Feng Shui im Nomadenland

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andreas gruschke
Feng Shui im Nomadenland
Eigenständige Kulturimpulse in der tibetischen Architektur
Andreas Gruschke
Der junge tibetische Architekt
S o n a m To p g y a l b a u t i n d e r
H o c h l a n d s t e p p e d e r o s t t i b et i s c h e n Yu s h u - N o m a d e n e i n e
moderne buddhistische Akademie im traditionellen Stil. An
einem Ort mit einzigartigem
F e n g S h u i z e i g t e r, w i e s i c h
t i b e t i s c h e Ko s m o l o g i e u n d d i e
Prinzipien des chinesischen
Feng Shui ergänzen.
70 Hagia Chora 30 | 2008
B
ei uns im Westen ist Tibet ein The­
ma, das entweder rein politisch
oder religiös besetzt ist. Die vor­
herrschenden Bilder davon sind die einer
politischen Vorhölle, in der Tibeter unter
der Bürde chinesischer Besatzer schmo­
ren, oder eher folkloristischer Natur, wo­
mit in der Reisebranche das verlorene Pa­
radies des alten Tibet doch noch irgendwie
Bestand zu haben scheint – als ein touri­
stisches Disneyland, in dem rezitierende
Mönche, inbrünstig betende Pilger, eine
einzigartige Architektur, ­farbenprächtige
Malereien sowie Nomaden, die gefälligst
noch in ihren Zelten zu hausen haben,
eine vermarktungsfähige Fotokulisse ab­
geben. Doch die gängigen westlichen Kli­
schees der negativen wie positiven Art
gehen in vieler Hinsicht an der harten,
dennoch oft überaus faszinierenden Rea­
lität Tibets vorbei. Am ärgerlichsten ist,
dass sich der Begriff der Kultur in Be­
trachtungen Tibets fast ausschließlich auf
die Vorstellung eines alten, durch und
durch buddhistisch geprägten Landes und
seiner Gesellschaft stützt, in der die Men­
schen zwar arm, aber glücklich gewesen
seien. Damals, in der sogenannten guten,
alten Zeit, wurden sie von ihren Lamas
zur Glückseligkeit geleitet, heute aber von
„den Chinesen“ ins Verderben geführt.
Kaum jemandem scheint dabei aufzufal­
len, dass der tibetischen Bevölkerung in
solcherart Kulturverständnis immer nur
eine passive Rolle zugedacht wird.
Während der Westen in der Betrach­
tung seiner eigenen kulturellen Leistungen
den Fortschritt in den Mittelpunkt stellt,
wird die tibetische Zivilisation gleichsam
am Bestand seines buddhistischen Inven­
tars gemessen. Demzufolge wird selbst
nach zweieinhalb Jahrzehnten, in denen
s h u i
matsa sonam topgyal
f e n g
Links: Die Yushu-Steppe im Osten Tibets.
Oben: Der Hotelneubau von Matsa Sonam Topgyal in Gyêgu, dem Hauptort des Yushu-­
Distrikts, ist eine touristische Attraktion.
­ löster und Tempel zu Tausenden wieder
K
aufgebaut wurden, Mönche in sie zurück­
gekehrt sind und Gebetsfahnen auf Bau­
ernhäusern wie Nomadenzelten flattern,
über seine Kultur immer noch gern in der
Vergangenheitsform gesprochen – und
über die zeitgenössische tibetische Kultur
fast immer im Tenor der erfolgten Auslö­
schung. Eines ist gewiss: Das neue Tibet
ist dem alten in vieler Hinsicht nicht mehr
gleich. Ein schönes, fast schon extrava­
gantes Beispiel ist der Dzong, die Burg von
Shigatse, ­Tibets zweitgrößter Stadt. Als in
den 1980er-Jahren die Klöster nach und
nach wiedererrichtet und mit Leben erfüllt
wurden, blieben Burgen und Landgüter
der Adeligen in ihren Ruinen versunken.
Den einfachen Menschen, die nach Jahr­
zehnten der unseligen politischen Unru­
hen wieder Trost und Muße in den Ritua­
len ihrer Religion finden konnten, wäre
es nicht im Traum eingefallen, die alten
Herrschaftssitze von sich aus wieder auf­
zubauen. Noch um die Jahrtausendwende,
als die meis­ten Tempel und Klöster schon
wieder aktiv waren und Klöster mancher­
orts sogar frühere Dimensionen sprengten,
ragten zwischen den Flachdächern der
Altstadthäuser von Shigatse und den gol­
den glänzenden Tempeln des Klos­ters Tas­
hilhunpo die stumpfen, grauen Ruinen der
im 17. Jahrhundert dem Bau des Potala-
Palasts in Lhasa zum Vorbild dienenden
Festung auf. Welch Überraschung, als di­
ese Festung 2005 bis 2007 rekonstruiert
wurde – mit Spendengeldern aus Shang­
hai und mit Zement und Beton.
Genau Letzteres ist es, was uns im Wes­
ten das Klagelied über den Untergang der
tibetischen Kultur anstimmen lässt. Im
Westen nimmt jedoch niemand den Unter­
gang unserer eigenen Zivilisation als ge­
geben hin – obwohl hierzulande Zement
und Beton doch die gängigsten Bauma­
terialien sind. Freilich haben wir begon­
nen, bei uns Synthesen zu schaffen, Ver­
bindungen aus modernen Baumaterialien
mit ganzheitlichem Denken: Wir gestalten
neu und holen uns Anregungen aus an­
deren Kulturen. Nichts anderes geschieht
unter modernen Tibetern. Da sie jedoch
keine Stimme bei uns haben, ist darüber
nichts bekannt – weshalb alles vom tibe­
tischen Imago Abweichende als sinisiert
bezeichnet wird. Damit wird den Tibetern
ihre Fähigkeit zu kulturellem Wandel aus
eigener Kraft und eine eigenständige Mo­
tivation abgesprochen; dabei ist Tibet vol­
ler Beispiele solcher von ihnen selbst ge­
schaffenen, zeitgenössisch-traditionellen
Fusionen. Dies beginnt in modernen
Stadthaushalten und setzt sich über von
Exil­-Lamas finanzierte Tempelhallen aus
Zement und Beton fort, bemalt mit Acryl­
farben und ausgestattet mit sanitären An­
lagen. Solche Dinge spielen sich in den
– nur aus unserer Sicht – abgelegensten
Ecken des tibetischen Hochlands ab, und
die Akteure stammen von dort. Aus die­
sem Grund soll hier einer dieser bemer­
kenswerten Tibeter samt einem seiner zen­
tralen, zur Zeit im Entstehen begriffenen
Projekte vorgestellt werden, der tibetische
Architekt ­Matsa Sonam Topgyal.
Baumeister aus der Hochlandsteppe
Der junge Architekt Matsa Sonam Top­
gyal, mit chinesischem Zweitnamen Ma
Yonggui, stammt aus einem nomadischen
Gebiet im Herzen des tibetischen Hoch­
lands, aus dem Dorf Baqên im Grenzge­
biet der Autonomen ­Region Tibet zur ti­
betischen Präfektur Yushu in Qinghai, wie
die chinesische Provinz auf der Nordhälfte
des Hochplateaus heißt. Ein ländlicher ge­
prägtes Umfeld ist kaum vorstellbar, und
der Gegensatz zu seiner heutigen Tätigkeit
entsprechend groß: Architektur wird in
einer Steppenlandschaft, in der Nomaden
bis heute in 4000 bis 5000 Metern Höhe
mit ihren Yak- und Schafherden durchs
Grasland ziehen, kaum nachgefragt.
Von Gestaltungsprinzipien beim Bau
von Gebäuden werden Hirten uns wenig
berichten können – und doch wird schnell
augenfällig, dass sich Nomaden bei der
Auswahl ihrer Zeltplätze nach ihrer natür­
lichen Umwelt richten. Es sind Regeln, die
an wichtige Elemente des Feng Shui erin­
nern: Exposition an Südhängen, Fließge­
wässer in der Nähe vor dem Zelt, einge­
rahmt von Bergzügen und anderes mehr.
Im Zelt selbst ist gleichfalls eine gewisse
Ordnung vorgegeben, wie der auf den Eh­
Hagia Chora 30 | 2008 71
72 Hagia Chora 30 | 2008
andreas gruschke
renplatz beim Altar gegenüber dem Ein­
gang platzierte Gast schnell erkennt. Hin­
ter dem in der Mitte aufgebauten Ofen,
Sitz des Herdgottes und gesellschaftlicher
Mittelpunkt im Zelt, ragt meist eine Stan­
ge zur himmelwärtigen Öffnung in der
Zeltdecke auf, die keine Funktion als tra­
gendes Teil hat, da das Zelt von außen
über mehrere Stangen und spinnwebartig
darüber gespannte Seile stabilisiert wird.
Wie in Zelten anderer Hirtenkulturen stellt
sie – als Weltenachse – im praktischen wie
im übertragenen Sinn die Verbindung mit
der überirdischen Sphäre her und macht
den sozialen Mittelpunkt auch zu einem
rituellen. In gewisser Weise zeigt die um­
weltorientierte Standortwahl der Noma­
den, wie Prinzipien des Feng Shui einmal
entstanden sind.
Sonam Topgyals Geburtsort Baqên ist
abgelegener kaum vorstellbar. In seinem
Büro in der Provinzhauptstadt Xining er­
zählt uns Sonam von den beschwerlichen
Wegen in seine Heimat: „Zunächst muss
man bis in die Distrikthauptstadt Gyêgu
fahren. Heute kann man die 900 Kilometer
auf einer gut ausgebauten Straße gerade
so innerhalb eines Tages bewältigen, aber
noch vor zwanzig Jahren fuhr ein Bus drei
Tage. Von dort führte eine Piste in die 200
Kilometer entfernte kleine Kreisstadt Za­
doi, Hauptort eines Nomadengebiets, das
in meinem Geburtsjahr 1974 auf einer Flä­
che, die größer ist als Belgien, gerade ein­
mal 20 209 Einwohner hatte. In etwa fünf
Tagesritten erreichte man von dort mein
Heimatdorf. Heute kann den größeren Teil
davon ein Jeep über eine 2006 ausgebaute
Piste bewältigen.“
Als Kind lebte Sonam Topgyal noch
im Zelt, aber er erinnert sich kaum dar­
an. Als sein Vater Staatsangestellter wur­
de, errichtete die Familie am Ortsrand von
Gyêgu ein einfaches Lehmhaus. Sein Va­
ter schickte ihn zur Schule, und nach dem
Unterricht zog er mit den Yaks auf die
Weide. In der Schule lernte er früh Chine­
sisch, so dass ihm der spätere Hochschul­
besuch in der chinesischen Großstadt Xi­
ning wenig Probleme bereitete. In den
späten 1980er-Jahren baute seine Familie
ein größeres Haus. „In diesem Haus erhielt
ich erstmals ein eigenes Zimmer“, erzählt
er. „Es hat mich sehr beeindruckt, die Ent­
stehung dieses Hauses mitzuerleben, ver­
mutlich wurde damals mein Interesse an
Architektur geweckt.“
Nach Abschluss seines Studiums in
Xi’an, inzwischen 20 Jahre alt, erhielt
er eine Anstellung im Stadtbauamt von
­Yushu. Da die Tätigkeit im öffentlichen
Amt ihn nicht ausfüllte, folgte er 1997
einem Ruf an die Akademie für Architek­
turdesign in Xining, wo er bis 2005 un­
terrichtete. In dieser Zeit, um die Jahrtau­
sendwende, begann er mit tiefergehenden
Studien der tibetischen Architektur. Zu­
dem kam er mit tibetischen Lamas, ­großen
buddhistischen Lehrern, in Kontakt, die
sein Gespräch suchten, weil sie Tempel­
anlagen vergrößern oder neu errichten
wollten. Die Geldmittel dafür erhalten
­diese meist von chinesischen Anhängern
aus chinesischen Provinzen, aus Taiwan
und Südostasien. Durch die intensiven
Kontakte mit den Lamas wurde sein In­
teresse für den Buddhismus vertieft, und
er begann, kanonische Schriften und klas­
sische Lehrbücher zu studieren. So entwi­
ckelte er ein Verständnis von Architektur,
das die buddhistische Vorstellungswelt
eng in seine Arbeiten einbezog. Je mehr
Aufträge er übernahm, um so mehr wurde
ihm bewusst, dass es nicht genügte, klas­
sische Vorbilder zu kopieren. Er wollte die
zugrundeliegende Gedankenwelt, die de­
ren Essenz ausmachte, verstehen und dar­
aus eine moderne Architektur entwickeln.
Im Jahr 2005 gründete er schließlich sein
eigenes Architekturbüro, die Tibetan Cul­
ture Construction Development Company.
Bauprojekte in ganz Osttibet
Es ist beeindruckend, was der 34 Jahre
junge Architekt bereits realisiert hat. Alle
modernen Hotelneubauten in Gyêgu, dem
Hauptort seines Heimat-Distrikts Yushu,
tragen seine Handschrift – angefangen
mit dem siebengeschoßigen Yushu Ho­
tel, das mit dem ersten Fahrstuhl in tibe­
tischen Nomadengebieten als mondänstes
Gebäude dort gilt und zur Sehenswürdig­
keit für wohlhabendere Nomaden der Re­
gion geworden ist. Für etliche der öffent­
liche Bauten im Kern der Neustadt wurde
ihm der Auftrag für deren Design gege­
ben. In der seiner Heimatprovinz benach­
barten Provinz Sichuan hat er nicht nur
Oben: Der Rongpo-See bildet die Mingtang, die
Quelle der Lebensenergie für das Kloster Ranyag
Gompa. Rechts: Erste Schritte auf der „Drachenhöhle“, dem Bauplatz der Klosterakademie.
wesentlichen Anteil an der Planung klös­
terlicher Bauten – wie dem Museum des
Buddhismus in Serxu – sondern auch an
der Gestaltung weiterer Behördengebäu­
de in Kangding, dem politischen Zentrum
des Distrikts Garzê.
Sein augenblicklich überragendstes
Projekt jedoch ist die Umsetzung einer
Klosteranlage in der alpinen Steppe west­
lich von Gyêgu, angeregt von dem bedeu­
tenden Lama Khamchog Rinpoche. Letzte­
rer ist die 14. Reinkarnation des Gründers
von Kloster Ranyag in einer Seiten­
schlucht des Jangtse-Oberlaufs in Yushu.
Im Bewusstsein, dass sowohl das geistige
als auch leibliche Wohl der Menschen
in der schwierigen Lebensumwelt sei­
ner überwiegend nomadischen Heimat in
Nord-Kham ganz wesentlich von Bildung
abhängt, hat er den Plan gefasst, mitten
in dieser Steppenlandschaft eine außerge­
wöhnliche Bildungseinrichtung zu schaf­
fen, die schulische Ausbildung und die
Möglichkeit zum weiteren Studium von
Geisteswissenschaften, insbesondere des
Buddhismus, ermöglichen soll.
Die Wahl des Orts fiel bewusst auf die
Großregion Yushu, die beider Heimat ist.
Das Projekt ist für die Menschen vor Ort
gedacht, zielt jedoch auch über die Re­
gion hinaus. Immerhin haben überregio­
nale Kontakte buddhistischer Lehrer aus
­Yushu eine gewisse Tradition. Das Außer­
gewöhnliche des Projekts ist nicht allein
dessen Ausführung und Größe, sondern
besteht darin, dass ein ehemals peripheres
Gebiet nun mit Deutlichkeit auf sich auf­
merksam macht, weil beide Akteure über
den Raum hinaus wirken und ihre Hei­
mat mit dem Rest der Welt in Verbindung
bringen bzw. bringen wollen.
andreas gruschke
f e n g
Feng Shui in Tibet?
Feng Shui ist die chinesische Ausprägung
der Geomantie, und geomantische Kon­
zepte finden sich in vielen traditionellen
Kulturen. Daher ist es naheliegend, dass
auch die Nachbarn Chinas entsprechendes
Gedankengut pflegten und man sich ge­
genseitig beeinflusste. „Was einst dem
Feng Shui zugeschrieben wurde“, meint
Sonam Topgyal, „wird heute von vielen
als Verschmelzung der Architektur mit der
sie umgebenden Landschaft angesehen.
Solche Vorstellungen sind verbreitet, auch
in Tibet, selbst wenn sie in andere Denk­
systeme eingebettet sind. Dass man sich in
Tibet mit Fragen des Feng Shui auseinan­
dersetzte, geht auf die Zeit nach König
Songtsen Gampo (7. Jahrhundert) zurück,
der das erste tibetische Schrift­system ein­
führte und damit die Verbreitung gelehrter
Traktate ermöglichte. Durch seine Heirat
mit der chinesischen Prinzessin Wen­
cheng fanden zusammen mit einer Viel­
zahl von Handwerkern und Künstlern aus
dem Reich der Mitte auch theoretische Er­
wägungen zur Architektur ihren Weg aufs
Dach der Welt – und damit das Feng Shui.
Dort ententwickelte sich ein neues, bud­
dhistisch geprägtes System, in welchem
Fragen der Harmonie mit der Umwelt ih­
ren festen, wenn auch nicht mit Feng Shui
benannten Platz hatten.“
Der Gedanke, die Geister der Luft und
des Wassers einem Ort geneigt zu machen,
war schon im vorbuddhistischen Tibet ein
wichtiges Prinzip und drückt sich im alten
chinesischen Begriff für Feng Shui, Kan
Yu, ebenfalls aus. Als Kurzformel besagt
es, man müsse „den Himmel und die Erde
beobachten“. Genau dies tat Khamchog
Rinpoche, als er den Ort für seine Aka­
demie auswählte – allerdings intuitiv. Der
Architekt Sonam Tobgyal dagegen kann
uns die aus dem Feng Shui abgeleiteten
dahinter stehenden Prinzipien erläutern:
„Die enge Beziehung zur natürlichen
Umwelt spielt in den oft menschenleeren
Gebieten des tibetischen Hochlands eine
sehr viel größere Rolle als dies in den
dichten Siedlungsgebieten Chinas der Fall
war. Wer Gebäude in einer Stadt errich­
ten will, kann nur sehr begrenzt auf die
umgebende Landschaft Rücksicht neh­
men, die Feng Shui-Lehre in den Städten
hat sich im Lauf der Zeit mehr auf den
Grundriss der Hallen und die Ausstattung
der Innenräume konzentriert.“
Bei einem in der freien Natur gelegenen
Kloster wie Ranyag Gompa steht dessen
Lagebeziehung zur Umgebung im Vor­
dergrund. Lassen wir uns daher die FengShui-Qualitäten des Orts von Sonam Top­
gyal erläutern.
Die Lagebeziehungen der RanyagKlosterakademie in der Landschaft
Um das zur Zeit noch im Bau befind­
liche Ensemble zu erreichen, verlässt
man ­Gyêgu westwärts und gelangt nach
rund 50 Kilometern über einen Pass in
ein weites Hochtal, in dessen Westen sich
die Wasserfläche des Rongpo-Sees (chin.
Longbao Hu, „See das Drachenschatzes“)
abzeichnet. Auf halbem Weg zwischen
Pass und See erstreckt sich nördlich der
Straße auf einem wenig ansteigenden
Hang das Gelände der zukünftigen Klos­
terakademie. Um die Feng-Shui-Quali­
täten des Orts abzuschätzen, müssen wir
die Streichrichtung und die Form der Ber­
ge, das Aussehen des Wasserkörpers, des­
sen Fließrichtung sowie die ­Vegetation be­
trachten – im Fall eines Wäldchens auch
dessen Lage. Die Gegend um das Ran­yagKloster ist verkarstet und sehr karg, die
Hänge sind lediglich von mageren Weiden
überzogen, eine andere Vegetation gibt es
hier nicht.
Die Energie eines Orts gilt als größer,
wenn sich mindestens ein oder zwei der
s h u i
vier mythischen Fabeltiere, die wir am
Firmament als Symbole der chinesischen
Sternenkonstellationen kennen, in den
umliegenden Bergen wiederfinden. Es sind
dies der Blaue Drache 青龍 (qinglong), der
Weiße Tiger 白虎 (baihu), der Rote Pfau­
envogel 朱雀 (zhuque) und der Schwar­
ze Krieger des Nordens 玄武 (xuanwu).
Als mächtige Wächterfiguren wurden sie
bereits vor zweieinhalbtausend Jahren
in herrschaftlichen Grabanlagen auf die
Wände gemalt, um in jeder Himmelsrich­
tung alle Übel abzuwehren. Im Fall von
Ranyag Gompa sind entsprechende Berge
identifiziert. Darüber hinaus werden die
Zuordnung zu den fünf Elementen Metall,
Holz, Wasser, Feuer und Erde betrachtet,
die acht Trigramme und manches mehr.
Sonam Topgyals Analyse des Orts:
„Der Bergkamm im Osten windet sich
wie eine Schlange – er steht für den
­Blauen Drachen. Zwar nicht sehr hoch,
so ist er doch sehr windungsreich, das
ist ausgezeichnet. Im Westen müssen wir
nach einem Berg schauen, der die Kraft
des Tigers repräsentieren kann. In der chi­
nesischen Kultur stellt man sich den Tiger
würdevoll und ehrfurchteinflößend vor,
daher sollten die Berge auf der Westsei­
te etwas schroffer wirken. Und in der Tat:
Auf der Westseite des Ranyag-Klosters
ragen steile Berge auf, wie majestätische
Häupter. Auf der Rückseite aber muss sich
ein ‚Ruheberg‘ 安山 (anshan) erheben, ei­
ner, der Ruhe und Sicherheit ausstrahlt.
Er darf auf keinen Fall geologisch instabil
sein. So darf sich hier zum Beispiel kein
Schluchtausgang befinden, denn sonst
bestünde die Gefahr von Überflutungen.
Die ‚Bauökologie‘ des Feng Shui verlangt,
dass nichts auf diesem Berg liege, das den
Eindruck erweckt, es könne herabstür­
zen. Ein großer, massiger Berg ist als an­
shan bestens geeignet, so derjenige hin­
ter der zukünftigen Klosterakademie. Zu
beiden Seiten sind zwei Taleinschnitte,
die im Fall von Starkregen das Wasser an
der Anlage vorbeiführen würden. Gegen­
über, auf der Südseite, liegt der zhaoshan
照山 oder ‚Spiegelberg‘, dem es obliegt,
das Qi zu reflektieren, damit es sich nicht
im Raum verliert. Der zhaoshan soll sanft
sein und einen optimalen visuellen Ein­
druck vermitteln: Eine schöne Landschaft
betrachten zu können, weckt das Wohlbe­
finden.“
Nun gilt es, eine mingtang 明堂 zu
identifizieren, in Anlehnung an die kai­
serlichen Audienzhallen auf Deutsch als
„lichte Halle“ oder „Klarer Palast“ wie­
dergegeben. Sie ist eine eher weite, of­
fene Landschaft – eine Art landschaft­
licher Vorhof der Architektur – und wird
Hagia Chora 30 | 2008 73
als energetisches Zentrum, als Quelle der
Lebenskraft 生气 (shengqi) für das zu er­
richtenden Gebäude angesehen.
Allein im Südwesten gibt es einen klei­
nen Makel am Feng Shui des Bauplatzes:
Hinter dem Zhaoshan ragt eine felsige
Spitze wie ein Zahn hervor, was etwas
schlechtes Qi 煞气 (shaqi) verursacht. Dies
muss beim Bau der Gesamtanlage berück­
sichtigt werden. Auch einen anderen As­
pekt gilt es nicht aus dem Auge zu verlie­
ren: Die beiden genannten Taleinschnitte
links und rechts der Anlage werden als
Drachenadern 龍脈 angesehen; ihnen
entströmt nach traditioneller Auffassung
der Atem des Drachen, die Kraft der sich
durch das Land bewegenden Energieströ­
me, die es nicht zu unterbrechen gilt. „Im
Fall des Ranyag-Klosters haben wir das
große Glück, dass diese Adern sanft bei
ihm enden, und es heißt, je mehr Adern
allmählich in einen Ort münden, um so
mehr Energie werde dieser sich die leben­
spendende Energie des Drachen einverlei­
ben. Wir errichten unsere Akademie also
in einer Drachenhöhle 龍穴 (longxue).“
Mit solchen Dingen hat sich Kham­
chog Rinpoche als buddhistischer Lehrer
nicht bewusst auseinandergesetzt. Wie
andernorts auf der Welt galt es zunächst,
die Finanzierung eines architektonischen
Komplexes, der sich immerhin über einen
Quadratkilometer Fläche erstrecken soll,
und die behördlichen Genehmigungen si­
cherzustellen. Dass die Finanzfrage lösbar
sein würde, war im Vorfeld bereits deut­
lich, da der Lama aus dem Ranyag-Klo­
ster eine spendenwillige chinesische An­
hängerschaft im Mittelstand chinesischer
Großstädte, aber auch in Taiwan und
Hongkong hat. Anders als in Teilen Zen­
traltibets ist in Yushu zudem das Verhältnis
zwischen Lamas und Behörden ein gutes,
weshalb letztere nicht nur die Genehmi­
gung erteilten, sondern mehrere Bauplät­
ze zur Auswahl stellten. Diese begutachte­
ten Lama und Architekt gemeinsam, und
Khamchog Rinpoche wählte zielsicher den
beschriebenen Ort aus, die „Drachenhöh­
le“, die als Stätte mit der vielleicht höch­
sten Konzentration von Drachenenergie
in ganz Yushu gelten kann.
Planung und Umsetzung
Die natürlichen Gegebenheiten werden
selbstverständlich auch im Design der
Gesamtanlage berücksichtigt. Ein dritter
wichtiger Punkt ist die Oberflächengestalt
des Bauplatzes. So sollte er beispielsweise
möglichst nicht ausgehoben oder aufge­
schüttet werden; dann wäre der Platz nur
wie eine Beule oder Blase aufgewölbt. Hier
am Ort der Klosterakademie ist der Bau­
74 Hagia Chora 30 | 2008
Der Architekt Matsa Sonam Topgyal
platz natürlich zwischen zwei Bachläufen
aufgewölbt und damit voll und rund. „In
China sagt man: ‚Deine Stirnmitte sei voll
und rund, und so sei es in deiner natür­
lichen Umgebung.‘ Eine gewölbte Stirn­
mitte bedeutet ein glückliches Schicksal,
und solches erwartet man auch vom ir­
dischen Grund“, erklärt der Architekt.
Betrachten wir als nächstes das Was­
ser. Zu beiden Seiten des Bauplatzes fließt
ein Bach, beide vereinigen sich zu einem
Fluss, der schon bald in den Rongpo-See,
den Longbao Hu, mündet. Dieser von der
leichten Anhöhe des Klosters sichtbare
See bildet, wie gesagt, die Mingtang der
Gesamtanlage, jenen „Palast der Klarheit“,
der das Shengqi aufnimmt und bewahrt.
Dieses Qi wird durch den im Süden sich
erhebenden Zhaoshan reflektiert und in
den Brennpunkt der heiligen Landschaft
gelenkt. Am Rongpo-See halten sich
Schwarzhalskraniche bevorzugt auf. Der
Staat hat dort ein Schutzgebiet für diese
seltene, noch einen geschätzten Bestand
von etwa 5600 bis 6000 Tiere umfas­
sende Vogelart eingerichtet. „In der Vor­
stellungswelt des tibetischen Buddhismus
sind diese Vögel geheiligt“, erzählt Sonam
Topgyal, „auch sind sie bemerkenswert
intelligent. Eine wirkungsvollere Ming­
tang als dieser See ist für ein Bildungs­
zentrum wie die Ranyag-Klosterakademie
daher kaum vorstellbar. Außerdem ist die
Fließrichtung des Wassers von Osten nach
Wes­ten, und da der Osten nach traditio­
neller chinesischer Vorstellung die soziale
Moral, das gesellschaftliche Empfinden für
das, was recht und billig ist, hervorbringt,
ist dies ein gutes Vorzeichen für eine Bil­
dungsstätte im klösterlichen Rahmen.“
Die Klosterarchitektur
Die Haupthalle der gesamten Kloster­
akademie wird der Platz der Drachenhöh­
le tragen. Ihr Gelände wird kreisförmig
angelegt – entsprechend dem buddhis­
tischen Symbol des achtspeichigen Rads
der Lehre. Auf jedem wichtigen Verknüp­
fungspunkt wird ein Gebäude stehen, wo­
mit jeder Gesichtspunkt der Landschaft
in der Anlage seine Entsprechung findet.
Wenn man von der Hauptblickrichtung
der Hauptgebäude ein wenig nach Wes­
ten abweicht, gerät jener spitze, felsige
Gipfel ins Blickfeld, der die positiven Ei­
genschaften der Landschaft ein wenig be­
einträchtigt. Seine schlechten Einflüsse
sollen durch eine Gruppe von acht Stu­
pas (tibet. Chörten, chines. „Pagoden“) ge­
bannt werden. Die Han-Chinesen im chi­
nesischen Kernland würden hierfür Steine
bzw. Felsen, die vom heiligen Berg Tai
Shan geholt wurden, einsetzen, da diese
böse Geister vertreiben sollen. In Tibet ist
es seit Einführung des Buddhismus Tradi­
tion, Übel durch den Bau von Stupas zu
unterdrücken, wie ja schon in der frühen
Geschichte Tibets davon berichtet wird,
dass das Land dadurch befriedet wur­
de, dass eine menschenfressende Dämo­
nin durch den Bau von 108 Tempeln an
die Erde „genagelt“ und somit ihrer üblen
Kräfte beraubt wurde.
Der südliche Scheitelpunkt des Kreises,
der die Gesamtanlage umfasst, liegt nahe
der von Gyêgu nach Westen zum RongpoSee und weiter tief ins Nomadenland füh­
renden Straße. Von hier führt ein Fußweg
in den sakralen Klosterbereich, dessen
Aufbau an ein Mandala erinnert. Dort, wo
der Sakralbereich durchbrochen wird, er­
hebt sich eine von einem Fußwalmdach
bekrönte Torhalle, die in chinesisch-bud­
dhistischen Tempeln unweigerlich den
vier sogenannten Himmelskönigen, den
Lokapalas, geweiht ist. Hier mag durchaus
der Ort sein, an welchem zukünftige Stu­
denten und Pilger einem Maitreya, dem
Buddha der Zukunft, oder einer mächtigen
tibetischen Schutzgottheit ihre Reverenz
erweisen werden. In der architektonischen
Gliederung sind lamaistische Klöster sehr
viel freier gestaltet als chinesische Tempel,
wenngleich frühe Einflüsse aus dem alten
Reich der Mitte in Ost­tibet deren strenge
Symmetrie und Abfolge der Hallen zuwei­
len manifestiert haben. Dem Prinzip, dass
das wichtigste Gebäude auf der Hauptach­
se liegt, folgt die Ranyag-Akademie.
Von der Torhalle beginnt der leichte An­
stieg über einen Reihe von Treppenstufen
in einen inneren, von einer quadratischen
Mauer umgrenzten Bereich, der im Man­
dala als „himmlischer Palast“ bezeichnet
würde. Er steht als Sinnbild für das Ge­
bäude des Bewusstseins und der Weisheit
– und damit für den im engeren Sinn bud­
dhistischen Tantriker, im weiteren Sinn
für den Wissensdurstigen, die beide beim
Vordringen ins Innerste dieser Stätte Ver­
wirklichung suchen. Im Überblick erschei­
nen die geometrischen Grundrisse auch
als Sinnbilder für die irdische und überir­
s h u i
matsa sonam topgyal
f e n g
Visualisierung der zukünftigen buddhistischen
Klosterakademie Ranyag Gompa.
dische Welt, die in der alten chinesischen
Kosmogonie quadratisch (Erde) und kreis­
förmig (Himmel) vorgestellt wurden.
Der innerste Bereich der Klosteraka­
demie gliedert sich in drei Ebenen. Die
­erste Treppe trennt den Bereich der Laien
von jenem der Mönche, d. h. die unterste
Plattform, die man durch das Tor betritt,
dient den Laien als Wohnbereich und für
die Administration der Klosterakademie.
Die beiden Gebäude links und rechts sind
entsprechend als Hotel und Verwaltungs­
gebäude vorgesehen. Die anschließenden
Stufen führen auf eine Plattform, die als
offener Platz gestaltet ist und zur Durch­
führung buddhistischer Zeremonien die­
nen soll – wie Klosterfeste, Maskentänze
und gelehrte Disputationen der Mönche.
Am oberen, nördlichen Ende erhebt sich
auf der abermals über Treppen zu errei­
chenden dritten Ebene die Hauptversamm­
lungshalle (dukhang), das spirituelle, ze­
remonielle und architektonische Zentrum
des Ranyag-Klosters. Sie setzt sich aus der
dreigeschoßigen eigentlichen Versamm­
lungshalle der Mönche und einem über
sechs Stockwerke aufragenden Lama-Re­
sidenz- und Tempelbereich zusammen.
Mit einer Grundfläche von über 8000
Quadratmetern ist sie nicht nur zehnmal
größer als der Dukhang des alten Klosters,
sondern ist womöglich die monumen­
talste Halle, die in tibetischen Nomaden­
gebieten zu finden ist. Ihre Komposition
trägt deutliche Züge des tibetischen Exil­
klosters Sera im südindischen Bylakup­
pe, wo sich Khamchog Rinpoche mehrere
Jahre aufhielt. Zwei pavillonartige Dach­
aufbauten zu beiden Seiten der Halle ste­
hen symbolisch für den Buddha und seine
beiden Lieblingsschüler und versinnbildli­
chen noch einmal die Aufgabe der Akade­
mie: die Lehre und ihre Verbreitung.
In der Anlage vorgesehen sind auch
vier unterschiedlich gestaltete Schutz­
göttertempel. Sie schirmen den Südwes­
ten ab – und damit jeglichen schlechten
Einfluss der jenseits des „Spiegelbergs“
aufragenden Felsspitze. Eine der Schutz­
gottheiten ist eine alte, auf die vorbuddhis­
tische Zeit zurückgehende Gottheit na­
mens Gyilang, der insbesondere abends
niemals der Weg verstellt werden sollte.
Daher ist im Oberstock der ihr geweihten
Tempelhalle auf einander gegenüberlie­
genden Seiten je ein offenes, dreieckiges
Fenster in die Wand eingelassen. Damit
wird Gyilang die Bereitschaft der Men­
schen gezeigt, ihren Wünschen jederzeit
zu entsprechen. So erhofft man sich zu
den positiven Kräften, die Sonam Topgyal
im Kontext der Feng-Shui-Lehre für den
Ort erschlossen hat, noch den Beistand der
göttlichen Schutzmacht.
Resümee
Zweifellos ist Matsa Sonam Tobgyal ei­
ner der, wenn nicht der einflussreichste
der einheimischen Architekten in Ostti­
bet. Auf einzigartige Weise gelingt es ihm,
traditionelle Architektur, Feng Shui und
moderne Baumaterialien ins Einverneh­
men zu bringen. Seine Arbeiten deshalb
als chinesisch anzusehen, wäre eine Fehl­
einschätzung. Anders als viele westliche
Betrachter, die aus Tibet gerne ein unver­
änderbares Museum machen würden, ver­
tritt Sonam Topgyal die Auffassung, dass
eine Kultur umso lebendiger ist, je mehr
sie andere Einflüsse auf eigene Weise ein­
bezieht. Nur muss man diesen Wandel
selbst gestalten. Damit dies in Harmonie
geschieht, hat er Feng Shui in sein Den­
ken einbezogen. Damit ist ihm etwas Be­
eindruckendes, Modernes und gleichwohl
typisch Tibetisches gelungen. +
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auf www.geomantie.net.
Andreas Gruschke studierte, arbei­
tete und reiste viele Jahre in Ost­
asien. Tibet wurde dem Geografen,
Eth­nologen und Sinologen zur
zwei­ten Heimat. Aktuelle Buchver­
öffentlichung mit Astrid Zimmermann: „Als das
Weltenei zerbrach: Mythen und Legenden ­Chinas“,
Diederichs Gelbe Reihe, Hugendubel Verlag.
Hagia Chora 30 | 2008 75
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