Therapie Tiefbiss im Wechselgebiss 115 Die Therapie des Tiefbisses im Wechselgebiss sollte vor Durchbruch der Stützzonen im 8.–9. Lebensjahr erfolgen. In der Regel ist zu diesem Entwickungszeitpunkt noch ausreichend orthopädisch nutzbares Wachstumspotenzial vorhanden. Gleichzeitig kann dental die Vertikalentwicklung der seitlichen Alveolarfortsätze über die Durchbruchssteuerung der seitlichen Zähne genutzt werden (Fränkel 1968, Fränkel et al. 1987, Creekmore 1967, Jäger 2000). Die orthopädische Therapie des Tiefbisses ist daher beim echten Tiefbiss mit großem Interokklusalabstand im Seitenzahnbereich indiziert. Ziel ist es, möglichst eine Beeinflussung des Unterkiefers in der Vertikalen in Clockwise-Richtung zu erreichen und gleichzeitig über die Steuerung des Zahndurchbruchs im Bereich der Stützzonen und der Molaren eine neue vertikale Position zu etablieren. Die Behandlung im Wechselgebiss ist nur dann erfolgreich, wenn die Stützzonen noch erhalten sind. Ziel der funktionskieferorthopädischen Therapie ist eine Vergrößerung, insbesondere des Untergesichts. Die Extrusion der Seitenzähne und vertikale Nachentwicklung des Untergesichts kann sehr gut bei der Angle-Klasse I und Angle-Klasse II/2 (Tab. 285) erfolgen, da durch Einschleifmaßnahmen am Aktivator die Zähne gezielt in die gewünschte Position bewegt werden. Dies ist in diesem Ausmaße nur bei bimaxillären Geräten möglich. Den Bionator setzen wir zur Tiefbisskorrektur nicht ein, da nur selektiv eingeschliffen werden kann. Optional kann der vertikale Effekt des Aktivators im Bereich der 1. Molaren durch zusätzliche Anwendung des Headgears während der Nacht verstärkt werden. Zusätzlich wird dem Effekt des Aktivators im Hinblick auf die Retroinklination des Oberkiefers entgegengewirkt. Alternativ zum Aktivator kann eine Aufbissplatte mit frontalem Aufbiss und ein Low-Pull-Headgear eingesetzt werden. Durch den Headgear kommt es dental zur Extrusion des Molaren und in Folge zur Clockwise-Rotation des Unterkiefers. Dieser Effekt wird durch den frontalen Aufbiss verstärkt und führt zu einer Vergrößerung des Untergesichts. In Abhängigkeit von der Angulation und Außenarmlänge des Headgears kann zusätzlich ein vertikaler orthopädischer Effekt auf den Oberkiefer erzielt werden. Im späten Wechselgebiss ist bei der Angle-Klasse I in Kombination mit einem Tiefbiss eine Two-by-four-Mechanik zu bevorzugen, da die Effekte der funktionskieferorthopädischen und herausnehmbaren Therapie zu gering sind. Therapie Tiefbiss im Wechselgebiss 8.–9. Lebensjahr Angle­Klasse I • Aktivator (Low­Pull­Headgear optional) • Aufbissplatte frontal und Low­Pull­Headgear Angle­Klasse II/1 • Sander II mit 55 ° Inklination und Low­Pull­Headgear Angle­Klasse II/2 • Aktivator, Two­by­four­Mechanik und Low­Pull­Headgear Angle­Klasse III • Sander III • Korrektur des Overbite erst am Schluss der Wachstumsphase mit orthodontischen Apparaturen 285 Therapiekonzepte zur Behandlung des Tiefbisses im Wechselgebiss Die Behandlung des Tiefbisses im Wechselgebiss kann mit funktions­ kieferorthopädischen Apparaturen kurz vor Stützzonenwechsel erfol­ gen. Durch Extrusion der Seitenzäh­ ne kann bei dem echten Tiefbiss ein guter klinischer Effekt erzielt wer­ den. Der Aktivator ist hier das Gerät der Wahl. Aufgrund der Beeinfluss­ barkeit der Oberkiefergrundebene in der Vertikalen (NL) ist die Sander­II­ Apparatur besonders für die Korrek­ tur des skelettalen Tiefbisses geeig­ net. Durch zusätzliche Anwendung des Headgears kann dieser orthopä­ dische Effekt über die Counter-Clock­ wise­Rotation des Oberkiefers ver­ stärkt werden. Die Korrektur des Tiefbisses bei der Angle­Klasse III er­ folgt gegensätzlich dazu mit festsit­ zenden Apparaturen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ■ Therapie Tiefbiss im Wechselgebiss Therapie Tiefbiss im Wechselgebiss Angle­Klasse I Angle­Klasse II/1 Ist der Tiefbiss kombiniert mit einer Angle-Klasse I kann vor Wechsel der Stützzonen der Durchbruch der Zähne und deren Vertikalentwicklung über den Aktivator gesteuert werden (Andresen u. Häupl 1936). Durch gezielte Einschleifmaßnahmen kann insbesondere im Prämolarenbereich eine Extrusion und Vertikalentwicklung des Alveolarfortsatzes erreicht werden (Harzer 1999, Kahl-Nieke 2009). Dies beeinflusst den Unterkiefer im Sinne einer Clockwise-Rotation u nd Öffnung, das zu einer positiven Entwicklung des Untergesichts und dentalen Bisshebung im Bereich der Front führt (Hirschfelder u. Fleischer-Peters 1992). Ist der Tiefbiss kombiniert mit einer Angle-Klasse II/1 und skelettaler Kausa, setzen wir skelettal effektive funktionskieferorthopädische Apparaturen in Form der Sander-II-Apparatur ein (Wichelhaus 1993 a, 1993 b, 1993 c, 1993 d, Sander u. Wichelhaus 1995a) (Abb. 288). Für den zusätzlichen vertikalen Effekt wird die Inklination der schiefen Ebene auf 55 ° eingestellt. Die Bisshebung mit der Sander-II-Apparatur erfolgt nicht über Extrusion der Einzelzähne, sondern über Veränderung der Inklination des Oberkiefers (Anteinklination). Damit ist eine orthopädische Einflussnahme eines skelettalen Tiefbisses auf Ober- und Unterkiefer möglich. 286 Therapiekonzepte zur Behandlung des Tiefbisses bei Angle­Klasse I Die Behandlung des Tiefbisses bei Angle­Klasse I bezieht sich aus­ schließlich auf die Reduktion des Overbite und Vergrößerung des Un­ tergesichts. Hiefür ist der Aktivator geeignet. Rechts: Durch die Clockwise­Rotation des Unterkiefers während der Extru­ sionsbewegung muss der Konstrukti­ onsbiss in eine Superklasse I einge­ stellt werden. 287 Therapiekonzepte zur Behandlung des Tiefbisses bei Angle­Klasse I Der vertikale Effekt des Aktivators kann bei der Therapie des Tiefbisses durch zusätzliche Anwendung des Low­Pull­Headgears verstärkt wer­ den. Dies unterstützt die Extrusion der 6­Jahres­Molaren. Dafür wird der Aktivator steil eingeschliffen und der Headgear nach kranial anguliert. Für den maximalen vertikalen Effekt ist ein mittellanger Außenarm zu selek­ tieren (rechts). 288 Therapiekonzepte zur Behandlung des Tiefbisses bei Angle­Klasse II/1 Für die Behandlung des Tiefbisses bei der Angle­Klasse II kann die Sander­II­ Apparatur mit Headgear eingesetzt werden. Als einzigstes funktionskie­ ferorthopädisches Gerät kann diese Apparatur biomechanisch einen ver­ tikalen orthopädischen Einfluss auf den skelettalen Tiefbiss nehmen. Dies erfolgt über die Konstruktion der Apparatur und nicht wie beim Aktivator durch Einschleifmaßnah­ men. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 116 Angle­Klasse III Angle­Klasse II/2 Angle­Klasse III Ist der Tiefbiss mit der Angle-Klasse II/2 verknüpft, ist in vielen Fällen die funktionskieferorthopädische Therapie alleine nicht ausreichend. Zusätzlich müssen festsitzende orthodontische Elemente in Form einer Two-by-four-Mechanik zur Intrusion der Inzisivi im Oberkiefer eingesetzt werden. Der Effekt aus Aktivatortherapie und Two-by-four-Mechanik kann zusätzlich durch Anwendung des Low-Pull-Headgears in der Nacht verstärkt werden. Der Headgear stellt gleichzeitig die Neutralokklusion ein. Der Aktivator erzielt die Bisshebung (Abb. 289–Abb. 291). Eine funktionskieferorthopädische Therapie führen wir in unserem Behandlungskonzept bei dentaler und skelettaler Klasse III mit der Sander-III-Apparatur durch. Ist der Tiefbiss kombiniert mit dieser Anomalie, sollte der Overbite erst am Schluss des Wachstums therapiert werden. Aufgrund der sehr späten Wachstumsschübe bei Angle-Klasse-III-Anomalien fällt damit die Tiefbisskorrektur bei der Angle-Klasse III in das späte permanente Gebiss jugendlicher Patienten oder in das Erwachsenenalter. Bei Klasse III wird eher mit tiefem Overbite abgeschlossen. Therapiekonzepte zur Behandlung des Tiefbisses bei Angle­Klasse II/2 Die Behandlung des Tiefbisses bei der Angle­Klasse II/2 ist nach unse­ rem Behandlungskonzept eine Kom­ bination aus Aktivatortherapie, Headgear und NiTi­Tip­back­Mecha­ nik. Dies ergibt sich aus der Ätiologie dieser Anomalie mit meist hyperto­ ner perioraler Muskulatur. Ein Ziel der Therapie ist, sagittal den Inzisal­ punkt nicht zu verändern. 290 Therapiekonzepte zur Behandlung des Tiefbisses bei Angle­Klasse II/2 Bei der Tiefbissbehandlung der Klas­ se II/2 wird für die Vertikalentwick­ lung der seitlichen Alveolarfortsätze und des Untergesichts der Aktivator verwendet. Die Distalokklusion wird nicht über den Konstruktionsbiss im Aktivator, sondern durch Headgear­ Therapie erreicht. Um die Effizienz des Headgears zu erhöhen und die Tragezeit auf nachts zu reduzieren, wird der asymmetrische Headgear verwendet. 291 Therapiekonzepte zur Behandlung des Tiefbisses bei Angle­Klasse II/2 Die vertikale und axiale Korrektur der Inzisivi wird über die eingesetzte orthodontische Mechanik erreicht. Intrusion und Torque können in zeitlicher Abfolge (Mitte) oder gleichzeitig (links) durchgeführt werden. Erste Mechanik wäre eine NiTi­Intrusionsmechanik. Links: Intrusion und Torque können gleichzeitig über eine In­ trusionsmechanik mit dem Com­ pound­Bogen erreicht werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 289 117