu und Alicia de Larrocha, allesamt Künstler, die besonders für die poetische Komponente der Musik einstehen. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass Perianes von den großen Orchestern dieser Welt immer nur mit ein und demselben Stück eingeladen wird, nämlich mit Manuel de Fallas „Nächten in spanischen Gärten“, die er zum Beispiel mit dem Israel Philharmonic, dem Orchestre de Paris oder dem San Francisco Symphony aufgeführt hat. Das freilich ist die schlichte Logik vieler Konzertveranstalter, die für spanische Musik eben auch einen spanischen Interpreten suchen. Dabei ist Javier Perianes im französischen oder im deutschen Repertoire genauso zuhause, wie seine Mendelssohn-Einspielung aufs Schönste beweist. Hören wir noch die „Variations sérieuses“: Felix Mendelssohn: „Variations sérieuses“ op. 54 Javier Perianes (Klavier) 11’55 Das war noch einmal Javier Perianes, hier mit den „Variations sérieuses“, die seine ausgezeichnete Mendelssohn-CD beschließen. Den Namen dieses Pianisten sollten Sie sich jedenfalls merken. Die nächste Musik, die ich Ihnen im heutigen Treffpunkt Klassik auf SWR2 vorstellen möchte, knüpft in ihrer Klangsprache gelegentlich an Mendelssohn an. Es ist eine Violinsonate, aber mehr möchte ich jetzt noch nicht sagen. Hören Sie einfach selbst und raten Sie mal, wer dieses Werk wohl komponiert haben könnte … Luise Adolpha Le Beau: Violinsonate c-Moll op. 10, 1. Satz Bartek Nizioł (Violine), Tatyana Korsunskaya (Klavier) 6’25 Tja – was war das denn nun? Vielleicht ein früher, verschollen geglaubter Brahms, der gerade erst wiederentdeckt wurde? Oder haben Sie einen anderen Komponisten im Verdacht? Sie können es nicht wissen, und meine Frage ist auch schon falsch gestellt. Sie hätte besser heißen sollen: Welche Komponistin haben wir da gerade gehört? Und die Antwort lautet: Es war Luise Adolpha Le Beau, geboren 1850 im badischen Rastatt, gestorben 1927 in Baden-Baden. Sie war eine Schülerin von Josef Rheinberger, feierte als Pianistin Erfolge, verstand sich selbst aber in erster Linie als Komponistin und hat ein Œuvre von 160 Werken hinterlassen, in nahezu allen Gattungen, vom Solostück über die Kammermusik und die Symphonie bis zur Oper. Aus diesem Vermächtnis spielten der polnische Geiger Bartek Nizioł und die russische Pianistin Tatyana Korsunskaya den Kopfsatz der Violinsonate c-Moll op. 10. Die Kostprobe entstammt einer neuen CD mit Kammermusik von Le Beau, die bei Darbringhaus und Grimm erschienen ist. Dass Luise Adolpha Le Beau fast völlig in Vergessenheit geraten ist, hat nicht zuletzt mit dem Umstand zu tun, dass sie eine Frau ist. Schon bei Rheinberger durfte sie nicht gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen unterrichtet werden, sie erhielt stattdessen separate Privatlektionen; und später blieb für sie wegen ihres Geschlechts eine Professur unerreichbar. Es nützte ihr auch wenig, dass sie 1882 sogar einen internationalen Kompositionswettbewerb gewinnen konnte – allein ihr unverkennbar weiblicher Name sorgte bei zeitgenössischen Veranstaltern und Verlagen schon für Vorbehalte. Wenn man heute ihre Werke studiert, kann man das kaum nachvollziehen: Luise Adolpha Le Beaus Kammermusik ist gekonnt gebaut, sie klingt reizvoll und abwechslungsreich, geht leicht ins Ohr und verrät eine große Vertrautheit mit den Instrumenten, für die sie schreibt. Vor allem offenbart Le Beau ein hohes Geschick in der schwierigen Kunst, die Streichinstrumente mit dem so ganz anderen Klang des Klaviers subtil auszubalancieren. Hören wir noch das Scherzo aus ihrem Klaviertrio d-Moll op. 15. Luise Adolpha Le Beau: Klaviertrio d-Moll op. 15, 1. Satz 3‘00 Bartek Nizioł (Violine), Denis Severin (Violoncello), Tatyana Korsunskaya (Klavier) Der Geiger Bartek Nizioł, der Cellist Denis Severin und die Pianistin Tatyana Korsunskaya spielten das Scherzo aus Luise Adolpha Le Beaus Klaviertrio op. 15, das ganz in der Tradition der romantischen Charakterstücke steht. Die drei Musiker treffen den Tonfall und Stil von Le Beaus Werken ausgezeichnet, ohne sie mit weitergehenden Absichten überfrachten zu wollen. Denn diese Stücke sind Kammermusik im besten Sinne, geschrieben für die bürgerliche Musikpflege des 19. Jahrhunderts, für das private Konzert im Salon also. Freilich wäre es interessant, noch Weiteres von dieser Komponistin kennenzulernen, zum Beispiel ihre Orchestermusik. Vielleicht findet sich ja irgendwann ein mutiges Plattenlabel bereit zu einer solchen Pioniertat. Johann Sebastian Bach stand am Anfang der heutigen Sendung mit neuen CDs im Treffpunkt Klassik – und Bach wird sie auch beschließen. Unser Finale gehört allerdings keiner weiteren Interpretation aus dem Geist der Originalklangbewegung, ganz im Gegenteil: Wir reisen zurück ins späte 19. oder ins frühe 20. Jahrhundert, in das Zeitalter der großen Klaviervirtuosen, und hören, wie einige von ihnen seinerzeit Bachs Werke für ihr Instrument eingerichtet haben, noch ganz aus dem Geist der Romantik. Die junge Schweizer Pianistin Béatrice Berrut hat auf dem Label Aparté unter dem Titel „Lux aeterna“ eine Auswahl von Bach-Transkriptionen veröffentlicht. Mit dabei sind natürlich etliche Choralvorspiele im Arrangement von Ferruccio Busoni, aber auch eine Klavierfassung des berühmten Airs aus der dritten Orchestersuite, die der Russe Alexander Siloti vorgelegt hat: Johann Sebastian Bach/Alexander Siloti: Suite für Orchester Nr. 3 D-Dur BWV 1068, Aria Béatrice Berrut (Klavier) 3’15 Aria: So hat der russische Pianist Alexander Siloti, ein Schüler von Franz Liszt und Cousin von Sergej Rachmaninow, seine Bearbeitung des Airs aus der Orchestersuite D-Dur BWV 1068 von Johann Sebastian Bach genannt. Diese Fassung hat für Sie gerade Béatrice Berrut angespielt, auf einem Bösendorfer Konzertflügel. Für heutige Hörer, die mit den BachDeutungen von Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner oder eben auch Jordi Savall großgeworden sind, mutet diese Interpretation wohl eher anachronistisch an. Und das hat nicht nur mit der Wahl des Instruments zu tun, sondern vor allem mit den langsamen Tempi, der Artikulation, dem feierlichen Duktus und einem gewissen Erhabenheitskult, der hier um Bachs Musik betrieben wird. Im Wortsinn genommen, handelt es sich dabei allerdings auch um eine Art von „historischer Aufführungspraxis“, um die Bach-Exegese im Stil der Spätromantik. Doch muss das nicht gegen die Qualität der Transkriptionen sprechen. Zumal wenn sie so nobel, unsentimental und geistvoll gespielt werden wie von der 1985 im Wallis geborenen Béatrice Berrut, die sich nach eigenem Bekunden an der russischen Pianistenschule orientiert hat. Über ihren Lehrer, den irischen Pianisten John O’Conor, ist Berrut übrigens eine Enkelschülerin von Wilhelm Kempff, den sie auf ihrer CD auch als Bach-Arrangeur vorstellt, und zwar mit einer Bearbeitung des Siciliano aus der Flötensonate Es-Dur: Johann Sebastian Bach/Wilhelm Kempff: Flötensonate Es-Dur BWV 1031, Siciliano Béatrice Berrut (Klavier). 4‘00 Bach, wie aus einer anderen Welt: Das war noch einmal Béatrice Berrut, diesmal mit dem Siciliano aus der Flötensonate BWV 1031, das Wilhelm Kempff fürs Klavier bearbeitet hat. Was darf sich ein Bach-Interpretet erlauben? Muss er sich streng an den historischen Gepflogenheiten der Bach-Zeit orientieren, oder darf er auch ahistorisch vorgehen und die Musik mit dem Geist einer anderen, späteren Epoche anreichern? Ich meine, das eine schließt das andere nicht aus – sowohl Bach à la Savall als auch Bach à la Siloti haben ihre Berechtigung. Denn sie beweisen nur, wie unerschöpflich die Musik dieses großen Komponisten ist. Und wie so oft gibt es auch hier nicht die eine und einzige Wahrheit – das Leben konfrontiert uns vielmehr mit immer neuen Ansichten von Wahrheit, die sich im Lauf der Zeit naturgemäß gewandelt haben und weiter wandeln werden. Das war das Wort zum Sonntag an diesem Freitagvormittag im Treffpunkt Klassik mit neuen CDs. Eine Übersicht mit den fünf Einspielungen, die ich Ihnen heute vorgestellt habe, finden Sie im Internet unter www.swr2.de. Dort können Sie, wenn Sie mögen, die Sendung während der nächsten sieben Tage noch einmal nachhören. Fürs Ersthören dankt Ihnen sehr herzlich: Susanne Stähr. Auf SWR2 geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice, danach folgt Aktuell mit den neuesten Nachrichten.